18,99 €
Man muss schon hart im Nehmen sein, um sich wie die Wüstenväter des 3. und 4. Jahrhunderts in die Einöde zurückzuziehen, um dort ein entbehrungsreiches Leben zu führen und mit fremden und eigenen Dämonen zu kämpfen. Doch auch wenn man dafür heute nicht mehr unbedingt in die Wüste gehen muss: Die Auseinandersetzung mit den eigenen Schatten und Anfechtungen bleibt eine Aufgabe, der wir uns im Alltag stellen müssen. Und die weisen Ratschläge der Mönche, wie man damit umgehen lernt und so am Ende zu sich selbst findet – im Wüstensand erprobt und geläutert –, können auch in unserer Zeit eine gute Richtschnur sein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 164
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023
ISBN 978-3-7365-0511-7
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0611-4
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: wunderlichundweigand
Covermotiv: marukopum / iStock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
KATHARINA CEMING
Ab in die Wüste!
Mut zur Selbsterkenntnis – den Wüstenvätern abgeschaut
Vier-Türme-Verlag
Vorwort
Was Sie erwartet
Die Tür zum winzigen Raum steht einen kleinen Spalt auf. Der Fremde auf der Schwelle traut sich nicht so recht hinein, denn er vernimmt von innen ein konstantes, sich wiederholendes Gemurmel. Er weiß nicht, ob er stört oder ob er willkommen ist. Doch die weite Reise ans Ende der Welt soll nicht umsonst gewesen sein. Er nimmt seinen Mut zusammen, öffnet die Tür –und blickt direkt in das von tiefer Freude durchdrungene Gesicht des alten Mannes, der so in sein Gebet versunken ist, dass er den Besucher gar nicht wahrnimmt.
Der Besucher war nicht einfach nur gekommen, um dem alten Mann »Guten Tag« zu sagen und dann wieder zu gehen. Er war gekommen, um für immer zu bleiben. In der Einsamkeit der Wüste wollte er leben, nur mit einem Alten an seiner Seite, der ihn das Wesentlichste lehren würde, um Gott ganz nahe zu sein. Ein einfaches Leben, ohne Zerstreuung, nur auf Gott ausgerichtet, das war sein Traum.
Diesen Traum träumten vor 1700 Jahren nicht wenige Männer (es waren vor allem Männer; von den wenigen uns bekannten Frauen wird noch zu reden sein) in Ägypten. Ihre Bewegung, die gar keine Bewegung sein wollte, wurde zur Grundlage der christlichen Spiritualität und klösterlichen Lebensform. Unterschiedlichste Menschen und ihre Lebenswege kreuzten damals in Ägyptens Wüsten ihre Bahnen. Sie brachten eine für das Christentum bis dato völlig neue Lebensform hervor: das Einsiedlertum.
Dieses Buch möchte Sie in die Welt der Wüstenväter hineinführen, beim Umherstreifen und Entdecken begleiten und Sie auch wieder sicher aus der Wüste herausführen, versehen mit reichen Geschenken, die Ägyptens spirituelle Welt zu bieten hat. Interessantes Wissen über die damalige Zeit, gebündelt mit deren spirituellen Wegweisungen, soll in diesem Buch für unsere Zeit verständlich und erlebbar werden.
Wenn Sie sich der Spiritualität der ägyptischen Wüstenväter nähern und sie verstehen wollen, dann seien Sie einfach bereit, in deren Welt, Vorstellungen, Überzeugungen und Lebensweisen einzutauchen. Bei diesem Tauchgang werden Sie mitunter Verhaltensweisen und Lehren erblicken, die etwas kurios erscheinen mögen. Lassen Sie sich davon nicht erschrecken. Lachen ist genauso wie Staunen erlaubt. Die Welt der Wüste ist bunter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Da es in den ersten Jahrzehnten keine Autoritäten und Ordensobere gab, die bestimmt hätten, wohin die spirituelle Reise geht, konnten sich verschiedene Vorstellungen und Anschauungen entwickeln. Manches geriet auch wieder in Vergessenheit, und einiges davon darf ruhig in Ägyptens Sand begraben bleiben. Nicht alles, was in der Wüste über die – in der Regel eher schweigsamen – Lippen kam, hat im 21. Jahrhundert noch Bedeutung. Denn auch spirituelle Erfahrungen können nur im Denken und in Begriffen ihrer Zeit ausgedrückt werden.
Die Wüstenväter zu glorifizieren wäre sicherlich das Letzte gewesen, was sie selbst gewollt hätten. Die Methoden ihrer Menschenführung entsprachen den Gepflogenheiten der Zeit und Gegend und waren bisweilen etwas derber, als wir es heute für gut halten würden. Und nicht alle, die dort lebten und lehrten, waren große Geister und Seelenführer. So mancher Wüstenvater wäre heute eher Insasse einer psychiatrischen Klinik oder eines Gefängnisses denn einer Mönchsklause.
Die westliche Kultur ist aufgrund einer fehlenden Gewöhnung der Durchdringung von Spiritualität und Alltag manchmal etwas gutgläubig und von einer falschen Ehrfurcht allem Spirituellen gegenüber geprägt. Darum blickt dieses Buch des Öfteren mit einem gewissen Augenzwinkern auf das bunte Treiben in Ägyptens Wüstensand. Wer jedoch die Spreu vom Weizen zu unterscheiden vermag, kann die wichtigen und bleibenden Einsichten dieser alten Tradition umso besser würdigen und sich in seinem eigenen Leben davon inspirieren lassen.
Aus diesem Grund versucht der erste Teil dieses Buches, in die Lebenswelt und die Geschichte der Bewegung einzuführen, der zweite, ihre Spiritualität darzustellen, und der dritte, die bedeutenden Lehren dieser Menschen für uns und unsere Zeit aufzubereiten.
Ich wünsche mir, dass dieses Buch Ihnen tiefe Einsichten schenkt und helle Freude bereitet.
Katharina Ceming
1. KAPITEL
Lebenswelt und Geschichte der Wüstenväter
Ab in die Wüste!
Es gibt nur wenige geografische Gebiete, die so mit den Sehnsüchten des modernen Menschen aufgeladen sind wie die Wüste. Sie erscheint als der weite Raum, in dem eine Begegnung mit sich selbst leichter möglich ist als in zivilisatorisch voll erschlossenen Gegenden. Zugleich zeigt sie dem Menschen seine Grenzen. Wer sich in die Wüste aufmacht, begibt sich in den Raum der Extreme. In der religiösen Tradition des Alten Testaments ist sie der Ort der Verzweiflung, aber auch der Ort der Gottesbegegnung, der Ort der Besinnung und der Ort der Umkehr. Immer wieder zogen sich die Propheten und Seher aus der Gemeinschaft in die Einsamkeit der judäischen Wüste zurück, um dort Gott zu begegnen, um ihr Leben zu ordnen oder ihm eine neue Ausrichtung zu geben.
Revolution in Ägypten
Wenn wir uns mit den Anfängen der Wüstenväter und der christlichen Spiritualität beschäftigen, müssen wir zunächst in die Tiefen der sogenannten Libyschen Wüste vordringen, in jenes Gebiet westlich des Nils, das bereits im 3. Jahrhundert nach Christus aufgrund seiner extremen Trockenheit als ein sehr lebensfeindlicher Raum galt. Ein Raum, in den die nicht christlichen Ägypter nicht freiwillig gingen und in dem sie sich nichts erhofften, am wenigsten eine Begegnung mit Gott. Und dennoch zogen Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. mehr und mehr Menschen in die ägyptische Wüste, um ihr Leben ganz Gott zu widmen. Da dieser Auszug auf Griechisch anachorese heißt, nannte man diejenigen, die auszogen, Anachoreten. Und weil ihr Auszug aus der zivilisierten Welt unmittelbar in die Wüste hineinführte, die auf Griechisch eremía heißt, bezeichnete man diese Leute auch als Eremiten, als Wüstenbewohner. Die ersten Eremiten lebten dort zunächst allein. Ein Alleinlebender, also ein Single, war ein monachós, ein Mönch. Und das war damals etwas ganz Ungewöhnliches. Bevor Gott Eva aus Adams Rippe geformt hatte, war Adam ein solcher monachós, zumindest in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments.
Ab Mitte des 4. Jahrhunderts wurde der monachós, der Mönch, schließlich zum Inbegriff für den in der Einsamkeit lebenden, spirituellen Menschen. So gesehen ist das ganze Mönchtum, wie wir es kennen, streng genommen eigentlich gar kein Mönchtum, da dort keiner allein lebt, sondern die Mönche eine Gemeinschaft bilden. Den ersten Mönchen in Ägyptens Wüste dürften diese wortgeschichtlichen Finessen vermutlich völlig egal gewesen sein. Auch weil sie sowieso kein Wort Griechisch verstanden und sprachen. Ihre Muttersprache war Koptisch, die Sprache, die die christliche Minderheit im heutigen Ägypten noch immer spricht, natürlich mit einigen Veränderungen und Weiterentwicklungen. Griechisch war zur Zeit des ausgehenden 3. Jahrhunderts in Ägypten die Sprache der Gebildeten und nicht die der einfachen Menschen.
Jenseits der Zivilisation
Den Ansporn für diese neue Lebensform, die nicht mehr die Gemeinschaft, sondern die Einsamkeit im Blick hatte und die sich der Askese verpflichtet fühlte, sahen deren Anhänger in der Bibel grundgelegt. Es war die Aufforderung Jesu, ihm aus tiefer innerer Gottesliebe nachzufolgen, und die Aufforderung, sich nicht in der Welt einzurichten, sondern für das Reich Gottes bereit zu sein. Der Glaube an das Anbrechen des Gottesreiches und damit verbunden an das Zusammenbrechen der alten Ordnung war im Ägypten des 3./4. Jahrhunderts weit verbreitet. Als besonderes Vorbild für das Nicht-Einrichten in der Welt galten die Apostel, die aufgrund des Rufes Christi alles liegen und stehen gelassen hatten.
Für die Eremiten Ägyptens war eine Jesusnachfolge nur durch den radikalen Bruch mit der Gesellschaft zu verwirklichen. Nicht das Leben in der Gemeinschaft, sondern das Aufgeben jeglicher Gemeinschaft um des Evangeliums willen war für sie Gottes Wille. Mit dem Nachfolgegedanken war natürlich auch die Kreuzesnachfolge verbunden. Das eigene Kreuz zu tragen hieß, dem eigenen Selbst, dem eigenen Willen, ja der ganzen Welt und ihren Verlockungen abzusterben. Um der Welt abzusterben, musste man diese hinter sich lassen, was durch den Rückzug in die Wüste relativ leicht ging. Schwieriger war es, dem eigenen Ego und seinen Triebregungen abzusterben. Was sich die Wüstenväter dafür alles ausdachten, werden Sie gleich erfahren.
Die Heilige Schrift spielte in dieser Wüstenbewegung eine äußerst wichtige Rolle. Das kann man daran erkennen, dass es eine der höchsten Aufgaben eines Wüstenvaters war, stundenlang über deren Texte zu meditieren. Wenn Sie meditieren hören, dürfen Sie aber nicht von der heute geläufigen Bedeutung des Wortes ausgehen. Meditieren, das hieß, einen Text geistig »durchzukauen«. Das Repertoire an Versen, die man durchkaute, hing natürlich vom Umfang der bekannten Stellen ab. Von einigen Vätern wird berichtet, dass sie das ganze Evangelium auswendig kannten, andere kannten ein paar Stellen. Nachlesen konnten sie es oft nicht, denn viele, die einmal Fellachen, also ägyptische Bauern waren, waren Analphabeten. Daneben kamen im Lauf der Jahre und Jahrzehnte aber auch andere in die Wüste, die teilweise recht beeindruckende Karrieren in der Welt hinter sich hatten, bevor sie beschlossen: Raus aus dem Job, rein in die Wüste!
Ohne diese des Lesens und Schreibens Kundigen wüssten wir heute relativ wenig von dem, was die Wüstenväter so an Weisheiten zum Besten gaben. Sie sammelten die Aussprüche bedeutender Wüstenväter, die oft nur aus wenigen Sätzen bestanden, und überlieferten sie. Oder sie verfassten selbst eigene Werke. Die berühmteste Sammlung der Vätersprüche sind die Apophthegmata Patrum, die »Worte der Väter«, die allerdings schon auf Griechisch verfasst waren, obwohl die meisten, wie bereits bemerkt, nur Koptisch sprachen. Die Aussprüche der Väter wurden zunächst mündlich gesammelt und überliefert, bevor man sie im 5. Jahrhundert in Palästina niederzuschreiben begann. Diese palästinensische Sammlung ordnete die Sprüche alphabetisch. Man nennt sie Gerontikon, was so viel wie »Buch der Alten« heißt. Dieses Buch enthält 950 Sprüche, die von 130 Vätern stammen. Eine andere Version ordnete die Weisungen nach Themen. Sie ist vermutlich jünger und mit 640 Sprüchen auch kürzer.
Das Leben in der Wüste
Wer schon einmal in Ägyptens Wüste war, wird sich die berechtigte Frage stellen: Wovon lebten diese Menschen eigentlich? Die traditionellen Wüstenbereiche, wo sich die christlichen Einsiedler niederließen, hatten in der Regel in der Nähe eine Quelle oder eine Zisterne, sodass man die notwendigsten Nahrungsmittel selbst anbauen konnte. Arbeit war insgesamt gesehen ein wesentlicher Bestandteil des täglichen Lebens. Einige Mönche verdingten sich zur Erntezeit als Tagelöhner, eine Arbeit, die vielen von ihnen aus ihrem Leben als Bauern sehr vertraut war. Die meisten Mönche flochten in ihren Behausungen Seile, Matten und Körbe, die sie auf den lokalen Märkten verkauften. Der Vorteil dieser Tätigkeit lag im wahrsten Sinne auf der Hand. Sie war so monoton, dass man im Geiste permanent Bibelverse memorieren und seinen Geist gesammelt halten konnte.
Zudem hatte die Tätigkeit in der eigenen Zelle, die oftmals ein winziges Häuschen oder eine Höhle war, die man Kellion nannte, noch einen entscheidenden Vorteil – sie ermöglichte sehr leicht die Befolgung des Zentraldogmas aller Wüstenmönche: Bleib in deinem Kellion sitzen! Nicht vor sich und der Monotonie des Wüstenalltags davonzulaufen, war eine der größten Herausforderungen, mit denen die Wüstenbewohner konfrontiert waren. Die Beschäftigung mit der eigenen Seele galt als die entscheidende Aufgabe des Asketen. Dass diese Tätigkeit nicht immer und zu allen Zeiten gleichermaßen im Mittelpunkt stand, können wir der wehmutsvollen Aussage von Abba Theodor, einem der Wüstenväter, entnehmen:
»Als ich in die Sketis [ein Wüstenabschnitt in Ägypten] kam, waren die Werke der Seele unsere Arbeit und die Handarbeit hielten wir für einen Nebenbeschäftigung. Nun aber ist das Werk der Seele wie eine Nebenbeschäftigung geworden und die (damalige) Nebenbeschäftigung zur Hauptarbeit.«
APOPHTHEGMATA, 277
Doch bevor der Niedergang thematisiert wird, soll erst einmal der Pionier aller Pioniere in der Wüste, der heilige Antonius, genannt Antonius der Einsiedler oder Antonius der Große, zu Wort kommen. Er war der Erste in Ägypten, der auf die Idee kam, dass ein Leben in der Wüste für das spirituelle Leben besser geeignet sein könnte als eines in der Gemeinschaft
Ein kleiner Schritt für Antonius, ein großer für die Menschheit
Ob sich der 24-jährige Antonius bewusst war, dass er eine geistige Revolution im Christentum entfachen würde, als er an einem Tag des Jahres 275 die Tür seines Hauses in seinem ägyptischen Heimatdorf Korne für immer hinter sich zuzog und hinaus in die Wüste ging? Wir dürfen annehmen, dass ihm diese Frage ziemlich egal war. Eine andere Frage stellten sich aber wahrscheinlich seine Dorfgenossen: Was will der Kerl da draußen in der Wüste? Ist er wahnsinnig? Bevor wir beim Wort Wüste in ekstatische Verzückungen geraten und im Geiste schon mit Antonius den grandiosen Sternenhimmel in der nächtlichen Wüste bewundern, sollten wir uns bewusst werden, was die Wüste für die alten Ägypter war beziehungsweise nicht war: Sie war definitiv kein Rückzugsort zur Selbstfindung bei Stress. Es steht in den Sternen, ob ein Zeitgenosse des Antonius mit dem Begriff des Stresses etwas anzufangen gewusst hätte. Entbehrung, Hunger, Not, das kannte man, Stress dann doch eher nicht.
Die Wüste war der lebensfeindliche und bedrohliche Raum schlechthin. Wer dorthin ging, war entweder tot – die Rede vom Gehen ist hier zugegebenermaßen etwas unpassend – oder auf der Flucht. Leben fand entlang des Nils statt. Dort gab es Wasser, Felder und somit alles, was menschliches Leben ermöglichte. In der Wüste gab es Steine, Sand, kein oder kaum Wasser, keine Felder, dafür Dämonen, Tote und Verbrecher. Letztere suchte hier nämlich keiner mehr, denn dort zu leben war Strafe genug und für den zivilsierten Menschen gleichbedeutend mit tot zu sein.
Die positive Wirkung von Steuerforderungen
Und doch ging Antonius genau dorthin, wo kein vernünftiger Ägypter freiwillig hingegangen wäre, ins Land der Toten und der Verbrecher. Was trieb ihn, einen jungen und für seine Umgebung sogar relativ wohlhabenden Mann, hinaus in die Wüste? Antonius zählte in seinem Fellachendorf zu den Privilegierten. Seine Eltern starben, als er noch nicht ganz 20 Jahre alt war. Für ihn war das ein schwerer Verlust. Aber sie vererbten ihm ihre Ländereien; für die Dorfverhältnisse sogar relativ große Flächen. Antonius tat nun etwas, was doch eher selten vorkommt und bald seinem Ruf, ein Heiliger zu sein, zuträglich wurde: Er verschenkte den größten Teil des Erbes. Lediglich einen kleinen Teil hielt er für die Versorgung seiner minderjährigen Schwester zurück. Wenn wir dem heiligen Athanasius, Bischof von Alexandrien, glauben dürfen, der Mitte des 4. Jahrhunderts das Leben des Antonius aufschrieb, lag der Grund für diese eher ungewöhnliche Tat darin, dass Antonius im Gottesdienst in der Lesung die Stelle aus dem Markusevangelium hörte, wo es heißt:
»Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.«
MARKUS 10,21
Die Lehre des Evangeliums, die der des Lesens und Schreibens unkundige junge Mann im Gottesdienst immer wieder hörte, hätte in ihm tiefe Spuren hinterlassen. So habe Antonius diesen Text als direkten Ruf Jesu an ihn verstanden und daher beschlossen, nicht nur besitzlos zu leben, sondern sich aus der Gemeinschaft in die Einsamkeit zurückzuziehen.
Dass das Verschenken seines Erbes indessen nicht nur der Treue zum Evangelium geschuldet gewesen sein könnte, sondern zudem profanere Gründe gehabt haben könnte, legt ein Blick aufs Steuersystem der damaligen Zeit nahe.
Antonius hatte eigentlich gar keine andere Wahl, als seine Äcker entweder selbst zu bestellen oder dem Dorf zur Verfügung zu stellen, denn der römische Kaiser Diokletian war mindestens so erfinderisch wie moderne Politiker, als es um die Sanierung seiner maroden Staatsfinanzen ging. Wo sparen nicht geht oder gewollt ist, müssen eben die Einnahmen steigen, und das geschieht in der Regel durch Steuererhöhungen beziehungsweise durch ein rigoroses Eintreiben der Steuerschuld. Die letztgenannte Methode perfektionierte Kaiser Diokletian. In Ägypten wurden die Steuern pro Dorf berechnet. Wenn das Dorf diese nicht begleichen konnte, hafteten die Reichsten mit ihrem Vermögen. Das Dorf konnte also unmöglich auf die Erträge der Felder von Antonius verzichten.
Diese Erklärung ist zwar nicht ganz so fromm, aber sie charakterisiert die Situation zur Zeit des Antonius recht gut. Wahrscheinlich legten ihm seine Nachbarn nahe, wenn er schon nicht mehr seiner Arbeit als Bauer nachgehen wolle, dann solle er doch wenigstens an die Dorfgemeinschaft denken, was er dann tat: ideell motiviert und unterstützt durch die Anweisung Jesu im Evangelium, alles um des Himmelreichs willen zu verschenken. Die Kombination aus steuerlichen Gründen und christlicher Besitzlosigkeit sollte in der Folgezeit für nicht wenige Wüstenbewohner der Antrieb für ein besitzloses Leben in der Wüste werden.
Ein spiritueller Bestseller
Antonius hielt jetzt nichts mehr in Korne. Er schloss, nachdem er seine minderjährige Schwester gut versorgt wusste, die Haustür hinter sich und wagte etwas, das vor ihm in Ägypten so noch keiner getan hatte: Er ging freiwillig in die Wüste. Allerdings war er nicht ganz unvorbereitet. Denn noch während er in seinem Dorf lebte, suchte er sich einen Alten in der Nähe, der bereits seit langer Zeit streng asketisch lebte und ihn in diesen neuen way of life einführte. Wenn man den Berichten des Kirchenvaters Hieronymus (347–419) trauen darf, gab es nämlich doch einen, der schneller war als Antonius: der heilige Paulus von Theben. Aber da gibt es heute einige, die dem guten Hieronymus nicht trauen wollen und den Verdacht hegen, er habe die Geschichte des heiligen Paulus von Theben nur erfunden, weil ihn der gigantische Erfolg des Athanasius – das ist der Mann, der über den Einsiedler Antonius schrieb – gewurmt habe.