Stiller Hass - Michael Kibler - E-Book

Stiller Hass E-Book

Michael Kibler

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Beschreibung

Als Privatdetektiv Steffen Horndeich gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin, der Nachlasspflegerin Jana Welzer, in seinem Garten sitzt, bekommen sie unverhofft Besuch: Marco Seidel möchte Steffen Horndeich damit beauftragen, den Mörder der Schlagersängerin »Susanna« zu finden. Diese wurde bereits vor 19 Jahren ermordet und Seidel hat dafür im Gefängnis gesessen – unschuldig, wie er sagt. Horndeich und Jana nehmen sich des Falles an. Seidels Verurteilung scheint zunächst schlüssig zu sein. Doch dann stoßen die beiden auf Ungereimtheiten: nicht alle Alibis der anderen Verdächtigen sind so wasserdicht, die zunächst angenommen. Und wer war der Stalker, der die Sängerin damals verfolgte? Je tiefer Horndeich und Jana graben, desto unglaublichere Details fördern sie zutage. War Seidel also wirklich unschuldig?

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Michael Kibler

Stiller Hass

Kriminalroman

Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

© 2022 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Satz/E-Book: Julia Desch, Societäts-Verlag

Satz/E-Book: Julia Desch, Societäts-Verlag

Umschlagabbildung: Statue: Uwe Barghaan, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons; Hintergund: © NatalyFox/Shutterstock

Printausgabe ISBN 978-3-95542-440-4

E-Book ISBN 978-3-95542-441-1

Besuchen Sie uns im Internet:

www.societaets-verlag.de

Для Тані, die den Bär im roten Mantel umarmt.

Samstag, 14. Mai

»Prost«, sagte Jana Welzer und hob das Glas.

»Prost«, antwortete Steffen Horndeich und hob das seine. Zwei edle Gläser aus der Manufaktur von Kosta Boda in Schweden. Ein Geschenk seiner Schwiegereltern, die im vergangenen Jahr dort einen sechswöchigen Urlaub verbracht hatten. Die richtige Wahl, denn Horndeich und Jana hatten etwas zu feiern.

Sie saßen im Garten seines Hauses im Darmstädter Richard-Wagner-Weg 56. Jana war Nachlasspflegerin. Steffen Horndeich arbeitete seit drei Jahren als Privatdetektiv – unter anderem für Jana – und auch als Erbenermittler. Wenn es auf den zweiten Blick in alle verfügbaren Unterlagen eines Verstorbenen keine Erben gab, lohnte oftmals der dritte Blick. Jener war jedoch deutlich aufwendiger: Da musste er Stammbäume erstellen, Einträge in Kirchenregistern lesen und oft auch Archive in anderen Ländern bemühen. Vier Monate hatte Horndeich in den letzten Fall investiert. Und es hatte sich gelohnt: Der Erblasser hatte mehr als eine Million Euro auf seinen Konten gebunkert, zusätzlich zu drei Wohnhäusern. Und Horndeich war es gelungen, eine Großnichte vierten Grades aufzutun und ihr die frohe Botschaft zu überbringen: Sie könne diese Erbschaft antreten, hatte ihr Horndeich mitgeteilt, wenn er ihr den Namen des Verstorbenen nannte – und den direkten Weg im Stammbaumgeäst hin zu ihr. Das würde er tun, wenn sie zuvor Horndeich schriftlich versichere, dass er 25 Prozent davon bekäme. Für die Dame war das immer noch ein guter Deal. Und für Horndeich natürlich auch.

Die Dame hatte zugestimmt. Und das hatten sie gebührend gefeiert an diesem Freitagabend in seinem Garten. Bis vor drei Stunden war Horndeichs Familie auch noch mit von der Partie gewesen: seine Frau Sandra und seine Kinder Stefanie, Alexander und Antje. Zehn, sieben und zweieinhalb Jahre alt.

Das Glas war gefüllt mit einem Lugana, die Weinsorte, die Jana Welzer bevorzugte. Angebaut im Umkreis von Darmstadts italienischer Partnerstadt Brescia, bot der Genuss auch lokalpatriotischen Flair. Der Wein schmeckte ihm, erstaunlicherweise. Erst durch Jana hatte er überhaupt Weißwein probiert. Auch seine Frau war von der weißen Rebe sehr angetan.

Er mochte die Jahreszeit. Es war warm, es war um 21 Uhr immer noch hell – ein perfekter Abend.

»Und? Lehnst du dich jetzt erst mal zurück? Ein paar Wochen Urlaub? Mal den lieben Gott einen guten Mann sein lassen?«

Natürlich, der Geldsegen tat gut. Sehr gut sogar. Aber Horndeich konnte sich nicht vorstellen, ein halbes Sabbatjahr einzulegen. Seine Frau arbeitete halbtags im Polizeipräsidium Südhessen, seine Kinder Stefanie und Alexander gingen zur Schule und, ja, er hätte natürlich ganztags seine jüngste Tochter Antje versorgen können. Doch die ging bereits seit einem halben Jahr in die Kita. Nein, er fühlte sich wohl in seinem Job, er genoss das Recherchieren, das Lüften von Geheimnissen, das Rätsellösen. Er konnte es Jana gegenüber nicht laut aussprechen, aber er war fast ein wenig traurig darüber, dass der Fall jetzt abgeschlossen war. Und kein neuer am Horizont aufzutauchen schien.

Tief in seine Gedanken versunken, nahm er das Quietschen des Gartentürchens wahr. Und das Geräusch erinnerte Horndeich daran, dass er seinen Pflichten als Eigner des Hauses nicht gerecht geworden war. Seine Frau Sandra war für die Grundversorgung in der Küche verantwortlich, zudem für alles, was mit Finanzen und deren Verwaltung in Computern zu tun hatte. Er war der Mann für die Schlagbohrmaschine, für die HiFi-Anlage, für die technischen Geräte in der Küche – und für den Garten. Zu diesem gehörte auch das Törchen zum Bürgersteig. Bereits im vergangenen Jahr hatte seine Frau ihn da­rauf hingewiesen, dass die Bewegung jener kleinen eisernen Tür – präzise: die Scharniere jener kleinen eisernen Tür, die Klingel ersetzen konnten. Wenn jemand das Türchen bewegte, legten selbst die Katzen der Nachbarschaft die Pfoten über ihre Ohren. Als er das hochfrequente Kreischen vernahm, war sein erster Gedanke: Ich muss morgen unbedingt Fett im Bauhaus besorgen. Sein zweiter Gedanke war: Wer zur Hölle will um diese Uhrzeit noch zu uns?

Horndeich stand auf und ging um die Ecke des Hauses in Richtung Eingang. Dort sah er einen Mann. Hell angestrahlt. Der Bewegungsmelder hatte das Flutlicht vor der Haustür eingeschaltet. Er war tief in seinem Herzen immer noch Polizist und scannte den Mann, der da gerade das Türchen mit ebensolch lauter akustischer Untermalung wieder schloss.

Der Polizeiradar meldete: Ein Meter achtzig, schlank, vielleicht gut 40 Jahre alt. Kein Anzug. Aber ein Jackett. Eine Jeans dazu, Hemd unter dem Jackett. Keine ledernen Halbschuhe, aber auch keine Turnschuhe. Einfache Halbschuhe aus Kunstleder. Das Haar voll und schwarz. Kein Bart. Keine Brille. Die Statur eine seltsame Mischung aus aufrechter Haltung und ein wenig gebeugter Unsicherheit.

»Guten Abend. Sind Sie Steffen Horndeich?«, fragte der Mann. Auch aus der Stimme hörte Horndeich Beklemmung heraus.

»Ja. Der bin ich. Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Marco Seidel. Sie sind der Privatdetektiv Horndeich?«

»Ja.«

Sein Gegenüber nickte. »Hätten Sie vielleicht eine halbe Stunde Zeit für mich?«

Es war Freitagabend. Es war kurz vor Wochenende. Was wollte der Kerl vor ihm? »Jetzt?«

Wieder nickte Marco Seidel, ohne es diesmal klanglich zu untermalen.

»Woher haben Sie meine Adresse? Ich habe Sie noch nie im Leben gesehen.«

»Eine Bekannte von mir hat Sie als Privatdetektiv empfohlen. Helga Winsola. Vielleicht können Sie mir helfen.«

Horndeich kannte den Namen. Helga Winsola war die Mutter eines Kindes in Antjes Kita. Sie hatten sich ein paarmal unterhalten, natürlich auch über seinen Job. »Worum geht es?«

»Ich habe achtzehneinhalb Jahre im Knast gesessen, für einen Mord, den ich nicht begangen habe. Und ich möchte, dass Sie die Wahrheit herausfinden. Den wahren Mörder finden.«

Horndeich schluckte. Er hatte den Mann wohl falsch eingeschätzt. Sein erster Impuls war gewesen, dass hier ein Kerl vor ihm stand, dem sein Freund gerade gesteckt hatte, dass seine Frau ihn betrog. Und der jetzt auf der Stelle einen Detektiv suchte, der diesen Verdacht untermauerte.

Die Luft war lau, es war angenehm warm, nicht schwül. Er hätte es genossen, weiter mit Jana in seinem Garten zu sitzen, Anekdoten auszutauschen oder Weisheiten über das Leben, dazu noch das eine oder andere Glas Lugana zu trinken und in zwei Stunden selig einzuschlafen.

Es war die Art, wie dieser Kerl ihn ansah. Immer noch mit dieser Mischung aus Selbstsicherheit und Unterwürfigkeit, die er am Anfang ihrer Begegnung ausgestrahlt hatte. Vielleicht eine Kombination, mit der man im Knast gut durchkam. Horndeich hatte keine Ahnung. Er kannte das Leben im Knast zum Glück nur aus Dokumentationen auf ARTE. Und aus zwei Fortbildungen bei seinem ehemaligen Arbeitgeber, der Polizei.

Sie standen einander immer noch gegenüber. Kein Zustand, den man noch 20 Minuten aufrechterhalten konnte. »Kommen Sie mit in den Garten«, sagte Horndeich und wusste instinktiv, dass er damit nicht nur den Verlauf des Abends änderte, sondern unter Umständen auch den seines künftigen beruflichen Engagements.

Seidel folgte ihm.

»Das ist Jana Welzer, das ist Marco Seidel«, stellte er die beiden einander vor.

Sie reichten sich die Hand.

»Möchten Sie etwas trinken?«, wollte Jana wissen – ganz so, als ob sie die Gastgeberin wäre. Seidel nickte. Horndeich nickte ebenfalls, und Seidel verstand: Er durfte sich auf einem der Gartenstühle niederlassen.

»Herr Seidel möchte von mir, dass ich einen Mörder finde.«

Jana hob eine Augenbraue. Sie war gut darin, ihre körperlichen Reaktionen auf ein Minimum zu beschränken.

»Ja. Ich möchte, dass Sie den Mörder von Susanne Fricke finden.«

»Wer ist Susanne Fricke?«, wollte Jana wissen. Nicht, dass sie das überhaupt nicht zu interessieren brauchte. Horndeichs Garten. Horndeichs Gast. Aber Horndeich kannte Jana nach zwei Jahren Zusammenarbeit ziemlich gut. Sie war auch so ein Trüffelschwein, wenn man kriminalistische Ungereimtheiten als Trüffel definierte …

»Susanne Fricke ist vor 19 Jahren ermordet worden. Erstochen. Und ich wurde dafür verurteilt. Ich habe mehr als 18 Jahre im Gefängnis verbracht. Ich war ein vorbildlicher Gefangener. Nur zu einem haben sie mich nicht gebracht: Zu einem Geständnis. Das liegt nicht an irgendeiner schrägen Kopfkrankheit. Das liegt einfach daran, dass ich es nicht getan habe.«

»Mögen Sie Wein?«, fragte Jana.

»Danke. Ich trinke keinen Alkohol.«

»Cola?« Horndeichs Verlegenheitsangebot. Mineralwasser hätte er natürlich auch im Angebot gehabt.

Seidel nickte, Horndeich öffnete eine Flasche, die neben dem Tisch stand, nahm ein Glas, goss dem Gast ein.

»Und was möchten Sie jetzt exakt von mir?«, fragte Horndeich.

»Wie ich gesagt habe – ich wünsche mir, dass Sie den wirklichen Mörder finden.« Danach sagte er nichts mehr.

Ebenso wenig wie Jana.

Ebenso wenig wie er selbst.

Horndeich hatte lange Zeit in der Mordkommission Darmstadt gearbeitet. Zuerst mit seiner Kollegin Margot Hesgart, über viele Jahre hinweg. Doch sie hatte vor acht Jahren den Polizeidienst quittiert und wenig später mit ihrem Freund Nick Peckhard eine Firma für Sicherheitsberatung aufgemacht. Dann hatte Horndeich mit Leah Gabriely weitere fünf Jahre zusammengearbeitet. Eine Frau, in ihrem Charakter nicht ganz einfach – aber im Rückblick hatte sie damit nur eine Ähnlichkeit mit Margot unterstrichen. Vor drei Jahren schließlich hatte Horndeich den Polizeidienst quittiert. Bis dahin hatte er Mörder gejagt. Und Mörder vor Gericht stellen lassen. Und es immer genossen, wenn ein solcher hinter Gittern gelandet war. Ja, er hatte es auch ein paarmal akzeptieren müssen, dass ein Gericht einen Mann oder eine Frau aus Mangel an Beweisen hatte laufen lassen müssen. Aber er hatte es nie erfahren, dass ein Mörder seine Strafe abgesessen hatte und danach immer noch behauptete, er habe die Tat nicht begangen. Denn dann hätte ja ein Fehlurteil vorgelegen. Ein Justizirrtum. Jemand hätte vielleicht ein Viertel seines Lebens völlig zu Unrecht eingesperrt im Knast hocken müssen. Keine Vorstellung, die Horndeich auch nur im Ansatz angenehm war. Insbesondere, wenn eigene Ermittlungen dazu geführt hatten – und sich so im Nachhinein als fehlerhaft entpuppten.

»Wieso sind Sie verurteilt worden, wenn Sie unschuldig waren?«, fragte Jana und riss Horndeich aus seinen Gedanken.

Seidel lenkte seinen Blick nun auf Jana. »Es gab eine Menge Indizien, die gegen mich sprachen. Außerdem hatte ich kein Alibi. Und ich hätte auch ein Motiv gehabt. Das alles habe ich nie bestritten. Aber ich bin es nicht gewesen. Ich habe Susanne Fricke nicht umgebracht. Ich habe niemanden umgebracht.«

Horndeich hatte in seinem Leben mit zwei Mördern Kontakt gehabt, nachdem diese ihre Haftstrafe verbüßt hatten. Beide waren wegen Totschlag verurteilt gewesen. Und beide waren ihm rückblickend nicht gram. Der eine war, als er entlassen worden war, mit sich im Reinen gewesen. Er hat eine Tat begangen, war verurteilt worden, hatte seine Strafe abgesessen und konnte nun wieder Teil der Gesellschaft werden. Der andere hatte ihm sogar gedankt. Erst im Knast habe er seiner Gang abschwören können und eine Ausbildung begonnen. Denn im Knast wäre er nicht mehr angefeindet worden, nur, weil er etwas lernen wollte. Und er hatte die Lehre im Knast abgeschlossen – und, natürlich hatte es neun Monate gedauert, aber er hatte anschließend in Freiheit auch einen Job bekommen.

Bevor Horndeich etwas sagen konnte, war Jana ihm wieder zuvorgekommen: »Wie kommen Sie darauf, dass wir Ihnen glauben könnten, dass Sie unschuldig sind?«

Horndeich war eigentlich überhaupt nicht interessiert an dieser Unterhaltung. Es war ein Fall, den er unter keinen Umständen annehmen würde. Er war immer der gewesen, der die bösen Jungs und Mädels hinter Gitter gebracht hatte. Und er war ganz bestimmt niemand, der jemanden im Nachhinein freisprechen würde. Doch Jana schien das nicht zu interessieren. Vielmehr schien Marco Seidel sie zu interessieren.

»Ich habe kein einziges Weihnachten mit meiner Frau und meiner Tochter verbringen können. 18 Jahre lang nicht. Dieses Jahr werde ich das erste Mal das Fest gemeinsam mit ihnen feiern können. Als ich festgenommen wurde, war meine Frau im siebten Monat schwanger. Wir waren seit drei Jahren zusammen. Und ich hätte nichts, niemals, irgendetwas getan, das unsere kleine Familie gefährdet hätte. Niemals!«

Familie. Sofort setzte Horndeichs Gedankenkarussell abermals zur Fahrt an. Er liebte seine Familie. Ja, es war Sandra gewesen, die ihn erobert hatte. Die seinerzeit ganz deutlich gemacht hatte, dass sie ihn liebte, dass sie mit ihm eine Familie gründen wollte. Auch wenn er es niemandem, auch seiner Frau gegenüber, zugestanden hätte: Er war sich nie ganz sicher gewesen, ob er wirklich Familie haben wollte. Bis zu dem Tag, an dem seine älteste Tochter auf die Welt gekommen war. Mit der Geburt von Stefanie hatte sich nicht nur sein Leben verändert, sondern auch sein Blick auf das Leben. Auf seine Familie ließ er nichts kommen. Und er würde sie mit seinem Blut verteidigen gegen alles, was sich dieser Familie in den Weg stellte. Wurde er jetzt gefühlsduselig?

»Was ist damals passiert?«, war es abermals Jana, die sprach.

Seidels Augen suchten den Blick von Jana, wanderten dann wieder zu Horndeich und zurück zu Jana. »Sie erinnern sich nicht an den Fall Susanne Fricke?«

Horndeich zuckte mit den Schultern.

Ebenso Jana.

»Schon komisch, dass sich niemand daran erinnert. Nie was gehört von ›Susanna‹? Das war ihr Name als Schlagerstar. Oder vielleicht eher als Schlagersternchen.«

Schon wieder war es Jana, die den Faden aufnahm: »Susanna? Die mit dem Song ›Liebe nur für dich‹?«

»Ja. Genau diese Susanna. Oder eben Susanne Fricke, ihr bürgerlicher Name. Sie kennen den Song?«

»Denn das ist Liebe nur für dich, nur für dich, denn was bin ich allein für mich, nur für mich, ohne dich«, trällerte Jana nun leise vor sich hin. Der Lugana tat seine Wirkung.

»Denn ohne Küsse nur für dich, nur für dich, was soll ich leben nur für mich, nur für mich, ohne dich«, flüsterte der seltsame Mann ihm gegenüber.

»Diese Susanna also«, stellte Jana noch einmal fest. Ihr Blick traf nun Horndeich. »Susanna eben. Diese Susanna.«

Schon klar, dachte Horndeich. Dann hielt er kurz inne. Die Ermordung eines Schlagerstars. Irgendwo nördlich von Frankfurt. Er erinnerte sich dunkel, dass er gemeinsam mit seiner damaligen Kollegin Margot Hesgart in diesen Fall involviert gewesen war. Natürlich wurden Mordfälle immer in der Stadt ermittelt, in der die Tat geschehen war. Aber er besann sich, dass der Name Seidel da auch im Spiel gewesen war. »Haben Sie damals in Darmstadt gewohnt?«, wollte Horndeich nun von Seidel wissen.

»Ja. Zusammen mit meiner Frau. In einer kleinen, alten Wohnung in der Heimstättensiedlung. Wie kommen Sie da­rauf?«

Horndeich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und jetzt wohnt Ihre Frau noch in Darmstadt?«

»Ja. Ich konnte nach dem Knast bei ihr und meiner Tochter einziehen. Sie haben sich seit der Heimstätte deutlich verbessert. Altbauwohnung in der Soderstraße. Nicht saniert, aber mit Platz.«

Für einen kurzen Moment schwiegen alle drei. Dann fragte Seidel: »Übernehmen Sie meinen Fall?«

Horndeich zögerte. Er war sich fast sicher, dass seine Erinnerung nicht trog, an eine ermordete Schlagersängerin und damit im Zusammenhang stehend an den Namen Seidel in irgendeiner seiner Ermittlungen ziemlich am Anfang seiner Karriere bei der Darmstädter Mordkommission. Er war bei der Ablage seiner Notizen bis zum Ende seiner Polizeilaufbahn der analogen Version treu geblieben: Bei allen Ermittlungen hatte er stets ein kleines Notizbuch im Oktavheft-Format bei sich getragen und die Notizen mit Füller hineingeschrieben. Und er hatte all diese Büchlein niemals weggeschmissen. Bevor er also irgendwelche Zusagen machte, diesen Fall zu übernehmen, wollte er zunächst noch einmal in diese Aufzeichnungen schauen. Und vielleicht auch mit seiner ehemaligen Kollegin Margot sprechen. Denn wenn er mit dem Fall zu tun gehabt hatte, war sie definitiv mit von der Partie gewesen. »Ich muss darüber nachdenken«, sagte er.

Obwohl in eigene Gedanken versunken, nahm er doch wahr, wie Jana für einen Moment die Stirn runzelte und dann Seidel direkt ansah: »Herr Seidel, nehmen wir einmal an, Herr Horndeich würde sich Ihres Falles annehmen – dürfte ich vorsichtig nachfragen, zu welchen Konditionen Sie sich das vorstellen? Sein Tagessatz liegt bei 450 Euro plus Spesen. Der meine übrigens auch, nicht, dass Sie denken, Sie könnten Herrn Horndeich übervorteilen.«

Seidel wandte den Blick nicht von Horndeich ab. Dann sagte er, sehr viel leiser als zuvor: »Herr Horndeich, ich habe derzeit überhaupt keine Kohle. Während der Haft konnte ich eine Ausbildung zum Schreiner machen. Und ich habe jetzt eine Festanstellung bei einem Messebauer. Meine Frau hat einen Halbtagsjob als Friseurin. Davon kann meine kleine Familie leben. Davon kann ich aber keine Honorare bezahlen. Doch wenn Sie meine Unschuld beweisen, bekäme ich Haftentschädigung. Das sind 75 Euro für jeden Tag. Und ich habe 6.762 Tage unschuldig im Gefängnis gesessen. Dafür würde ich insgesamt 507.150 Euro bekommen. Wenn ich dieses Geld bekäme, würde ich Ihnen zwanzig Prozent davon überlassen.«

Nun, in Kopfrechnen war Horndeich nicht schlecht: Das wären 101.430 Euro, wenn er Seidels Unschuld beweisen würde.

Er schaute zu Jana. Die grinste und zwinkerte ihm zu, als wolle sie sagen: »Gut, dass du mich hast!« Auch wenn Horndeich nochmals seine Notizbücher zu Rate ziehen würde, konnte er sich nicht verkneifen zu fragen: »Welche Sicherheit habe ich, dass Sie nicht der Mörder von Susanne Fricke sind?«

Wieder ließ sich Seidel ein paar Sekunden Zeit, bevor er antwortete. »Gar keine. Sie haben nur mein Wort.«

Seine Notizbücher waren das eine, ein Gespräch mit Margot das andere. Doch wenn er tatsächlich den Fall aufrollen wollte, bräuchte er auch zunächst einmal die gesamte Fallakte. Da der Fall jedoch schon 19 Jahre zurücklag – und Horndeich selbst nicht mehr bei der Polizei arbeitete und somit auch keinen Zugriff auf solche Akten mehr hatte – würde das viel Arbeit bedeuten. Doch eines wollte er noch loswerden in Richtung seines potenziellen Auftraggebers: »Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Ich werde in der kommenden Woche recherchieren. Ein ausführliches Gespräch mit Ihnen führen. Und vielleicht noch mit einem Ermittler Ihres Falles. Und dafür bezahlen Sie mir 1.000 Euro. Unabhängig davon, was ich am Ende der Woche herausgefunden haben werde. Und unabhängig davon, ob ich Ihren Fall dann annehmen werde.«

Seidel nickte. Ohne zu zögern.

Das war für Horndeich der eigentliche Test gewesen. Hätte Seidel angefangen, um die 1.000 Euro zu feilschen, wäre Horndeich davon überzeugt gewesen, dass Seidel schuldig war und nur eine Chance nutzen wollte, vielleicht an Geld zu kommen. Doch diese 1.000 Euro, die mussten Seidel in seiner derzeitigen Situation ziemlich weh tun. Dass er sie trotzdem zu investieren bereit war, sprach eindeutig für ihn. Sicher, das war keine wissenschaftliche und evidenzbasierte Erkenntnis. Aber Horndeich hatte seinem Bauchgefühl bislang immer recht gut vertrauen können.

Und, mit Verlaub, die Vergütung im Erfolgsfall war nun auch nicht zu verachten.

Im vergangenen Sommer hatten Sandra und Horndeich den Zugang zum Garten etwas umgebaut. Vom Wohnzimmer aus führte die kleine Treppe nicht mehr direkt ins Grüne, sondern auf eine überdachte Veranda von etwa 20 Quadratmetern. Sie verfügte, und das war Horndeich besonders wichtig gewesen, über die Möglichkeit, sie mit dünnen Seitenwänden, bespannt mit Moskitonetzen, umrahmen zu können. In der vergangenen Stunde war es deutlich schwüler geworden, was wie aus dem Nichts die Mücken hervorgelockt hatte.

Horndeich saß nun auf dem Vorbau. Dank der Netze konnte er auch ohne Gefahr von Attacken aus der Luft die Leselampe auf das Notizbuch richten, das er in der Hand hielt. Neben ihm standen noch ein Glas Wein und ein Glas Mineralwasser.

Jedes zweite Wochenende war es im Haus etwas ruhiger: Stefanie und Alexander hatten dann Opa-und-Oma-Wochenende in Büttelborn. Vor ein paar Wochen hatte die kleine Antje deutlich gemacht, dass auch sie dabei sein wollte. So hatte es sich eingebürgert, dass Horndeich und Sandra tatsächlich alle zwei Wochen ein komplettes Wochenende für sich allein hatten.

An diesem Samstagabend war Horndeich gänzlich für sich. Ein Zustand, an den er sich kaum mehr erinnern konnte. Die Kinder waren bereits am Vortag zu Oma und Opa gebracht worden, denn Sandra hatte an diesem Abend ein Klassentreffen – in Büdingen in der Wetterau. Sie war in einem der Dörfer der Umgebung groß geworden. Sie hatte sich dort ein Hotelzimmer genommen. Sandra hatte Horndeich sogar gefragt, ob er nicht mitkommen wolle, aber Horndeich hatte dankend abgelehnt. All diese Menschen dort verband ausschließlich eine gemeinsame Erinnerung, die er nicht teilte. Er war sich nicht sicher, was die Steigerung von ›fünftes Rad am Wagen‹ war, aber auf das siebte wäre er dort mit Sicherheit gekommen.

Als er eine halbe Stunde zuvor in seinem Arbeitszimmer vor dem Regal gestanden hatte, in dem die Notizbücher in Reih und Glied nebeneinanderstanden, war er schon ein wenig erstaunt über die Akribie, mit der er sie verstaut hatte. Zwischen den einzelnen Jahrgängen hatte er jeweils einen Reiter platziert, auf dem die Jahreszahl aufgedruckt war. Das älteste war bereits 21 Jahre alt und stammte somit von 2001. Damals hatte er bei der Mordkommission in Darmstadt angefangen. Im Schnitt hatte er pro Jahr acht dieser Kladden vollgeschrieben. Nun lagen die Hefte von 2003 und auch jene von 2002 auf dem Tisch, aber in gebührendem Abstand zu Weinglas und Wasserglas.

Er hatte ganz vorn angefangen und die Hefte überflogen. Wichtige Dinge wie Namen, Kennzeichen oder Telefonnummern hatte er damals bereits unterstrichen, die analoge Variante des Zugriffs auf zentrale Informationen.

An manchen Stellen entpuppte sich ein Notizbuch auch als eine Art Tagebuch. So las Horndeich in einem der Büchlein von 2002, dass nach dem Mord an dem dreizehnjährigen Sebastian in Darmstadt sechs Jahre zuvor nun eine Speichelprobe in Berlin den Mörder überführt hatte. Horndeich selbst hatte an den Ermittlungen nicht teilgenommen, aber er erinnerte sich sehr wohl an das Hochgefühl, das er empfunden hatte. An einigen Stellen schmunzelte er, an anderen Stellen erinnerte er sich kaum mehr an die Fälle. Nach einer Dreiviertelstunde wechselte er ins Jahr 2003. Las, dass sich im März des Jahres der Mörder von Sebastian noch vor Prozessbeginn selbst erhängt hatte – nach einem Geständnis. Er spürte den Kloß in seinem Hals. Er war in seiner Polizeilaufbahn in Darmstadt zweimal angeschossen worden. Letztlich hatte das den Ausschlag gegeben, den Polizeidienst zu quittieren. Er wollte seinen Kindern ein Vater sein, seiner Frau ein Mann. Und dies auch in den kommenden Jahren, ungefährdet durch seinen Job. Doch tief im Innern wusste er, dass der letzte Schuss durch seinen Oberarm nur der letzte Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Tote Kinder, sinnlose Gewalt, und das jeden Tag – es war zu viel geworden. Nein, der Schritt, nun als privater Ermittler tätig zu sein, das war die richtige Entscheidung gewesen. Denn er konnte jedes Mandat auch ablehnen. Noch während er darüber nachdachte, stieß er auf den Namen ›Seidel‹: Margot berichtet von Unterstützung für die Kollegen aus Griegtal: Mordfall zum Nachteil von Susanne Fricke. Tatverdächtiger – Marco Seidel festgenommen. Bingo!

… zum Nachteil von … Horndeich musste breit grinsen, als er seine eigenen Worte las. Wie schnell hatte er sich damals den Polizei-Sprech angewöhnt. War das so schnell gegangen, weil er nur dazugehören wollte? Oder weil schlicht und einfach alle diese Wendungen und Ausdrücke benutzten? Auf den Normalbürger musste es auf jeden Fall sehr befremdlich wirken. Denn ›… zum Vorteil von …‹ konnte sich ein Mord für den Betroffenen wohl kaum auswirken.

Dann der nächste Eintrag mit dem unterstrichenen Namen ›Seidel‹. Margot hat Nadine Seidel vernommen. Mehr stand dort nicht. Offensichtlich war er selbst nicht dabei gewesen, denn sonst hätte er ganz gewiss ein paar Stichpunkte notiert.

Horndeich blätterte weiter, aber der Name Seidel tauchte nicht mehr auf. Dennoch nagte an ihm dieses Gefühl, dass mit dem Namen Seidel mehr verbunden war als nur eine Vernehmung. Und jetzt, wo er den Namen las, wusste er auch, dass dieses ›mehr‹ mit dem weiblichen Vornamen verbunden war: Nadine. Gleichzeitig hatte Horndeich zu diesem Namen kein Bild vor Augen. Wie er auch genau wusste, dass er Marco Seidel zuvor noch nie gesehen hatte. Und schon gar nicht in einem Verhörraum. Griegtal jedoch – rund 30 Kilometer nördlich von Frankfurt gelegen – das kannte er natürlich.

Dann fiel es ihm wieder ein: Hochsommer 2003. Damals war er single gewesen. Und ein ziemlich unzufriedener Single dazu. Also hatte er einen dreiwöchigen All-inclusive-Urlaub auf Mallorca gebucht. Sein Hotel lag keine 300 Meter von jener Alkohol-Tankstelle entfernt, die in Deutschland nur ›Ballermann 6‹ hieß. Es sprach nicht für den sensiblen Umgang mit einer anderen Kultur, dass diese durchnummerierten Strandlokale entlang der Playa de Palma eigentlich ›Balneario‹ hießen. Aber dies korrekt auszusprechen hätte bedeutet, zumindest ein Wort Spanisch lernen zu müssen. Den ganzen ersten Tag hatte sich Horndeich dem Bierkonsum hingegeben, den kompletten zweiten Tag der Rekonvaleszenz. Ab dem dritten Tag hatte er sich einen Mietwagen genommen und auch die versteckten Orte der Insel entdeckt. Beim Besuch des Klosters von Valldemossa hatte er tatsächlich eine junge Frau kennengelernt und mit ihr den Rest des Urlaubs gemeinsam verbracht. Es war eine sehr schöne Zeit gewesen, erinnerte sich Horndeich. In Bezug auf alle Ebenen. Abgesehen davon, dass sie in München gewohnt hatte und keiner von beiden bereit gewesen war, in die Stadt des anderen zu ziehen, stellte sich an den wenigen Wochenenden, die sie nach dem Urlaub noch zusammen verbracht hatten, heraus, dass unterm Strich die Menge an Gemeinsamkeiten sehr übersichtlich war. Spätestens, als sie ihn missionieren wollte, eine Erkältung – und auch alle künftigen – mit Globuli statt Aspirin und Nasentropfen zu bekämpfen, war der Riss nicht mehr zu kitten gewesen. Horndeich wollte in Gedenken an jene Dame das Glas auf sie erheben. Aber er musste feststellen, dass die Züge jener Frau in seiner Erinnerung schon ziemlich verblasst waren, ebenso wie der Name. Letzterer sogar bis zur Unkenntlichkeit.

Nach seinem Urlaub hatte Margot ihm berichtet, was in seiner Abwesenheit passiert war, etwa mit den beiden Seidels. Da es nicht ihr Fall gewesen war, hatte er auch keine weiteren Notizen in seinem Büchlein vermerkt. Aber vielleicht erinnerte sich Margot noch daran. Er griff zum Handy und schrieb ihr eine WhatsApp: Hallo Margot, Lust auf einen gemeinsamen Sonntagskaffee morgen gegen 10:30 Uhr? Habe ein paar Fragen an dich. Grüße, Horndeich.

Es hatte Jana irritiert, dass Horndeich Seidel nicht gleich zu dem Mordfall befragt hatte. Die wenigen Angaben, die der Mann von sich aus gemacht hatte, waren nicht sehr aufschlussreich gewesen. Sicher, sie ging davon aus, dass Horndeich dafür einen Grund hatte. Denn wenn sie eines wusste, dann, dass Horndeich für alles, was er tat, stets einen Anlass hatte.

Es war zu früh für sie, um schon ins Bett zu gehen. Es war sehr schwül geworden, Jana hatte alle Fenster in ihrer Altbauwohnung im Lucasweg geöffnet. Zum Glück wehte ein bisschen Wind. Ihre Wohnung verfügte über den Luxus von zwei Balkonen. Der eine war winzig, aus Stein und zeigte nach Osten, der andere, auf dem sie jetzt saß, war erst nach dem Krieg angebaut worden, war nach Westen ausgerichtet und maß immerhin sechs Quadratmeter. Sie hatte sich noch ein Glas Wein mit nach draußen genommen. Es würde womöglich doch ein Gewitter geben. Trotz der Dunkelheit konnte man die sich auftürmenden Wolkenformationen schemenhaft erkennen.

Jana arbeitete gern mit Horndeich zusammen. Immer wieder hatte sie ihn als Erbenermittler eingesetzt – wenn Verstorbene ein Vermögen hinterlassen hatten, aber keine Erben zu finden gewesen waren. Natürlich, zu ihrem Job als Nachlasspflegerin gehörte es nicht nur, Konten zu sichern, Versicherungen zu kündigen oder die Verwaltung von Immobilien zu organisieren. Auch sie versuchte zunächst, direkte Angehörige aufzuspüren. Oft gelang das, manchmal aber auch nicht. Für das Amtsgericht stand dabei weniger die Frage im Vordergrund, wessen Leben durch eine Erbschaft bereichert würde. Das Interesse des Staates lag vielmehr darin, dass jemand für die Kosten aufkam, die sie als Nachlasspflegerin verursachte. Und für die weiteren Auslagen, wie etwa für die Beerdigung. Auf der anderen Seite konnte man ihr als Nachlasspflegerin auch nicht zumuten, ganze Wochen in die Suche nach Erben zu investieren. Kurzum: Fand sie niemanden und sah es so aus, als ob sich eine gründlichere Recherche lohnen könnte, übergab sie diesen Job an Horndeich.

Der hielt sie dann natürlich auch auf dem Laufenden, wie erfolgreich oder eben nicht erfolgreich seine Nachforschungen verlaufen waren. Was sie aber immer bemerkt hatte: Zum einen konnte Horndeich zum Terrier werden, der sich in einen Fall festbiss. Eine Eigenschaft, die sicher dazu beigetragen hatte, dass er als Kommissar auch die kniffligeren Fälle gelöst hatte. Zum anderen aber entdeckte sie während seiner Schilderungen immer wieder jenes spitzbübische Lachen in seinem Gesicht, das verriet, welch riesigen Spaß ihm dieser Job machte.

Auch sie liebte ihren Job. Meistens zumindest. Sie hatte sich vor Jahren als Nachlasspflegerin selbstständig gemacht, damals ihr Büro in der Pützerstraße 6 in Darmstadt bezogen. Reich werden konnte man dabei nicht. Weshalb sie parallel immer noch als Insolvenzverwalterin gearbeitet hatte. Dabei hatte sie einige Mandate übernommen, die sehr lukrativ gewesen waren. Doch gerade der letzte Fall hatte sich als kräftezehrend und zäh erwiesen. Es war für Jana häufig kaum begreiflich, wie innerhalb von Unternehmen, oftmals sogar innerhalb von Familien, bis aufs Blut gestritten werden konnte, wodurch nur eines geschah: Es wurde Geld vernichtet. Die Firma, die sie durch die Insolvenz hatte führen sollen, gab es heute nicht mehr. Weil Bruder und Schwester sich nicht hatten einigen können. Genau genommen wegen Kleinigkeiten und egozentrischer Befindlichkeiten. Sie, Jana, hatte an dem Fall sehr gut verdient, und dennoch überwog Frustration.

Auch als Nachlasspflegerin war der letzte Fall wenig erfreulich gewesen: Eine alleinstehende alte Dame von 96 Jahren hatte fast ein halbes Jahr tot in ihrer Wohnung gelegen. Man hatte ihren mumifizierten Leichnam im zwölften Stock eines Hochhauses gefunden, als im Appartement darüber der Schlauch einer Waschmaschine gerissen war. Das Wasser hatte sich seinen Weg durch die Decke gesucht. Und der Hausmeister hatte die Wohnung der Dame geöffnet, als niemand auf sein Klingeln reagiert hatte. Der Wasserschaden war danach das geringste Problem gewesen …

Umso mehr hallten in ihrem Kopf die Worte von Marco Seidel nach, mit denen er Horndeich ein Fünftel seiner Entschädigung anbot. Marco Seidel – Spitzname David – der die Justiz in Hessen, also Goliath, in die Knie zu zwingen versuchte, der sich nun zur Wehr setzte. Sicher ein guter Stoff für ein Buch. Oder einen Film. Aber gewiss auch etwas, das vielleicht ihr einmal wieder diese Mischung aus Grinsen und Lächeln ins Gesicht zaubern würde, wenn sie sich Horndeich anschloss und versuchte, Marco Seidels Unschuld zu belegen.

Nein, Jana war keine Kriminalistin. Und Jana war ebenso wenig Psychologin. Doch dieser Marco Seidel hatte auf sie glaubwürdig gewirkt. Insbesondere, als er sofort bereit gewesen war, für Horndeichs Anfangsrecherchen 1.000 Euro zu berappen, ohne die Garantie, dass der überhaupt weiter daran arbeiten würde.

Sie erinnerte sich recht gut an die Schlagersängerin Susanna, denn sie war einmal in Darmstadt aufgetreten, wenige Wochen, bevor sie ermordet worden war. Jana hatte damals in Berlin studiert, war aber für ein langes Wochenende nach Darmstadt gefahren. Zum einen wollte sie ihre Mutter besuchen, zum anderen übte dieses Schlossgrabenfest, das damals im fünften Jahr stattfand, einen großen Reiz auf sie aus.

Es war am Freitagabend gewesen, sie hatte sich über das Fest treiben lassen, sich von dem einen oder anderen Adonis ein Bier ausgeben lassen – und war definitiv nicht mehr nüchtern gewesen, als sie Susanna gegen 22 Uhr auf der kleinsten der vier Bühnen hatte singen hören. Ja, da hatte ebenfalls ein Adonis an ihrer Seite gestanden. Dem sie sogar erlaubt hatte, sie zu küssen. Für eine Dreiviertelstunde hatten die flachen Texte der Sängerin für sie geradezu tiefe Botschaften enthalten. Adonis hatte ihr die CD gekauft und sogar dafür gesorgt, dass Susanna sie signierte. Und irgendjemand hatte von ihr, Adonis und Susanna mit ihrem Handy noch ein Foto geschossen. 2003 war solch ein Bild jedoch nur wenig mehr als ein buntes Pixelgebirge gewesen.

Schlager waren weniger ihr Ding, eher lateinamerikanische Rhythmen. Sie tanzte leidenschaftlich gern Salsa. Doch irgendwie hatte sich dieses blöde Lied von Susanna tatsächlich in ihr Hirn gefressen, sodass sie es am gestrigen Abend nach 18 Jahren hatte rezitieren können …

War Seidel ein Justizopfer? Jana wusste es nicht. Aber sie spürte: Sie brauchte eine Auszeit. Ein paar Wochen lang mal etwas anderes tun, als Streithähnen in Insolvenzverfahren zu lauschen, etwas anderes, als über verstorbene Seniorinnen, die über ein halbes Jahr lang niemand vermisste, nachzudenken. Sollte Horndeich Marco Seidels Fall nicht annehmen, würde sie nicht zögern. Sie sah einen Blitz zur Erde zucken. Zehn Sekunden später ertönte der Donner – das Gewitter war rund drei Kilometer entfernt. Jana griff nach dem Weinglas, trug es in die Wohnung und schloss alle Fenster und Türen.

Hatte Marco Seidel Susanna wirklich nicht umgebracht? Wie gesagt, ihr Bauchgefühl hätte ihn sofort freigesprochen. Was natürlich kein Maßstab war. Aber es gab Justizirrtümer. Und einen hatte sie tatsächlich zumindest indirekt miterlebt: Die Freundin einer Freundin war vor vielen Jahren Referendarin in einer Schule in Reichelsheim gewesen. Ein Lehrer war dort von einer Kollegin beschuldigt worden, er habe sie vergewaltigt. Die Referendarin kannte diesen Kollegen gut. Und auch die Lehrerin. Der Lehrer, der sicherlich in der Schule nicht den ›Sympath-des-Jahres‹-Preis abgeräumt hätte, hatte während des Prozesses, den er verlor, und auch während der nachfolgenden Haftzeit, stets bestritten, die Vergewaltigung begangen zu haben. 2013 war dann die Lehrerin – Jana erinnerte sich nur noch an den Vornamen Heidi – ihrerseits verurteilt worden, weil diese Vergewaltigung erwiesenermaßen nie stattgefunden haben konnte. Heidi Wie-auch-immer hatte all das nur erfunden, um sich wichtig zu machen.

Jana setzte sich an den Esstisch und fuhr ihren Laptop hoch. Denn an Schlaf war nach wie vor nicht zu denken. Und es konnte nicht schaden, im Fall Marco Seidel – wenn es denn ein solcher werden sollte – schon ein bisschen Vorarbeit zu leisten. Sie gönnte sich den Luxus eines großzügig dimensionierten Accounts der führenden deutschen Presse-Datenbank. Sie suchte nach Artikeln über Susanne Fricke aus dem Jahre 2003. In der FAZ fand sie insgesamt sieben Artikel und sogar zwei im Spiegel. Wenn man aus den Berichten die Spekulationen he­rausfilterte, blieben die Fakten: Susanne Fricke war am sechsten Juli 2003 mit 14 Messerstichen in ihrem Schlafzimmer ermordet worden. Damals war sie gerade 48 Jahre alt gewesen. Marco Seidel war bereits wenige Tage nach dem Mord an Susanne Fricke als dringend tatverdächtig festgenommen worden. Zuvor war für 48 Stunden zunächst Susannes Ehemann unter Verdacht geraten. Doch das Alibi, das seine Geliebte ihm gegeben hatte, entlastete ihn. Die Polizei sprach von einer gründlichen Prüfung aller Indizien und Hinweise – die letztlich die Täterschaft von Marco Seidel bestätigt hätten.

Auf YouTube fand Jana sogar ein Video zu dem Fall. Der Hessische Rundfunk hatte damals ein fünfminütiges Feature für die Hessenschau gedreht. Darin zu sehen: Marco Seidel, als er nach der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal tritt, weint und beteuert, er habe niemanden umgebracht. Dann stürzt eine junge Frau in seine Richtung, will ihn umarmen, was die Justizbeamten jedoch nicht zulassen. Kurz danach spricht die junge Frau in die Mikrofone der Pressemeute: »Mein Mann hat niemanden umgebracht!« Der Rest ihrer Worte geht in Tränen unter. Am Ende des Videos gibt noch ein Reporter ein Statement ab, das aus einer ansehnlichen Sammlung von Konjunktiven bestand.

Jana versuchte noch mehr über den toten Schlagerstar he­rauszufinden. Auf Wikipedia fand sich kein Eintrag zu Susanne Fricke. Das war wohl der Beleg dafür, dass es sich eher um einen D- als um einen C-Promi handelte, will sagen: Susanne Fricke hätte es wohl nicht einmal ins Dschungelcamp von RTL geschafft.

Die Sängerin war auch kaum in der Klatschpresse vertreten. Nur drei Artikel fand Jana auf Anhieb. Davon beschäftigten sich zwei damit, dass Susanna 1983 einen Stadtverordneten von Griegtal, Rüdiger Fricke, geheiratet hatte. Da war sie wohl auf dem Höhepunkt ihrer Karriere gewesen. Es gab nur wenige Zeitungen und Zeitschriften, die bis zu diesem Zeitpunkt in der Vergangenheit überhaupt digitalisiert waren. Wahrscheinlich fanden sich in anderen Blättern noch mehr Artikel. Dann entdeckte Jana im Netz schließlich eine Liste aller Sängerinnen, Sänger und Gruppen, die jemals in der ZDF-Hitparade aufgetreten waren. Susanne Fricke alias Susanna gehörte nicht dazu. Ebenso wenig wie zur Liste von ›Disco‹ mit Ilja Richter. Während das Gewitter den Stadtkern von Darmstadt bislang gemieden hatte, erleuchtete nun ein Blitz das Esszimmer taghell, begleitet von einem gleichzeitigen Donnerschlag, der das Haus erbeben ließ. Jana zuckte zusammen, stieß sogar einen kleinen Schrei aus und stieß dabei das Weinglas um. Dieser Blitz schien offensichtlich ihr Haus oder eines der Nachbarhäuser getroffen zu haben.

Zeit für Ohrenstöpsel. Und heruntergelassene Jalousien.

Jana sicherte noch die Ergebnisse ihrer Recherche, dann fuhr sie den Rechner herunter und ging in ihr Schlafzimmer. Morgen war Sonntag.

Auszeit für ihren Wecker. Und für sie.

Perfekt.

Sonntag, 15. Mai

Margot hatte noch mitten in der Nacht auf Horndeichs WhatsApp-Nachricht geantwortet: Bring Croissants mit. Sie war keine Freundin von Anreden, Abschiedsgrüßen oder gar Smileys bei einer Kurznachricht. Womit Horndeich leben konnte.

Auch Sandra hatte ihm um vier früh noch eine WhatsApp geschickt. Aber offenbar hatte es irgendwelche tiefgreifenden Störungen zwischen den Gehirnsynapsen und den Muskeln und Sehnen in den Fingern gegeben: Es war Horndeich nicht möglich gewesen, die Nachricht auch nur im Ansatz zu verstehen. Nur den Kuss-Smiley hinter dem Buchstabensalat konnte er zutreffend interpretieren. Wenigstens hatte sie diesen richtig getroffen. Offensichtlich hatte sie also einen schönen Abend verlebt.

Er hatte ihr geantwortet, dass er jetzt zu Margot führe und irgendwann am Nachmittag wieder zu Hause wäre.

Margot wohnte in Lichtenberg, mitten im Odenwald, gemeinsam mit ihrem Partner Nick Peckhard. Nachdem Margot den Polizeidienst quittiert hatte, war sie zunächst mit Nick in dessen Heimat, die USA, gezogen. 2017 waren sie zurückgekommen. Sie hatten es nie ausgesprochen, aber die Wahl von Donald Trump zum neuen Präsidenten schien bei diesem Entschluss eine nicht unbedeutende Rolle gespielt zu haben. Zwar hatte die Sicherheitsfirma, die Margot und Nick daraufhin gemeinsam gegründet hatten, inzwischen auch eine Dependance in Indiana, Nicks alter Heimat. Daher flog Nick immer wieder über den Großen Teich – aber seine Heimat schien inzwischen eher das gute alte Hessen zu sein.

Horndeich stellte seinen Wagen vor Margots Haus ab. Immer noch fuhr er seinen Mazda Xedos 9, der inzwischen 28 Jahre auf dem Buckel hatte, aber aussah, als sei er gerade vom Band gerollt. Horndeich ließ es sich ein wenig Geld kosten, dass sich dieser Zustand auch nicht änderte. Dabei kam ihm der Wagen entgegen: Die Kosten für die Pflege der Technik hielten sich in Grenzen. Oder, um es etwas vermenschlicht auszudrücken: Sein treuer Freund wurde nur selten krank. Treue und Loyalität – das waren auch für Horndeich wichtige Werte – die sich eben auch gegenüber seinem Wagen äußerten. Nicht zuletzt zierte daher eine fast brandneue TÜV-Plakette das hintere Kennzeichen. ›Keine Mängel‹ – gab es eine höhere Auszeichnung?

Margot hatte den Wagen offensichtlich schon gehört, denn sie öffnete die Haustür, noch bevor Horndeich sie erreicht hatte.

»Komm rein«, begrüßte sie ihn.

Horndeich folgte ihrer Aufforderung.

Margot führte ihn ins Esszimmer, wo sie einen Frühstückstisch für zwei gedeckt hatte.

»Ist Nick nicht da?«, wollte Horndeich wissen.

Margot schüttelte den Kopf. »Kaffee?« Die Frage war völlig überflüssig. Horndeich trank immer Kaffee. Aber dass Margot die Frage überhaupt stellte, zeigte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

Anstatt zu antworten, stellte er eine Gegenfrage: »Wo ist Nick denn?«

»Er ist wieder in Indiana.«

Fünf Worte. Margot hatte nicht gesagt: »Wir haben in Indiana einen neuen Kunden, den Nick gerade betreut.« Oder: »Dienstreise, er ist am Mittwoch wieder da.« Also legte Horndeich nach: »Neuer Kunde?«

»Nein, alte Mama.«

Drei Worte. Und eine große Pause. Das klang nicht gut.

Seine ehemalige Kollegin hantierte an der Kaffeemaschine, dann drehte sie sich um und wandte sich Horndeich zu: »Es ist – ein wenig kompliziert. Nicks Mama lebt noch in Indiana. Und es geht ihr nicht wirklich gut.«

Horndeich kommentierte das nicht. Denn er wusste, da kam noch ein Nachsatz. Und er hatte recht.

»Nick will wieder zurück. Er will nicht hier in Deutschland alt werden.« Margot schluckte. Und Horndeich wusste genau, wenn sie von sich aus in den ersten drei Minuten seines Besuchs so viel Privates von sich preisgab, dann war es ernst. Gleich da­rauf beendete sie das Thema: »Lass gut sein. Lass uns frühstücken. Und ich bin gespannt auf deine Fragen. Worum geht es?«

Für Horndeich war klar: Der Teil des privaten Dialogs war abgeschlossen. Zumindest, was Margots Befindlichkeiten anging. Sie würde ihm sicher gern zuhören, wenn er über sein Privatleben sprach. Aber da gab es derzeit nicht viel zu erzählen. Und Horndeich registrierte einmal mehr: Das war gut so. Seine Familie funktioniert. Ohne fulminante Höhen jeden Monat. Aber auch ohne Tiefen. Ja, er fühlte sich wohl.

Horndeich packte die Croissants in ein Brotkörbchen. Sechs Stück. Dimensioniert für drei am Tisch. Überdimensioniert für zwei.

Margot schenkte Kaffee in die Tassen, Horndeich gab ein wenig Milch hinzu. Er tunkte ein Croissant in seine Tasse und biss vom getränkten Teig ab. Zwar zierten das Büffet auf dem Tisch Butter, drei Marmeladen, ein Nutellaglas, vier verschiedene Sorten Käse und zwei Sorten Wurst – aber Teig und Kaffee waren immer noch die beste Kombination.

»Schieß los«, sagte Margot.

Und Horndeich tat, wie ihm geheißen: »Erinnerst du dich an eine Nadine Seidel? 2003? Du hast damals Kollegen unterstützt, aus Griegtal. Die haben Marco Seidel, den Mann von dieser Nadine, festgenommen. Klingelt da ein Glöckchen?«

»2003? Da haben wir doch schon zusammengearbeitet. Erinnerst du dich nicht selbst daran?«

»Ich hatte da Urlaub. War im Juli 2003.«

Margot runzelte die Stirn. »Nadine Seidel? Klingelt gar nichts.«

»Es ging dabei um den Mord an einer Schlagersängerin. Susanne Fricke. Künstlername: Susanna. Umgebracht in Griegtal. Erstochen. Im Schlafzimmer ihrer Villa.«

Margot wurde blass. Als ob Horndeich auf irgendetwas in ihrem Privatleben angespielt hätte, auf etwas Unangenehmes. Horndeich wartete. Margot würde reden. Was sie wenige Sekunden später auch tat: »Ja, die tote Schlagersängerin. Ich erinnere mich.«

»Was ist damals passiert? In meinen Notizbüchern habe ich nur ein paar Stichworte notiert, aus denen ich heute nicht mehr wirklich schlau werde.«

Margot trank einen Schluck Kaffee. Horndeich hatte den Eindruck, dies diente nur dazu, etwas Zeit zu gewinnen, um die Gedanken zu sortieren.

»Ich erinnere mich. Die Kollegen aus Griegtal hatten bei uns angerufen, ob wir sie unterstützen könnten. Der Tatverdächtige im Mordfall Susanne Fricke lebte in Darmstadt, eben dieser Marco Seidel, wie du schon gesagt hast. Wir sollten ihn festnehmen und dann nach Griegtal überführen. Sie hatten uns den ganzen Papierkram zugefaxt – auch den Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung. War soweit alles ganz normal. Wir sind dann angerückt, mit sechs Leuten vom SEK. Die waren vorsichtig. Ich war mit von der Partie, blieb aber im Hintergrund. Der SEK-Beamte hat geklingelt, Seidel hat geöffnet, und bevor er auch nur bis zwei zählen konnte, waren seine Hände auf dem Rücken fixiert. Ich kam dazu, sagte ihm, dass er festgenommen wäre, spulte ihm seine Rechte herunter – so weit, so gut. Seidel wehrte sich nicht, auch nicht, als ich ihm den Durchsuchungsbeschluss unter die Nase hielt.« Margot legte eine Pause ein. Abermals ein Schluck Kaffee.

»Und?« Horndeich spürte, dass erst jetzt das eigentlich Interessante folgen würde.

»Dieser Seidel, er ließ sich ohne jeden Widerstand festnehmen. Aber dann tauchte seine Frau auf. Nadine Seidel. Wie du gesagt hast. Sie hatte die Beschuldigung gehört, dass wir ihren Mann wegen Mordverdachts festnähmen. Und sie wurde zur Furie. Sie schrie und tobte, schlug sogar einem unserer SEK-Beamten ins Gesicht, sodass der sich über einen Nasenbeinbruch freuen konnte. Die Kollegen zögerten etwas, sie körperlich anzugehen, denn die Frau war hochschwanger.

Vielleicht lag es an meiner weiblichen Stimme. Ich konnte sie beruhigen. Zumindest so weit, dass sie nicht weiter um sich schlug. Ich, die überhaupt nichts mit dieser Frau zu tun hatte, ich nahm sie in den Arm. Na ja, irgend so eine Mischung zwischen Umarmung und Schwitzkasten. Wir gingen dann in die Küche, während die Kollegen die Wohnung auf links drehten.

Diese Nadine, sie saß dann am Küchentisch und stammelte die ganze Zeit ›Mein Mann hat nichts getan.‹ – wie ein Mantra. Ich kochte einen Tee, sie schlürfte ihn. Aber als nach einer Stunde die Durchsuchung beendet war und alle abrückten – da verlor sie wieder gänzlich die Fassung. Sie schrie, sie zeterte, sie schlug um sich, auch ich konnte sie nicht mehr beruhigen, konnte sie kaum im Zaum halten. Ich rief nochmal die Kollegen, die einen Arzt anschleppten. Der hat ihr dann einen Gnadenhammer gespritzt – und sie ins Krankenhaus einliefern lassen.«

Aus dem Dunkel seiner Erinnerung tauchte das Bild auf. Margot hatte ihm all das auch 2003 bereits erzählt, nachdem er aus dem Urlaub zurückgekommen war. Vielleicht hatte jene Urlaubsbekanntschaft seine Aufmerksamkeit damals ein wenig getrübt. Erst jetzt tapste die Rückschau an Margots Schilderung langsam von den hinteren Räumen wieder zurück in sein Gedächtnis. »Und das war’s dann? Ich hab da noch was von Vernehmung stehen.«

»Nadine lag zwei Tage im Krankenhaus, dann hatten sie sie wieder entlassen. Kurz danach haben wir sie vernommen, auf dem Präsidium. Also, ich hab sie befragt. Wir haben das aufgezeichnet und den Bericht und das Videoband den Kollegen in Griegtal geschickt.« Wieder pausierte Margot.

»Und dann war der Fall für uns erledigt?« Horndeich versuchte, den Bericht bis zum Ende voranzutreiben.

»Ja und nein. Offiziell wurde Nadine Seidel nicht weiter vernommen. Aber sie rief mich mehrfach an. Ich hatte bei der Festnahme ihres Mannes irgendeinem Arzt mein Kärtchen gegeben. Ich weiß nicht, wie das zu ihr gelangt ist, aber sie rief mich dann halt an. Sie war im siebten Monat oder so. Ihre eigene Mutter saß im Knast, der Vater war auf Hartz 4, Wohnadresse ›Unter der Brücke‹. Ich weiß nicht mehr, was sie mir alles erzählt hat. Irgendwie hatte ich damals meine Mutter-Theresa-Phase. Also hab ich mit ihr gesprochen, auch ab und an nach ihr geschaut. Und jedes Mal, wenn wir miteinander sprachen, betonte sie, dass ihr Mann kein Mörder sei.«

Horndeich griff zum zweiten Croissant. Goss sich noch eine Tasse Kaffee nach. »Du hast ihr geglaubt?«

Margot zuckte die Schultern. Horndeich hatte Margot stets als sehr gute Polizistin erlebt. Die nüchtern prüfte, Puzzleteile auf die richtige Art zusammenfügte, die stets einen analytischen Blick auf alle Geschehnisse wahrte. Dass sie auf seine Frage mit den Schultern zuckte, war das Äußerste an Emotion, was sie zeigen würde. Es bedeutete nichts weniger, als dass die Antwort auf seine Frage war: »Ja.«

Margot sprach weiter: »Im Herbst war dann die Verhandlung. Ein paar Wochen zuvor hatte sie ihre Tochter geboren. Ihre Freundin passte auf das Baby auf, aber sie hatte niemanden, der sie zur Verhandlung fahren würde. Sie wünschte auf jeden Fall, dabei zu sein. Und sie wollte auch nicht allein dorthin fahren. So bat sie mich, ob ich sie begleiten würde. Horndeich, ich habe das später nie wieder getan. Aber damals habe ich diese junge Frau tatsächlich nach Griegtal gefahren, an den letzten Tagen der Verhandlung. Ich hatte mir extra Urlaub genommen. Es ging ja auch relativ schnell. Alle Indizien sprachen für diesen Marco Seidel als Täter. Ich hatte mich damals weniger als Begleitung gesehen als vielmehr als Dompteur. Denn diese Nadine stand immer kurz vor der Explosion. Horndeich, ich habe Händchen gehalten. Kannst du dir das vorstellen?«

Horndeich grinste. Nein, das konnte er nicht. Margot als eine Frau, die ein Bombenpaket in Schach hielt. Durch Händchenhalten.

Margot erwiderte das Grinsen. »Ich war ja lernfähig. Den Fehler, mich irgendeiner Person, die in irgendeinen von unseren Fällen involviert war, persönlich zu nähern – diesen Ausrutscher habe ich mir danach nie wieder gegönnt.«

Horndeich war der Letzte, der hier mit Steinen werfen würde, denn er saß ja selbst im Glashaus. Es war bald 15 Jahre her, da hatte er ebenfalls einmal dafür gesorgt, dass die Schwester einer ermordeten Frau nicht zur Rechenschaft gezogen worden war, als sie auf deren Mörderin geschossen hatte – und zum Glück nicht getroffen. »Und Marco Seidel? War er schuldig?«

Wieder zuckte Margot mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Seine Nadine pochte stets hysterisch auf seine Unschuld. Aber was mich am meisten beeindruckt hatte, waren die letzten Worte, die einem Beschuldigten im Verfahren ja zugestanden werden. Seidels Stimme war ganz ruhig, als er damals sagte: ›Hohes Gericht, Herr Rüdiger Fricke – ich kann zum Schluss nur Eines sagen: Ich habe Susanne Fricke, ich habe Ihre Gattin nicht umgebracht.‹ Ich erinnere mich noch an das Gesicht von Rüdiger Fricke. Das war der Ehemann der Ermordeten – mein Gott, dass ich mich an diesen Namen noch erinnere – er hat Seidel damals direkt ins Gesicht geschaut. Und ich habe gedacht: Entweder Marco Seidel hat es wirklich nicht getan, oder Seidel hatte seinen Beruf verfehlt und hätte Schauspieler werden sollen.«

Horndeich ertappte sich, wie er tatsächlich noch das dritte Croissant aß.

Wie auch Margot.

Und Marmelade, Nutella, Butter, Wurst und Käse blieben weiterhin unangetastet.

Der Vormittag war eines Sonntags würdig gewesen. Jana Welzer war bereits um halb neun eine Runde über die Rosenhöhe und das Oberfeld gejoggt. Wenn der Wecker frei hatte, wachte sie immer von selbst früh auf.

Danach hatte sie geduscht und sich ein leckeres Frühstück gegönnt, inklusive Obst und Müsli. Sie hatte rund 100 Seiten gelesen in ihrem derzeitigen obersten Buch des ›SuB‹ – des ›Stapels ungelesener Bücher‹. Das Werk war von Bernhard Jaumann: ›Der Turm der blauen Pferde‹. Jana mochte Franz Marc, der 1913 das titelgebende Bild gemalt hatte. Und ihr gefiel das Buch.

All das hatte die Unruhe in ihrem Innern nicht wirklich übertünchen können. Der Gedanke, derzeit in ihrem Job unzufrieden zu sein, hatte sie auch beim Einschlafen verfolgt. Und nicht nur das. Ihr Privatleben war ebenso alles andere als erfüllend. Alle zwei Wochen aß sie gemeinsam mit ihrer Mutter in einem Restaurant, so auch vor einer Woche. Oftmals gingen sie ins Delfino, einem der guten Italiener in Darmstadt, unweit des Woogs gelegen. Ihr Gespräch hatte nicht recht in Gang kommen wollen, und das, obwohl ihre Mutter wahrlich nicht auf den Mund gefallen war. Sie plauderte viel über sich, auch über Janas Vater, zu dem diese keinen Kontakt mehr hatte. Erst als Jana zu Hause angekommen war, war ihr aufgefallen, was an diesem Gespräch so seltsam gewesen war: Ihre Mutter hatte nicht nach ihren Männern gefragt. Und die Frage, ob sie jemals ein Enkelkind bekommen würde, die hatte sie schon seit Wochen nicht mehr gestellt. Und ja, so etwas wie eine feste Beziehung hatte Jana schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Und, wie sie sich einredete, auch nicht vermisst. Ab und zu einen One-Night-Stand mit einem attraktiven Salsa-Tänzer, das genügte ihr. Und doch, wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, wie es an diesem Vormittag offensichtlich der Fall war, musste sie zugeben, dass da etwas an ihr nagte, in ihr nagte, der kleine Biber der Verdrossenheit.

Sie kannte diese Momente, und meist begegnete sie ihnen, indem sie in ihr Büro ging und sich in Arbeit stürzte. Auch sonntags. Nur heute verspürte sie überhaupt keinen Drang dazu.

Sie griff zu ihrem Laptop, nahm ihn mit auf den Ost-Balkon, klappte ihn auf, setzte sich. Vielleicht konnte Marco Seidel für Ablenkung sorgen. Obwohl sie sich die Artikel am Vorabend schon durchgelesen hatte, glitt ihr Blick abermals über die Zeilen. Beim zweiten Lesen erfuhr man nichts Neues, doch manchmal richtete sich die Sicht auf ein Detail, das man zunächst übersehen hatte, weil es zuvor noch ums große Ganze gegangen war. Ein solches Teilstück war etwa der Name des Verteidigers von Marco Seidel: Ludwig Bergekamp.

Jana gab den Namen in eine Suchmaschine ein. Ludwig Bergekamp war dort kein Unbekannter. Er nannte eine Kanzlei in Frankfurt sein Eigen, wie seine Webseite verriet. Die Seite war eher schlicht gehalten, gab keine Auskünfte über Referenzen oder die Anzahl der Mitarbeiter. Jana las nur ein kurzes Statement der Einleitung: Man fühle sich nicht nur dem Grundsatz verpflichtet, dass jeder Angeklagte das Recht auf Verteidigung habe, sondern vielmehr dem Credo, dass jeder Angeklagte das Recht auf die beste Verteidigung habe. Das einzig Konkrete, was sich der Webseite entnehmen ließ, war, dass sich die Kanzlei Ludwig Bergekamp offensichtlich auf Strafrecht spezialisiert hatte. Auf den Fotos wirkte der Anwalt stattlich, groß gewachsen und Vertrauen einflößend.

Jana griff wieder auf die Pressedatenbank zu und fand tatsächlich einige Artikel, in denen Ludwig Bergekamp erwähnt wurde. Einer der umfangreichsten Texte war ein Interview mit ihm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, geführt 2015. Jana lud den Artikel herunter und überflog ihn. Anlass des Gesprächs war, dass Bergekamp einen Schauspieler in einem Prozess vertreten hatte. Wim Mellers, damals 50 Jahre alt, wurde vorgeworfen, seine Frau erstochen zu haben. Mellers hat in diversen Soap-Operas mitgespielt und auch vor Reality-TV-Formaten der Privatsender nicht Halt gemacht. Dass Mellers der Täter war, war nicht strittig. Er jedoch behauptete, seine Frau habe ihn in der Küche angegriffen, einen massiven Glas-Aschenbecher nach ihm geworfen und er habe sich nur gewehrt und nach einem Messer gegriffen. Bergekamp hatte seinen Mandanten tatsächlich rausgehauen, da er eine Armada eigener Techniker nochmals in die Wohnung geschickt hatte. Diese waren in der Lage gewesen, feinste Glasabriebspuren an der Wand zu sichern, die die Aussage vom Aschenbecher im Tiefflug stützten.

In dem Interview ging der Redakteur auch auf den Beginn der Karriere von Bergemann ein. Der erste Fall, der ihn bekannt gemacht habe, sei wohl der Fall Susanne Fricke gewesen. Bergemann habe damals den Mörder verteidigt – wenn auch nicht erfolgreich. Doch der Fall um die prominente Sängerin habe ihm später Türen geöffnet, was der Jurist in dem Interview nicht abstritt.

Vielleicht konnte sich Bergemann ja noch an seinen ersten großen Mordfall erinnern? Jana griff zum Handy und tippte die Nummer, die auf der Webseite der Kanzlei unter ›Kontakt‹ angegeben war. Sie erwartete, auf einen Anrufbeantworter sprechen zu müssen. Dann würde sie erklären, dass sie im Fall Marco Seidel recherchierte und um ein Gespräch bäte.

Zu ihrer Überraschung meldete sich eine menschliche Stimme: »Bergekamp?«

Jana musste sich kurz sortieren, bevor sie sagte: »Guten Tag, hier spricht Jana Welzer. Ich habe gar nicht erwartet, an einem Sonntag mit dem Kanzleiinhaber persönlich zu sprechen.«

»Das tun Sie aber. Was kann ich für Sie tun?«

Jana war irritiert, dass der Anwalt sie nicht abzuwimmeln versuchte, nach dem Motto: Rufen Sie morgen wieder an und machen einen Termin bei meiner Sekretärin. Doch dann sagte sie gefasst: »Herr Bergekamp, ich recherchiere zum Fall Susanne Fricke und Marco Seidel.« Mehr erklärte sie nicht. Weil sie nicht darauf vorbereitet war. Sollte sie bereits mit der Information herausrücken, dass Marco Seidel jemanden engagieren wollte, der seine Unschuld bewies?

»Von der Polizei sind Sie offensichtlich nicht. Darf ich fragen, in welcher Funktion Sie das tun?«

Tja, in welcher Funktion? Niemand hatte sie beauftragt. Genau genommen in keiner Funktion. Doch sie hatte den Anwalt jetzt persönlich an der Strippe. Da half nur noch eins: Flucht nach vorn. »Ich bin Privatermittlerin.«

»Dann hat Herr Seidel Sie angesprochen?«

Jana wollte lieber von Angesicht zu Angesicht mit dem Anwalt sprechen. »Dürfte ich Sie persönlich sprechen? Hätten Sie einen Termin für mich?«

»Von wo aus rufen Sie mich an?«

»Darmstadt«, antwortete Jana.

»Wenn es Ihnen um 17 Uhr passt? Ich werde noch in der Kanzlei sein. Ich nehme an, Sie wissen, wo diese ist.«

»Ja, weiß ich. Ganz herzlichen Dank. Ich werde um fünf bei Ihnen sein.«

Ihr Gegenüber verabschiedete sich nicht. Nur das Display des Smartphones zeigte das Ende des Gesprächs an.

Horndeich traf Marco Seidel vor dem Trainingsbad am Woog – dem innerstädtischen Badesee Darmstadts. Bereits auf der Fahrt von Margot zurück nach Darmstadt hatte er ihn angerufen und um ein Treffen gebeten. Adresse und Telefonnummer hatte er sich am vorigen Abend von Seidel noch geben lassen.