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66 völlig unbedeutende Orte in Darmstadt? Damit sind all diejenigen interessanten Plätze und Örtlichkeiten gemeint, die es nie in einen Darmstädter Reiseführer geschafft haben. Denn neben den bekannten Attraktionen wie Mathildenhöhe oder Schloss gibt es durchaus zahlreiche reizvolle Orte, deren Bedeutung sich erst auf den zweiten Blick erschließen. Etwa die Plastiken von Bernhard Hellinger auf einem Schulhof, an denen sich in den 50er Jahren der Darmstädter Kunststreit entzündete. Oder die Häuserecke, an der seinerzeit (der echte!) Buffalo Bill mit seiner Wildwest-Show aufgetreten ist. Dann sind da noch jene Kuriositäten, die liebenswerte Unzulänglichkeiten der Stadt zeigen, wie etwa den Bach ohne Wasser, die spitz zulaufende Fluchttreppe oder die sinnloseste Straßenbahnschiene Darmstadts. Auch diese kuriosen Stellen erzählen Geschichten und Geschichte der Stadt. "66 völlig unbedeutende Orte" zeigt Darmstadt aus einem anderen Blickwinkel: Jenem, der Plätzen ihren Sinn und ihre Geschichte (zurück)gibt, immer wieder auch mit einem Augenzwinkern.
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Seitenzahl: 80
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Michael Kibler66 völlig unbedeutende Orte in Darmstadt
Michael Kibler
Abseits der Reiseführer
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Alle Rechte vorbehalten
© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2015Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2015Covergestaltung: Network! Werbeagentur, MünchenBildnachweis: Kongresszentrum Darmstadt, © Fotografie Michael KiblereBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0498-1
www.verlagshaus-roemerweg.de
»So e Stadt is kah Gäjestand for mein Zorn.«
(frei nach Ernst Elias Niebergall)
Vorwort
1Die Energiespar-Rolltreppe
2Autos made in Darmstadt
3Der schmalste Bürgersteig
4Darmstadts Fluss
5Signal ohne Schiene
6Die Krippe ohne Ochse
7Ein besonders gerechter Ort
8Die kleinste Weide
9Die Weide der grünen Schafe
10Lustiger Denkmaltausch
11Der abgeschobene Brunnen
12Straßenbahnschiene ins Nirvana
13Welcher Ludwig?
14Die politische Eiche
15Die offene Kirche
16Der trockne See
17Die längste Straße
18Die glücklichsten Bäume
19Das glücklichste Haus
20Niemandsland
21Der Kiosk mit dem schlechtesten Umsatz
22Der Cruising-Killer-Parkplatz
23Das offene Haus
24Die kürzeste Einbahnstraße
25Der kurioseste Auto-Kreisel
26Der gleisfreie Bahnhof
27Schranken-Hindernis-Parcours
28Die älteste Kirchenglocke
29Der größte Windrichtungsanzeiger
30Das erste Polizeipräsidium
31Mercksplatz ohne Merck
32Nur die zweite Wahl
33Bombenalarm, die Erste
34Schlüsseldienst mit Geschichte
35Rennbahn in Darmstadt
36Nackte Neescher
37Pferdestall für Wunderstute
38Musik liegt in der Luft
39Der Umweltkontrolleur
40Ballonplatz ohne Ballon
41Faselstall ohne große Reden
42Wilder Westen in der Stadt
43Drittes Elektrizitätswerk der Welt
44Zoo ohne Leben
45Das Haus, das Verrückte macht
46Das sinnvollste Parkhaus
47Der letzte Brunnen
48Direktflug Darmstadt-München
49Das einsamste Portal
50Der effizienteste Fotograf
51Die spitz zulaufende Fluchttreppe
52Darmstadts Hundebad
53Fußgängerverzweiflungsampel
54Der höchste Kirchturm
55Die Bachsimulation
56Bei den Auserwählten
57Höchste Morddichte
58Bauerwartungsland mit Überraschungen
59Darmstadts Dach
60Feldidylle
61Ein Brauereiturm
62Paternoster
63Von Schweinen und Lilien
64Nördlichster Punkt des Odenwalds
65Kostenfalle
66Betreutes Wohnen fürs Federvieh
Dank
Abbildungsverzeichnis
Stadtplan und Innenstadtplan
66 völlig unbedeutende Orte in Darmstadt? Welchen Grund, werter Leser, der Sie dieses Buch gerade aufschlagen, sollte es denn geben, dieses Werk zu lesen? Nun, sagen wir mal, für einen Menschen aus Übersee sicher keinen. Er sieht sich bestimmt eher die bekannten Sehenswürdigkeiten an, die die Stadt ja überreich zu bieten hat und die in keinem Reiseführer fehlen: Mathildenhöhe, Schloss, Ludwigsdenkmal, Landesmuseum, Herrngarten, Porzellanschlösschen und so fort.
Für die Darmstädter sind diese 66 »unbedeutenden« Orte sicher auch nicht die »Highlights«. Aber sie zeigen die Stadt von einer ganz anderen Seite, offenbaren jene Flecken, die es nie in einen Reiseführer geschafft hätten. Die Stelle etwa, an der heute ein Parkhaus steht, an dem man jeden Tag vorbeifährt: Es war der Sitz der allerersten Polizeiwache in Darmstadt. Oder ein Baum, mitten in der Stadt, mit dem Namen »Europa-Eiche«: Er steht für die Beziehungen zu den europäischen Partnerstädten. Und dann gibt es jene Kuriositäten, die mit einem Augenzwinkern auch Unzulänglichkeiten der Stadt zeigen, wie beispielsweise die sinnloseste Straßenbahnschiene Darmstadts – die gleichzeitig über die Verkehrsgeschichte erzählt. Oder der Verkehrskreisel mit Ampelschaltung und Darmstadts Energiespar-Rolltreppe. Entdecken Sie Darmstadt also aus einem anderen Blickwinkel: einer Perspektive, die völlig unbedeutenden Plätzen ihren Sinn und ihre Geschichte zurückgibt – oder die einen manchmal schmunzeln lässt.
Darmstadt war seiner Zeit ja schon oft um Längen voraus: Hier gibt es bereits seit Anfang der Achtzigerjahre zwei Energiespar-Rolltreppen. Sie fahren Fußgänger vom Kleinschmidt-Steg hinab oder in Gegenrichtung nach oben. Meistens zumindest. Wenn sie nicht gerade Energie sparen, was sie dadurch zu tun pflegen, dass sie sich einfach nicht bewegen. Bereits vor über zehn Jahren war dies dem Darmstädter Echo einen langen Artikel wert – und bis heute ist der Energiesparmodus immer wieder Stein des Anstoßes. Wenn man den Vätern der Stadt Glauben schenken darf, so wird die (Nicht-)Gangart von (umweltbewussten?) Jugendlichen aktiviert, indem diese den Not-Haltknopf drücken. Ein simples, aber wirkungsvolles Prinzip.
Installiert wurden die Treppen, als der City-Ring um das Stadtzentrum herum ausgebaut und 1980 vollendet wurde. Da es nicht sehr gesund ist, die Holzstraße, eine zweispurige innerstädtische Rennstrecke, zu Fuß überqueren zu wollen (auch wenn es immer wieder einige Verwegene gibt, die dies offenbar als Mutprobe ansehen), wurde der Kleinschmidt-Steg gebaut und mit ihm die beiden Rolltreppen. Ach ja, die Niederung, die über die Treppen mit dem Steg verbunden ist, nennt sich übrigens Schustergasse, benannt nach den damals dort ansässigen Schustereibetrieben. Passt doch irgendwie, oder?
Nichts erinnert mehr daran, dass im Herzen Darmstadts – in der Feldbergstraße 72 an der Ecke zur heutigen Dolivostraße – einstmals respektable Automobile gefertigt wurden – genauer gesagt: ausgefallene Karosserien für noble Fahrzeuge. Ab 1922 belieferte die Firma »Autenrieth« das Who-is-Who der deutschen Automobilindustrie. Im Gegensatz zu heute war bis in die Fünfzigerjahre der Rahmen eines Fahrzeugs noch völlig unabhängig von der Karosserie.
Autenrieth fertigte im Kundenauftrag für Limousinen, Coupés, Cabriolets und Sonderanfertigungen. Sie wurden von den jeweiligen Autoherstellern auf vorhandene Fahrgestelle montiert. Adler, Audi, Horch, Maybach, Mercedes-Benz, Opel, NSU oder die vor dem Krieg in Ober-Ramstadt angesiedelten Röhr-Werke waren Kunden. Besonders die Cabriolets und Coupés auf Basis verschiedener Opel-Modelle wie Olympia, Rekord und Kapitän sind heute noch bekannt. In den dreißiger Jahren und auch nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete das Unternehmen ebenfalls eng mit BMW zusammen. Das 502-Cabrio in der Abbildung stammt aus jener Zeit.
Nachdem der Firmengründer Georg Autenrieth im Juni 1950 verstarb, übernahmen die beiden Töchter und Schwiegersohn Franz Trüby das Unternehmen. Der Siegeszug der selbsttragenden Karosserie, bei der Rahmen und Karosse nicht mehr getrennt waren, machte dem Betrieb schließlich den Garaus: sie erlaubte nur noch geringe Eingriffe in die Struktur. 1964 schlossen sich daher die Firmentore.
Um Haaresbreite wäre wohl übertrieben: Es ist schon ein bisschen mehr Platz zwischen der Straßenbahn und der Hauswand in der Bessunger Straße 18. Aber sagen wir mal so: Schon ein Afroschopf aus den Siebzigern passt nicht mehr zwischen Tram und Verputz. Diese Engstelle ist ein Relikt aus der guten, alten Zeit. 1897 wurde die Straßenbahn nach Bessungen eingeweiht. Und die Freude überwog wohl die eine oder andere Konsequenz, die das nach sich zog. Anders als im Stadtbild der Darmstädter Innenstadt existieren in Bessungen durchaus noch zahlreiche Altbauten, wie auch hier an dieser Stelle.
Dabei ist diese Engstelle noch nicht mal die Einzige: Es gibt einige Ecken, bei denen zwischen Straßenbahn und Hauswand kaum ein Hauch von Bürgersteig passt, so ebenfalls in Eberstadt. Könnte man nun denken, die modernen Triebwagen, wie etwa der auf dem Bild zu sehende Typ ST14, wäre mit seinen 2,30 m besonders breit, dem sei gesagt, dass selbst die Ur-Straßenbahntriebfahrzeuge nie schmaler als 2,10 m waren. Offensichtlich muss man hier die Gegebenheiten so nehmen, wie sie sind – was der Herr im Bild vorbildlich tut: Dinge, die man nicht ändern kann, einfach akzeptieren – und sei es nur um der Gesundheit willen.
Darmstadt hat viele Merkmale, aber eines ist besonders markant: als eine der wenigen Großstädte Deutschlands liegt es nicht an einem Fluss. Also zumindest an keinem richtigen. Darmstadts Minifluss – laut Amtsschimmel ein Gewässer III. Ordnung – heißt Darmbach. Er entspringt dem Darmstädter Ostwald. Dort wird er von mehreren Quellen gespeist. Fließt durch den Wald, versorgt den Badesee Woog mit Frischwasser. Danach plätschert er noch 250 m durch die Rudolf-Müller-Anlage (in der auch das Foto entstand), um dann im Untergrund – sprich: in der städtischen Kanalisation – zu verschwinden. Dieser Zustand besteht seit 1786. Zuvor durchfloss er das ganze Stadtgebiet. Aber er diente dort nicht nur als Frischwasserlieferant, sondern ebenfalls zur Entsorgung der Abwässer. In alten Flurkarten wurde er deshalb als »Schlimmer Graben« bezeichnet – Grund dafür, ihn seinerzeit unter die Erde zu verbannen.
Seit der Jahrtausendwende streitet man in Darmstadt, ob sich der Bach nicht wieder offen und adrett durch die Stadt schlängeln sollte. Schließlich fließt sein reines Wasser direkt in die Kläranlage, wofür die Stadt jedes Jahr ironischerweise Abwassergebühren entrichten muss. Ob es sich also auch finanziell rechnen würde, in der Innenstadt ein wenig venezianisches Flair zu verbreiten – dazu gibt es Gutachten und Gegengutachten. Wie viele Großprojekte in Darmstadt braucht es seine Zeit, bis sie umgesetzt oder endgültig verworfen werden. Bislang gibt es nur eine Darmbach-Simulations-Betonrinne. Siehe dort (S. 121).
Gemeinhin regelt ein Signal den Schienenverkehr – nicht so dieses etwas altertümliche Exemplar, das mitten im Garten des Hauses in der Rabenaustraße 31 steht. An dieser Stelle führte nicht einmal eine Eisenbahnschiene entlang. Dennoch gibt es einen unmittelbaren Bezug zur Eisenbahngeschichte Darmstadts. Das Haus und die Nachbarhäuser sind quasi die Keimzelle des Stadtteils Waldkolonie. 1911 wurden sie nach den Plänen des Mainzer Stadtbaurats Friedrich Mettegang gebaut. Der hatte zu dieser Zeit noch einen anderen Job: Er koordinierte die Planungen für den heutigen Hauptbahnhof, der 1912 eingeweiht wurde. Das ist der Grund, weshalb die Siedlung errichtet wurde.