Nach der Hölle links - Raik Thorstad - E-Book

Nach der Hölle links E-Book

Raik Thorstad

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Beschreibung

Drei Jahre sind vergangen, seit Andreas durch die Hölle gegangen ist. Nach der Trennung von Sascha verlangt ihm die Therapie seiner Agoraphobie alles ab und ist nur durch eine straffe Organisation seines Alltags und enorme Anstrengungen zu bewältigen. Auch an Sascha ist die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Noch immer quälen ihn die Selbstvorwürfe, Andreas verlassen zu haben, noch immer verfolgt ihn sein gebrochenes Versprechen. Doch kann man so einen Fehler wiedergutmachen? Und können zwei so unterschiedliche Menschen wieder zusammenfinden, deren Liebe nie wirklich verblasst ist? Forstsetzung zu: Leben im Käfig Neuauflage des Titels, inhaltlich wurden keine Veränderungen vorgenommen.

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Seitenzahl: 850

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Neuauflage (ePub) Juni 2017

© 2013 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

ISBN-13: 978-3-95823-650-9

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Klappentext:

Drei Jahre sind vergangen, seit Andreas durch die Hölle gegangen ist. Nach der Trennung von Sascha verlangt ihm die Therapie seiner Agoraphobie alles ab und ist nur durch eine straffe Organisation seines Alltags und enorme Anstrengungen zu bewältigen.

Auch an Sascha ist die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Noch immer quälen ihn die Selbstvorwürfe, Andreas verlassen zu haben, noch immer verfolgt ihn sein gebrochenes Versprechen. Doch kann man so einen Fehler wiedergutmachen? Und können zwei so unterschiedliche Menschen wieder zusammenfinden, deren Liebe nie wirklich verblasst ist?

Für jeden Andreas dort draußen, der kämpfen muss, und für jeden Sascha, der den Kampf

aufgenommen hat, obwohl sein Leben ohne die Krankheit des Partners leichter verlaufen würde.

Und natürlich für Daniel, Christian und Björn.

Prolog

Hamburg. Das Tor zur Welt, wie der Hafen liebevoll genannt wurde. Eine Stadt im tänzerischen Wiegeschritt zwischen dem maritimen Raubein-Charme vergangener Zeiten, Kultur und dem neu gewonnenen Ruf, eine der exklusivsten Städte Deutschlands zu sein. Eine Metropole, der es gelang, ein breit gefächertes Publikum anzuziehen und manchen Gast als Einwohner zu binden. Ein in sich geschlossenes und gleichzeitig weit offenstehendes Universum von einzigartiger Atmosphäre.

Der Frühling war nass in diesem Jahr. Nicht nur Regen und Hagel prasselten auf die Stadt nieder, sondern auch die über die Ufer tretende Elbe trug dazu bei, dass die Hamburger häufig feuchte Füße bekamen. Zwischenzeitlich stand das Wasser so hoch in den Straßen, dass eine Durchfahrt für die Autos unmöglich wurde.

Doch an diesem Morgen bahnte sich die Maisonne endlich einen Weg durch die zähen Wolkenschichten. Unter ihren Strahlen glänzten die Dächer vor Feuchtigkeit. Überall sah man Café-Besitzer Tische und Stühle nach draußen schleppen, während sich fleißige Hausfrauen ihrer Fenster annahmen. In Mauervorsprüngen nistende Singvögel fütterten ihre zwitschernde Brut. Im Spritzwasser zu schnell fahrender Wagen bildeten sich für den Bruchteil einer Sekunde Regenbögen.

Im Grenzbereich von St. Georg hatte der Stadtteil den Sprung vom Drogenviertel zum In-Bezirk noch nicht geschafft. Schlecht renovierte Häuser aus der Jahrhundertwende, verklinkert und mit hohen Fenstern, dominierten das Bild der Seitenstraße. Schiefe Briefkästen fanden sich neben vielfach überklebten Namensschildern. Fahrräder stapelten sich in bis zu drei Reihen an den Wänden und niemand störte sich an der lauten Musik, die aus einigen Wohnungen schallte. Es war eine Gegend für Studenten.

Die Häuser besaßen Flair. Dafür nahm man gern Holzfenster in Kauf, von deren Rahmen der Lack absplitterte, und Bodenfliesen im Flur, die mehr Sprünge als Farbe ihr Eigen nannten.

Weiches Morgenlicht fiel in das Erdgeschoss des Hinterhauses und setzte die Geschehnisse auf dem niedrigen Futon in Szene. Einzelne Strahlen trafen die apfelsinenfarbenen Laken und verfingen sich auf von Schlafstriemen übersäter Haut.

Sie waren zu zweit und schienen unentschlossen, ob sie sich nach körperlicher Befriedigung oder Schlaf sehnten. Träge bewegten sie sich gegeneinander, berührten sich, fassten zu und ließen die Fingernägel über Stellen kratzen, die für grobe Spielereien empfänglich waren. Sie unterschieden sich wie Tag und Nacht. Wo der eine hochgewachsen, breitschultrig und schwarzhaarig war, war der andere klein, schlaksig und dunkelblond. Und während der braun gebrannte Kleine leidenschaftlich küsste und leckte, blieben die Bewegungen seines Liebhabers faul und langsam.

Aus der Küche der Wohngemeinschaft drang das Gurgeln der Kaffeemaschine zu ihnen herüber; vermengt mit dem Gemurmel der Gäste, die sich zum Frühstück bei ihnen eingeladen hatten. Die im Bett übereinander liegenden Studenten störten sich nicht daran. Sie bewohnten die Altbauwohnung zu dritt, aber meistens blieben die Türen zu allen Wohneinheiten des Hauses offen, sodass man stets damit rechnen musste, Fremde auf dem eigenen Sofa vorzufinden. Ihre Mitbewohnerin Svenja lud gern zum morgendlichen Kaffee ein. Aber das bedeutete nicht, dass sie ebenfalls aufstehen mussten.

Mit einem seligen Lächeln schlang Nils die Beine um die Hüften seines Freunds, um ihn näher an sich heranzuziehen. Ihre nackte Haut schmiegte sich gegeneinander, als er sich von unten an dem festen Körper rieb.

»Komm«, murmelte er und küsste Sascha hinter dem Ohr. »Mach schon.«

Ein wenig schwerfällig griff Nils an ihnen vorbei und zauberte ein Kondom unter dem Kissen hervor. Mit einem süffisanten Lächeln nahm Sascha es ihm aus der Hand. »Schon wieder? War da heute Nacht nicht schon was?«

»Sicher«, schnurrte Nils wohlig, während er die Finger verführerisch durch die Furche zwischen den festen Hinterbacken seines Freunds gleiten ließ. »Aber das will ja nichts heißen...«

Hieß es nicht. Getrieben von ihrer morgendlichen Erregung und dem guten Gefühl, einen anderen Körper an ihrem eigenen zu spüren, gaben sie ihrer Lust nach. Nils war erst zufrieden, als er Sascha tief in sich spüren konnte. Schnell verloren sie sich im zwingenden Rhythmus ihrer Vereinigung. Hörten nichts außer ihrem Keuchen, spürten nichts außer dem Sog ihres Hungers. Sex war ein guter Anfang für einen Tag, der größtenteils von der Universität eingefordert und aller Voraussicht nach auf einer wilden Party enden würde.

So weit der Schein.

Eine Viertelstunde später lag Sascha mit rasenden Kopfschmerzen auf dem Rücken und fühlte sich von dem fruchtig-klebrigen Geruch gestört, der von Nils' Haaren ausging. Obwohl ihm der morgendliche Frühsport gefallen hatte, bereute er es, dass er in der Nacht nicht mehr den Weg in sein eigenes Zimmer gefunden hatte. Gerade wenn er zu viel getrunken hatte, schlief er lieber allein.

Nils lag halb über ihm, drängte die Wange in Saschas Achselhöhle und schien wieder eingeschlafen zu sein. Mit geschlossenen Augen sah er fast noch besser aus als mit offenen Lidern. Die Unschuld des Schlafes stand ihm gut. Vielleicht bildete Sascha sich das auch nur ein, weil Nils im wachen Zustand – gelinde gesagt – schwierig werden konnte.

Unterdrückt seufzend versuchte er den Klammergriff um seine Hand aufzubrechen. Bis zu seiner ersten Vorlesung war noch Zeit, doch Sascha wollte fort. In sein eigenes Bett oder vielleicht unter die Dusche, um hinterher zusammen mit den Leuten, die er in der Küche reden hörte, zu frühstücken.

Stück für Stück öffnete Sascha Nils' Finger und schob ihn behutsam von sich herunter. Er wollte ihn nicht wecken. Teils, weil er keine Lust auf eine Diskussion hatte, teils, weil sein Freund den Schlaf gebrauchen konnte.

Vorsichtig robbte Sascha über den dezent schnarchenden Nils hinweg und setzte sich auf die Bettkante. Prüfend roch er an seinen Fingern und verzog das Gesicht. Schweiß, Gummi, Sperma, Rauch und Bier. Seine Kopfschmerzen bedankten sich herzlich.

So lautlos wie möglich stand er auf und schnappte nach einem herrenlos am Boden liegenden Handtuch. Sascha hatte es sich gerade um die Hüften gewunden und zwei Schritte in Richtung Tür gemacht, als hinter ihm Nils' Stimme erklang: »Du gehst doch nur zur Toilette, oder?«

Sascha verharrte in der Bewegung und schloss kurz die Augen. Dann drehte er sich halb um. »Ich wollte eigentlich nach drüben gehen.«

Missmutig setzte Nils sich auf. »Ich kann es nicht leiden, wenn du dich davonmachst, ohne mir Bescheid zu geben.« Auf seinem weich geschnittenen Gesicht bildete sich ein dunkler Zug.

»Ich wollte dich nicht wecken.«

»Das willst du angeblich nie und ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass es mir egal ist. Ich finde es einfach blöd, allein aufzuwachen und zu merken, dass du dich aus dem Staub gemacht hast«, beschwerte sich Nils.

Zu Recht, wie Sascha zugeben musste. In letzter Zeit war er oft aus Nils' Bett geflohen, um allein zu sein. Früher hatte er nie das Bedürfnis verspürt, nach dem Sex möglichst schnell zu verschwinden, aber damals waren die Umstände andere gewesen. Er war ein freier Mann gewesen, der zwanglos mit einem guten Freund Spaß hatte. Seitdem sie zusammen waren, kam es ihm häufig vor, als würde er an der Nähe, die Nils forderte, ersticken.

»Hör zu«, sagte er leise, um die drohende Diskussion zu unterbinden. »Ich habe irre Kopfschmerzen. Ich will noch ein bisschen in meinem eigenen Bett schlafen, okay?«

Im ersten Moment sah es aus, als würde Nils seinen Wunsch akzeptieren. Doch als Sascha sich mit einem schwachen Lächeln verabschiedete und zur Tür wandte, zischte die Stimme seines enttäuschten Freundes durch die Luft wie ein Peitschenhieb.

»Wenn ich Andreas wäre, würdest du bleiben.«

Kapitel 1

Sir Paul ließ ihn nicht aus den Augen. Keine Bewegung blieb unbemerkt. Kein Scharren der Schaufel, kein Schritt auf den beigen Fliesen, kein Griff an die Gitter. Der Graupapagei legte ruckartig den Kopf schief und beäugte den Eindringling, der sich an seinem Futternapf zu schaffen machte.

Ein durchdringender Geruch beherrschte das flache Gebäude, das als Vogelhaus diente. Das halbe Dutzend Volieren – allesamt enger, als den Betreibern recht war – beherbergte eine Vielzahl unterschiedlicher Vogelarten; angefangen beim Wellensittich bis hin zur verlorenen Brieftaube. Ein Flirren und Zwitschern lag in der Luft, dazwischen das Klackern von Krallen und Schnäbeln auf Eisen.

Das Tierheim hatte mit Überbelegung zu kämpfen. Aus einem angrenzenden Raum war das Quieken von Meerschweinchen zu hören, die aufgrund von Platzmangel aus dem Nagetierhaus hatten ausziehen müssen. Von draußen drangen die Geräusche einer bellenden, winselnden Hundemeute herein. Die verträglichen Tiere durften um die Mittagszeit zusammen im Hof laufen.

Sir Paul trippelte auf der Stange seitwärts und gab einen kläglichen Laut von sich. Sein erbärmliches Äußeres machte den Papagei zu einem der vielen Insassen des Tierheims, die lange auf ein neues Zuhause warten mussten. Über Jahre allein gehalten, hatte Sir Paul sich akribisch von seinem Federkleid befreit.

Andreas mochte den grauen Papagei mit der nackten Brust und der merkwürdig menschlichen Kopfhaltung. In vielen Belangen erinnerte er ihn an sich selbst. Eingepfercht, allein gelassen, von Artgenossen ferngehalten. Selbst, dass Sir Paul von Zeit zu Zeit die Hand zwickte, die ihn fütterte, störte ihn nicht. Zu gut konnte er das Verhalten des Papageis verstehen. Ihm war auch oft nach Beißen zumute.

Melancholisch nickte Andreas seinem gefiederten Freund einen Gruß zu, bevor er das Gitter der Voliere verschloss und sich auf den Weg in die Garderobe der Tierpfleger machte.

Ein harter Arbeitstag lag hinter ihm. Natürlich kein ganzer Tag. Lediglich die paar Stunden am Vormittag, die er im Zuge eines Praktikums an fünf Tagen in der Woche hinter sich bringen musste. Um am Leben teilzunehmen. Um sich an einen geregelten Tagesablauf zu gewöhnen. Um zu üben, ein Mensch zu sein.

Andreas beeilte sich. Er wollte das Tierheim schnell hinter sich lassen. In weniger als einer halben Stunde öffneten sich die Tore, um Paten und Interessenten einzulassen. Der Trubel war zu viel für ihn. Besonders, da die Hunde jeden Besucher wild bellend begrüßten und mit runden Augen um ein neues Herrchen oder Frauchen bettelten. Es tat weh zu sehen, dass die niedlichen Welpen innerhalb kürzester Zeit vermittelt wurden, während ältere Tiere oder Angehörige der angeblich gefährlichen Hunderassen chancenlos blieben.

Aber das war nicht der Hauptgrund für Andreas' Aversion gegen die öffentlichen Besuchszeiten. Sie warfen ihn aus dem Rhythmus. Fragen von Fremden durchbrachen seine Konzentration, sodass er an Sicherheit verlor und in Panik geriet; immer noch und trotz all der harten Arbeit.

In der Gewissheit, dass er es für diese Woche geschafft hatte, glitt Andreas wie ein Schatten in den Personalraum. Gehetzt vom Wunsch nach Abgeschiedenheit und der Sicherheit der eigenen vier Wände riss er seine Jacke von der Garderobe.

In seiner Eile stieß er in der Tür mit Mandy zusammen. Seine Kollegin schnaufte erschrocken, bevor sich ein schiefes Grinsen auf ihrem asymmetrischen Gesicht zeigte. »Ach, du bist es. Hast es wieder eilig, von uns wegzukommen, ja?« Ein breiter sächsischer Akzent spülte jedes ihrer Worte weich.

Verlegen senkte Andreas den Blick, doch er schämte sich nicht allzu sehr. Alle Mitarbeiter des Tierheims wussten um seine Schwierigkeiten und akzeptierten sie.

Gerade Mandy machte es ihm leicht, sich aus der Affäre zu ziehen, ohne sich dumm vorzukommen. Er mochte die vierschrötige Tierpflegerin, die eine süße Frucht in einer rauen, wenn nicht gar hässlichen Schale darstellte.

»Nicht von euch«, murmelte Andreas leise. »Aber du weißt ja, wie es ist...«

»Klar, weiß ich«, lächelte Mandy und entblößte ihre winzigen Mausezähne. »Hast du Lust auf Besuch am Wochenende? Oder ist dir eher danach zumute, dich zu verkriechen?«

»Letzteres«, erwiderte er. »Läuft im Moment nicht so gut.«

»Das tut mir leid. Dann sehen wir uns nächste Woche.« Mandy gab Andreas einen Klaps auf die Schulter. »Lass dich nicht unterkriegen.«

Zum Abschied machte sie sich lang und drückte ihn kurz, aber herzlich an sich. Es war ihr ganz persönliches Ritual. Kein leeres Gerede. Keine guten Wünsche, die sich nicht realisieren ließen. Stattdessen eine Spur Menschlichkeit, die Andreas guttat.

In seiner mit Staub und Heu besudelten Arbeitskleidung verließ er das Tierheim und ging mit weichen Knien in Richtung Haltestelle. Dort angekommen setzte er sich auf die Bank, stützte das Kinn auf die Hände und sammelte Kräfte.

Etwas in ihm wollte zu Fuß nach Hause gehen. Zehn Kilometer Fußmarsch gen Nordwesten erschienen ihm verführerischer als eine Fahrt mit dem überfüllten Linienbus. Den Rest der Strecke, den er in der U-Bahn hinter sich bringen musste, konnte er noch weniger leiden. Aber es gehörte dazu, dass er sich dem stellte. Er war sich selbst verpflichtet. Sein ganzes Leben war Training. Manchmal kam es ihm vor, als würde er keinen Schritt vorwärtskommen.

Zum Glück gab es Menschen, die ihn unterstützten. Es waren nicht genau die Personen, deren Hilfe er sich wünschte. Es waren auch nicht so viele, wie er brauchte, doch er wollte sich nicht beschweren. Auf seine neue Hausärztin war Verlass. Sein Therapeut arbeitete gewissenhaft mit ihm und hielt ihn mit einer Mischung aus Motivation, Verständnis und Tritten in den Hintern auf Trab.

Der Leiter des Tierheims, in dem Andreas seit fast einem Jahr als Praktikant und Ehrenamtlicher arbeitete, war ebenfalls zu einer wichtigen Anlaufstelle für ihn geworden.

Mandy war das, was einer Freundin am nächsten kam. Eine liebe Kollegin und eine Frau, die ihrerseits einige Hürden hatte nehmen müssen und insofern als gutes Vorbild diente. Dass sie mit ihrer übergroßen Nase, den deformierten Gesichtszügen und der unförmigen Gestalt keine Schönheit war, störte Andreas nicht. Sie hatte trotz ihrer manchmal ruppigen Art ein gutes Herz. Das war alles, was ihn interessierte.

Es tat Andreas leid, dass er ihr für dieses Wochenende abgesagt hatte. Normalerweise mochte er es, wenn sie zu Besuch kam, aber er war erschöpft und brauchte Zeit für sich allein. Oder zumindest etwas anderes als das, was Mandy ihm geben konnte.

Als der Bus um die Ecke kam, verengte Andreas die Augen und zwang sich zum Aufstehen. Der Magen kletterte ihm in die Speiseröhre, während er die Hand um seine Monatskarte klammerte und einstieg. Automatisch suchte er nach einem isolierten Sitzplatz, doch er hatte kein Glück. Zu viele Passagiere bevölkerten das nach alten Polstern und Döner Kebab riechende Gefährt.

Den Würgereiz hinunterschluckend lehnte Andreas sich an ein Fenster nahe dem Ausstieg und betete, dass die Fahrt schnell zu Ende ging. Ihm war bewusst, dass diese Gedanken falsch waren und allem widersprachen, was man ihm in den harten Wochen der Verhaltenstherapie eingehämmert hatte. Unterdrücken konnte er sie dennoch nicht.

Andreas' Therapien waren alle miteinander schmerzhaft, schweißtreibend und noch nicht abgeschlossen. Er zweifelte, dass sie je ein Ende finden würden. In allen Phasen der Behandlung hatte er gelitten und sich gequält. Aber nichts war so schlimm gewesen wie die Wochen in der Christoph-Dornier-Stiftung in Münster, in der man den Griff seiner Erkrankung mit Gewalt aufgebrochen hatte, um ihm die Freiheit zurückzugeben.

Er wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Jetzt war nur wichtig, sich daran zu erinnern, was er gelernt hatte: dass jede Panikattacke früher oder später auf natürlichem Wege ein Ende fand. Dass ihm nichts passieren konnte, egal, was sein Geist behauptete.

Andreas ging in sich und erinnerte sich an all die Regeln, die ihm auferlegt worden waren. Nicht auf die Uhr starren, um die Zeiger auf ihrer Reise zu beobachten. Keine Sicherheitsfaktoren nutzen wie Dinge, an denen man sich festhalten konnte. Sich nicht umsehen, ob er jemanden im Bus kannte, um innerlich Halt an ihm zu suchen. Sich durch nichts – gar nichts – ablenken. Nicht durch Musik, nicht dadurch, dass er den Hamburger Fahrplan auswendig lernte oder sich auf die Häuser konzentrierte, die sie passierten. Nicht innerlich Lieder singen oder in eine bessere Welt träumen. Körperlich und gedanklich im Bus bleiben. Die Angst kommen lassen. Und sie aushalten, wenn sie von ihm Besitz ergriff. Jedes Mal ein Stück Fegefeuer.

Ein Krampf toste durch seinen Körper. Erfasste zuerst den Magen und anschließend in Windeseile den Kopf und damit den Verstand. Jedes Mal dasselbe; manchmal stärker, manchmal erträglicher. Die Symptome fielen hinterrücks über ihn her. Sie kamen immer aus der Richtung, aus der er sie am wenigsten erwartete. Sein eigenes Selbst arbeitete gegen ihn und wollte ihn scheitern sehen.

Der Bus rumpelte über eine Bodenwelle. Andreas' Hand zuckte empor und umfasste das Gestänge. Sah man ihm an, dass ihm der Schweiß über den Rücken lief, wie sehr er kämpfen musste?

Je länger er mit seiner Krankheit zu tun hatte, desto mehr missfiel ihm die Vorstellung, bei seinem Martyrium beobachtet zu werden. Er führte Krieg gegen sich selbst. Da konnte er auf dumme Sprüche oder abschätzige Blicke verzichten. Es war schlimm genug, dass sein Geist im Hintergrund tausendundeine Todesart ersann. Ein Szenario jagte das nächste. Einige lagen im Bereich des Möglichen – Unfälle, geplatzte Reifen, ein eingeschlafener Fahrer –, andere hatten mehr mit Hollywood als mit der Realität zu tun.

Allen Vorstellungen war gemein, dass sie Andreas Angst machten. Er fürchtete nicht, verletzt zu werden oder in eine unangenehme Situation zu geraten. Er fürchtete zu sterben.

»Keine halben Sachen«, wie eine Leidensgenossin in der Klinik traurig-spöttisch zu ihm gesagt hatte. Sie musste es wissen. Sie war zwanzig Jahre älter als Andreas und lebte doppelt so lange mit der Krankheit, die sie teilten.

Seine Kehle wurde zum Nadelöhr, durch das nicht genug Sauerstoff strömte. Seine sich zu schnell hebende und senkende Brust war taub, als er die ersehnte Haltestelle erreichte. Erst die Hälfte des Wegs war geschafft.

Als die Türen des Busses mit einem hydraulischen Zischen aufsprangen, stolperte Andreas gesenkten Kopfes auf den Bürgersteig. Er fühlte sich elend. Sein Blick glitt in der Hoffnung auf ein Wunder über das Schild der Haltestelle. Wie dankbar wäre er, wenn dort bereits der Name der U-Bahn-Station stünde, die in der Nähe seiner Wohnung lag.

Aber noch standen ihm siebzehn endlose Minuten Fahrt in der schlecht gelüfteten U-Bahn, rund ein Kilometer Fußmarsch und nicht zuletzt das Überwinden von genau 72 Stufen bevor. Er hätte seine Seele gegeben, wenn die Wohnungstür auf mysteriöse Weise ein paar Kilometer in seine Richtung gerückt wäre.

Ein Anflug von Panik erfasste ihn, als er die Treppe zur Bahn hinabstieg. Wieder war er versucht, den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Er wusste leider, dass er diese Ausflucht am Ende des Tages notieren musste. Und das wollte er nicht.

Andreas' erster Impuls war, die Angst beiseitezuschieben, wie er es früher getan hatte. In der Hoffnung, dass sie verschwinden würde, wenn er sie ignorierte. Das konnte funktionieren, war aber nicht der richtige Weg. Stattdessen musste er sich der Situation stellen, die ihm Angst machte, und mit ihr sämtlichen Reaktionen, die sie ihm entlocken mochte.

Mühsam fasste er sich ein Herz. Seine Schultern strafften sich, als er die restlichen Stufen überwand und sich mental der Bahn stellte, die rumpelnd einfuhr.

Du hast das schon hundert Mal getan, erinnerte er sich stumm. Steige ein, setz dich hin und lass dich nach Hause bringen.

Trotz allen guten Zuredens war der Augenblick, in dem er den Fuß in den Innenraum der U-Bahn setzte, für ihn gleichbedeutend mit einer Injektion unbekannten Inhalts. Die Flüssigkeit, die in seine Venen strömte, konnte harmlos sein, aber genauso ein tödliches Gift enthalten. Andreas war, als würde er Russisches Roulette spielen und sich entgegen jeder Vernunft einem unnötigen Risiko aussetzen.

Die Bahn fuhr an. Die Räder kreischten auf den Schienen. Für Andreas klang es, als würden Todesengel über ihm kreisen und sich an seiner Angst weiden. Seine Fingernägel hinterließen rote Striemen auf der empfindlichen Haut des Oberarms.

Wenn der Zug nach oben fährt, wird es dir besser gehen, beschwor er sich und wusste, dass er nicht auf diese Weise denken durfte. Wie setzte man sich gegen etwas zur Wehr, das fast jeder Mensch in seiner Situation getan hätte? Viele Leute fühlten sich im Erdboden unwohl und der Übergang zwischen einer verständlichen Angst und einer Phobie war manchmal kaum zu erkennen.

Andreas zwang seinen Körper, einen Sitz anzusteuern. Er starrte aus dem Fenster ins Dunkel und wartete auf das Licht. Als es so weit war, sauste es in seinen Ohren. Das kannte er schon. Die Angst fand immer einen Weg, auf sich aufmerksam zu machen. Die Schönheit der Hamburger Fassaden in der Sonne bemerkte er kaum. Weder interessierte ihn das Treiben der Passanten noch das Frühlingserwachen der Stadt. Zu feindlich erschien sie ihm in diesem Moment.

Der Rückweg fiel ihm an diesem Tag nicht schwerer als sonst, vielleicht sogar leichter. Trotzdem war er anstrengend, die Fahrt mit der U-Bahn endlos. Entsprechend schnell wurde Andreas, als er aus dem Waggon aussteigen und die Haltestelle hinter sich lassen konnte. Nur fort von den sich gegenseitig anrempelnden Menschen, der Frau mit dem Yorkshire Terrier, den beiden Kindern, die sich um ein Kaugummi stritten, und allen, die ihm im Weg standen.

Bis zu einem gewissen Punkt war Andreas erleichtert. Nun war es nicht mehr weit. Als er die ersten Häuser des alten Stadtteils hinter sich ließ, begann es ihm besser zu gehen. An seiner Erschöpfung änderte sich nichts, doch er fühlte sich bedeutend wohler in seiner Haut, als die Sonne seine Jacke aufheizte und er sicheren Schritts der Querstraße zustrebte, in der er zu Hause war.

Überraschend ruhig wechselte er die Straßenseite; ohne das Bedürfnis, sich an parkenden Autos oder Häuserwänden festzuhalten. Während er über einen feuchten Rinnstein sprang, dachte er an frühere, dunklere Zeiten und war für ein paar Sekunden zufrieden mit sich. Ein wenig Freiheit hatte er sich erkauft, aber der Preis...

Der Gedanke wich aus seinem Kopf, als er in der Ferne das grellgelbe Schild des Supermarkts auftauchen sah. Augenblicklich sackten seine Schultern in sich zusammen. Bis jetzt hatte er erfolgreich verdrängt, dass er noch einkaufen musste. Seit zwei Tagen schob er es vor sich her und mittlerweile bevölkerten nur noch ein Glas Senf und zwei Flaschen Wasser seinen Kühlschrank.

Unfair, jammerte es in ihm. Du hast genug geleistet. Warum kannst du dir nicht an jedem Tag des Wochenendes Pizza kommen lassen?

Weil er dann das Einkaufen vermieden hätte. Darum ging es in seiner ganzen Existenz: Vermeidung und die Entkräftung aller einschränkenden Automatismen. Natürlich konnte er überleben, indem er sich von Lieferdiensten versorgen ließ. Arbeiten musste er nicht, denn gewisse Absprachen mit seinen Eltern sicherten ihn finanziell ab. Aber man hatte ihm nachdrücklich bewusst gemacht, dass er etwas tun musste, um eines Tages frei zu sein. Dazu gehörte, dass er sich nicht zurückzog, sondern vorwärts ging – nicht rückwärts in die Isolation. Er tat sich keinen Gefallen, wenn er schummelte und sich selbst betrog.

»Nur das Nötigste«, sagte Andreas halblaut. Essen und Getränke für drei Tage. Besser für vier, damit er Montag nicht gleich wieder einkaufen musste.

Vielleicht sollte er heute gar nichts essen und bis morgen warten? Oder später in den Laden gehen?

Aber er kannte sich. Wenn er freitagmittags in seiner Wohnung angekommen war und es sich gemütlich gemacht hatte, würden ihn keine zehn Pferde mehr aus dem Haus bringen.

Supermärkte waren und blieben ein rotes Tuch für Andreas. Das Einkaufen war weniger problematisch als das Anstehen an der Kasse hinterher. Es widerte ihn an, von vorn und hinten eingekesselt zu sein, sodass er nicht fliehen konnte. Je länger die Schlange, desto größer die Tortur.

In dem Gefühl, dass ihm nur sehr wenig von seiner Energie geblieben war, schlurfte Andreas auf den Supermarkt zu. Er hasste die langen Reihen von Einkaufswagen, die wie Kettenhunde darauf warteten, ihm in die Waden zu beißen.

Eintreten, einen Wagen mitnehmen, sich durch die Sicherheitstüren schieben. Mittlerweile vertraut und doch fremd und unangenehm. Andreas wollte nach Hause. Die langen Reihen mit Lebensmitteln verlockten ihn nicht. Doch die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er nach einer harten Woche spätestens am Samstag Heißhunger bekam. Sein Körper gierte nach der Kraft, die ihm abhandengekommen war. Angst haben war anstrengend. Und es half, sich mit leckeren Sachen vollzustopfen und zu wissen, dass man das Sofa fürs Erste nicht verlassen musste.

Andreas achtete streng darauf, jeden einzelnen Gang abzuschreiten. Wahllos warf er Verpackungen in den Einkaufswagen. Alles, was interessant und nach Nahrung aussah, sammelte er ein, bis er die Grenze dessen, was er tragen konnte, erreicht hatte. Von einem System konnte keine Rede sein. Er baute dennoch darauf, dass er es dieses Mal schaffte, ausschließlich für den menschlichen Verzehr geeignete Waren heimzutragen. Mehr als einmal war es ihm in der Vergangenheit gelungen, blindlings eine Dose mit Katzenfutter einzupacken. Das Tierheim hatte sich gefreut. Was er mit den gefrorenen Tintenfischringen anfangen sollte, die seit zwei Jahren in seinem Eisfach lagen, wusste er hingegen nicht.

Die Menschenschlange an der Kasse dünnte aus, während Andreas ein paar Wasserflaschen einpackte. Dankbar machte er sich auf den Weg und schielte nervös nach hinten, ob sich jemand näherte, der ihm den Platz streitig machen wollte. Seine Finger zitterten, als er die Waren auf das Fließband räumte. Er bückte sich nach den Plastiktüten und bereute es, als sein Magen sich zusammenkrampfte.

Für eine Sekunde war er überzeugt, dass er sich im nächsten Augenblick erbrechen würde; mitten zwischen die Kassen. Automatisch irrte sein Blick zu den Schiebetüren. Der Zeitraum zwischen dem Jetzt und dem Verlassen des Ladens schien elendig lang. Aber er hatte es fast hinter sich und würde jetzt nicht aufgeben. Er wollte es schaffen.

Wie altes Kaugummi bewegte sich das Fließband vorwärts, die Verkäuferin erwies sich als Schnecke und überhaupt kam es Andreas vor, als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Seine Züge waren wie versteinert, als seine Einkäufe endlich über den Scanner gezogen wurden und er die Kreditkarte auf den Tresen legte. Auf den Preis achtete er nicht. Wenn die Verkäuferin ihm einen fünfstelligen Betrag in Rechnung gestellt hätte, wäre es ihm entgangen.

Eilig landeten die Lebensmittel in ihren Tüten. Ein Joghurtbecher ging zu Bruch. Andreas kümmerte sich nicht darum. Er schaffte es selten, alles heil aus dem Supermarkt zu bringen.

Die Freiheit lockte. Schwer beladen ließ Andreas die sterilen Gänge, bissigen Einkaufswagen und quälenden Werbedurchsagen hinter sich und war halbwegs zufrieden. Nur noch ein paar Hundert Meter musste er überwinden. Er konnte das vierstöckige, liebevoll restaurierte Gebäude im Schatten der Speicherstadt bereits sehen. Die roten Ziegelsteine erzählten die Geschichten vergangener Zeiten, während die moderne Dachkonstruktion einen optischen Kontrapunkt setzte. An einer aus Bronze gegossenen Skala an der Front konnte man ablesen, wie hoch das Wasser der Elbe bei vergangenen Unwettern gestiegen war.

Innerlich ließ Andreas den Tag Revue passieren, während er die Tüten in Richtung Haustür schleppte. Am Morgen war es ihm schwergefallen, aus dem Bett zu kommen und das Haus zu verlassen. Um ein Haar hätte er sich krankgemeldet. Der Weg ins Tierheim hatte sich als Desaster erwiesen. Zwei Mal war er unterwegs aus der U-Bahn gesprungen, nur um am Ende doch anzukommen. Die Arbeit selbst ging erstaunlich gut von der Hand, der Rückweg ebenso. Der Einkauf... nun, er würde sehen, wie gedankenlos und hektisch er gewesen war, wenn er auspackte.

Andreas biss sich auf die Unterlippe. An guten Tagen konnte jeder gewinnen. Sich an schlechten Tagen zu besiegen, war die wahre Kunst.

Nachdem die mit Butzenscheiben versehene Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war, atmete er zum ersten Mal an diesem Tag tief durch. Die hölzernen Treppenstufen lagen vor ihm wie die Pforte zum Himmelreich. In Andreas' Augen war die geräumige Wohnung in der obersten Etage wirklich ein kleines Paradies. Sein persönlicher Schutzbunker und der einzige Ort, an dem er er selbst sein konnte. Dass dieser Ort ausgerechnet im vierten Stock eines Gebäudes ohne Fahrstuhl liegen musste, war eine andere Sache.

Ein paar Minuten später fiel auch die Flügeltür zur Wohnung zu. Vertraute Gerüche und Konturen begrüßten ihn und verlockten dazu, die Einkäufe hier und jetzt zu Boden fallen zu lassen. Ein letztes Mal für dieses Wochenende riss Andreas sich zusammen und ging in die modern eingerichtete Küche, um auszupacken. Als der Kühlschrank voll war, fragte er sich leise lächelnd, was er sich dabei gedacht hatte, eine Backmischung für Quarkkuchen einzukaufen.

Achtlos zerknüllte er die Einkaufstüten und betrat das gewaltige Wohnzimmer, das einzig durch eine dünne Schiebetür vom Schlafbereich abgetrennt war. Die mit Büchern und DVDs bestückten Wände im hinteren Teil gaben dem Raum etwas Heimeliges und erinnerten ihn an sein altes Zimmer in der Villa seiner Eltern.

Ein wenig verloren irrte sein Blick über die Möbel und blieb an der Tür zur Dachterrasse hängen. Andreas roch nach Heu und musste eigentlich dringend duschen, aber er hatte keine Lust. Stattdessen zog es ihn nach draußen. Die Dachterrasse, die höher lag als die umliegenden Gebäude und somit nicht eingesehen werden konnte, war der Hauptgrund, warum Andreas sich in diese Wohnung verliebt hatte. Von seinem Liegestuhl oder der Hängematte aus konnte er über die Dächer Hamburgs bis zum Hafen sehen. Manchmal stand er stundenlang an der Brüstung und genoss es, im Freien zu sein. Ein kleiner Sieg, er machte ihn jedoch nicht glücklich.

Drei Jahre nachdem er unter hässlichen Umständen das Elternhaus verlassen und sich in die Psychiatrie begeben hatte, fühlte er sich immer noch unzulänglich und klein. Ihm war bewusst, dass er an dieser Einstellung arbeiten musste, aber es war hart, auf sich selbst stolz zu sein, wenn niemand anderes seine Triumphe registrierte.

In die leere Wohnung zu kommen, tat jedes Mal weh. Niemandem erzählen zu können, wie sehr er gekämpft hatte, um am Ende zu siegen, ebenso. Das Alleinsein schmerzte über alle Maßen. Dass nie jemand da war, an den er sich anlehnen konnte. Dass nie jemand sagte: »Das hast du gut gemacht.«

Natürlich teilten seine behandelnden Ärzte und Therapeuten ihm mit, was sie von seinen Fortschritten hielten. Doch ihr Interesse war professioneller Natur. Für Andreas fühlte es sich an, als würde er ihr Lob kaufen. Er oder die Krankenkasse.

Verbissen zerrte er an dem Gummiband, das seine nur schulterlangen Haare zusammenhielt. Vor fast zwei Jahren hatte er im Zuge eines Anfalls von Verwandlungswut den Langhaarschneider genommen und seine Mähne abrasiert. Es hatte nur drei Minuten gedauert, bis er sein Treiben bitter bereute.

Andreas räusperte sich und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass er für sich selbst und für die Tiere, die von seiner Fürsorge abhängig waren, gute Arbeit geleistet hatte.

Das Wochenende war verdient. Lange schlafen, fernsehen, am Computer spielen, gut essen, träumen. Seit Montagmorgen hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Jetzt, wo er da war, fühlte Andreas sich erbärmlich. Weder war er aufrichtig stolz auf sich, noch war er glücklich. Nur sehr allein.

Am Ende ging er doch zuerst duschen. Nicht weil er sich schmutzig fühlte oder weil es keine gute Idee war, mit dreckiger Kleidung in der Wohnung herumzulaufen. Er duschte, weil er unter dem heißen Wasserstrahl wunderbar weinen konnte und weil sich das Strömen der Dusche wie eine Umarmung anfühlte, wenn man fest genug die Augen schloss.

Kapitel 2

Es mochte eine Zeit gegeben haben, in der Andreas das Verstreichen der Wochentage nicht kümmerte. Eine Zeit, in der er sich ohne Sinn und Struktur von einem Tag zum nächsten geschleppt hatte; egal, ob Montag oder Freitag, Sommer oder Winter, Tag oder Nacht war. Damals hatte er sich nicht vorstellen können, welchen Wert das Wochenende für einen Normalsterblichen hatte. Heute wusste er es.

Mit den Gedanken bei der Tagesplanung warf Andreas den leeren Tablettenblister in Richtung des übervollen Mülleimers. Die Pillen verschwanden ohne Zugabe von Flüssigkeit in seinem Rachen. Längst hatte er sich daran gewöhnt, sie einnehmen zu müssen. Er tat es sogar gern, denn sie trugen dazu bei, dass er sich besser fühlte.

Die Kücheninsel amerikanischer Bauart war klebrig. Er hatte am Vorabend versucht, aus dunkel gewordenen Bananen, Äpfeln und Dosenobst einen Fruchtdrink zu kreieren – natürlich mit einem Schuss Rum, den er wegen der Psychopharmaka eigentlich nicht trinken sollte. Doch an diese Vorgabe hielt Andreas sich selten. Abgesehen davon, dass er schneller betrunken wurde als früher, spürte er nie Nebenwirkungen.

Der fruchtige Drink hatte ihm geschmeckt, das Massaker, das er mit Mixer und Bananenschalen in der Küche angerichtet hatte, weniger. Die guten Zeiten, in denen andere hinter ihm aufgeräumt hatten, waren vorbei. Heute war er selbst dafür verantwortlich, wie es in seiner Wohnung aussah. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass gerade die Küche nicht selten den Eindruck machte, als sei eine Horde Vandalen durch sie hindurchgetobt.

Skeptisch blickte Andreas sich in dem quadratischen Raum um. Die schwarz-weiß gemusterten Arbeitsflächen wirkten sauber, aber der Eindruck täuschte. Das Muster machte den Schmutz nur unsichtbar.

Die Spülmaschine stand halb offen und enthielt Geschirr, das in den Schrank geräumt werden wollte. Ein paar kleinere Wollmäuse krochen um die Beine der verchromten Barhocker. Das schwarze Kochfeld war verschmiert, die Fenster von einer feinen Schicht Staub bedeckt, in die der Regen der vergangenen Wochen verschlüsselte Botschaften geschrieben hatte.

In dem Wissen, dass es in der restlichen Wohnung nicht besser aussah, unterdrückte Andreas ein Stöhnen. Unter der Woche hatte er das Putzen aufgeschoben. Warum sollte er nach einem harten Morgen im Tierheim zu Hause weiterschuften, wenn er am Wochenende Zeit hatte? Nur hatte er dummerweise auch heute keine Lust, das Klo zu putzen oder seine gewaschenen Socken zusammenzulegen. Das Wochenende war schließlich kurz genug. Besonders, wenn man bis zum Mittag geschlafen hatte, weil der Stress der letzten Tage nach Wiedergutmachung verlangte.

Wie sagte Köninger immer so schön? Ab und zu soll man sich belohnen. Gemäß dieser Weisung ließ Andreas Schwamm und Wischmopp links liegen und läutete das Wochenende ein.

Jochen Köninger war der Therapeut, der ihn seit der Entlassung aus der Psychiatrie betreute. Andreas mochte den hageren Mittvierziger recht gern, auch wenn ihn dessen Unart, ihm ungerührt unangenehme Wahrheiten an den Kopf zu werfen, oftmals auf die Nerven ging.

»Bei dem Wetter sollte man eh nicht im Haus herumsitzen«, sagte Andreas laut in die Stille hinein und musste fast lächeln. Er hatte zehn Jahre lang im Haus festgesessen. Gehalten von unsichtbaren Drähten und Ketten, die ihm den Atem nahmen. Wer hätte je gedacht, dass der Tag kommen würde, an dem es ihn freiwillig nach draußen zog?

Entschlossen, den Tag auf faule Weise zu verbringen, wühlte Andreas in den Untiefen seiner bestens gefüllten Küchenschränke nach einem Tablett. Er würde sich ein paar gemütliche Stunden auf der Dachterrasse gönnen und hinterher sehen, wohin der Wind ihn trug.

Wenige Minuten später schob Andreas mit dem Ellenbogen die Glastür zum Dach auf. Auf seiner Nase hing schief eine Sonnenbrille. Die Sonnencreme, die es angesichts der ungewöhnlich hohen Temperaturen in diesem Mai brauchte, brachte das Gestell ins Rutschen. Eine in Fetzen hängende Blue Jeans schlotterte um Andreas' Knie, zeigte gebräunte Beine und am linken Oberschenkel den Ansatz seiner roten Shorts. Auf ein Oberteil hatte er verzichtet.

Andreas mochte es, wenn die Sonne seine bloße Haut berührte und ihm ermutigend einflüsterte, dass es gut und richtig war, sich unter der Woche durch den strengen Therapieplan zu quälen. Früher war es ihm nicht möglich gewesen, faul in der Sonne zu liegen und sich dabei wohlzufühlen. Heute gehörte dieser Zeitvertreib zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

Das Tablett in Andreas' Händen beherbergte neben ein paar kalorienreichen Leckereien und Getränken ein gutes Buch und seinen MP3-Player. Ohne Zögern steuerte er auf die blaugrün gestreifte Hängematte zu, die auf der Südseite der Terrasse in ihren Stützen hing. Umsichtig stellte er das Tablett ab, bevor er sich mit einem Seufzen in den von der Sonne aufgewärmten Stoff fallen ließ. Eines seiner Beine landete halb über dem Rand, während die Hängematte knarrend schaukelte und schließlich zum Stillstand kam.

Wohlig reckte Andreas sich und schob die Sonnenbrille an ihren Platz. Der blaue Himmel über ihm bekam einen Grünstich. Das Weiß der Schäfchenwolken verwandelte sich in farbintensives Grau. Ein Hauch von Hafengeruch wehte ihm um die Nase, als er die Arme hob und sich wie eine Katze auf der Fensterbank rekelte.

Samstag war der mit Abstand entspannteste Tag der Woche für ihn. Die Arbeitstage kosteten ihn stets viel Kraft und Überwindung, der Sonntag wurde durch die Aussicht auf den nächsten Tag verdorben. Doch samstags konnte er lange schlafen und sich faul in seinen Decken herumrollen. Nutzlos Zeit vergeuden, träumend an der Brüstung stehen und die Fassaden der Speicherstadt bewundern.

Lesen, chatten, manchmal telefonieren. Wenn der Drang nach Körperlichkeit zu groß wurde, Pornos gucken und onanieren, bis es ihn vor Lust schüttelte. Alles in dem Wissen, dass der nächste Tag frei war und nichts von ihm erwartet wurde.

Fest entschlossen, sich nur zu bewegen, wenn er dem Ruf der Natur folgen musste, schloss Andreas die Augen. Eine sanfte Brise kitzelte ihn im Gesicht und strich über seine Brust, während er mit den Zehen an den bunten Fransen der Hängematte spielte.

Er liebte sein neues Zuhause. Die Dachterrasse zog sich halb um das Gebäude, rahmte die gesamte Südseite und je die Hälfte der Ost- und Westseite ein. Nur von Andreas' Wohnung aus konnte sie betreten werden. Der Boden war mit dunklen Holzbohlen ausgelegt, während die modern gestaltete Brüstung silbern im Licht schimmerte. Es gab kleine Haken für Blumenkörbe im Gestänge, doch auf solcherlei Gestaltung hatte Andreas bisher verzichtet. Blumen bedeuteten nur zusätzliche Arbeit.

Einzig mit der Hängematte und einem vereinsamten Liegestuhl bestückt blieben etliche Quadratmeter der Terrasse ungenutzt, doch das störte ihn nicht. Ganz im Gegenteil: Andreas mochte die Weite um sich herum. Das Gefühl, sich frei bewegen zu können, hatte ihm in der Villa seiner Eltern stets gefehlt.

Er schluckte beim Gedanken an seine Familie. Das Verhältnis der von Winterfelds war schwierig. Drei Jahre waren verstrichen, seitdem Andreas ausgezogen war. An der grundlegenden Familiensituation hatte sich seither nicht viel geändert.

Er war immer noch der Erbe des Konzerns, in den alle Hoffnungen gesetzt wurden. Sein Vater glaubte nach wie vor, dass Zuneigung und Geld dasselbe waren, und über seine Mutter dachte Andreas nicht gerne nach. Obwohl ihm fast wöchentlich der Kopf zurechtgerückt wurde, lebte er tagtäglich mit dem Gefühl, seine Familie zu enttäuschen.

Die hässlichen Szenen, zu denen es gekommen war, als er mit der Hilfe seines damaligen Lehrers Dr. Schnieder den Weg in die Psychiatrie fand, würde er wohl nie vergessen.

Meistens kam Andreas gut mit den wenigen Begegnungen der Familie zurecht – oder zumindest redete er sich das ein. Aber dann wieder gab es Augenblicke, in denen er den Verstand zu verlieren glaubte. Momente, in denen er seinen Kopf an die Wand knallen wollte, damit es darin nicht mehr wummerte und pochte. Oft lösten Kleinigkeiten wilde Wut, Verzweiflung und Angst in Andreas aus. Noch öfter wusste er nicht, wer von ihnen verrückt war. Er, weil er das Verhalten der Eltern mittlerweile eigenartig fand, sein Therapeut, weil er Andreas klarmachen wollte, dass das Ehepaar von Winterfeld selbst schlimme Probleme hatte oder seine Eltern, die fast alles, was Therapeut oder Arzt sagten, für Humbug hielten. Das ewige Tauziehen zwischen Verantwortung und dem Wunsch nach Eigenständigkeit, Fortschritten und mangelnder Anerkennung, Schuld und Vorwürfen zermürbte Andreas. Und bei jeder Begegnung mit seinen Eltern spürte er deutlicher, wie enttäuscht er von ihnen war.

An seinen 23. Geburtstag vor zwei Wochen erinnerte Andreas sich zum Beispiel gar nicht gern. Sie hatten ihn nicht vergessen. Dabei wäre es ihm sogar lieber gewesen, wenn sie ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätten.

Richard von Winterfeld hatte ihm eine E-Mail mit einem hechelnden Golden Retriever geschickt und Geld auf Andreas' Girokonto überwiesen. Ein Konto, das mit den Erträgen der Aktienfonds gefüllt wurde, die sein Großvater ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag überschrieben hatte. Geld war das Letzte, worum er sich Sorgen machen musste. Seine laufenden Kosten waren zu vernachlässigen, denn seine Eltern hatten ihm die Wohnung selbstverständlich gekauft. Die von Winterfelds zahlten keine Miete, wenn sie selbst Eigentümer sein konnten. Überhaupt waren seine Eltern nach wie vor mehr als willig, Andreas alles zu kaufen, was er sich wünschte. Dafür gab es auch abgesehen von ihrem schlechten Gewissen gute Gründe.

Lange Zeit hatte Andreas nicht gewusst, wie die Rechtsverhältnisse im Winterfeld-Konzern aussahen. Heute war er besser informiert, wusste, dass er auf einem schrägen juristischen Wege bereits Teilhaber war und die Firma ohne seine ausdrückliche Zustimmung nicht verkauft werden konnte. Das hatte sein Großvater sichergestellt, bevor er sich aus dem täglichen Arbeitsleben zurückzog. Im Grunde wartete der Konzern nur auf Andreas' Bereitschaft, nach ihm zu greifen. Und wer das Unternehmen kontrollierte, besaß die Macht über die Finanzen. Ja, seine Eltern wussten, warum sie großzügig waren.

Margarete von Winterfeld hatte darauf verzichtet, Andreas Geld zu überweisen, das er nicht brauchen konnte. Stattdessen hatte sie ihm scheu einen hohen Gutschein eines renommierten Reisebüros überreicht. Damit er mal aus dem Haus käme. Das wäre doch sicherlich in seinem Sinne. Angesichts der von türkisblauen Ranken umrahmten Geschenkkarte wären Andreas beinahe die Tränen gekommen. Da kämpfte er wie ein Löwe, um den Alltag zu bewältigen, wusste abends kaum, wie er ins Bett kriechen sollte, und seine Mutter glaubte, er könne verreisen. Die Einladung zum Essen in einem teuren, französischen Restaurant hatte er ebenfalls ausschlagen müssen. Er war zu aufgewühlt gewesen.

Von seinem Großvater war Andreas ein weiteres Geldgeschenk ins Haus geflattert. Allerdings hatte der alte von Winterfeld sich die Mühe gemacht, zusätzlich ein paar seltene Buchbände über ägyptische Ausgrabungen zu besorgen. Diese Fotobände bedeuteten Andreas mehr als alles Geld zusammen. Sie zeigten ihm, dass sein Großvater sich an ein lang zurückliegendes Gespräch erinnerte.

Damals in der Klinik... da war Gustav von Winterfeld der Erste gewesen, der ihn besuchen kam. All die Schrecken... und das fremde Zimmer... die Panik.

Etwas krampfte sich schmerzhaft in Andreas' Brust zusammen und trieb ihm die Feuchtigkeit in die Augen. Nicht viel später brachen Tränen unter dem Rand der Sonnenbrille hervor und rannen über sein Gesicht. Er wischte sie nicht ab und versuchte nicht, seinen Gefühlen Einhalt zu gebieten.

Andreas hatte in den vergangenen Jahren genug geweint, um das Hamburger Hafenbecken zu füllen. Anfangs war es ihm peinlich gewesen, dass er sich bei jeder Gelegenheit in einen menschlichen Springbrunnen verwandelte. Viel gutes Zureden seitens seines Therapeuten und des Klinikpersonals sowie die Erfahrung, dass es half, sich richtig auszuweinen, hatten ihn eines Besseren belehrt.

Tränen waren das Wundsekret der Seele. Hielt man sie mit Gewalt zurück, vergifteten sie den Geist und streuten Krankheit in den Kosmos des Selbst. Zu weinen bedeutete, sich von einer Last zu befreien. Der Tränenfluss fungierte als Ventil. Und manche Menschen brauchten mehr Ventile als andere.

Meistens wollte er nicht zurückdenken. Nicht an seine Kindheit, Jugend und die vielen Augenblicke, in denen er sich zurückgestoßen gefühlt hatte. Auch an die Schrecken der Therapie erinnerte er sich nicht gern. Mittlerweile wusste er, dass dieses intensive Beschäftigen mit der Vergangenheit notwendig war. Erst wenn alle Ursachen ergründet, alle Auslöser gefunden waren, würde er frei sein. Leichter wurde sein Leben dadurch nicht.

Trotz der Sonneneinstrahlung erschauerte Andreas unwillkürlich. Sein Alltag verlief in strengen Bahnen. Manchmal glaubte er, an der Autobahnplanke des Therapieplans zu zerschellen.

Von Montag bis Freitag arbeitete er vier Stunden im Tierheim. Nicht nur, damit er sich langsam an ein geregeltes Arbeitsleben herantastete, sondern auch, um aus dem Haus zu kommen. Jeden Tag musste er sich zwei Mal mit Bussen und Bahnen herumärgern, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Am Dienstag und Donnerstag hatte er Gesprächstherapie, in der seine Seele seziert wurde. Außerdem achtete Jochen Köninger streng darauf, dass Andreas sich an den Verhaltensplan hielt, den er nach dem Aufenthalt in Münster bekommen hatte.

Schocktherapie. Nicht im eigentlichen Wortsinn – keine Elektroschocks oder ähnlich martialische Methoden –, sondern eine Form von Konfrontation, die kein Ausweichen erlaubte. Andreas durchlebte heute noch Albträume von den Situationen, in die man ihn damals gezwungen hatte.

Um das Erfolgsniveau zu halten, musste er trainieren. Neben dem Praktikum und den damit verbundenen Fahrten sollte er selbst einkaufen, damit er Supermärkte und andere Geschäfte tatsächlich betrat. Er war angehalten, stets die größten Läden zu wählen; keinesfalls kleine Fachgeschäfte, in denen man schnell wieder an der Tür war. Außerdem hatte er alle Aufgaben des täglichen Lebens selbst zu meistern. Virtuelle Rathäuser oder Waren im Internet zu bestellen, statt sie im realen Geschäft abzuholen, war tabu.

Einmal in der Woche stand Sport in der Öffentlichkeit auf dem Stundenplan – schwimmen gehen, Fitnessstudio –, einmal musste er zum Essen ins Restaurant oder ins Kino gehen, einmal eine abendliche Aktivität hinter sich bringen. Meistens landete er in der Kneipe gegenüber, trank pflichtschuldig zwei Bier und war froh, wenn er wieder verschwinden konnte. Die Therapie bedeutete viel Stress für jemanden, der vor nicht allzu langer Zeit nicht in der Lage gewesen war, im Garten der Eltern schwimmen zu gehen.

Über alle Erfolge und Misserfolge musste Andreas Buch führen. Und ganz nebenbei, wenn er sich nicht dafür rechtfertigte, warum er schon wieder in das kleine Programmkino gegangen war statt in das gewaltige Cinemaxx-Center, musste er lernen, die Scherben seines Selbst zu einem wasserdichten Krug zusammenzusetzen. Er wusste nicht, welcher Vorgang schmerzhafter und anstrengender war. Wie damals, als...

Mann, lass es gut sein, ermahnte Andreas sich selbst, bevor er in finstere Erinnerungen abdriftete. Seine Tränen waren mittlerweile versiegt.

Missmutig verzog er den Mund. Er würde alles tun, um eine Wiederholung der Konfrontationstherapie zu verhindern. Zu sehr hatte er damals gelitten. In der fremden Stadt, die sie zum Trainingsparcours ernannten. Das hotelartige Gebäude, in dem die Patienten darauf warteten, ihren tiefsten Ängsten zu begegnen. Kein Klinikflair, nicht wie die Psychiatrie in Hamburg. Stattdessen hübsche Queensize-Betten, eine Dusche in jedem Zimmer, Minibar und Fernseher.

Andreas hatte es gehasst. Nicht weil man sich keine Mühe mit ihm gab oder er das Gefühl hatte, falsch aufgehoben zu sein. Nein, er hatte nur gehasst, mit ansehen zu müssen, dass bei einigen Patienten die Angehörigen blieben. Ehemänner und -frauen, die ihren Partnern beistanden und diese abends empfingen, wenn sie auf dem Zahnfleisch in ihr Zimmer krochen. Andreas war allein gewesen.

Die Erinnerungen ließen seine Hände zittern. Fahrig rückte er die Sonnenbrille zurecht und schob die dunklen Bilder endgültig von sich. Er stieß sich mit dem Fuß am Boden ab, sodass die Hängematte zu schwingen begann.

Ein freier Tag ohne Aufgaben und Stress lag vor ihm. Nur Sonne und über ihm der Himmel. Langsam beruhigte er sich, wurde träge. Eine Taube verirrte sich zu ihm auf die Terrasse, gurrte leise und verschwand misstrauisch, als er sich halb aufsetzte. Andreas schlang die Arme um die Knie und sah hinüber zum Hafen. Zwei Barkassen mit Touristen begegneten sich vor der Werft, in der ein rostiger Ozeanriese lag. Dahinter erhob sich die Silhouette eines weiteren Schiffes, das im Trockendock einen neuen Anstrich erwartete. Viele Menschen bewegten sich an den Landungsbrücken und schlenderten gen Speicherstadt.

Andreas konnte das Leben in der Stadt fast mit Händen greifen. In diesen stillen Momenten auf der Dachterrasse, wenn die Haut unter seinen Fingerspitzen samtweich und warm wurde und sein Oberkörper sich instinktiv der Sonne entgegen hob, glaubte er manchmal, dass alle Mühen einen Sinn hatten.

Kapitel 3

Geschlaucht stolperte Sascha aus dem Schwimmbad, die Sporttasche kraftlos in der Hand. Was er sich dabei gedacht hatte, ausgerechnet montagabends zum Hochschulsport zu gehen, war ihm schleierhaft. Gerade in diesem Semester war sein Montag so mit Vorlesungen vollgestopft, dass er den ganzen Tag in der Universität verbrachte. Dazu kam abends das anstrengende Training, das ihm viel Kraft abverlangte. Als er zu Beginn des Studiums entschied, etwas für seinen Körper zu tun, hatte er Schwimmen als entspannende Alternative zu den schweißtreibenden Sportarten angesehen. Mittlerweile hatte ihn die Realität eingeholt: Schwimmen war verflixt anstrengend.

Die Luft vor der Halle schmeckte nach Gewitter. Elektrizität kroch über Saschas Haut und kribbelte in seinem Nacken. Die Bäume hinter den Fahrradständern wiegten ihre Äste gefährlich im Wind. Der Regen war nicht mehr fern.

Na danke, grummelte Sascha innerlich. Erst ein Vorlesungs-Marathon, dann zwei Stunden Butterfly-Technik und jetzt auch noch nass werden.

Halb erwartete er, zur Krönung des Tages sein Fahrrad mit platten Reifen vorzufinden. Oder gar nicht, was in der Vergangenheit auch schon vorgekommen war. Aber er hatte Glück. Das altersschwache Herrenrad, das er mithilfe einer roten Spraydose verziert hatte, stand geduldig an seinem Platz.

Bevor Sascha sich am Schloss zu schaffen machte, zog er das Handy aus der Hosentasche. Es schlief friedlich, was einzig dem Umstand zu verdanken war, dass er es am Morgen ausgeschaltet hatte. Saschas Handy schwieg selten.

Zu Hause oder jetzt? Meistens war es ihm lieber, zu Hause nachzusehen, wer ihn angerufen hatte. Aber manchmal bekam er SMS von seinen Mitbewohnern, dass wichtige Dinge wie Salz oder Milch fehlten. Es wäre dumm, wenn er solche Nachrichten zu spät zu Gesicht bekäme.

Während er das Telefon zum Leben erweckte, winkte er einer Kommilitonin zu, die mit ihrem Wagen vom Parkplatz fuhr. Die Glückliche. Es wurde Zeit, dass er Geld zusammenkratzte, um sich ein Auto zu kaufen.

Fünf neue Nachrichten. Vier Anrufe in Abwesenheit.

Schnell überprüfte Sascha die SMS. Isa, die wissen wollte, ob er am Wochenende Zeit hatte. Svenja, die mit ihm mittags in der Mensa essen gehen wollte – zu spät. Ein verflossener One-Night-Stand, der wieder in der Stadt war. Eine Nachricht von Nils, wann er nach Hause käme. Einmal Werbung. Dazu ein Anruf von Svenja, die restlichen von Nils.

Etwas Gereiztes schlich sich in Saschas Züge, bevor es zu dumpfer Resignation verdampfte. Nils war in diesen Tagen schlecht gelaunt und schwer zu ertragen. Verdenken konnte Sascha es ihm nicht. Die Situation zwischen ihnen war kompliziert. Sascha fühlte sich nicht wohl damit und glaubte zu wissen, dass es Nils nicht anders ging. Manchmal wusste er nicht, wie sie in diese Sache hineingeraten waren.

Anfangs waren sie Freunde gewesen, Mitbewohner vom selben Ufer. Sie hatten sich gut verstanden und so manche Nacht miteinander durchgemacht, ohne nach etwas anderem zu suchen als Freundschaft und einem guten Verhältnis innerhalb der Wohngemeinschaft. Nils war damals mit jemand anderem zusammen gewesen; einem Mann, der fast fünfzehn Jahre älter war und bei dem sie sich nie sicher waren, welche Absichten er hatte. Keine guten, wie sich herausstellte. Vor einem Jahr war die Sache hochgegangen. Nils hatte herausgefunden, dass sein Lover verheiratet war und ihn sich als Spielzeug nebenbei hielt. Für jemanden, der zum ersten Mal mit Leib und Seele verliebt war, hätte es kaum schlimmer kommen können.

Sie hatten begonnen, miteinander ins Bett zu gehen. Es war irgendwie zwischen Trösten und Zuhören passiert. Zwischen Ausweinen und gemeinsamem Betrinken, dem Zusichern, dass sie Freunde blieben, auch wenn Exfreund und Familie nichts von Nils wissen wollten.

Wann daraus mehr geworden war, vermochte Sascha nicht zu sagen. Sie hatten sich wohl miteinander gefühlt, waren Leidensgenossen gewesen. Das knüpfte ein Band, das schleichend dicker wurde. Aber für Sascha fühlte es sich nicht richtig, nicht wie damals an. Es war stumpf, wo Glanz sein sollte.

Unglücklicherweise wusste Nils von Andreas. Nicht jedes Detail, aber genug, um zu ahnen, dass Sascha immer noch an ihn dachte. Er hatte nie aufgehört, sich zu fragen, was aus Andreas geworden war. Nie aufgehört, sich Vorwürfe zu machen und nie aufgehört, ihn zu vermissen. Seltsam, wie tief sich ein Mensch in einem halben Jahr in Herz und Verstand brennen konnte.

Solange Nils und er Freunde gewesen waren, gab es damit keine Probleme. Aber je inniger ihr Verhältnis wurde, desto eifersüchtiger zeigte sich Nils. Und je mehr Nils klammerte, desto heftiger kämpfte Sascha um seinen Freiraum. So lange, bis in schönster Regelmäßigkeit der bittere Vorwurf kam, dem er nichts entgegenzusetzen hatte: »Wenn ich Andreas wäre, dann...«

Die Wahrheit ließ sich nicht leugnen. Der entscheidende Funke zwischen ihnen fehlte. Es mochte sein, dass die Intensität seiner Gefühle für Andreas mit den unglücklichen Umständen zusammenhing, die sie zusammengebracht hatten. Sascha war wie ein verlorener Wolf auf der Suche nach einem Rudel durch Hamburg geirrt. Andreas' Sorgen und Sehnsucht nach einem Gefährten waren offensichtlich gewesen. Sie hatten sich aneinander geklammert, sich festgehalten und aufgerichtet. Verzweifelt, süchtig nach der Illusion von Sicherheit, die sie in den Armen des jeweils anderen fanden. Verliebt und gleichzeitig verloren.

Heute konnte Sascha besser beurteilen, was damals geschehen war. Heute wusste er. Vor drei Jahren hatte er nur geahnt und vieles nicht sehen wollen.

All dies änderte nichts daran, dass sich die Dinge mit Andreas anders angefühlt hatten. Realer, besser, aber auch schmerzhafter.

Sascha wusste, dass ihre Freunde die Situation mit Argusaugen beobachteten. Vermutlich redete man über die unglückliche Konstellation, in der sie lebten. Eine Dreier-WG. Svenja als Nils' beste Freundin, Nils und er zusammen. Ärger war vorprogrammiert.

Während Sascha beklommen das Handy in die Hose gleiten ließ, begann es zu regnen. Doch weder der aufkommende Platzregen noch das Verstecken des Telefons konnten die Realität fortspülen.

Er musste mit Nils reden. Nicht heute, aber bald. Vielleicht lag Sascha falsch. Vielleicht verurteilte er ihre Chance miteinander zu schnell zum Tode, weil er nicht aufhören konnte, Nils mit Andreas zu vergleichen. Aber egal, wie er es drehte und wendete: Drei Anrufe in acht Stunden waren zu viel, zumal es an anderen Tagen schon deutlich mehr gewesen waren. Er fühlte sich eingeengt.

Als er eine halbe Stunde später nass bis auf die Haut sein Fahrrad abschloss, ärgerte er sich zu Tode, dass er am Morgen unbedingt sportlich sein wollte und den Bus links liegen ließ. In seinen Schuhen stand Wasser, die Jeans klebten an seiner Haut. Die Sonne war inzwischen vollständig untergegangen. Sascha tat sich schwer, im schummrigen Licht den Hausschlüssel ins Türschloss zu bugsieren.

In Gedanken halb bei einer Seminararbeit und halb bei der Planung des nächsten Wochenendes stiefelte er zu ihrer Wohnung. Als er um die Ecke bog und die Tür in Sicht kam, runzelte er die Stirn. Entgegen der hausinternen Regelung, nur den Haupteingang zu verschließen, war die Wohnungstür zu. Wenn abgeschlossen wurde, dann höchstens, weil jemand krank war, hart arbeiten musste oder weil es anderweitige Probleme gab.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend betrat Sascha den winzigen Vorflur, in dem kaum genug Platz für eine Garderobe war. Es war verräterisch still. Kaum dass er sich aus der nassen Jacke gepellt hatte, hörte er leise Schritte.

Behutsam wurde die Küchentür geöffnet. Svenja lugte um die Ecke. Ein strenger Geruch ging von dem merkwürdigen Kopfputz aus Duschhaube, Frischhaltefolie und einem grün-braunen Brei auf ihrem Kopf aus.

Sascha verdrehte grinsend die Augen. Wenn es in ihrer Wohnung stank, als hätte sich eine Kuh auf dem Küchentisch entleert, wusste er, was los war. Svenja hatte eine Vorliebe für Henna und suchte seit zwei Jahren nach dem richtigen Farbton für ihre mausbraunen Haare. Er bezweifelte, dass sie ihn je finden würde.

»Hey«, flüsterte Svenja atemlos. »Gut, dass du da bist.« Vielsagend rollte sie mit den Augen.

Saschas Laune sackte Richtung Erdkern. Anstelle einer Begrüßung erwiderte er: »Was ist passiert?«

Für einen Moment sah es aus, als wolle Svenja sofort antworten, doch dann schüttelte sie den Kopf – ein Klecks Haarbrei sickerte unter der Haube hervor und lief an ihrer Wange hinab – und zog ihn am Ärmel in die Küche. Hilfsbereit nahm sie Sascha die Sporttasche aus der Hand. »Komm, gib her. Ich hänge das für dich auf. Und hier...« Sie zog sich ein buntes Handtuch von den Schultern, das dem Schutz ihres T-Shirts gedient hatte, und reichte es ihm. Dann verschwand sie eilig.

Sascha suchte nach stinkenden Flecken im Frottee, dann nahm er das Handtuch dankbar entgegen. Während er seine Haare trocknete, trat er in die Fersen seiner Schuhe, um sie abzustreifen. Er hörte Svenja im Bad rumoren und fragte sich, warum er auf eine Erklärung von ihr wartete. Er konnte genauso gut gleich nach Nils sehen. Wenn Svenja ihn mit »Gut, dass du da bist« begrüßte, gab es immer ein Nils-Problem. Eines, bei dem die beste Freundin nicht helfen konnte und Sascha ranmusste.

Trotzdem wartete er. Sei es, damit er durchatmen konnte, bevor er zu seinem Freund ging. Sei es, weil er wissen wollte, womit er zu rechnen hatte. Halb schämte Sascha sich für das ausgeschaltete Handy. Er hätte erreichbar bleiben sollen. Aber in den Vorlesungen waren Telefone verboten und die knappe freie Zeit dazwischen war ihm heilig.

Svenja kehrte zurück. Sie schlich auf den Zehenspitzen, was bei einer Frau ihrer Masse albern aussah.

»Also?«, fragte Sascha leise.

»Er hat seinen Vater angerufen«, erklärte Svenja mit einem unterdrückten Seufzen.

»Nein. Wieso das denn?«

»Frag mich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass er es lassen soll.« Missmutig verzog sie das Gesicht. Sascha war nicht sicher, ob sie in diesem Augenblick wütend auf Nils war oder ob er ihr leidtat. »Aber was willst du machen? Er wollte ihn halt sprechen.«

Obwohl er schleunigst seine nasse Hose loswerden wollte, ließ Sascha sich auf einen der Küchenstühle fallen und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. »Und?«

Svenja nahm ihm gegenüber Platz und zuckte die Achseln. »Was glaubst du denn?«

»Katastrophe.«

»Richtig.«

Nils' Familiensituation war auf ihre Weise noch verzwickter als Saschas. Er stammte aus einer Kleinstadt im Hinterland von Niedersachsen. Seine Mutter war tödlich verunglückt, als er sieben Jahre alt gewesen war. Sein Vater hatte mit drei Kindern – Nils hatte zwei jüngere Schwestern – allein dagestanden und bald wieder geheiratet. War der Verlust der Mutter in jungen Jahren schon schlimm genug, hatte Nils nie einen rechten Draht zu seiner Ziehmutter gefunden. Das größte Problem war jedoch, dass die Brandts streng katholisch waren. Religion war Nils immens wichtig und seine Homosexualität brachte ihn in heftige Gewissenskonflikte. Lange hatte er deswegen seine Orientierung verschwiegen, hatte die Dinge erst mit sich selbst ausmachen müssen, bevor er seine Eltern damit konfrontierte.

Vor wenigen Monaten erst hatte Nils sich ein Herz gefasst und sich geoutet. Ergebnisse waren ein cholerischer Anfall des Vaters, die zeitweilige Streichung aller Geldmittel und absolute Funkstille zwischen seiner Familie und ihm. Nils, der sich in seiner Kindheit und Jugend stark an seinem Vater orientiert hatte, litt unter dessen Ablehnung. Auch von seiner Stiefmutter und seinen Schwestern hatte er keinen Rückhalt zu erwarten.

Manchmal kam es Sascha vor, als gäbe es im Dunstkreis der Community keine intakten Familien mehr, als wäre Homosexualität das Todesurteil für Elternliebe. Von allen Seiten hörte und las man von jungen Menschen, die nach ihrem Coming-out massive Probleme mit ihren Familien bekamen. Es schien kaum jemanden zu geben, der ohne Konflikt angenommen worden war. Viele schafften es mit den Jahren, ein vernünftiges Verhältnis zu den Eltern aufzubauen. Anderen gelang es niemals. Die Positivbeispiele verblassten angesichts der vielen schlimmen Schicksale.

Sascha wusste nicht, ob sich jemand die Mühe gemacht hatte, diese Entwicklungen statistisch zu erfassen. Interessiert hätten ihn die Ergebnisse allemal.

»Und wie geht es ihm jetzt?«, wagte er zu fragen, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Wie es einem eben geht, wenn man an den Kopf geworfen bekommen hat, dass sich jede Sünde irgendwann rächen wird.«

Um ein Haar hätte er erwidert, dass ihm eine Bemerkung dieser Art herzlich am Arsch vorbeigegangen wäre. Aber damit war niemandem geholfen. Nils war nun einmal gläubig. Ihn konnte man mit solchen Sprüchen schlagartig aus dem Takt bringen.

Saschas Magen kannte seinerseits kein Taktgefühl und knurrte schlecht gelaunt. Das Training hatte ihn auf gute Weise schlaff zurückgelassen. Eigentlich wollte er sich nur noch mit einer Pizza vor den Fernseher setzen und abschalten. Aber wie es aussah, konnte er diesen Teil des Tages getrost vergessen.

»Ich sehe nach ihm. Hat er sich eingeschlossen?«, fragte er düster.

»Bis gerade eben zumindest nicht.« Svenja machte eine kleine Pause. »Danke.«

Mit einem schiefen Lächeln stand Sascha auf und schlurfte in den Flur. Unterwegs zog er sich das feuchte T-Shirt über den Kopf und feuerte es achtlos in sein Zimmer, bevor er zu Nils ging. Einen Augenblick lang blieb er vor dessen Tür stehen. Die Gedanken, die ihm nach dem Schwimmen durch den Kopf gegangen waren, probten den Aufstand, doch Sascha schob sie schnell beiseite. Er fühlte sich mies dabei, ihre Beziehung anzuzweifeln, während es Nils dreckig ging.