Sonntag, 20. März. Anstoß
Hannes Gerlinger zielte auf den kleinen Plastikball, der an einem dünnen Nylonfaden von der Latte des weißen Plastiktors baumelte. Mit seinem Urinstrahl brachte er ihn immer wieder dazu, nach hinten zu pendeln. Das Tor, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, stand auf einem grünen Plastiksieb, das Zigarettenkippen und andere Festkörper davon abhalten sollte, den Abfluss des Urinals zu verstopfen. Gerlinger dachte: „10:0“, als der Ball auspendelte. Er zog den Reißverschluss hoch. „Wie im August 1980 gegen Hemmersdorf in der ersten Runde des DFB-Pokals“, sagte er leise zu sich selbst. Er hatte einen ruhigen Job in dieser Nacht, easy wie das Spiel damals. Den Bembler-Pokal sollte er bewachen. Ihm brachte das 150 Euro. Aber so richtig verstand er nicht, weshalb er das Ding eigentlich hüten sollte. Der Materialwert war mit 500 Euro schon im Bereich der Schmeichelei angesiedelt. Wer würde das Teil schon klauen? Aber ihm sollte es recht sein: 150 Kröten waren 150 Kröten.
Nachher sollte der Pokal im neuen Lilien-Museum seinen Ehrenplatz bekommen. Lilien war der Spitzname der Fußballer des SV Darmstadt 98 – und die spielten nach 33 Jahren wieder in der 1. Liga. Gestern war der 27. Spieltag gewesen. Und die Jungs hatten aus Wolfsburg ein weiteres Mal einen Punkt mit nach Hause gebracht. Und sie hatten in der ganzen Saison noch nicht einmal den Relegationsplatz touchiert!
Gerlinger hatte vor einer Woche heimlich einen ersten Blick ins neue Museum werfen dürfen. Es stand auf dem Gelände der Lilien am Böllenfalltor. Und war architektonisch ganz in den Stil der bestehenden Bauten integriert: Gerlinger konnte die Zuneigung der 98er zu Containern einfach nicht nachvollziehen. Der ganze VIP-Bereich war ein einziges Containerdorf, auch die Büros und der Fanshop waren in Containern untergebracht. Man unternahm viel, damit man im Inneren nicht merkte, dass man in diesen Räumlichkeiten auch bequem nach China verschifft werden konnte. Dennoch, ein Container blieb ein Container so wie ein Ball ein Ball. Und 150 Kröten blieben 150 Kröten.
Aber es zählten ja die inneren Werte. Hatte ihm das seine Frau nicht klarzumachen versucht, nachdem sie diese Esoterikkurse besucht hatte? Mit langen Haaren und zwanzig Kilo weniger hätte er sie trotzdem hübscher gefunden. Nun, was die Kilos betraf, war er eigentlich nicht in der Position zu meckern…
Aus insgesamt sechs Containern bestand das neue Museum. Knapp 30 Quadratmeter hatte jede dieser Blechkisten, das wusste Gerlinger ganz genau. Schließlich arbeitete er am Hafen in Gernsheim, und das Maß eines Containers war für ihn das Maß aller Dinge. Abgesehen vielleicht vom Durchmesser eines Fußballs, also durchschnittlich 22 Zentimetern.
Der Bembler-Pokal sollte im letzten der sechs Container untergebracht werden. Optisch machte der Pokal schon etwas her: 52 Zentimeter war er hoch, genauso wie der derzeitige DFB-Pokal. Mit seinen sechs Kilogramm Gewicht war er sogar 300 Gramm schwerer als dieser. Von 2000 bis zum Jahr 2004 hatte die Apfelweinfirma Bembler den Pokal gestiftet. Südhessische Fußballvereine hatten um ihn gespielt. Nun, es war den Lilien vergönnt gewesen, den Pokal fünfmal zu gewinnen. Bembler-Champions, sozusagen. Nicht unbedingt eine hochrangige sportliche Auszeichnung – aber Gerlinger konnte nachvollziehen, dass es für die Mannschaft sicher ein richtig gutes Gefühl gewesen war, solch einen Pokal in den Händen zu halten.
Eigentlich hatten Herr Rosen – eher ein unpassender Name für den Präsidenten der anderen Blumengewächse Lilien – und der Juniorchef von Bembler den Pokal schon am Vorabend im Museum abstellen wollen. Die vergangenen Jahre hatte der Kelch in irgendeinem Safe der Firma Bembler ein wohl doch eher dunkles Dasein geführt. Als Rosen die Eingangstür zum Museum hatte aufschließen wollen, war der Schlüssel abgebrochen. Und Bembler junior musste wieder zurück nach Frankfurt. Also sollte der Pokal eben erst am heutigen Morgen um neun Uhr an seinen Platz gestellt werden – wenn ein Schlüsseldienst zur Stelle war.
Rosen hatte die Idee gehabt, ihn, Gerlinger, zur Bewachung abzustellen. Im Museum gab es eine Alarmanlage, in der Lilienschänke aber nicht. Doch Gerlinger wollte sich nicht beklagen. Die 150 nahm er gerne mit. Und Roger – der Inhaber der Lilienschänke – hatte auch den Zapfhahn offengelassen, versehentlich oder absichtlich, das wusste Gerlinger nicht, das interessierte ihn auch nicht, und darüber hatte er auch keine Lust zu diskutieren. Die 10:0 waren ihm in dieser Nacht mehrfach gelungen, und jetzt, um sechs Uhr, war eigentlich die Zeit, einen Frühschoppen zu sich zu nehmen. Er glaubte ja nicht daran, dass jemand den Pokal klauen würde. Was sollte der auch damit anfangen? War wohl kaum zu verticken, das Teil. Darauf gleich noch ein Bier.
Er zog ein Papierhandtuch aus dem Spender, trocknete sich die Hände. Dann ging er wieder in den Schankraum.
Aus den Boxen dröhnte „Die Sonne scheint“, gleich würde er sein Glas wieder mit Freibier füllen. Solch eine Nacht kam Gerlingers Vorstellung vom Paradies schon ziemlich nahe.
Später konnte er nicht mehr sagen, was er zuerst wahrgenommen hatte: das Geräusch neben der Tür hinter ihm oder den Schatten. Dann spürte er nur noch den Schlag gegen den Hals.
Sein letzter Gedanke, bevor er ohnmächtig zu Boden sank, war: Hemmersdorf hat doch getroffen…
„Weg.“
„Wie weg?“
„Weg-weg!“ Reinhold Rosen warf die Arme in einer hilflosen Geste in die Höhe.
„Beruhig dich, Reinhold, beruhig dich.“ Ferdinand Wantrupp legte die Hand auf die Schulter seines alten Freundes. „Ich geb dir meine besten Leute.“
Helmut Stallitzer starrte die beiden älteren Herren an. Sie saßen über Eck an einem der hinteren Tische in der Lilienschänke. Ferdinand Wantrupp, sein Chef, war wie immer tadellos gekleidet in einem seiner Anzüge aus australischer Wolle. Er lächelte ihm zu. In der linken Hand hielt er eine Zigarre. Eine Cohiba Behike, wie Stallitzer wusste. Als überzeugter Nichtraucher hatte er dem Geruch noch nie etwas abgewinnen können.
Am Tisch daneben saß, einsam und betrunken, Gerlinger. Der hatte zunächst den Präsidenten des Darmstädter Fußballvereins Reinhold Rosen angerufen, als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht war. Das war so gegen 7 Uhr morgens passiert. Jemand hatte den Bembler-Pokal geklaut, das hatte Helmut Stallitzer inzwischen mitbekommen. Denn kaum hatte Rosen Wantrupp angerufen, war dieser sofort in die Lilienschänke geeilt. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass es sich um die 7. Stunde eines geheiligten Sonntags handelte. Noch auf dem Weg dorthin hatte Wantrupp Stallitzer angerufen und ihm gesagt, dass er ebenfalls sofort nach Darmstadt kommen sollte. Für den der Sonntag gemeinhin auch nicht zu den Werktagen zählte.
Stallitzer sah sich um. Das Restaurant wirkte keineswegs wie eine billige Sport-Kaschemme. Das Emblem des SV Darmstadt 98 schwebte an der Decke zentriert. Und in die cremeweißen Rückenlehnen der ledergespannten Bänke waren blaue Lilien gestickt.
Eine Seite zierte ein Wandgemälde mit Spielszenen vor einer mit viel Lokalkolorit gemalten Darmstadt-Kulisse. Alles im allem: nettes Ambiente, auch wenn man sich, so wie Stallitzer, überhaupt nicht für Fußball interessierte.
Ferdinand Wantrupp klopfte Rosen immer wieder auf die Schulter – in der Häufung eine wirklich groteske Geste. „Ich geb dir meine besten Leute – und dann ist der Pokal ratzfatz wieder da, ohne dass Bembler auch nur ahnen wird, dass er überhaupt fort war.“
Rosen nickte.
Stallitzer fragte: „Was ist denn eigentlich passiert?“
Reinhold Rosen antwortete: „Der Pokal, der geklaut worden ist, stammt von unserem Hauptsponsor, der Firma Bembler. In zehn Tagen ist die Eröffnung des Museums – mit Riesen-Brimborium und natürlich auch Bembler persönlich. Dann muss der Pokal an dem für ihn vorgesehenen Ort im Museum stehen. Wenn nicht, haben wir ein Problem. Wenn der Pokal nicht rechtzeitig an Ort und Stelle steht, vergrätzen wir unseren Hauptsponsor so richtig. Und so wie ich den kenne, verspielen wir damit letztlich unsere Existenzgrundlage. Bembler versteht keinen Spaß. Und wenn es um seinen Pokal geht, schon gar nicht.“
„Ich sagte doch, ich setz meine besten Leute darauf an.“ Er sah seinen Nachbarn an. „Das bin ich dir ja wohl schuldig, Reinhold.“
Stallitzer setzte sich gegenüber hin, sah seinen Chef an: „Okay, Herr Wantrupp, was soll ich tun? Und vor allem: mit wem soll ich‘s tun? Allein wird es mir kaum möglich sein, diesen Pokal innerhalb von ein paar Tagen wieder aufzutreiben.“
Langsam stieg eine Befürchtung in Helmut Stallitzer auf. Ferdinand Wantrupp war nur noch der Seniorchef des Unternehmens. Die Zügel des Unternehmens, ganz besonders jene der der Kanzlei angegliederten Detektei, hielt Ferdinand Wantrupps Sohn Michael in den Händen.
Und so große Stücke Stallitzer auf den Seniorchef hielt, umso kleiner waren jene, die er Michael Wantrupp zubilligte. Quasi Kirchenziegel gegenüber Legosteinen.
Ferdinand Wantrupp war Rechtsanwalt. Wie sein Vater. Und wie sein Großvater. Und wie sein Urgroßvater, Sigismund Wantrupp. Der hatte die Kanzlei seinerzeit gegründet, drei Monate nach der Gründung des Deutschen Fußballbundes – im April 1900. In der weisen Voraussicht, dass ein nationaler Verband auch interne Konflikte heraufbeschwören würde, spezialisierte sich die Kanzlei sogleich auf Vereinsrecht – mit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches zu Beginn des Jahres 1900 ein einträgliches Geschäft.
Sehr schnell hatte sich gezeigt, dass die Kanzlei gut beraten war, wenn sie eigene Detektive anstellte. Und da kam Sigismunds Bruder Richard Wantrupp ins Spiel. Anfangs erledigte er für den drei Jahre älteren und juristisch gebildeteren Bruder Handlangerarbeiten – bis sich herausstellte, dass er ein schlaues Köpfchen war – und in der Unterwelt gut vernetzt. Zwei Jahre später wurde der Name der Kanzlei Wantrupp um ein weiteres Wantrupp bereichert: Richard Wantrupp hatte die detektivische Abteilung gegründet und leitete sie nun. Denn oftmals waren die Fälle heikel. So heikel, dass niemand Interesse daran hatte, die Polizei einzuschalten. Die hausinterne Detektei, die diskrete Aufgaben und Nachforschungen ohne Aufsehen, aber mit großer Kompetenz erledigte, wuchs parallel zur Kanzlei.
Diese selbst machte sich innerhalb weniger Jahre auch international einen Namen. Ob Streitigkeiten innerhalb des Deutschen Fußballbundes oder später sogar innerhalb der FIFA – Wantrupp & Wantrupp waren die grauen Eminenzen der Schlichtung. In der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, aber im Hintergrund stets präsent. Sogar bei internationalen Sportereignissen konnte man bei Fernsehübertragungen in der VIP-Lounge immer einen Wantrupp sehen, so eine Art diskrete Forrest Gumps.
Wantrupp & Wantrupp begründete seinen Ruf insbesondere auf Diskretion. Und so expandierte das Unternehmen bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA. Dort gab es heute noch die zweitgrößte Filiale. Ferdinand Wantrupps Vater, Ludwig Wantrupp, kehrte unmittelbar nach dem Ende des Krieges zurück nach Deutschland. Doch er wollte nicht zurück nach Berlin. Somit ließ er sich in Frankfurt nieder.
In vielen spektakulären Fällen hatten Wantrupp & Wantrupp im Hintergrund die Fäden gezogen, Fälle, die bis heute als ungelöst galten. Etwa die Geschichte vom gestohlenen Coupe Jules Rimet, dem Weltmeisterpokal, der kurz vor der WM 1966 gestohlen worden war. Eine Woche später war er wieder aufgetaucht. Im Londoner Süden fand ihn ein Hund namens Pickles im Gebüsch. Alle Nachrichtensendungen des Abends vom 27. März 1966 zeigten, in dieser Reihenfolge, zuerst den Pokal, dann den Hund, dann seinen Besitzer. Und der junge Ferdinand Wantrupp, der gerade in der Firma seines Vaters angefangen hatte, konnte überhaupt nicht verstehen, warum dieser jedes Mal, wenn er den Hund sah, in Tränen ausbrach. Vor Lachen.
Ferdinand Wantrupp erzählte diese Geschichte über seinen Vater immer wieder gern, besonders, nachdem er eine Flasche seines Lieblingsweins gepichelt hatte. Auf die Frage, warum denn sein alter Herr so gelacht habe, hatte Ferdinand Wantrupp nie geantwortet, sondern nur geheimnisvoll angedeutet: „Mein Vater hatte einfach eine sehr seltsame Art von Humor.“
Stallitzer war bereits sehr früh in die Kanzlei Wantrupp & Wantrupp eingetreten. Er hatte nach Abschluss der Realschule eine Ausbildung zum Rechtsanwaltsgehilfen abgeschlossen, wie die damalige Berufsbezeichnung lautete. Eine der Qualitäten, die Helmut Stallitzer auch heute noch sehr an Ferdinand Wantrupp schätzte, war dessen phänomenales Personengedächtnis. So kannte er auch innerhalb der Kanzlei alle Mitarbeiter mindestens mit Namen. Und er beobachtete die Entwicklung seiner Mitarbeiter stets genau. Deshalb hatte er auch schnell erkannt, dass Helmut Stallitzer ein kluges Köpfchen war. Jemand, der Zusammenhänge schnell begriff, der den Dingen immer auf den Grund gehen wollte und dabei jedes noch so kleine Detail wahrnahm und vor allem auch in größere Zusammenhänge einzuordnen wusste. Lange Rede, kurzer Sinn: Ferdinand Wantrupp versetzte Helmut Stallitzer in die detektivische Abteilung der Kanzlei, forderte und förderte ihn.
Stallitzer hatte seinen Mentor immer sehr geschätzt. Nur die Einschätzung der Qualitäten von Ferdinand Wantrupps einzigem Sohn Michael teilte er nicht. Zu exakt und verklärt sah er die Fähigkeiten des eigenen Sohns. Er trug zur rosaroten Brille auch noch rosarote Kontaktlinsen, ohne es zu merken.
Michael Wantrupp hatte das erste juristische Staatsexamen geschafft und der Papa gab sich damit zufrieden. Ferdinand Wantrupp musste gespürt haben, dass der Filius das zweite Examen niemals geschafft hätte. Doch der hielt sich selbst für einen Überflieger, der eine weitere Qualifikation überhaupt nicht benötigte. Helmut Stallitzer war inzwischen 55 Jahre alt. Sein Arbeitsvertrag sicherte ihm zu, mit 63 in Rente gehen zu können, in einen gut bezahlten Ruhestand, der durch diverse Boni und betriebliche Zusatzversicherungen bis an sein Lebensende keine finanziellen Nöte würde aufkommen lassen. Und er hoffte inständig, dass Ferdinand Wantrupp im Hintergrund die Fäden so lange in der Hand halten würde. Denn Stallitzer war sich sicher: Würde Michael Wantrupp eines Tages ganz allein die Entscheidungen treffen, dürfte es ihm gelingen, die Kanzlei binnen drei Jahren komplett an die Wand zu fahren.
„Mein Sohn Michael wird sich persönlich darum kümmern, dass der Pokal rechtzeitig wieder da ist. Und er wird unterstützt von meinen besten Männern: Helmut Stallitzer hast du ja schon kennengelernt, es gibt keinen, der eine bessere Spürnase hat. Und Michael wird Helmut Stallitzer jemanden an die Seite stellen, sodass sie den Pokal in einer Woche locker wiederfinden können. Reinhold, all meine Ressourcen sind auch deine Ressourcen.“
Helmut Stallitzer legte automatisch die rechte Hand an die Stirn. Wenn Michael Wantrupp ihm einen Kollegen an die Seite stellte, so würde dies ganz gewiss nicht Rainer Friedrich sein, mit dem er schon viele, viele Fälle schnell und unbürokratisch gelöst hatte. Seine Wahl würde ganz bestimmt auch nicht auf Leona Samari fallen, das hellste Köpfchen in der gesamten detektivischen Abteilung. Es bedeutete viel eher, dass er wahrscheinlich irgendwelche Lieblinge von Wantrupp junior ins Team gesetzt bekäme. Wahrscheinlich irgendwelche Nullen vom Schrottwichteln in der Praktikantenabteilung. Und bei Wantrupps glücklichem Händchen für den Nachwuchs hatte Helmut Stallitzer Glück, wenn es nur ein Idiot war und kein Vollidiot.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zur Lilienschänke. Herein trat Michael Wantrupp. „Aleae iactae sunt”, begrüßte er Stallitzer und klopfte ihm kollegial auf die Schulter. Stallitzer mochte derartige Vertraulichkeiten nicht. Doch es ersparte ihm den Händedruck. Wieder so ein Moment, in dem er nachrechnete, wie lange er wohl noch in der Firma arbeiten würde. Als Ferdinand Wantrupp die Zügel allein in der Hand gehalten hatte, war ihm dieser Gedanke nicht ein einziges Mal gekommen.
„Die Würfel sind gefallen“, übersetzte Wantrupp junior für die vermeintlich des Lateinischen Unkundigen. Wobei seine Sprachkenntnisse mit dem Etikett „Asterix-Latein“ wohl am treffendsten beschrieben waren. Barba non facit philosophum – ein Bart macht noch keinen Philosophen – dachte Stallitzer, und war sich sicher, dass Wantrupp junior den Autor dieses Ausspruchs Aulus Gellius für einen italienischen Wein gehalten hätte.
Eigentlich leitete Helmut Stallitzer im Moment die Nachforschungen im Fußball-WM-Skandal 2006. Ein großer Fall, ein sehr großer Fall. Seit einem halben Jahr reiste er quer durch die Weltgeschichte, spürte Zeugen auf, vernahm sie – und hatte schon einige Ermittlungserfolge erzielt. Und jetzt sollte er diesem unbedeutenden Pott hinterherhecheln…
Reinhold Rosen setzte sich nun neben Hannes Gerlinger, Ferdinand Wantrupp ebenfalls. „So, jetzt erzählen Sie erstmal meinem Kollegen“ – er blickte zu Helmut Stallitzer – „was hier genau passiert ist.“
„Nein, das wird er jetzt noch nicht erzählen. Ich warte noch auf meine Jungs.“
In diesem Moment flog die Tür auf und Helmut Stallitzers schlimmsten Befürchtungen traten ein. Sie hatten einen Namen: Paul Wagner.
„Hallo, Stalli, altes Haus!“, begrüßte ihn der Kollege. Es gab nur wenige Momente, in denen sich Stallitzer nach Wantrupps Minimal-Latein sehnte…„Wir beide geben den Fritz und Ottmar, holen uns den Ball zurück und spielen ihn wieder ins Tor!“
Paul Wagner zählte zwar 20 Jahre weniger als Stallitzer, machte diesen mathematischen Nachteil jedoch durch die Anzahl an Kilos Lebendgewicht wieder wett. Es gab kaum eine Situation, für die er nicht irgendeinen Vergleich aus der Fußballgeschichte parat gehabt hätte – insbesondere jener seines Lieblingsvereins SV Darmstadt 98, der Lilien. Und wenn jemand wusste, wann irgendjemand in diesem Verein einen Pups gelassen hatte, sei es in Form eines Stadions oder unter der Dusche, dann war das Paul Wagner.
Stallitzer hätte nie zugegeben, dass er, bei aller Abneigung dem Spiel gegenüber, wusste, dass Kollege Wagner gerade auf Fritz und Ottmar Walter angespielt hatte, die Brüder, die 1954 in der deutschen Nationalmannschaft dem Land zum Titel verholfen hatten – auch wenn sie im Endspiel selbst keine Tore erzielten. Vielleicht war Wagner ja aufgrund seines Fußballwahns bei Wantrupp & Wantrupp als Detektiv eingestellt worden.
„So, jetzt sind wir ja vollzählig“, sagte Michael Wantrupp. „Ich brauche jetzt erst einmal die Fakten.“
Wagner hatte einen Koffer und eine Tasche umgehängt. Er stellte den Koffer ab und entnahm der Tasche einen Laptop, den er sogleich aufklappte. Stallitzer kannte sich mit diesen Teilen nicht wirklich gut aus. Aber das gebürstete Alu von Wagners aktuellem Gerät ließ darauf schließen, dass es sich wohl um eines der besseren handelte. Wagner war, das musste selbst Stallitzer zugeben, eine Koryphäe in der Welt der Bits und Bytes – es gab kein Computersystem, das er nicht knacken oder ausspähen konnte – für Stallitzer ein Buch mit sieben Siegeln. Ihn selbst qualifizierten nur seine grauen Zellen für den Job. Okay, vielleicht auch, dass er einen Marathon in gut drei Stunden lief. Auch mit seinen 55 Jahren noch. Vielleicht auch die regelmäßigen Schießtrainings. Und der braune Gürtel im Jiu-Jitsu.
Ferdinand Wantrupp stellte alle anwesenden Personen kurz einander vor, dann erwiderte er: „Mein Freund Reinhold Rosen, er ist der Präsident der Lilien, kann das Problem kurz darstellen. Er hat mich gleich nach dem Diebstahl angerufen und uns beauftragt. Und dieser Bembler-Pokal, er muss in zehn Tagen hier im Lilien-Museum stehen, sonst gibt’s eine Riesenkatastrophe. Ach ja – Bembler darf natürlich keinen Wind davon bekommen, dass sein Pokal gerade auf unfreiwilligen Reisen ist. Deshalb auch keine Polizei.“
Wagner tippte schon fleißig mit, dann sagte er: „Also, Herr Gerlinger, erzählen Sie doch bitte nochmal, was heute Nacht passiert ist.“
Gerlinger berichtete darüber, dass er den Pokal bewachen sollte, in der Lilienschänke, dass er den Job gut gemacht habe, bis ihn jemand irgendwann gegen sechs Uhr früh niedergeschlagen habe. Als er wieder aufgewacht war, war der Pokal weg – und er hatte Kopfschmerzen.
Wagner hatte bereits Stichworte mitgetippt, dann sagte er: „Also den Sturm und das Mittelfeld vom Platz geholt, die Verteidigung gefoult und ihn dann reingemacht, was?“
Stallitzer rollte die Augen. Ihn rausgeholt, verbesserte er in Gedanken Wagners grottenschlechte Metapher.
„Wo und wie ist der Einbrecher hier in die Kneipe gekommen?“, wollte Wagner wissen.
Gerlinger zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er stand hinter mir, und hat mir mit einem Baseballschläger eine übergezogen. Hier“, sagte Gerlinger und deutete auf seine rechte Nackenbeuge, „da hat er hingeschlagen. Und ich bin zu Boden gegangen.“
Wagner nickte.
„Danke, Herr Gerlinger“, sagte Wantrupp junior freundlich.
Dann wandte er sich an seine Mitarbeiter: „Sie beide werden den Pokal wieder herbeischaffen. Rechtzeitig vor der Eröffnung des Museums. Haben Sie mich verstanden?“
„Besser als Rudolf Kreitlein“, nickte Wagner.
„Als wer?“, sprach Wantrupp aus, was Stallitzer dachte.
„Besser als den deutschen Schiedsrichter bei der WM 1966 in England. Da hatten sie noch keine gelben und roten Karten. Und die Argentinier und die Engländer haben seine Anweisungen nicht verstanden. Oder verstehen wollen. Antonio Rattín jedenfalls blieb noch 9 Minuten nach dem mündlichen Platzverweis auf dem Platz und –“
„Danke. Den Pokal. Zurück. Ok?“
„Yes, Sir!“
„Wenn der Becher rechtzeitig zur Eröffnung wieder da ist, bekommen Sie jeder 5.000 Bonus.“
Stallitzer und Wagner nickten.
„So, ich will hier jetzt niemanden mehr sehen außer Gerlinger. Vielleicht kann ich ja tatsächlich noch ein paar Spuren sichern, die uns zum Täter führen. Also: Abmarsch, alle. Und bitte, fast mir keine Türklinken mehr an.“ Wagner war jetzt ganz in seinem Element. Und das war meist mehr als anstrengend.
„Vielleicht kann mir ja mal jemand das Museum zeigen und den Ort, an dem der Pokal stehen soll“, warf Stallitzer nun in den Raum. Wenn Wagner sich mit den technischen Aspekten herumschlagen wollte, sollte er das tun. Er selbst musste erst einmal ein Gefühl für die ganze Situation bekommen. Und da war ein Gang durchs Museum sicher nicht die schlechteste Option. Der Tross ohne Gerlinger wandte sich in Richtung Ausgang.
Als Stallitzer an Wagner vorbei den Raum verließ, raunte der: „See you later, Stalli-Gator.“
Eine weitere unangenehme Eigenschaft Wagners war in Stallitzers Erinnerung bis eben verschüttet geblieben: Fiel dem Kollegen gerade mal kein Fußballzitat ein, vergewaltigte er gnadenlos Rock’n’Roll-Titel. Leider nahmen Wagners Fußball- und Musikdatenbank in seinem Gehirn so viel Raum ein, dass für Feingeist und Etikette einfach kein Platz mehr blieb.
Als Stallitzer neben Michael Wantrupp die Lilienschänke verließ, zischte er: „Musste es ausgerechnet Wagner sein?“
„Ja. Ich brauche – wir brauchen ihn an Bord. Wagner hat nun mal die digitale Spürnase. Und die ist wahrscheinlich das beste Mittel, den Pokal wieder aufzutreiben. Ich weiß, er ist nicht immer einfach. Perfer et obdura!“
Halte durch und sei hart, welch frommer Wunsch. Und Stallitzer war sicher, dass Wantrupp, der alte Schleimer, zu Wagner zuvor Ähnliches über ihn gesagt hatte. Stallitzer seufzte.
Dilettanten, dachte Paul Wagner. Fassten alles an, spazierten durch den Raum, als gäbe es keine Spuren. Wagner hatte, als er ungefähr 15 Jahre alt war, tatsächlich mal darüber nachgedacht, ob er nicht vielleicht eine Laufbahn bei der Polizei einschlagen sollte. Lag vielleicht daran, dass damals gerade die Serie „Alarm für Cobra 11“ angelaufen war, und Wagner Polizeiarbeit mit Porschefahren gleichsetzte. Als sein Papa dann jedoch das Rennspiel „Need for speed“ auf seinem Rechner installiert hatte, merkte Wagner schnell, dass ihm diese Art von Rennerlebnis vollauf genügte. Aber er liebte den Dodge Viper RT/10, mit dem er sogar die geheime Strecke „Lost Vegas“ befahren hatte…
Damals hatte er noch Fußball gespielt, in der Jugendabteilung bei den Lilien. Und dann war der Tag gekommen, den er auch heute noch als den schwärzesten seines Lebens betrachtete: 16. März 1996. Er war gerade 16 geworden. Bei einem Spiel gegen eine andere Jugendmannschaft aus dem Odenwald hatte der Abwehrspieler die Notbremse gezogen, als Wagner mit dem Ball auf das gegnerische Tor zugerannt war. Der Boden war ein Acker, aber an diesem Tag war Paul alles gelungen. Drei Tore hatte er geschossen, seine Mannschaft führte 4:0. Und in wenigen Sekunden würde es das 5:0 geben. Aber der Kerl, dessen Gesicht immer wieder in Pauls Träumen erschien, war auf dem Matsch mit gestrecktem Bein in seine Richtung geschlittert. 80 Kilo Lebendgewicht waren wie eine Abrissbirne mit den Stollen seines Schuhs gegen die Innenseite seines linken Knies geklatscht. Wagner selbst war gefallen und hatte im Gegensatz zu seinem Unterschenkel den ganzen Körper darüber noch gedreht…
Kein Tor. Rote Karte für diesen Idioten. Und Pauls linkes Knie ein einziges Trümmerfeld. Unglückliche Triade nannten die Chirurgen das Gemetzel hinter der Kniescheibe: Vorderes Kreuzband durch, Innenmeniskus kaputt, was die beiden mit dem medialen Kollateralband gemeinsam hatten.
Zunächst hatte er irrsinnige Schmerzen und lag mehrere Wochen im Krankenhaus. Dann erst konnten sie das Knie operieren, nachdem die Schwellung von der Größe einer Grapefruit zurückgegangen war. Anschließend war er noch drei Monate zu Hause geblieben. Mit Krücken und Schienen am Bein konnte er zwar laufen, aber bei der geringsten Belastung des Knies hatte er den Eindruck, irgendjemand würde mit einem Zahnarztbohrer die Nerven im Inneren seines Beins traktieren.
Das Beste an der ganzen Geschichte war die Physiotherapeutin gewesen: Gaby. Sie war zehn Jahre älter als er. Und sie wurde seine Lehrerin, nicht nur was das Laufen anging. Vielmehr unterrichtete sie ihn in diversen Beckenbewegungen. Und Paul übte und trainierte wie verrückt. Nicht nur die Beckenbewegungen. Sondern auch die Bewegungen seines Beines. Anfangs musste er immer unter Gaby liegen, wenn Beckenübungen anstanden, weil er das Bein nicht belasten durfte. Sein Vater wunderte sich über die Verbissenheit, mit der Paul die Bewegungsfähigkeit seines Beines wiederherstellen wollte. Vielleicht ahnte er etwas über die wahre Motivation seines Sohnes. Wenn dem so war, ließ er es sich nicht anmerken.
Er schenkte Paul den ersten Computer. Paul installierte das Rennspiel, ansonsten interessierte er sich zunächst wenig für Bits und Bytes. Nur für Gaby. Die Reha wurde verlängert. Anfangs freute sich Paul darüber. Reha hieß: Gaby.
Dann kam der schwarze Donnerstag. Er fuhr mit dem Taxi ins Krankenhaus. Wieder einmal wollten die Ärzte in sein Innerstes schauen: Knie, Bändern und Gelenken mit MRT auf den Zahn fühlen, schauen, ob die OP den gewünschten Erfolg gebracht hatte. Das Ergebnis war niederschmetternd. Der Arzt war sehr direkt gewesen: „Wenn Sie in zwei Jahren ohne Krücken laufen können, haben Sie Glück. Sie werden immer hinken. Und was den Sport angeht – vielleicht können Sie irgendwann einmal schwimmen.“
Es gab Menschen, die hatten auch bei verletztem Knorpel nur wenig Beschwerden. Zu dieser Gruppe zählte er leider nicht. Seit dem Tag seines Unfalls hatte es keinen einzigen Tag in seinem Leben gegeben, an dem sein Knie nicht wehgetan hätte. Mal mehr, mal weniger. Wobei er an einem der üblen Mal-mehr-Tagen vor zwei Jahren das erste Mal daran gedacht hatte, sich für solche Tage einen Elektrorolli zu kaufen.
Paul hatte nicht geweint. Nicht nach dem Arztbesuch. Er war im Taxi wieder nach Hause gefahren. Und hatte Gaby gesehen. Die mit einem Typen auf der Straße rumgeknutscht hatte. In den zwei Sekunden, die das Taxi gebraucht hatte, um an den beiden vorbeizufahren, hatten sich die Details in sein Hirn gebrannt. Seine Zunge in ihrem Hals, als ob er eine Magenspiegelung plante. Seine Pranken, die ihren Po fest an sich drückten. In Sekunde drei und vier lief dann ein Film im Zeitraffer in seinem Kopf ab, der sich in den kommenden Tagen immer und immer wiederholte.
Das war der Moment, in dem er vier Wochen lang jede Physiotherapie verweigerte. Und angefangen hatte, seinen Rechner zu seinem besten Freund zu erklären. Was sich bis heute nicht wesentlich geändert hatte.
„Also?“
Gerlingers Stimme holte ihn wieder in die Realität zurück. Der saß immer noch auf seiner Bank. Starrte ihn an. Wartete auf eine Antwort.
Es war an der Zeit, seinen Job zu machen. „Ok, Herr Gerlinger. Erzählen Sie mir doch bitte nochmal, wie dieser Abend aus ihrer Sicht verlaufen ist.“
Gerlinger berichtete. Wie die letzten Mitarbeiter die Schänke um Mitternacht verlassen hatten. Wie er sich erst mal ein Bier gezapft hatte. Dann noch eins. Wie er die Musik angemacht hatte.
„Ist Ihnen da schon irgendwas Komisches aufgefallen?“
Gerlinger schüttelte den Kopf. „Überhaupt nichts. Gar nichts ist mir aufgefallen. Es ist auch nichts passiert. Ich hab hier gesessen, dann den Fernseher angemacht, ihn dann wieder ausgemacht, wieder ein bisschen Musik gehört, und halt das eine oder andere Bier getrunken.“
„Und dann sind Sie auf die Toilette gegangen und wieder zurückgekommen?“
„Ja, genau. Ich war ja mehrmals auf dem Klo. Und dann eben nochmal kurz vor sechs – ich hab da zufällig auf die Uhr geguckt. Und dann bin ich wieder zurück, steuere auf die Theke zu, und kaum bin ich auf dem Weg zurück in den Gastraum, da seh ich noch eine Bewegung, und dann seh ich nichts mehr.“
Wagner zeigte quer durch den Raum. „Die Tür war geschlossen, als Sie von der Toilette zurückkamen?“, fragte er.
Die Tür in Richtung Vorraum, der zu den Toiletten führte, ging in Richtung Schankraum auf. „Ja. Ich hab sie natürlich aufgemacht, als ich hier wieder rein bin.“
Der Dieb hatte wahrscheinlich an der Wand gestanden und wurde verdeckt, als Gerlinger die Tür öffnete.
„Haben Sie sehen können, womit Sie der Angreifer niedergeschlagen hat?“
„Nein. Ich hab nur einen Schatten gesehen. War aber irgendwas Großes. Vielleicht ein Baseballschläger?“
„Haben Sie eine Ahnung, wie der Dieb hier reingekommen ist?“
„Durch die Tür, nehme ich an. Die war ja nicht abgeschlossen. Ich meine, die haben mich ja nicht eingeschlossen.“
Super. Wenn der Dieb durch diese Tür die Kneipe auch wieder verlassen hatte, dann hatten nach ihm die gesamte Horde ebenfalls Fingerabdrücke auf der Klinke hinterlassen: Reinhold Rosen, Wantrupp senior, Wantrupp junior, Stallitzer und er selbst. Er spürte Ärger in sich aufsteigen. Dabei ertappte er sich, dass er den folgenden Worten von Gerlinger fast nicht mehr zugehört hätte.
„…mich selbst eingeschlossen. Also, ich wollte nicht, dass da jemand reinkommt in die Kneipe, wenn er hier das Licht sieht, die Musik hört. Da wollt ich schon auf Nummer sicher gehen.“
„Aber Sie haben doch gerade gesagt, der Dieb wäre durch die Tür reingekommen.“
„Ja klar, aber durch die hintere. Die hatte ich nicht abgeschlossen. Hab ich nicht dran gedacht. War vielleicht ein bisschen blöd von mir.“
Wagner lächelte. Vielleicht hatte er doch Glück. Mit Gerlinger im Schlepptau und dem schweren Koffer über die Schulter gehängt, ging er zur hinteren Tür. Er stellte seinen Koffer auf dem Boden ab, öffnete ihn, entnahm ihm ein paar Plastikhandschuhe. Dann drückte er die Klinke der hinteren Tür herunter, und zog sie nach innen auf. Das Lächeln wurde breiter. Eine Klinke aus glattem Kunststoff. Hier würde er ganz bestimmt Fingerabdrücke finden.
Zwar war sein Koffer nicht ganz so gut bestückt, wie die in den Wagen der Spurensicherung bei der Kriminalpolizei. Aber die Basisausrüstung hatte auch er dabei. Pinsel, Pulver, Kamera – einen Fingerabdruck konnte er so gut sichtbar machen.
Er pinselte die Klinke mit Kohlestaub ein und hatte Glück: Auf der Oberseite war nur ein verwischter Handballen zu erkennen, aber auf der Unterseite der Klinke konnte er tatsächlich zwei Fingerabdrücke abnehmen. Er baute zwei kleine Akkuleuchten auf, richtete sie auf die Türklinke und fotografierte die Abdrücke. „Perfekt!“
Er räumte die Utensilien wieder akribisch in den Koffer ein. Dann ging er zurück in den Schankraum. Er steuerte auf seinen Laptop zu.
„Sie haben nichts dagegen, wenn ich mir noch ein Bier zapfe?“ Gerlingers Stimme.
Wagner schüttelte den Kopf. „Machen Sie ruhig.“
Er setzte sich an den Rechner, schloss die Kamera an den Laptop an und übertrug die Fotos direkt in seine persönliche Internet-Cloud. Über den Laptop hatte er direkten Zugriff darauf. Das hatte er bei seiner Arbeit für Wantrupp & Wantrupp immer gemocht: Es wurde nicht nur das angeschafft, was absolut nötig war, sondern auch das, was einen die Arbeit angenehm flott und effizient erledigen ließ. So auch dieser High-Speed-Internet-Zugang, auf den er an jedem Ort Zugriff und an dem er Handyempfang hatte.