Take me down under: Melbourne im Blut - Raik Thorstad - E-Book

Take me down under: Melbourne im Blut E-Book

Raik Thorstad

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Beschreibung

Als Jordan Phoenix zum ersten Mal in seinem BDSM-Club sieht, warnt ihn eine innere Stimme eindringlich vor dem Fremden. Zu groß sind die Lücken in Phoenix' Erklärung, warum er nach Melbourne gezogen ist. Doch etwas an Phoenix spricht eine vernachlässigte Seite von Jordan an, sodass ihn der von seiner Vergangenheit getriebene Mann nicht mehr loslässt. Und je besser er Phoenix kennenlernt – vor allem seine Leidenschaft für alte Autos und die dazu passende Musik –, desto unmöglicher wird es, der gegenseitigen Anziehung zu widerstehen. Als Phoenix' Fehltritte ihn einholen, steht Jordan plötzlich vor der Frage, ob Liebe wirklich alles überwinden kann... Band 2 der "Take me down under"-Reihe. Buch ist in sich abgeschlossen.

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Seitenzahl: 571

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Deutsche Erstausgabe (ePub) Dezember 2020

© 2020 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Debora Exner

ISBN-13: 978-3-95823-859-6

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*der Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Als Jordan Phoenix zum ersten Mal in seinem BDSM-Club sieht, warnt ihn eine innere Stimme eindringlich vor dem Fremden. Zu groß sind die Lücken in Phoenix‘ Erklärung, warum er nach Melbourne gezogen ist. Doch etwas an Phoenix spricht eine vernachlässigte Seite von Jordan an, sodass ihn der von seiner Vergangenheit getriebene Mann nicht mehr loslässt. Und je besser er Phoenix kennenlernt – vor allem seine Leidenschaft für alte Autos und die dazu passende Musik –, desto unmöglicher wird es, der gegenseitigen Anziehung zu widerstehen. Als Phoenix‘ Fehltritte ihn einholen, steht Jordan plötzlich vor der Frage, ob Liebe wirklich alles überwinden kann...

Prolog

Das Wummern der Bässe übertrug sich auf den schweren Sessel und auch auf Jordans Körper. Er hatte den Kopf nach hinten gelegt und atmete schaudernd den Duft des Leders ein, der ihn wie eine benebelnde Wolke umgab. Jenseits der Wolke, über ihm, schienen Sterne zu kreisen. Oder waren es leuchtende Augen, die ihn beobachteten?

»Ah…«

Die Vorstellung fremder Beobachter berührte einen Punkt in ihm, dem er in letzter Zeit nicht viel Beachtung geschenkt hatte. Jenen kleinen Teil seines Selbst, der es genoss, Fremden und Bekannten zu zeigen, wie spektakulär er sich auflösen konnte.

Ja, es sollten Augen sein, die über ihm blinzelten. Nicht der künstliche Sternenhimmel in Gelb- und Grüntönen, den sie mithilfe geschickt platzierter LEDs zum Leben erweckt hatten.

Jordans Finger zuckten auf der breiten Armlehne. Instinktiv suchte er den Halt von Fesseln oder wenigstens einen Befehl, der ihn band. Doch er fand nichts als Freiheit.

Halb erleichtert, halb enttäuscht legte er die Hand auf den gleichmäßig auf- und abruckenden Kopf zwischen seinen Beinen. Wayne stieß einen zustimmenden Laut aus und verdoppelte seine Bemühungen, Jordan die dringend benötigte Erleichterung zu verschaffen. Er konnte ihm nicht geben, was er brauchte, aber es würde reichen.

An Abenden wie diesen nervte Jordan seine Berufung, hasste er es, andere zu führen, obwohl er lieber selbst geführt wurde. Hasste es zu lehren, statt etwas beigebracht zu bekommen. Hasste es, sich nicht fallen lassen zu können, weil er eine Aufgabe übernommen hatte, die ihm Kontrolle abverlangte.

Wayne schnippte ihm mit zwei Fingern gegen die Hoden. Jordan unterdrückte ein Lächeln, als ein winziger Stich durch seinen Unterleib fuhr und ein angenehmes Schaudern in seinem Bauch zurückließ. Keine lodernde Hitze, keine glühende Leidenschaft, aber eine leise Wärme, die ihn näher ans Vergessen führte.

Der feuchte Mund löste sich von ihm und Jordan hob instinktiv das Becken, um ihm zu folgen.

»Hör auf zu denken«, murmelte Wayne und rieb die Wange an Jordans Schwanz. »Sonst wird das nichts.«

Jordan schloss die Augen. »Red nicht und mach weiter«, entfuhr es ihm barscher, als er beabsichtigt hatte. Prompt hörte er das Knarren von Latex. Er grinste. Ein scharfes Wort, und Wayne machte sich an der eigenen Hose zu schaffen.

Aber er hatte recht: Jordan musste vergessen, wenn er nicht frustriert nach Hause gehen wollte. Er musste die verdorbene Session aus seinem Hinterkopf streichen, musste aufhören, sich zu fragen, wie er den unerfahrenen Dom besser hätte anleiten können oder ob er im Vorgespräch nicht deutlich genug gewesen war.

Anfangs war alles bestens gelaufen. Er hatte sich wohlgefühlt. Sicher und in guten Händen. Doch dann hatte er gemerkt, dass der Dom ins Schwimmen geraten war und versucht hatte, seine Unsicherheit durch Grausamkeit zu überspielen. Jordan war gezwungen gewesen, die Session abzubrechen.

Am Ende waren ein zerknirschter Dom und ein zutiefst unbefriedigter Sub zurückgeblieben. Und Letzteres lag Jordan nicht. Man konnte vieles mit ihm anstellen, konnte ihn quälen, reizen, an und über seine Grenzen treiben und ihm stundenlang einen Orgasmus verweigern. Aber er gehörte nicht zu jenen, die Befriedigung daraus zogen, wenn man sie ganz im Regen stehen ließ.

Eben das war heute Abend geschehen. Er machte dem Dom keinen Vorwurf. Aber deshalb war es nicht weniger frustrierend.

Jordan biss sich auf die Innenseite der Wange. Nicht denken. Vergessen.

Es wollte ihm nicht recht gelingen.

Doch irgendwann schaffte er es mit Waynes Hilfe, weit genug zu sich selbst zu finden, dass sich die Lust in ihm verdichtete und schließlich löste. Es war kein überwältigender Höhepunkt, sondern einer, der sich schal anfühlte und nicht in seinen Körper ausstrahlte. Eine Erleichterung war er dennoch.

Als Wayne sich neben ihn auf den Sessel quetschte, legte Jordan ihm den Kopf an die Schulter. »Danke.«

»Kein Problem.« Wayne ergriff sein Kinn und küsste ihn behutsamer, als ihm lag. »Wozu hat man schließlich Freunde?«

»Für Frust-Blowjobs? Meinst du echt, die findet man unter dem Stichwort Freundschaft im Lexikon?«

»Kommt auf das Lexikon an, würde ich sagen.«

»Oder darauf, ob man überhaupt so was Altmodisches benutzt.«

»Genau.«

Mit einem Seufzen griff Jordan nach seinem Schwanz und schob ihn nachlässig zurück in die Lederhose. Die Unzufriedenheit in seinem Kopf war größer als je zuvor, aber wenigstens bekam er die Hose zu, ohne sich den Ständer einzuklemmen.

Anschließend drehte er sich halb auf die Seite und zog Wayne in eine lockere Umarmung. Er spürte dessen Erektion an seinem Oberschenkel und schloss automatisch die Faust darum. Es war nur fair, den Gefallen zu erwidern, wenn sie schon beide nicht bekommen konnten, was sie sich wünschten.

Jordans Bewegungen waren ruppig. Immer wieder stieß er mit der Handkante hart gegen Waynes Hoden. Er wusste, was Wayne mochte, und selbst wenn nicht, hätte dessen lauter werdendes Keuchen es ihm schnell verraten.

»Bisschen mehr«, murmelte Wayne nach einer Weile. »Jordan… tu mir weh.«

Jordan tat ihm den Gefallen und atmete gemeinsam mit Wayne aus, als der sich über seine Finger ergoss. Danach blieben sie still aneinandergelehnt sitzen. Keiner von ihnen machte Anstalten, seine Kleidung zu säubern oder den Sessel auf Verunreinigungen zu prüfen. Dafür war später Zeit.

Wortlos lauschten sie den Geräuschen jenseits der Stahltür. Manchmal war kaum zu erkennen, ob die Aufschreie, das Auftreffen von Peitschen auf nackter Haut und das Dröhnen von den Besuchern stammten oder vom Industrial, der durch die Lautsprecher wummerte.

»Ich bin neidisch«, murmelte Wayne nach einer Weile. »Ich bin so verdammt neidisch auf jeden Sub, der gerade einen Dom bei sich hat. Egal, ob nur für heute Nacht oder für länger. Ich könnte platzen.«

Jordan erwiderte nichts.

Kapitel 1

Der Geruch nach Benzin, Schmieröl, Lack und Gummi war überwältigend. Er stieg Phoenix in die Nase, verteilte sich in seinen Nebenhöhlen und biss sich dort fest. Genüsslich atmete er ein; gefühlt zum ersten Mal seit Wochen. Für ihn roch es nicht nur nach harter Arbeit, Maschinen und Brennstoffen, sondern auch nach Vertrautheit, nach etwas, das richtig war.

Durch die offene Werkstatttür sah er sich nach seinem Triumph Spitfire um. Der dunkelgrüne Lack des Oldtimers war staubig, sodass sich das Licht der untergehenden Sonne nur mäßig darauf verfing.

Phoenix war später dran, als er geplant hatte. Eine Vollsperrung hatte ihn gezwungen, sich in den zähen Verkehr der Melbourner Rush Hour einzufädeln. Dass ihn sein Handy auf den letzten Kilometern im Stich gelassen hatte, hatte zu weiteren Verzögerungen geführt. Er hatte sich sogar an einer Tankstelle nach dem richtigen Weg in den Vorort Altona und das dort ansässige Industriegebiet erkundigen müssen. Die kaugummikauende Verkäuferin hatte ihm zu Recht einen belustigten Blick zugeworfen.

Wer war heutzutage schon in einem Auto ohne Navigationssystem und ohne Handy unterwegs? Phoenix war sich wie ein Dinosaurier vorgekommen, der zu dumm war, die Straßenkarte richtig herum zu halten. Er hatte sich für die Wegbeschreibung bedankt, für seinen knurrenden Magen einen Proteinriegel erstanden und war in dem Gefühl verschwunden, dass er irgendwann und irgendwo vom Weg abgekommen war – auch jenseits aller Straßen.

»Da bist du ja, Kumpel! Dachte schon, du hättest dich anders entschieden.«

Ein humorloses Auflachen steckte in Phoenix' Kehle, als er sich nach dem Sprecher umsah. Randy Fountain kam unter einer der Hebebühnen hervorgekrochen; ein breites Grinsen im Gesicht. Er sah genauso aus, wie Phoenix ihn in Erinnerung hatte. Derselbe massige, kahle Schädel, der wie eine Bowlingkugel glänzte, dieselbe Knollennase, der birnenförmige Bauch, der sich über dünnen, langen Beine wölbte. Nur die kräftigen Arme schienen noch umfassender tätowiert als früher, auch wenn es mehr Licht brauchen würde, um die Tinte in der kaffeebraunen Haut zu erkennen.

»Wie könnte ich?« Phoenix ging Randy entgegen und bot ihm ungeachtet dessen ölverschmierter Finger die Hand an. Besser, er gewöhnte sich früher als später wieder daran, eine Patina aus altem Rost und Öl auf der Haut zu haben.

Randys Griff war fest und sein Lächeln warm, aber mit Betroffenheit versetzt. »Wie geht es Stan?«

Obwohl Phoenix die Frage erwartet hatte – immerhin waren Randy und sein Vater jahrzehntelang erst Kollegen, dann Mitbewerber, aber immer Freunde gewesen –, fiel es ihm schwer, sie zu beantworten. Schwerer als noch vor ein paar Tagen, obwohl sich der Zustand seines Vaters seit dem Unfall weder verbessert noch verschlechtert hatte.

»Unverändert«, sagte er knapp. »Mom kümmert sich um ihn.«

Randy schob die Unterlippe vor. »Meinst du, dass er… es weiß?«

Erneut schaute Phoenix sich nach seinem Wagen um, dieses Mal nicht, um sich zu vergewissern, dass Cabrio und Ladung unversehrt waren, sondern um Randy nicht ansehen zu müssen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er mit Blick auf die schimmernden Radkappen. Und ohne es zu wollen, fügte er hinzu: »Hoffentlich nicht.«

»Versteh ich. Würde ja auch niemandem was bringen, wenn er Bescheid wüsste, nicht?« Ein Knacken verriet, dass Randy an einem der Werkzeuge in der Brusttasche seines Blaumanns herumspielte. Dann trompetete er unerwartet laut: »Aber wir können es nicht mehr ändern, nicht wahr? Nur das Beste daraus machen. Bringt Stan nix, wenn wir jetzt alle Flaggen auf Halbmast setzen.«

Phoenix schluckte beim Gedanken an die reglose Gestalt, die im ehemaligen Schlafzimmer seiner Eltern vor sich hinvegetierte und in der man kaum jenen Mann wiedererkannte, der ihm vom Schwimmen übers Billardspielen bis hin zum Autofahren alles beigebracht hatte. Einen Mann, den er liebte und immer lieben würde. Trotzdem war er zu feige gewesen, sich von seinem Vater zu verabschieden, bevor er nach Melbourne aufgebrochen war. Stattdessen hatte er stumm gebetet, dass er sich an einem Ort befand, an dem ihn die Geschehnisse der realen Welt entweder nicht erreichten oder wenigstens nicht berührten.

»Trotzdem, ist eine Schande«, murmelte Randy. »Die ganze vertrackte Geschichte.«

Phoenix biss sich auf die Unterlippe. Er wusste zu gut, was Randy mit der ganzen vertrackten Geschichte meinte. Aber er ging nicht darauf ein. Er hatte seit Ewigkeiten nichts anderes getan, als sich mit den Folgen des Unfalls zu beschäftigen, und sich dabei ein paar hässlichen Wahrheiten über sich selbst stellen müssen, die ihm bis heute im wahrsten Sinne des Wortes Magenschmerzen bereiteten.

Um das Thema weder im Gespräch noch in Gedanken weiter zu vertiefen, wechselte er die Spur. »Falls ich es am Telefon noch nicht erwähnt hatte: Ich bin dir sehr dankbar. Nicht nur dafür, dass ich bei dir anfangen kann, sondern auch für die Unterkunft.« Ihm war bewusst, wie außergewöhnlich das Angebot des alten Freunds seines Vaters war. Wäre er an Randys Stelle gewesen, hätte er sich keine Chance gegeben – und erst recht keine Arbeit.

Randy grinste lediglich schief. »Oh, warte ab, bis du die Bruchbude gesehen hast, bevor du dich bedankst. Und was den Job angeht, kannst du dir sicher sein, dass ich genauso viel davon habe wie du. Hab in letzter Zeit zu viele Kunden wegschicken müssen. Ist nett, wenn die Kasse klingelt. Aber nur so lange, wie man keine Stammkunden vergrault, weil man keine Zeit für sie hat.«

Phoenix rang sich ein Lächeln ab. »Es geht nichts über volle Auftragsbücher.«

»Und mit deinen fixen Händen können wir sie noch ein bisschen voller stopfen. Na komm, Junge. Packen wir's an.« Randy trat mit wiegenden Schritten aus der Werkstatt und spähte in den Spitfire. »Tolles Auto, eines der schönsten, die je gebaut wurden, aber viel Stauraum hat er wirklich nicht«, meinte er angesichts der beiden kleinen Koffer, die hinter den Sitzen verkeilt waren.

»Er war wohl auch nie als Umzugswagen konzipiert.«

»Stimmt. Eher zum Abschleppen von Bräuten.« Randy zog einen der Koffer am Griff zu sich. »Und von Kerlen natürlich.«

Früher – in einem anderen Leben – hätte Phoenix auf die flapsige Bemerkung reagiert und stolz erzählt, dass ihm dieser Wagen schon manchen Fang eingebracht hatte. Damit hätte er sogar untertrieben. Er konnte die Blowjobs, die er in dem engen Raum zwischen Sitz und Lenkrad bekommen hatte, kaum zählen. Aber nun blieben sowohl die Erregung als auch die Freude an der Erinnerung aus, erstickt von der Tatsache, dass der Spitfire und die beiden Koffer einen großen Prozentsatz seines verbliebenen Vermögens darstellten.

Phoenix nahm den zweiten Koffer und folgte Randy durch zwei ineinander übergehende Werkstatthallen zu einer mit Aufklebern übersäten Stahltür. Der kurze Korridor dahinter führte an einem Büro und einem Personalraum vorbei und mündete in einer engen Treppe, an deren Ende sich absatzlos eine weitere Stahltür anschloss.

Randy stieß sie auf und gab den Blick auf einen quadratischen Raum frei, der spärlich möbliert und dank weit offen stehendem Fenster ausgekühlt war. Phoenix trat ein und erwartete halb, seine Gesichtszüge unter Kontrolle halten zu müssen, damit er keine Grimasse zog. Noch vor wenigen Wochen hätte er angesichts des schmalen Metallbetts, der schäbigen Auslegeware und des wackeligen Schranks die Nase gerümpft. Nun war er froh, dass es nicht muffig roch, dass die Decke trocken war und er in der hintersten Ecke einen Durchgang zu einem winzigen Badezimmer mit Toilette und Dusche entdeckte.

»Ich hab unten noch einen alten Minikühlschrank stehen. Die Gummierung ist hin, aber er sollte noch laufen. Bring ich dir gleich hoch«, meinte Randy, während er sich über den kahlen Hinterkopf strich. »Tja, und sonst… Es gibt Strom, die Heizung tut's, Licht ist da und im Bad funktioniert auch alles so weit. 'Ne Kochnische gibt's nicht, aber unten im Personalraum haben wir einen Wasserkocher und 'ne Mikrowelle.« Entschuldigend fügte er hinzu: »Ist wirklich nicht viel, aber…«

»… aber es ist verdammt viel besser als alles, was ich gerade habe«, unterbrach Phoenix ihn. »Mach dir keine Gedanken. Ich werde zurechtkommen.«

Randy zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. Phoenix konnte es ihm nicht verübeln. Auch, wenn sich die Wege Randys und seines Vaters zuletzt nicht mehr so oft gekreuzt hatten wie in ihrer Jugend, hatte Randy sie doch einige Male in ihrem Haus in Sydney besucht. Er wusste, dass Phoenix in einer zweistöckigen Villa mit üppig ausgestatteten Räumen, Hauspersonal, luxuriösen Bädern und einer weitläufigen Gartenanlage aufgewachsen war. Von den gewaltigen Garagen, die die zwei- und vierräderigen Sammlerstücke seiner Eltern enthielten, gar nicht erst zu reden.

Dagegen war die Behausung über der Werkstatt tatsächlich kaum mehr als eine Bruchbude. Aber wenn Phoenix nach anfänglichen Startschwierigkeiten eines begriffen hatte, dann dass sein Leben, wie er es gekannt hatte, vorüber war. Er hatte zu diesem Zeitpunkt nur zwei Möglichkeiten: Er konnte sich anpassen und zusehen, dass er die Durststrecke hinter sich brachte, oder sich eine hübsche Brücke suchen, von der er sich hinunterstürzte.

Letzteres war keine Option. Vielleicht, weil er nicht schlau genug war, um die Konsequenzen seines Verhaltens zu überblicken, wie seine Mutter ihm in einem Augenblick der Verzweiflung an den Kopf geworfen hatte. Falls ja, war das für den Moment eher ein Vorteil als ein Nachteil.

***

Phoenix erwachte vor Sonnenaufgang und damit lange, bevor er nach unten gehen und seine neue Stelle antreten konnte. Dennoch drehte er sich nicht noch einmal um, um sich die dünne Bettdecke über den Kopf zu ziehen.

Es hatte sich für ihn in letzter Zeit nie als weise erwiesen innezuhalten. Wenn er körperlich wie geistig stillstand, dauerte es meistens nicht lange, bis sich ein Gefühl von Unwirklichkeit einstellte. Dann kam es ihm vor, als würden die Wände auf ihn zukommen, als wollten sie ihn zerquetschen.

Die Folge war jedes Mal, dass sein Herz einen erschrockenen Satz hinlegte, sein Körper die Adrenalinzufuhr hochjagte und er nach einer Gefahr suchte, die es gar nicht gab. Sein Urzeit-Ich hatte das nur noch nicht begriffen und versuchte, ihn zur Flucht zu überreden. Doch er konnte nicht länger weglaufen. Wichtiger als das: Es war gar nicht mehr nötig. Die Höhle war bereits zusammengestürzt und das Mammut hatte ihn so gründlich niedergetrampelt, dass er kaum noch wusste, wer er war.

Daher fand Phoenix sich morgens um halb fünf unter einer lauwarmen Dusche wieder, gefolgt von einer Rasur mithilfe eines gesprungenen Spiegels und einem Frühstück, das aus einer halben Flasche Wasser und einem Zitronendrops bestand. Mehr hätte sein unruhiger Magen ohnehin nicht verkraftet.

Eine Viertelstunde später betrachtete er das Innere des klapprigen Sperrholzschranks und die zerknitterten Kleidungsstücke, die er darin verstaut hatte. Obwohl der Schrank nur einen schmalen Bereich für Kleiderbügel sowie vier Fächer und Schubladen für T-Shirts und Unterwäsche besaß, war er nicht voll.

Phoenix dachte an die Kartons, die er auf dem Dachboden seiner Eltern zurückgelassen hatte, an die gesammelten Sommer- wie Winterkollektionen von Georgio Armani, Hugo Boss und seinem persönlichen Favoriten The Row, an glänzende Schuhe, modische Extravaganzen und augenkrebserzeugende Entgleisungen. Daran, dass er selbst mit einem größeren Auto kein Bedürfnis verspürt hatte, mehr von seiner Garderobe mitzunehmen. Es wäre das falsche Signal gewesen, der Versuch, die Brücke zu erhalten, die ihn mit seinem Versagen verband.

Was ihm geblieben war, waren alte Freunde: Jeans und T-Shirts, ausgebeulte Arbeitshosen und Sweatshirts, die sich sowohl in der Werkstatt als auch beim Sport tragen ließen, dazu eine Reihe fester Arbeitsschuhe, Jeans- und Freizeithemden und eine groteske Ansammlung hochpreisiger Unterhosen.

Wenigstens kann ich meinen Arsch in Boxershorts für siebzig Dollar das Stück parken. Hurra.

Phoenix schloss mit Nachdruck die Schranktüren, sah auf zur Achtzigerjahre-Deckenlampe und anschließend zu den wenigen verbliebenen Gegenständen in seinen Koffern. Einer war das Ladekabel für sein Handy, das er gestern Abend wohl zum ersten Mal, seitdem er eines besaß, nicht sofort aufgeladen hatte. Aus der Innentasche des anderen Koffers ragte ein Schreibblock mit dem Logo einer Fünf-Sterne-Hotelkette, daneben ein Kugelschreiber mit vergoldeter Spitze; beides seltsam fehl am Platz an einem Ort, an dem zwischen Bad und Wohnraum die Tür fehlte.

Ein Blick auf die Uhr und Phoenix wusste, dass er noch Stunden totzuschlagen hatte, bevor er sich Randy und seinem Team in der Werkstatt anschließen konnte. Er könnte losziehen und sich nach dem nächsten Bäcker oder Coffeeshop umsehen, vielleicht auch nach einem Laden, in dem er ein paar Grundnahrungsmittel erwerben konnte.

Aber etwas in ihm sperrte sich dagegen, Geld auszugeben, und zwang ihn, Block und Kugelschreiber an sich zu nehmen, sich im Schneidersitz aufs Bett zu setzen und endlich den Kassensturz hinter sich zu bringen, dem er sich seit Tagen erfolgreich verweigert hatte.

Zuerst plünderte er seine Brieftasche, dann das Geheimfach im Koffer, das ein Dieb wahrscheinlich innerhalb von Sekunden entdeckt hätte, zuletzt die Taschen der Jeans, die er am Vortag getragen hatte. Er zählte genau und mit einem unangenehmen Flattern in der Magengegend, das sich auch dann nicht beruhigen wollte, als er stolze tausendvierhundertachtzehn Dollar und dreiundvierzig Cent zusammenbekam.

Und selbst für die sollte ich mich schämen.

Es war mehr als genug Geld, um bis zu seinem ersten Lohn über die Runden zu kommen; besonders, da Randy ihm freie Unterkunft angeboten hatte. Aber für jemanden, der früher mehr Kreditkarten besessen hatte, als er nutzen, mehr Konten, als er überblicken, und mehr Aktienfonds, als er allein managen konnte, war es erschreckend wenig.

In Phoenix' Brieftasche herrschte Leere, sobald das Geld neben ihm auf dem Bett lag. Alle Bankkarten waren daraus verschwunden, nur sein Ausweis und seine Krankenkassenkarte waren ihm geblieben, dazu der Mitgliedsausweis eines Fitnessstudios, das er nicht mehr besuchen würde.

Es war niederschmetternd und doch nur der Anfang.

Die folgenden Stunden verbrachte Phoenix damit, säuberlich zu notieren, welche Einkünfte und Ausgaben von nun an auf ihn zukamen – Benzin, Handy, Lebensunterhalt, ein paar Neuanschaffungen für sein neues Zuhause – und mit welchen Belastungen aus seinem alten Leben er rechnen musste. Sie hatten ihm bereits fast alles genommen, aber er glaubte nicht, dass sie sich damit zufriedengeben würden. Wenn er ehrlich war – und das fiel ihm bedrückend schwer –, konnte er sie sogar verstehen.

Als er die Zahlen in verschmiertem Kugelschreiberblau auf Weiß vor sich sah – nach unten hin war seine Schrift immer schiefer geworden –, war jeder Gedanke an eine geregelte Nahrungsmittelaufnahme vergessen. Wenn überhaupt, würde er zwei Säureblocker herunterwürgen und hoffen, dass sie wirkten, bevor sich seine Speiseröhre unter dem Angriff seiner Magensäure auflöste.

Nein, für Lebensmittel würde er in nächster Zeit nicht viel Geld ausgeben.

Um halb acht drangen die ersten Geräusche an sein Ohr. Erst ein, dann mehrere heranrollende Wagen, das Quietschen der Tore zu den Hallen, Morgengrüße und irgendwann auch Türenschlagen unten im Flur.

Phoenix nahm die Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger und kniff sie zusammen, bis ihm die Augen brannten. Seine alten Arbeitsschuhe fühlten sich lächerlich tröstlich an, als er sie noch einmal nachschnürte und anschließend die Tür hinter sich verschloss. Er glaubte nicht, dass Randy zwielichtige Leute beschäftigte, aber wenn man nur knapp eineinhalbtausend Dollar sein Eigen nannte, stellte ein altersschwaches Türschloss eine der vielen kleinen Barrieren zwischen klarem Verstand und erstickender Existenzangst dar.

Sie reichte nicht, wie sich herausstellen sollte.

Phoenix war auf halber Treppe, als die Wände sich über ihm zusammenkrümmten, die Stufe unter seinen Füßen schlüpfrig wurde und sich seine Zehen unter den Stahlkappen taub anfühlten. Er musste sich an der Wand abstützen, starrte auf seine langfingrige, breite Pranke, die keinen Halt versprach, und kämpfte um Selbstbeherrschung.

Im Personalraum rülpste wenig einladend die Kaffeemaschine, jemand ließ eine Schranktür zuknallen, Randys Stimme polterte durch den Gang wie eine Murmel durch eine nicht sauber ausgeschliffene Holzkugelbahn.

Es wirkte alles so normal. So unanständig selbstverständlich. So, als hätte Phoenix sich nicht bis zum Anschlag in die Scheiße geritten. Und für sie – für die Kollegen, die er noch nicht kannte – war es ein Tag wie jeder andere. Sie würden arbeiten, scherzen, sich in die Haare bekommen, vermutlich auch mal stöhnend auf die Uhr schauen und irgendwann nach Hause gehen. Die meisten, ohne sich bewusst zu machen, welch ungeheures Privileg es war, Arbeit zu haben.

Du hast auch Arbeit, erinnerte Phoenix sich scharf. Dazu ein Bett und etwas Bargeld. Du bist immer noch versichert, du hast einen fahrbaren Untersatz und wenn du vor lauter Stress ein Magengeschwür bekommst, musst du nur deine Krankenkassenkarte vorlegen, um behandelt zu werden. Du hast genug und wahrscheinlich mehr, als du verdienst.

Aber es würde dauern, bis sich seine Definition von Reichtum an seine neue Realität angepasst hatte.

Sobald er sich wieder sicher auf den Beinen fühlte, ging er zum Personalraum; entschlossen, jede Ablenkung anzunehmen, die sich ihm bot.

Seine Ohren hatten ihn nicht getrogen: Die ersten seiner neuen Kollegen waren eingetroffen und teilten sich eine Kanne Kaffee. Auch Randy war da und stellte ihn den anderen vor. Phoenix nickte nacheinander dem schlaksigen Sammy zu, der kaum dem Stimmbruch entwachsen war, einem rothaarigen Lockenkopf namens Tatiana, die ihn mit zwei Fingern an der Schläfe grinsend grüßte, und einer älteren Frau, die Randy mit angedeutetem Handkuss als Josephine, die gute Seele des Hauses, vorstellte.

Sie verpasste ihrem Chef einen Stoß vor die breite Brust. »Reiß dich bloß zusammen, Mann«, verkündete sie in feiner britischer Aussprache, die sich mit ihrer Wortwahl biss. »Du willst mir nur Honig ums Maul schmieren. Aber ich war gerade schon im Büro und habe die verdammte Sauerei gesehen, die du hinterlassen hast. Du brauchst heute keinen Schraubenschlüssel anzufassen. Solange wir unsere Buchführung nicht auf Kurs haben, lass ich dich nicht in die Werkstatt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich Phoenix zu, reichte ihm ihre von Altersflecken übersäte Hand und sagte mit spitzbübischem Lächeln: »Josephine Smith, schön, dass du unser Team verstärkst. Und nein, nicht die gute Seele des Hauses, sondern der Hausdrache.«

»Und sie speit nicht nur Feuer, sondern beißt dir auch in den Arsch, wenn sie es für nötig hält«, fügte Tatiana lachend hinzu. Als sie sich die langen Ärmel ihres Shirts hochkrempelte, kam neben einer Unmenge bunter Lederbänder auch ein Unterarm voller Autotätowierungen zum Vorschein.

»Ganz genau. Randy, wenn du Phoenix eingewiesen hast, kommst du direkt zu mir. Sonst…« Josephine hob drohend den Zeigefinger und marschierte mit erhobenem Haupt von dannen. Der grünblaue Seidenschal, der hinter ihr herflatterte, hatte tatsächlich etwas von einem Drachenschwanz.

»Du hast es gehört: Höhere Gewalt hat über meinen Terminkalender entschieden. Na kommt, Leute. Gehen wir in die Halle und sehen zu, dass wir euch für heute mit Arbeit versorgen.« Randy rieb sich die Hände, als könnte er es nicht erwarten, sein Tagwerk zu beginnen. »Tatty, du kümmerst dich zuerst um den Dodge, ja? Neue Bremsscheiben und -klötze.«

Sie reckte den Daumen hoch. »Roger, Chef.«

Phoenix folgte Randy gemeinsam mit Sammy in die Werkstatt. Bald darauf fand er sich in einer Fachsimpelei über einen alten Toyota Camry wieder, für den sie wahrscheinlich nichts mehr tun konnten, und über einen Ford Mondeo, der beim Starten laut Kundin rassele wie ihr Mann auf der Lunge. Randy erklärte Sammy, der offenbar noch nicht lange für ihn arbeitete, was es mit einer Steuerkette auf sich hatte und warum es meist auf einen Totalschaden hinauslief, wenn sie riss, und Phoenix steuerte hier und da ein Nicken oder einen Einwurf bei.

Und er entspannte sich ein wenig. Er wusste nicht, ob es an der Werkstattluft lag, an der bodenständigen Arbeit oder an der Stimme, die ihm einflüsterte, dass er nach vielen Jahren hinter dem Schreibtisch endlich wieder dort war, wo er hingehörte. Aber als er sich hinter das Steuer des Mondeos setzte und ihn anließ, damit sie sich das Rattern der Steuerkette anhören konnten, war sein Magen friedlich.

Kapitel 2

»… können uns das nur bis zu einem gewissen Punkt erklären. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als eine Untersuchung anzuleiern. Es gibt da einen Onlineanbieter, der schnell eine Crowd organisieren kann, die sich vor Ort umschaut. Wir können genau bestimmen, welche Geschäfte…«

Jordan wechselte zum nächsten Browsertab, scrollte durch die ausgestellten Möbelstücke und grinste, als er auf eine Chaiselongue mit weinrotem Samtbezug und lächerlich pompösen Goldborten und -fransen stieß. Er hätte eher eine Yogamatte auf eine Europalette geklebt, als sich ein solches Ungetüm in die Wohnung zu stellen. Aber wenn Katy – beziehungsweise Sasha beziehungsweise Ben – wollte, dass sich Raum Nummer 5 in ein französisches Lustschloss verwandelte, dann würde er dafür sorgen, dass das Red Vinyl vor Pomp platzte.

»… möglicherweise die Produktplatzierung. Würde mich nicht wundern, wenn Carlsons Schweinepriester die Einkaufsleiter geschmiert haben. Es kann kein Zufall sein, dass der Absatz unserer Vollkornprodukte gerade in Canberra und Umgebung fast vierzig Prozent niedriger ist.«

Jordan legte den Kopf schief. Sein Headset verrutschte und er rückte es mit einem Finger zurecht, während er gleichzeitig die Lieferzeiten der Chaiselongue prüfte. Sie waren genauso lang wie befürchtet, aber wenn sie mehrere Stücke vom selben Hersteller bestellten, konnten sie den Lieferanten vielleicht überreden, sich auf eine Sonderlieferung einzulassen. Es war nie gut, einen der Räume längere Zeit geschlossen zu halten. Am Wochenende waren sie fast immer ausgebucht, was bedeutete, dass sie während der Sanierung bares Geld verloren.

»Jordan? Jordan!«

Sein Schreibtischstuhl quietschte, als er sich aufsetzte. In diesem Moment war er froh, dass sie auf eine Videokonferenz verzichtet hatten. »Hab verstanden«, beeilte er sich zu versichern. »Unsere Bionudeln ohne Ei laufen überall hervorragend außer in der Hauptstadt. Marktforschung anleiern. Crowdsourcing-Firma beauftragen. Bei Carlson arbeiten nur Schweinepriester.«

Sein Vorgesetzter oder vielmehr seine Schnittstelle zu seinen Arbeitgebern grummelte ihm ins Ohr. »So ungefähr. Ich habe dir die Daten in die Cloud geschoben. Setz dich gleich dran, okay? Ich brauche zeitnah Ergebnisse, die überzeugend genug sind, dass der Chef mir freie Hand lässt.«

Jordan nickte und verzog gleichzeitig das Gesicht. »Klar, Francis. Aber dann muss ich die anderen Statistiken fürs Erste zurückstellen. Nur, dass du Bescheid weißt.«

»Sind die etwa noch nicht fertig?«

Jordan atmete tief durch und hoffte, dass man es am anderen Ende der Leitung hörte. »Die Deadline ist für nächste Woche Freitag angesetzt. Und ich habe auch sonst einen ziemlich vollen Schreibtisch, weißt du?«

Erneut grollte Francis wie ein verhindertes Sommergewitter. »Schon gut, schon gut. Aber ja, erst die Nudeln, dann Müsli und Porridge.«

»Aye, aye, Boss. Stets zu deinen Diensten.«

»Pfft, du mich auch.«

Eine Minute später setzte Jordan das Headset ab und rieb sich die heißen Ohren, während er mit einem raschen Klick auf den Bildschirm seine Spotify-Playlist startete. Sobald die Seekers ihm ihr Georgy Girl entgegenträllerten, besserte sich seine Laune. Es ging doch nichts über analog aufgezeichnete, vom Kratzen alter Aufnahmetechnik durchzogene Oldies, um sich aus der technisierten Welt zu verabschieden.

Jordan entschied, dass Francis' Nudeldebakel noch zehn Minuten Zeit hatte, holte sich aus der Küche einen frischen Kaffee und öffnete anschließend ein anderes Fenster, um Katy eine schnelle Nachricht zu schicken.

Hab eine Chaiselongue gefunden, für die du töten würdest. Soll ich dir den Link schicken oder sie dir erst heute Abend zeigen?

Drei zuckersüße tiefschwarze Schlucke später hatte er seine Antwort: Sofort natürlich. Er tat ihr den Gefallen und kopierte den Link. Die Reaktion erfolgte in Minuten und ließ ihn laut herauslachen: Stimmt, ich würde dafür töten. Aber kannst du mir mal sagen, wer das Ding wieder sauber machen soll, nachdem unsere Gäste damit fertig sind?

Es war jedes Mal dasselbe Gespräch, egal, welchen Raum sie einer Generalüberholung unterzogen. Katy/Sasha/Ben geriet in die Stimmung – die von ihren Mitarbeitern sowohl gefürchtet als auch bewundert wurde –, zerrte Jordan am Ärmel, der Hand oder auch am Gürtel in eine Ecke und überfiel ihn mit weitschweifenden Visionen für die Umgestaltung eines der Räume oder des Barbereichs des alten Clubs. Er hörte zu, wies auf Schwierigkeiten wie eben die Reinigung und Pflege gewisser Einrichtungsgegenstände hin, nur damit seine Argumente rigoros abgeschmettert wurden. Anschließend begab er sich auf die Suche nach entsprechenden Designerstücken und durfte sich hinterher genau die Argumente anhören, die zuvor entschieden zurückgewiesen worden waren.

Aber am Ende – und darauf kam es an – hatten sie hinterher jedes Mal einen atemberaubenden neuen Raum im Red Vinyl und konnten es kaum erwarten, ihn zum einen selbst auszuprobieren und zum anderen ihren Gästen vorzustellen. Dass sie jeder, der ihre Debatten während des Entstehungsprozesses mit anhörte, für verrückt hielt, war ein Preis, mit dem sie nicht nur leben konnten, sondern über den sie auch oft und gern lachten.

Jordan klickte sich noch einmal durch die zahlreichen Aufnahmen der Chaiselongue und speicherte die Seite, bevor er sie widerwillig schloss. »Bis später, Kleines«, murmelte er wehmütig. Er hätte sich lieber weiterhin der Jagd nach extravaganter Einrichtung gewidmet als der Frage, ob die Supermärkte in Canberra ihre Ware nicht in 1A-Lage präsentierten.

Beides war Teil seiner Arbeit, aber er schlug sich nicht halb so gern mit Verkaufsstatistiken wie mit den Kunden im Red Vinyl herum – Letzteres manchmal wortwörtlich. Aber das Erheben, Bebrüten und Auswerten von Zahlen für einen der größten Lebensmittelkonzerne des Landes finanzierte ihm nicht nur sein Apartment, sondern brachte ihm auch das nötige Kleingeld ein, um den Club nach und nach auf Vordermann zu bringen. Dass er dabei draufzahlte und es vielleicht immer tun würde, war nichts, was ihm nachts den Schlaf raubte.

Geld ließ sich beziffern. Wert hingegen nicht.

Jordan stürzte sich mit pflichtschuldigem Eifer in die neue Aufgabe. Er brauchte nicht lange, um sich einen Überblick über die Daten zu verschaffen, und erst recht nicht, um alle nötigen Prozesse anzustoßen.

Während er einen Formvertrag an die beauftragte Datenerhebungsfirma hochlud, biss er in einen Apfel und entsorgte das chinesische Essen aus dem Kühlschrank, das sich nach einer kurzen Geruchsprobe als nicht ganz koscher erwiesen hatte. Er spielte mit den Gedanken, sich beim Lieferdienst auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit Nasi Goreng zu versorgen. Dann zog es ihn jedoch unter die Dusche und hinterher vor den Kleiderschrank. Kurz darauf grinste er seinem Spiegelbild zu und versenkte die Daumen in den Gürtelschlaufen seiner engen Wildlederhose, damit sie ein wenig tiefer rutschte.

Keine Minute später schlug er die Wohnungstür hinter sich zu und lief die Treppen hinunter zu seinem Parkplatz in der Tiefgarage des Wohnkomplexes. Auf den Fahrstuhl zu warten, hätte zu lange gedauert.

***

Die Lichtampel sprang von Orange zu einem tiefen Rot, das sich auf dem Holz des altehrwürdigen, im letzten Jahr neu aufgearbeiteten Tresens fing. Die Hocker an der Bar waren alle besetzt, dasselbe galt für die meisten Tische. Nur ganz vorn, dort, wo bei jedem Öffnen des Haupteingangs ein Luftwirbel entstand, gab es noch ein paar freie Plätze.

Jordan ließ die Mitarbeitertür hinter sich zuschwingen, aufgekratzt und gut gelaunt wie jedes Mal, wenn er in die Atmosphäre des Clubs eintauchte. Schon früher hatte das Red Vinyl nur selten seine Wirkung auf ihn verfehlt, aber seitdem er vom Dauergast zum Teilhaber aufgestiegen war, begleitete ihn stets ein besonderer Kitzel, wenn er sein Revier betrat. Ein Flattern zwischen Bauch und Unterleib, das mit unerträglichem Durst einherging. Ein tiefes Verlangen, das nur gestillt werden konnte, wenn er sich auf ein Spiel oder auch nur auf ein Gespräch mit jemandem einließ, der ihm in Worten, Gestik und Taten zu verstehen gab: »Du und ich, wir wissen, dass du erst zufrieden sein wirst, wenn du vor mir kniest und mir versprichst, mir zu gehorchen. Oder meinen Schwanz im Mund hast.« Jordan sonnte sich in dem Kribbeln in seinem Nacken und zwischen seinen Beinen, in der konditionierten Reaktion seines Schwanzes auf die Umgebung und hoffte, dass der Zauber nie nachlassen würde.

Als er den niedrigen Tisch links neben der Bar passierte – die sogenannte Tafelrunde –, begrüßten die Stammgäste ihn mit Zurufen und erhobenen Gläsern. Einzige Ausnahme bildete Jerry, der zu Füßen seines Meisters kniete und den Kopf gesenkt hielt, als würde er sich schämen. Vielleicht tat er es, vielleicht befolgte er auch nur einen Befehl.

Es war jedes Mal ein köstlicher Anblick, ihn neben Kadek kauern zu sehen. Jerry war ein Bär von einem Mann und sein Goldlöckchen führte ihn mit eiserner Hand, ohne dass er jemals ausbrach. Nur, dass Kadek kein kleines blondes Mädchen war, das sich im Wald verirrt hatte, sondern ein schmalbrüstiger Geschäftsmann mit grauen Strähnen im vormals blauschwarzen Haar und den schmalsten Augen, die Jordan je außerhalb eines Cartoons gesehen hatte. Optisch hätten die beiden kaum weniger zueinanderpassen können, aber ihre Verbindung war so unübersehbar, dass sie die ewigen Singles unter den Clubbesuchern neidisch machten.

»Jordan, setz dich zu uns! Trink was mit uns!«, rief Kadek ihm zu und winkte ihn mit ausladenden Gesten herüber.

»Keine Chance! Heute ist erst Donnerstag.«

»Spielverderber!«

Jordan hatte sich irgendwann angewöhnt, unterhalb der Woche keinen Alkohol mehr zu trinken. Er war schon früher oft eingeladen worden, aber seitdem er zur Belegschaft gehörte und mehr denn je den Kontakt zu seinen Gästen pflegte, wurde er häufiger zum Mittrinken aufgefordert, als seiner Leber guttat. Von seinem Hintern ganz zu schweigen. Also hatte er sich eines Tages, nachdem er hatte feststellen müssen, dass seine Lieblingshose unangenehm kniff, entschieden, die Cocktails und den Wein fürs Wochenende aufzusparen und wenn möglich auch die Finger aus den Schüsseln mit Erdnüssen zu halten.

Er schob sich durch die Schwingtür hinter die Bar und unterzog der Person am Zapfhahn einer raschen Musterung. Flache Stiefel, gerade geschnittenes Satinhemd in Dunkelgrün, eine schmucklose schwarze Jeans, das braune Haar im Nacken zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengefasst. Kein sichtbares Make-Up, keine eingedrehten Locken und wenn überhaupt, dann nur farbloser Lipgloss.

»Hey, Sasha.« Er stieß seinen Geschäftspartner und Freund mit der Hüfte an und erntete dafür ein spitzbübisches Lächeln.

»Hey, Kleiner. Du bist spät dran. Francis?«

»Francis und das Vollkornnudel-Dilemma von 2020. Frag nicht.« Jordan griff in einen der Kühlschränke unter der Arbeitsfläche und nahm sich eine Zitronenlimonade.

»Garantiert nicht. Das klingt wirklich nicht sehr spannend.« Sasha lachte xies melodisches, rauchiges Lachen, das sich kaum einem Geschlecht zuordnen ließ, und Jordan zupfte an xiesem Halstuch, um xien zu ärgern.

Sein Geschäftspartner beziehungsweise -partnerin war in mehr als einer Hinsicht etwas Besonderes. Aber am augenfälligsten war, dass Sasha die einzige Person der Belegschaft war, die mehrfach auf ihrer Teamseite im Internet vertreten war. Einmal als Katy, die in Lack geschnürte Domina mit der wilden Lockenpracht, einmal als Ben mit Man Bun, angedeutetem Drei-Tage-Bart und Lederweste und einmal eben als Sasha, das androgyne Wesen, das Jordan in diesem Augenblick auf die Finger schlug, damit er vom Halstuch abließ.

Kaum jemand wusste, welches Geschlecht Katy/Sasha/Ben bei der Geburt gehabt hatte, und wer fragte, bekam keine Antwort. Tücher und andere Accessoires an passender Stelle verhinderten, dass das Geheimnis gelüftet wurde. Auch Jordan wusste nach all den Jahren immer noch nicht, ob sein Geschäftspartner bei der Gesundheitsvorsorge zum Gynäkologen oder zum Urologen ging.

Es war ihm nach anfänglicher Neugier auch nicht mehr wichtig. Alles, was für ihn zählte, war die Freude in Sashas Augen, dass Jordan xiese Identität richtig zugeordnet und sich die Mühe gegeben hatte, bei der Begrüßung den passenden Namen zu verwenden. Es war nur eine Kleinigkeit, aber er wusste, dass sie Sasha viel bedeutete.

»Sind die Bestellungen schon raus? Irgendwelche Vorkommnisse, von denen ich wissen sollte?«, erkundigte sich Jordan. Normalerweise bemühte er sich, vor Öffnung der Pforten im Club anzukommen, damit sie in Ruhe ein kurzes Briefing abhalten konnten. Aber öfter, als es ihm lieb war, kam er nicht dazu, sodass er sich die wichtigsten Informationen zwischen Tür und Angel – oder zwischen Zapfhahn und Kartenlesegerät – abholen musste.

Sasha zählte an den Fingern ab. »Ja, die Getränkebestellungen sind raus, aber ich habe den 389er von Penfolds von der Liste geschmissen. Die haben den Preis zu sehr angezogen. Ich hatte vorhin die Rechnung vom Heizungsbauer in der Post und sie war netterweise niedriger als gedacht. Ist schon bezahlt. Dann hat dieser Mensch von dem neuen Spirituosengeschäft seinen Termin für heute Abend bei dir abgesagt, weil seine Frau in den Wehen liegt. War ein ziemlich guter Grund, fand ich.« Sascha unterbrach sich kurz und zog die Nase kraus. »Ich fürchte allerdings, dass trotzdem jemand auf dich wartet. Du weißt schon wer. In Raum 3.«

Jordan setzte seine Limonadenflasche hart auf dem Tresen ab und unterdrückte jede Lautäußerung. Dabei hätte er zu gern aufgestöhnt, geflucht oder auch leise und schicksalsergeben gewimmert, bis Sasha ihm den Kopf tätschelte.

Er würde sich viel lieber mit einem möglichen Lieferanten über den Ankauf von Bier, Weinen und Whiskey unterhalten, als Raum 3 zu betreten. Und das hatte nichts damit zu tun, dass er ein Problem mit diesem Teil ihres Clubs gehabt hätte. Ganz im Gegenteil: Er liebte das Ambiente zwischen Industrie-Look und britischem Kolonial-Charme. Deshalb zog er sich ja so gern dorthin zurück, wenn er eine Verabredung hatte.

Doch heute war es weder ein Freund noch ein zeitweiliger Spielgefährte noch ein neuer Dom im Training, der ihn dort erwartete. Jordan fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Natürlich, es war Donnerstag. Er selbst hatte vorgeschlagen, dass sie sich heute noch einmal unterhalten würden. Er hatte es nur vergessen. Nein, verdrängt.

»Ich kann ihm sagen, dass er verschwinden soll. Dass du nicht so weit bist«, bot Sasha an. »Du musst dir das nicht antun.«

Jordan lächelte dünn. »Danke, aber das hat keinen Sinn. Es wäre nicht fair, ihn auflaufen zu lassen, nur weil ich Abschiede hasse.«

»Das heißt, ich soll ihm erst recht nicht ausrichten, dass du krank auf dem Sofa liegst, während du dich zur Hintertür rausstiehlst?« Sashas linker Mundwinkel wanderte nach oben.

Sie kannten beide die Antwort. In dieser Hinsicht waren sie sich sehr ähnlich. Sie konnten keine Konfrontationen leiden, waren aber zu dämlich – oder zu anständig –, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Jordan, weil er ungern Schutt und Asche hinterließ, Sasha, weil xier zu viele enttäuschende menschliche Erfahrungen hinter sich hatte, um sich anderen Leuten gegenüber wie ein gewissenloses Aas aufzuführen. Und manchmal bestand die einzige Gnade, die man jemandem gewähren konnte, in einem sauberen Schlussstrich.

»Mach mir einfach schon mal ein Lager auf«, murmelte Jordan resigniert. Dann ließ er Sasha stehen und ging durch den Hauptraum zu der Flügeltür mit der großen 3.

Die Tagesbeleuchtung war an; die, die während der Reinigung eingesetzt wurde und zu grell war, um Stimmung aufkommen zu lassen. Ein Mann hatte sich an den schmalen Behelfstresen an der Rückwand gesetzt und spielte mit einem Bierdeckel. Der Stoff seines dunklen Hemds spannte sich über dem breiten Kreuz und als er beim Schlagen der Tür den Kopf wandte, wusste Jordan wieder, warum Henry ihm bei ihrer ersten Begegnung so gut gefallen hatte.

Dieser von endlosen Stunden auf dem Surfbrett und im Fitnessstudio gestählte Körper, die Lässigkeit, mit der Henry auf einem Barhocker saß, der zu klein für ihn war, die hellblauen Augen, die aus seinem sonnengebräunten Gesicht hervorstachen, der volle Mund umrahmt von frechen Grübchen, das dichte dunkelbraune Haar, das an den Schläfen die ersten grauen Strähnen aufwies.

Henry hätte nicht nur jederzeit für eine Fitnesszeitschrift modeln können, er hatte sogar schon einmal ein entsprechendes Angebot bekommen. Nur die Befürchtung, dass es die Kollegen in seiner Kanzlei nicht gern sehen würden, wenn er sich nur mit einer Badehose bekleidet ablichten ließ, hatte ihn ablehnen lassen.

»Jordan«, sagte er leise und stand zur Begrüßung auf. Seine Arme hoben sich für eine Umarmung, doch Jordan ging hastig zum Tresen und brachte ihn als Barriere zwischen sie. Henrys Pokerface war gut. Jahre im Gericht hatten dafür gesorgt, dass er im Training war. Aber Jordan bemerkte dennoch das Zucken seiner Mundwinkel, das auf Enttäuschung hindeutete. »Du siehst gut aus.«

Ich weiß und ich wünschte, ich hätte unser Treffen nicht verdrängt. Dann hätte ich nicht ausgerechnet die Hose angezogen, die du mir immer mit Vorliebe runtergerissen hast, dachte Jordan halb bekümmert, halb verärgert. Ob er auf sich selbst oder auf Henry wütend war, wusste er nicht genau.

»Du auch«, gab er zurück. »Wartest du schon lange?«

Henry hob eine Schulter und ließ sie rasch wieder fallen. »Geht so. Ich war ein bisschen früh dran.«

»Und ich ein bisschen spät. Wie immer«, entgegnete Jordan.

Dieses Mal zuckten Henrys Mundwinkel nach oben. »Wieder mal am Schreibtisch hängen geblieben, ja? Lass mich raten: Du hast nicht einmal etwas gegessen, sondern bist sofort hergestürmt.«

Ein Außenstehender hätte wahrscheinlich angenommen, dass Henry sehr von sich überzeugt war, wenn er glaubte, dass Jordan mit leerem Magen zu ihrer Verabredung geeilt war. In Wirklichkeit war seine Bemerkung nur der Beweis, dass er Jordan in den vergangenen drei Monaten sehr gut kennengelernt hatte und um die Sogwirkung wusste, die der Club auf ihn ausübte.

Jordan bemühte sich um ein Lächeln. »Doch. Eine Kleinigkeit.«

»Eine Ecke Toastbrot? Eine Banane? Eine Handvoll Chips?«

»So ungefähr.«

Henry bettete beide Hände vor sich auf die Holzplatte, sodass sich seine Fingerspitzen berührten. »Ich weiß ja nicht, ob du dich heute Abend loseisen kannst, aber…« Er zögerte. »Wir könnten kurz zum Inder am Ende der Straße gehen. Etwas Anständiges essen. Und in Ruhe reden.«

Der lösungsorientierte Teil Jordans – namentlich sein Magen – wollte zustimmen. Letztendlich war es nicht wichtig, wo sie redeten. Das Ergebnis würde auf dasselbe hinauslaufen. Und wenn er bei der Gelegenheit noch eine Mahlzeit einschieben konnte, würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber er wollte Henry nicht zumuten, ihre überfällige Unterhaltung in einem vollen Restaurant zu führen; gezwungen, seine Gefühle für sich zu behalten, damit kein Gast und auch niemand vom Personal merkte, was in ihm vorging.

»Ich glaube, wir sollten lieber hier reden.« Ohne es zu wollen, schaute Jordan zu der kleinen Bühne am anderen Ende des Raums. Dort hatte er vor nicht allzu langer Zeit am Andreaskreuz gestanden, aller Sinne beraubt, und Henry vor ausgewählten Gästen erlaubt, ihn zu quälen. Anschließend waren sie zu ihm nach Hause gefahren, Henry hatte ihn umsorgt wie einen Kranken, ihn festgehalten und ihm immer wieder zugeflüstert, wie stolz er auf ihn war. Es war befreiend und befriedigend gewesen, berauschend und belebend.

Aber es hatte sich nicht in das tägliche Leben übertragen lassen.

»Oh.« Der Barhocker unter Henry knirschte, als er sein Gewicht verlagerte. »Ich nehme an, das bedeutet, dass du zu einer Entscheidung gekommen bist. Und dass sie mir nicht gefallen wird.«

»Ich hoffe, dass sie dir langfristig schon gefällt. Wenn alles nicht mehr so frisch ist. Wir… wir sind nicht richtig füreinander, Henry«, sagte Jordan behutsam. Es kam ihm dennoch vor, als hätte er mit glühenden Schürhaken um sich geschlagen.

Ein kaum merkliches Nicken, gefolgt von einem Flackern in den ausdrucksstarken Augen. »Du hast das einmal anders gesehen.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Jordan hatte gehofft, dass sie gut zueinanderpassen würden. Er hatte es sich gewünscht. Und er war genauso enttäuscht wie Henry, nur dass er seinen Teil an Trauerarbeit bereits hinter sich hatte.

»Ich habe dir nie etwas vorgemacht.« Jordan war es wichtig, diesen Punkt zu betonen. »Ich dachte, es könnte funktionieren. Dass wir in jeder Hinsicht andocken würden, falls du verstehst, was ich meine.« Wie sagte man jemandem, dass man ihn heiß fand, aber keine tieferen Gefühle entwickelt hatte? Dass man merkte, dass etwas Entscheidendes zwischen ihnen fehlte, etwas, das nichts mit Sex oder BDSM oder beidem zu tun hatte? »Es tut mir leid.«

»Ja«, entgegnete Henry schlicht. Jordan wünschte sich weit weg. »Ja, das glaube ich dir. Du bist alles Mögliche, aber kein Blender.« Es klang dennoch nach einem Vorwurf. Dann reckte er das Kinn und legte mit hörbarem Knacken den Kopf schief. Auf einmal traf sein Blick Jordan von oben herab. »Aber was, wenn ich es dir einfach befehle? Was, wenn ich jetzt und hier von dir verlange, dass du dich hinkniest und mir alle Entscheidungen überlässt, wie es sich für einen guten Sub gehört?«

Jordans Kehle verengte sich. Dasselbe galt für sein Herz, das sich in seiner Brust auf einmal winzig klein anfühlte. Oh, dieser Tonfall, dieser Blick. Er konnte das Verlangen nicht leugnen. Er reagierte mit jeder Faser seines Körpers. Nur sein Verstand zog nicht mit.

»Dann würde ich sagen, dass genau das einer der Gründe ist, warum wir nicht füreinander geschaffen sind«, sagte Jordan mit gesenkter Stimme, aber deutlich. »Weil du wissen müsstest, dass ich niemand bin, der Spielchen spielt, um dich oder ein Gespräch zu manipulieren.«

»Dann bin ich jetzt also nicht nur ein mieser Freund, sondern auch noch ein schlechter Dom?«

Es war ein Um-sich-schlagen, eine Unbeherrschtheit, die Jordan verstehen konnte. Aber sie verärgerte ihn. Er hatte sich Mühe gegeben, die Situation für sie beide so erträglich wie möglich zu gestalten. Er hatte versucht, anständig zu sein. Und er konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn man ihm die Worte im Mund verdrehte oder versuchte, ihn passiv-aggressiv zum Zurückrudern zu bringen.

Weil es funktionierte. Fast jedes Mal.

»Du bist weder ein mieser Freund noch ein schlechter Dom. Und das wirst du mich auch nie sagen hören. Können wir uns einfach darauf einigen, dass du super bist, aber trotzdem nicht der Richtige für mich? Und dass das überhaupt nichts über irgendeine deiner Eigenarten aussagt?«

Scheiß Harmoniesucht, glaubte Jordan Katy in seinem Kopf kichern zu hören.

»Nicht super genug für dich«, schoss Henry zurück. »Du kannst es drehen, wie du willst: Darauf läuft es hinaus. Und ich frage mich, auf wen du wartest. Mag sein, dass ich nicht der Hauptpreis bin, aber du bist es eindeutig auch nicht. Dein Arsch ist heiß, aber nicht so heiß.«

Jordan war beinahe dankbar. Nun, da das Gespräch unter die Gürtellinie geraten war, hatte er eine Ausrede es abzubrechen. »Ich glaube, es ist alles gesagt.« Seine Stimme kratzte vor Anstrengung und nicht zuletzt vor Enttäuschung. Da half es auch nicht, überzeugter denn je zu sein, sich richtig entschieden zu haben. »Ich gehe zurück an die Arbeit. Du tätest mir einen Gefallen, wenn du bald den Raum freigibst. Ich glaube, er ist in einer halben Stunde gebucht.«

»Oh natürlich. Der Club. Wie könnte es anders sein.«

Jordan reagierte nicht auf die Anspielung, dass er zu viel Zeit und zu viel Leidenschaft auf sein Herzensprojekt verschwendete. Sie war nicht neu für ihn und vielleicht war sogar etwas Wahres daran, aber Henry hatte definitiv das Recht verloren, sich dazu zu äußern. »Mach's gut. Falls ich noch Sachen von dir in meiner Wohnung finde, hinterlege ich sie dir am Tresen. Ich sag der Belegschaft Bescheid.«

Als Jordan seinen Platz hinter dem Tresen verließ, ging ein Ruck durch Henrys Körper, gefolgt von einer Vorwärtsbewegung, die Jordan daran erinnerte, wie viel größer und stärker Henry war als er. Das wagst du ja wohl nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Und Henry hielt sich tatsächlich zurück. Verzichtete darauf, nach Jordan zu greifen, sei es, um ihn anzuflehen oder um ihm wehzutun. Besser für ihn.

Jordan sah sich nicht noch einmal um, bevor er den Raum verließ. Dieses Mal hörte er die Begrüßungen durch neu eingetroffene Gäste kaum, nickte nur mechanisch nach rechts und links und lächelte hölzern. Sasha erwartete ihn hinter dem Tresen und zum zweiten Mal an diesem Abend verwendete Jordan eines ihrer Barmöbel als Barriere.

»Gib mir mein Bier«, murmelte er halblaut und schubste seine Limonade klirrend gegen die Kasse.

»Du hast mir mal gesagt, dass ich dich davon abhalten soll, unter der Woche etwas zu trinken«, erinnerte Sasha ihn, ohne ihn anzusehen.

Jordan knurrte leise. »Gib mir mein Bier oder ich klemme mich an die erste Whiskeyflasche, die ich in die Finger bekomme.«

»Oh, so gut ist es also gelaufen.«

»Genau.«

Ein Bierglas rutschte auf Jordan zu und er griff hastig danach. Die ersten Schlucke dienten in erster Linie dazu, seine ausgetrocknete Zunge zu befeuchten, die danach der Hoffnung, dass ein gutes Bier selbst einen solchen Abend besser machen konnte.

Als er absetzte, war nur noch Schaum im Glas. Er unterdrückte ein Aufstoßen. »Gut, das war's.«

Sasha nahm ihm das Glas ab und stellte es neben die Spüle. Xiese dunkelbraune Augen musterten Jordan halb prüfend, halb mitleidig. Dann schlich sich ein kräftiger Arm um Jordans Taille. »Dachte ich mir schon«, sagte Sasha so leise, dass es die Gäste an der Bar nicht hören konnten. »War die richtige Entscheidung, glaub mir. Man sollte sich freuen, wenn der neue Freund anruft. Nicht genervt das Handy beiseitelegen, weil man nicht weiß, was man ihm erzählen soll.«

Jordan verlagerte das Gewicht nach hinten, froh, dass Sasha heute Abend mit ihm Thekendienst schob. Er hatte Katy und Ben genauso gern, aber Sasha kam ihm einfühlsamer vor, etwas differenzierter. Deshalb war Sasha auch die Identität, mit der er am besten reden konnte.

»Du hast mich falsch verstanden.« Jordan sah hinüber zur Tafelrunde, zu Jerry, der die Wange an Kadeks Knie schmiegte und von seinem Dom im Nacken gestreichelt wurde. »Ich bin nicht nur mit Henry durch, sondern überhaupt mit der Sucherei. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Aber in die Männer, mit denen ich spielen will, kann ich mich nicht verlieben und andersherum funktioniert es erst recht nicht. Ich habe die Schnauze voll.«

»Du klingst wie die frustrierte Mittdreißigerin in einer Rom-Com, kurz bevor sie den Mann ihrer Träume trifft.«

Jordan stieß Sasha den Ellbogen in die Seite. »Ich bin erst dreißig, herzlichen Dank auch. Und die meisten Kerle aus diesen Rom-Coms würde ich nicht mal geschenkt haben wollen.«

Sasha lachte. »Du sagst es, Bruder. Du sagst es.«

Kapitel 3

Der Wagen sprang an, die Warnleuchten flammten auf und erloschen eine nach der anderen wieder. Doch erst, als auch die letzte schwarz wurde, schlug Phoenix triumphierend auf das Lenkrad. »Hah! Geht doch!«

Jetzt noch eine Testfahrt und er konnte ihrer steinalten Kundin hoffentlich sagen, dass sie ihren nicht ganz so alten, aber ähnlich hinfälligen Toyota Camry doch noch einmal über den Berg gebracht hatten.

Phoenix war zufrieden. Gleich in seiner ersten Woche Ersatzteile beschaffen zu können, die normalerweise ein Vermögen gekostet hätten, hatte ihm bei den neuen Kollegen einen Stein im Brett verschafft. Dass er sich trotz seiner beruflichen Laufbahn nicht sträubte, sich die Finger dreckig zu machen, ebenfalls.

So sollte es sein. Er brauchte diesen Neuanfang und er wollte, dass er so glatt wie möglich verlief. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es ihm tatsächlich guttun würde, wieder in einer Werkstatt zu arbeiten.

Wie sehr hatte er nach seinem Schulabschluss getobt, als sein Dad darauf bestanden hatte, dass er ihr Handwerk von der Pike auf lernte, bevor er sich einen Platz in der Geschäftsführung des Familienkonzerns erhoffen durfte. Und wie schwer hatte er es den Jungs in der ersten Werkstatt gemacht.

Er hatte verdammt lange gebraucht, um zu kapieren, dass er sich mit seinem Benehmen etwas verdarb, das ihm eigentlich Spaß machte. Insofern sollte es ihn wahrscheinlich gar nicht wundern, dass er zwischen Kompressoren, Reifen und Ölwannen einmal mehr zeitlich begrenzten Frieden fand.

Er schaltete die Automatik auf D und ließ den Camry behutsam auf den Hof rollen. Tatiana, die sich gerade mit einem Kunden über dessen verunfalltes Motorrad unterhielt, stieß einen Jubelruf aus. »Da geht sie ab, die alte Gurke! Gute Arbeit!«

Phoenix winkte ihr zu und gab vorsichtig Gas. Der Motor schnurrte und auch in den folgenden Minuten, in denen er den Camry durch das Industriegebiet und ein Stück über die Landstraße lenkte, stieß er auf keine Probleme.

Zurück in der Werkstatt ging er zum Büro. Die Tür stand offen, aber er klopfte dennoch kurz an den Rahmen. Randy saß mit langem Gesicht auf seinem Schreibtischstuhl, Josephine hatte sich neben ihm aufgebaut und hielt ihm eine Gardinenpredigt. Die anderen hatten Phoenix bereits erzählt, dass Jo eher aus Notwendigkeit als aus Überzeugung ihr Hausdrache war; in erster Linie deshalb, weil Randy Büroarbeiten aus tiefster Seele hasste und sich nur dann damit befasste, wenn man ihn rigoros antrieb.

Entsprechend hellte seine Miene sich auf, sobald er Phoenix entdeckte – jede Ablenkung war ihm recht. »Was gibt's?«

»Einen fahrenden Camry, bei dem endlich alle Warnanzeigen aus sind. Und bevor du fragst: Nein, ich habe sie nicht einfach abgeklemmt«, antwortete Phoenix grinsend.

Randy erwiderte sein Lächeln. »Großartig. Hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Ich rufe Mrs. Dixon sofort an. Sie wird erleichtert sein. Stell dich schon mal darauf ein, dass wir morgen mehr selbst gebackenen Kuchen hier stehen haben werden, als wir essen können. Macht sie immer, wenn wir ihr noch mal erspart haben, einen neuen Wagen zu kaufen.«

Jo schmunzelte. »Wahrscheinlich wird ihr die Karre eines Tages genau deshalb zusammenbrechen: weil sie ihn als Kuchenschwerlasttransporter verwendet. Eine meiner Schwiegertöchter wohnt bei ihr in der Straße und sagt, es vergeht kein Tag, ohne dass eine Springform auf dem Fensterbrett auskühlt.«

Phoenix hatte nichts gegen Kuchen einzuwenden, egal, ob er einer Massenproduktion entsprang. Sein Speiseplan war derzeit etwas dürftig. Teils, weil der von Randy angekündigte Kühlschrank doch nicht funktioniert hatte, teils, weil Phoenix zu faul war, um sich in der Personalküche etwas zu kochen, und zu geizig, um auswärts zu essen. »Solange sie die Rechnung nicht auch in Naturalien begleichen will, kann ich damit leben.«

»Na, das fehlte uns noch«, stöhnte Josephine, zwinkerte ihm jedoch zu. »Wo wir gerade dabei sind, Chef…«

Randys Lächeln erlosch wie eine Kerze unter Feuerlöschschaum. »Ja, ich weiß. Zu viele Außenstände, zu viele Kunden mit niedrigen Ratenzahlungen.«

Phoenix zog sich eilends zurück. Von Geld und ausstehenden Rechnungen wollte er nichts hören. Er war schon halb den Flur hinunter, als Randys Stimme hinter ihm her donnerte: »Ach, Kleiner?«

Er blieb stehen, den Blick auf die Wand mit alten Nummernschildern aus aller Welt gerichtet. »Ja?«

»Mach mal Feierabend! Wenn du weiter so viele Überstunden kloppst, bin ich in einer Woche pleite!«

Phoenix seufzte. »In Ordnung.« Er hätte lieber diskutiert oder geflucht. Es gab mehr als genug Arbeit, um Überstunden zu rechtfertigen, und natürlich würde Randy nicht Pleite machen, wenn Phoenix weitere Stunden einbuchte. Immerhin kam mit zusätzlicher Arbeit auch mehr Geld ins Haus. Randy wollte einfach verhindern, dass Phoenix vierzehn Stunden am Tag malochte. Wahrscheinlich hätte er sich mies gefühlt, dabei zuzusehen, wie der Sohn eines alten Freunds sich den Rücken krumm arbeitete.

Letztendlich war es dieser Gedanke, der Phoenix widerwillig nachgeben ließ. Er rief den Kollegen zu, dass er für heute fertig sei, dann ging er langsam hinauf in seine Unterkunft. Dort hatte sich im Verlauf seiner ersten Woche in Melbourne-Altona nicht viel verändert. Er hatte lediglich seine Koffer auf den Schrank gelegt und in einer Ecke stand nun ein altes Regal, in dem er ein paar Lebensmittel verstaut hatte. Darüber hinaus war alles beim Alten geblieben.

Vermutlich war es ein Fehler, nicht für ein Mindestmaß an Gemütlichkeit zu sorgen. Sich keine Topfpflanze aufs Fensterbrett zu stellen und sich keines der zahlreichen Poster von ihren Zuliefererfirmen an die Wand zu pinnen. Aber irgendwie war Phoenix noch nicht so weit. Dies war nicht sein Zuhause. Es war eine Bleibe, nicht besser als ein Motelzimmer, und die gestaltete man schließlich auch nicht um.

Er duschte, schrubbte sich den Schmutz von den Fingernägeln und ließ sich gerade so viel Zeit, wie es ihm der Warmwasserboiler erlaubte. Anschließend rasierte er sich übertrieben gründlich, schlüpfte in frische Kleidung und dann…

… stand er da. Mitten im Zimmer. Mit leerem Magen und noch leererem Kopf. Ohne eine Aufgabe, ohne einen Plan, wie er den Abend verbringen könnte. Ohne etwas, worauf er sich freuen konnte oder das ihm das Gefühl gab, ein Ziel zu haben.

All die Überlegungen, Sorgen, Schuldgefühle, die ihm die Werkstatt zuverlässig nahm, kehrten mit einem Schlag zurück. Er stand nicht länger auf fleckigem Linoleum, sondern schwamm in einem Meer, das ihn zu verschlingen drohte. Ob es jenseits der brachialen grauen Wellen Land gab, wusste er nicht. Er wusste nicht einmal, ob es Nacht war oder ob der Sturm einfach die Sonne verschluckt hatte.

Phoenix kniff die Augen zusammen. Das Wanken war nicht echt. Sein Kreislauf war stabil, das Gebäude erst recht. Das Gefühl niederschmetternder Haltlosigkeit existierte einzig in seinem Kopf. Niemand mehr, der von ihm abhängig war. Niemand, der ihm Kleinigkeiten wie Wäschewaschen oder Fensterputzen abnahm. Niemand, der zu ihm aufsah.

Und all das war eine Erleichterung, denn es bedeutete, dass er auch niemanden mehr ins Unglück reißen konnte. Aber Gott, sein altes Leben fehlte ihm. Sydney. Die vertrauten Kreise. Die Sorglosigkeit. Sogar die Notwendigkeit, für andere Entscheidungen zu fällen, selbst wenn sie ihn dafür hassten.

Ich kann das nicht, ging ihm auf. Ich kann hier nicht sitzen und darauf warten, dass es Zeit zum Schlafengehen ist. Ich muss irgendetwas tun.

Er entschied sich so schnell, dass Zweifel und Gewissenhaftigkeit keine Zeit hatten, ihre Argumente vorzutragen. Er schnappte sich seine gefütterte Jeansjacke, steckte die Autoschlüssel ein und ging nach kurzem Zögern an das Bargeld, das er in einer Blechkiste mit doppelseitigem Klebeband an die Unterseite seines Schranks gepappt hatte.

Zwei Minuten später fuhr er vom Hof. Das Verdeck des Spitfire war offen, obwohl es erst Ende August war. Phoenix ärgerte sich jetzt schon über das verschwendete Benzin, aber er trat dennoch das Gaspedal durch und schoss mit quietschenden Reifen davon.

***

Der Wind peitschte über das Wasser und trieb es über die übliche Uferlinie hinaus ins Naturschutzgebiet. An manchen Stellen waren die Wege überschwemmt und unter dem ständigen Angriff der Feuchtigkeit matschig geworden.

Phoenix war nicht weit gekommen. Sein erster Impuls war gewesen, nach Melbourne in die City zu fahren, vielleicht zu den Docklands, dorthin, wo das Leben tobte. Aber dann hatte er sich umentschieden. Ihm war nicht danach, vom Riesenrad aus über die Stadt zu blicken oder den Pinguinen bei St. Kilda dabei zuzusehen, wie sie an Land gewatschelt kamen. Also war er noch vor Williamstown rechts abgebogen und befand sich nun westlich der Stadt; dort, wo man Fauna und Flora etwas Platz zur Entfaltung gelassen hatte.

Es war eine gute Entscheidung gewesen. Phoenix sah die fernen Lichter von Williamstown und wusste, dass sich dahinter ein paar der beliebtesten Strandabschnitte Melbournes verbargen. Aber ihm war nicht nach Menschen zumute. Die wenigen Spaziergänger und Jogger, mit denen er sich die Dämmerung im Naturschutzgebiet teilte, reichten ihm.

Der Südwind strich ihm über die glatt rasierte Wange. Die Brise vom Meer war bissig, aber nicht angriffslustig, und sie schmeckte bereits nach dem kommenden Frühling. Phoenix nahm sich vor, an einem der ersten warmen Abende hierher zurückzukommen, aufs Wasser zu blicken, vielleicht ein Eis zu essen und den Wandel willkommen zu heißen.