Inhaltsverzeichnis
Aufriss des Vorhabens
A – GESCHICHTE DER MENSCHENRECHTE
1 Geistesgeschichtliche Grundlagen der Menschenrechtsidee
1.1 Die Würde des Menschen
1.2 Naturrechtsgedanke und Weltgesetz
2 Auf dem Weg zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948
3 Menschenrechte zwischen Relativismus und Universalismus
3.1 Universalistische Theorien
3.2 Relativistische Theorien
B – MENSCHENRECHTE IN DEN WELTRELIGIONEN
1 Judentum
1.1 Das Alte Testament und die Idee der Menschenrechte
1.2 Menschenrechte in der jüdischen Tradition
1.3 Menschenrechte in Israel
1.4 Religiöser Widerstand in Israel gegen Menschenrechtsverletzungen
1.5 Das Judentum und die Frauenfrage
2 Christentum
2.1 Anthropologische Grundlagen: der Mensch als Gotteskind
2.2 Das Recht auf Unversehrtheit der Person
2.3 Religions- und Gewissensfreiheit in der Geschichte des Christentums
2.4 Kirchliche Reaktionen auf die Menschenrechtsidee im 18. und 19. Jahrhundert
2.5 Das Verhältnis der katholischen Kirche zur Menschenrechtsfrage seit dem II. Vaticanum
2.6 Innerkirchliche Probleme bezüglich der Anerkennung von Menschenrechten
2.7 Die Stellung der Frau im Christentum
2.8 Exkurs: Hexenverfolgung als Ausdruck kirchlicher Misogynie?
3 Islam
3.1 Der Koran
3.2 Islamisches Recht
3.3 Grundlagen des islamischen Menschen-, Welt- und Staatsbildes
3.4 Menschenrechte im Islam
3.5 Das Geschlechterverhältnis
3.6 Abschließende Bemerkung
4 Hinduismus
4.1 Grundlagen des hinduistischen Welt- und Menschenbildes
4.2 Ethische Grundlagen des Hinduismus
4.3 Grundlagen des Kastensystems
4.4 Das Kastensystem im Kontext der Menschenrechte
4.5 Die Stellung der Frau im Hinduismus
5 Buddhismus
5.1 Metaphysische Grundanschauungen des Buddhismus
5.2 Buddhistische Ethik
5.3 Freiheitsrechte im Buddhismus
5.4 Engagierter Buddhismus
5.5 Die Stellung der Frau im Buddhismus
C – RESUMEE
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
PRÄAMBEL
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. ...
Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Teil V
Teil VI
Anmerkungen
Literatur
Register
Copyright
Aufriss des Vorhabens
Die Verabschiedung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948 kann mit Sicherheit als eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit betrachtet werden, da sich Länder unterschiedlichster Couleur auf eine ethische Grundlage im Umgang der Menschen miteinander einigten. Vieles von dem, was vor gut sechzig Jahren von den meisten Staaten der Welt unterzeichnet wurde, hat bis heute allerdings nur auf dem Papier seine Gültigkeit. In den letzten beiden Jahrzehnten trat zur absichtlichen Ignorierung von Menschenrechtsvereinbarungen durch staatliche Instanzen noch eine gezielte Kritik an diesen hinzu. Ein wesentliches Argument, wenn es um die Ablehnung der Menschenrechtsidee geht, ist die Behauptung, dass diese nicht mit den eigenen kulturellen und religiösen Traditionen zu vereinbaren sei, da es sich bei der Allgemeinen Menschenrechtserklärung um ein westliches und modernes Konzept handle.
Wo die Ablehnung der Menschenrechtsidee in ihrem Gesamt oder in einzelnen Punkten durch einen Rückgriff auf die Religion geschieht und diese als Abwehrmechanismus universeller Menschenrechte fungiert, ist es notwendig zu klären, ob die jeweilige Religion nicht aus ideologischen Gründen zur Verhinderung der Durchsetzung von Menschenrechten instrumentalisiert wird. Denn Menschenrechte »sind immer auch Stachel im Fleisch einer Kultur, welcher die eigenen Traditionen und Gewohnheiten angenehm geworden sind«1. Entscheidend ist also die Frage, ob die behauptete Nicht-Kompatibilität von Menschenrechten mit der eigenen Kultur und Religion tatsächlich in bestimmten Lehrgehalten gründet oder ob es sich bei den als unveränderbar postulierten religiösen Werten, die mit den Menschenrechten im Konflikt stehen, nur um kulturelle Normen handelt, die religiös legitimiert werden.
Zur Klärung dieser Fragen ist es notwendig, als Erstes das Menschen- und Weltbild der Religionen, wie es in den jeweils heiligen Schriften formuliert wird, zu beleuchten. Da religiöse Lehren jedoch immer auch durch die Tradition interpretiert wurden, gilt es ferner, deren Auslegungen, Darstellungen und Weiterentwicklungen zu untersuchen. Wo es zu Konflikten zwischen religiösen Normen und Menschenrechten in den traditionellen Systemen kommt, ist es wichtig, alternative Auslegungsformen religiöser Grundanschauungen zu Wort kommen zu lassen, die eine Versöhnung der jeweiligen Religion mit den Menschenrechtsgedanken ermöglichen.
Ein besonderer Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf den sogenannten Menschenrechten der ersten Generation, d.h. den klassischen Freiheits- und Abwehrrechten, da diese auf den Schutz der Würde des Menschen abzielen. Weil diese Rechte oftmals ›Männerrechte‹ waren und sind, ist ferner zu untersuchen, in welcher Weise Religionen Menschenrechte auch als Frauenrechte verstehen bzw. welche Argumentationen vorgebracht wurden und werden, um Frauen diese Rechte vorzuenthalten. Die Stellung der Frau und ihrer Rechte in den religiösen Systemen kann als ein Gradmesser der Verwirklichung von Menschenrechten in den jeweiligen Religionen gelten. Wo Frauen unter Bezugnahme auf religiöse Normen, Werte, Traditionen fundamentale Rechte, sei es im religiösen oder gesellschaftlichen Bereich, vorenthalten werden, die Männern selbstverständlich zustehen, kann nicht von einer echten Akzeptanz und Verwirklichung der Menschenrechte als universellen Rechten gesprochen werden. Dass die Verletzung fundamentaler Menschenrechte von Frauen bis heute oftmals nicht als Menschenrechtsverletzung wahrgenommen wird2, hängt damit zusammen, dass sie sich in der Regel nicht im staatlichen, sondern im familiären und privaten Bereich ereignet, wozu eben auch ein großer Teil der religiösen Sphäre zählt.
A
GESCHICHTE DER MENSCHENRECHTE
1 Geistesgeschichtliche Grundlagen der Menschenrechtsidee
Zwei Aspekte der philosophisch-theologischen sowie juristischen Tradition des Abendlandes hatten entscheidenden Anteil an der Entwicklung universeller Menschenrechtskataloge: die Idee der Gleichheit aller Menschen aufgrund der menschlichen Natur, die entweder in seiner Schöpfung durch Gott oder in seiner Vernunfthaftigkeit grundgelegt gesehen wurde, und die Vorstellung von einem ewigen Naturrecht, das unabhängig von menschlichem, d.h. gesatztem Recht ist. »Das Naturrecht versucht, die Menschenrechte aus dem Wesen des Menschen heraus zu begründen. Dem Menschen werden als solchem, aufgrund der Tatsache, daß er ein Mensch ist, aufgrund seiner Natur, bestimmte unveräußerliche Rechte zugesprochen. Diese Rechte haben vorstaatlichen Charakter, ihre Begründung muß demnach unabhängig vom positiven Recht und jeglicher bereits existierender Gesellschaft erfolgen.«1 Beide Aspekte waren aufs Engste miteinander verbunden. Aufgrund seines Menschseins wurden dem Menschen bestimmte Rechte zugesprochen, die nicht von einem Staat oder Herrscher verliehen wurden. Auch wenn diese Gedanken herrschaftspolitisch mehr als 2500 Jahre bis zu ihrer Realisierung benötigten, so waren sie im Abendland in der griechischen Antike bei verschiedenen Philosophen schon vorgedacht worden.
1.1 Die Würde des Menschen
Die Idee der Gleichheit aller Menschen, die meist mit dem Konzept einer jedem Menschen innewohnenden Würde verknüpft war, äußerte sich im Abendland philosophisch betrachtet zum ersten Mal in gehäufter Form in der kynischen und stoischen Philosophie. Die stoische Ethik mit ihrer Betonung der Menschenliebe beeinflusste u.a. das entstehende Christentum, welches seinerseits den Gedanken der menschlichen Würde mit der biblischen Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verband.
Der Gedanke eines universal gültigen Gesetzes, das durch kein menschlich verfasstes Gesetz aufhebbar ist, trat in der abendländischen Tradition durch den griechischen Tragödiendichter Sophokles ins öffentliche Bewusstsein. Von da an etablierte sich dieser Gedanke in der folgenden Zeit in immer mehr philosophischen Traditionen. Beide Aspekte, der Gedanke der Gleichheit aller Menschen und die Vorstellung eines durch keine menschliche Autorität aufhebbaren Naturgesetzes, sowie deren Bearbeitung und Weiterentwicklung durch die unterschiedlichsten theologischen und philosophischen Traditionen, bildeten letztlich den Grund und Boden für die konkrete Formulierung von unveräußerlichen, menschlichen Rechten, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 niedergelegt sind. Für die Entwicklung der Menschenrechtsidee gilt daher: »Kein historischer Vorgang und kein ideengeschichtlicher Denkansatz können die Entstehung und den Durchbruch der Menschenrechtsidee ausschließlich für sich okkupieren und die alleinige Urheberschaft beanspruchen.«2 Dies gilt letztlich auch für die europäische Geistesgeschichte selbst, die die Menschenrechtsvorstellungen zwar kodifizierte, keinesfalls aber als Urheber ihrer einzelnen Gehalte gelten kann.3
1.1.1 Die Notwendigkeit der Unbedingtheit der menschlichen Würde
Die Idee der Menschenrechte gründet in der Vorstellung der Unverletzbarkeit der menschlichen Würde.4 Traditionell wurde diese Würde als eine jedem Menschen innewohnende Wesenheit gesehen.5 »Der Mensch hat einen Eigenwert, der seine Würde ausmacht. Dieser Wert ist angeboren in dem Sinn, daß er jedem Lebewesen, das als Mensch auf die Welt kommt, als von seinem Menschsein unabtrennbare Qualität zu eigen ist, die zu seinem Wesen gehört und nicht durch besondere Fähigkeiten oder Leistungen erworben ist […].«6 Demnach kann niemand und nichts die menschliche Würde aufheben. Würde kommt jedem Menschen ausschließlich qua seines Menschseins zu, unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner ethnischen Abstammung, seiner Religion, seinem Geschlecht, seinen Überzeugungen und Handlungen. Keinem Menschen kann jemals diese Würde abgesprochen werden; auch dem nicht, der sie anderen raubt. Selbst Massenmörder und Kriegstreiber verlieren sie nicht, was nicht bedeutet, dass sie für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden können, doch darf die Strafe nicht ihre Würde tangieren.
Die Unverfügbarkeit der Würde gilt aber auch für Menschen, die zeitweise oder dauerhaft nicht über die Fähigkeit verfügen, die gemeinhin den Menschen vom Tier unterscheidet: das Selbstbewusstsein. Denn jegliche Bindung der menschlichen Würde an die aktuelle Fähigkeit, sich seiner selbst bewusst zu sein, wirft im Falle ihres zeitweisen oder dauerhaften Verlustes wieder die Frage nach der Unverfügbarkeit der menschlichen Person auf. Macht nur die aktuelle Fähigkeit des Selbstbewusstseins den Menschen zum Menschen, dann wäre weder ein Koma-Patient noch ein Demenzkranker, ein schwer geistig Behinderter, ein im Rausch Befindlicher oder im extremen Fall ein schlafender Mensch ein Mensch.
Die Überzeugung, dass die Würde der Person nicht im Aktual-, sondern im Potenzialzustand des Menschseins wurzelt, wurde und wird jedoch immer wieder in Zweifel gezogen. Wie problematisch eine Ethikbegründung ist, die beim Aktualzustand ansetzt, zeigt das Beispiel des prominentesten Bestreiters einer absolut unverlierbaren menschlichen Würde, Peter Singer.7 Der australische Philosoph stimmt zwar mit der Tradition darin überein, Lebewesen in drei Kategorien einzuteilen: unbewusste, bewusste und selbstbewusste. Zur untersten gehören die nicht-bewussten Lebewesen (Pflanzen, niedere Tiere), zur mittleren solche mit Bewusstsein (höhere Tiere), zur obersten die mit Selbstbewusstsein. Aber trotz dieser Differenzierung akzeptiert Singer Selbstbewusstsein nicht als Kriterium einer größeren Werthaftigkeit des Lebens.8
Was Singer zudem von der Tradition unterscheidet, ist die Tatsache, dass er Wesen nur entsprechend ihres Aktualzustandes in eine dieser Kategorien einteilt. Konkret bedeutet dies, dass ein Mensch, wenn er z.B. durch eine angeborene kognitive Behinderung oder durch eine krankheitsbedingte Veränderung nicht mehr über die Fähigkeit des Selbstbewusstseins verfügt, nicht zur obersten Kategorie gehört. Der Mensch ist nicht Person, weil er zur Gattung Mensch gehört, sondern weil er aktuell über ein Selbstbewusstsein verfügt. Wo dies nicht der Fall ist, gehört der Mensch nur zur biologischen Gattung ›homo sapiens‹, die streng unterschieden wird von der mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Kategorie ›Person‹.9 Personsein ist unabdingbar mit der Fähigkeit des Selbstbewusstseins verbunden, nicht aber mit der Zugehörigkeit zur Gattung ›homo sapiens‹. Tiere, die über ein Selbstbewusstsein verfügen, wie z.B. Schimpansen, sind dementsprechend auch Personen.10
Gemäß dieser Definition, wonach nicht die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch das ›Personsein‹ des Menschen ausmacht, sondern nur sein aktueller und faktischer Zustand, gelten Koma-Patienten, Demenzkranke etc. nicht als Personen. Letztlich steht nach Singers Ansicht jedes gesunde Säugetier über einem schwer hirngeschädigten Menschen: »Menschenaffen, kleinere Affen, Hunde, Katzen und selbst Mäuse und Ratten sind intelligenter, haben ein stärkeres Bewußtsein von dem, was mit ihnen geschieht, und sind schmerzempfindlicher usw. als viele schwer hirngeschädigte Menschen, die in Krankenhäusern und anderen Institutionen nur gerade noch überleben. Es scheint keine moralisch relevanten Eigenschaften zu geben, die solche Menschen besäßen, während nichtmenschliche Lebewesen sie entbehrten.«11
Aus der Tatsache, dass diese Menschen aktuell nicht über bestimmte moralische Fähigkeiten verfügen, die normalerweise eine Person über eine Nicht-Person erhebt, folgert Singer, dass diese Menschen also auch nicht über weiter reichende Rechte als Tiere verfügen. Doch wie verhält es sich mit schlafenden, narkotisierten oder im Rauschzustand befindlichen Menschen? Auch sie verfügen aktuell kaum über Selbstbewusstsein. Darf man sie zu medizinischen Zwecken gebrauchen oder sie sogar töten? Singer kann diese Möglichkeiten nur mit präferenzutilitaristischen Argumenten abweisen, die allerdings auf tönernen Füßen stehen.
Singers Vorwurf, dass es eine anthropozentrische Gattungsarroganz sei, den Menschen nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung ›Mensch‹ über andere Lebewesen zu stellen,12 trifft so jedoch nicht zu, da der Mensch eben nicht nur ein Natur-, sondern auch ein Geistwesen ist, selbst dann, wenn er aktuell diese Fähigkeit nicht besitzt.13 Zwischen einem Menschen und einem Tier besteht eben nicht nur ein gradueller Unterschied, weil der Mensch höher entwickelt ist, sondern ein wesenhafter, der in der Fähigkeit des Menschen zur Selbsttranszendierung liegt.14 Aufgrund seines biologistischen Welt- und Menschenbildes erkennt Singer jedoch keinen wesenhaften Unterschied zwischen Tieren und Menschen an. Der Mensch ist für ihn nur eine höher entwickelte Spezies im Naturreich. Damit entzieht Singer allerdings seiner Ethik jegliche Begründungsmöglichkeit, da die Natur keine Ethik benötigt. Auch wenn Singers Anliegen, die Stellung der Tiere zu heben 15, und seine Kritik am Umgang mit Tieren mehr als berechtigt ist, gibt es keinen zwingenden Grund, die Würde des Menschen nur an dessen aktuelle Fähigkeit des Selbstbewusstseins zu koppeln.
Dass der Respekt vor dem Leben von Tieren nicht auf Kosten der Würde des Menschen gehen muss, zeigt z.B. die buddhistische Ethik, die nicht nur Tiere, sondern sogar Pflanzen als schützenswert betrachtet.16 Zwar hat kein Wesen im Kosmos eine so herausragende Stellung wie der Mensch, weil nur er aufgrund seiner ethisch-vernunfthaften Fähigkeiten zur Erlösung gelangen kann, aber dennoch hat er kein Recht, sich über andere Wesen zu erheben und diese zu schädigen, da alles Existierende in einem Beziehungsgeflecht steht. So heißt es im Sutta-Nipāta: »Kein atmendes Wesen soll er töten oder töten lassen | Und billige es nicht, wenn andere töten. | Er lasse von Gewalt bei allen Lebewesen, | Bei starken und bei schwachen in der Welt.«17 Und zwar deshalb, weil alle Wesen an ihrem Selbst bzw. an ihrem Leben hängen. Kein Wesen liebt das Leid, deshalb soll man keinem Wesen Leiden zufügen, unabhängig davon, ob es sich um ein Tier oder einen Menschen handelt. Die Fähigkeit, Schmerz und Leid zu empfinden, ist Grund genug, ein Wesen nicht vorsätzlich zu schädigen, auch wenn Buddha keinen Zweifel daran lässt, dass der Mensch über dem Tier steht.
Der Einsicht in die Notwendigkeit des Postulats der generellen Unverletzbarkeit der menschlichen Würde in jeder Lebenssituation und ihres Schutzes durch die Menschenrechte ging ein langer Kampf voraus, der bis heute noch nicht beendet ist. Ohne die Akzeptanz einer allen Menschen innewohnenden Würde, die allerdings nicht mit der Annahme eines Seelenkerns verbunden sein muss, sind Menschenrechte als individuelle Freiheitsrechte, die jedem Menschen zu jeder Zeit an jedem Ort zustehen, kaum begründbar. Eine sinnvolle Begründung kann letztlich nur auf einer naturrechtlichen Argumentation beruhen,18 denn weder Empirie noch religiöse Systeme, die auf Glaubenssätzen basieren, können hierfür eine letzte Fundierung bieten.19
Religiöse Systeme können keine allgemeinverbindliche Begründung leisten, weil ihre Anschauungen, so sie nicht auf einem vernunfthaft-einsichtigen Fundament ruhen, Glaubenssache sind. Wer ein bestimmtes Glaubenssystem nicht akzeptiert, wird kaum von der Gültigkeit von dessen Normen zu überzeugen sein. So ist zwar die Verbindung von Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der jüdisch-christlichen Tradition innerhalb dieses religiösen Kontextes durchaus möglich, sie kann aber keine universelle Begründungsnorm für alle darstellen, denn dies würde voraussetzen, dass jeder Mensch von dem diesem System zugrunde liegenden anthropologischen Konzept überzeugt ist, was jedoch nicht der Fall ist. »Das christliche Menschenrechtsverständnis sollte in der Tat in den weltweiten Diskurs um Menschenrechte eingebracht werden. Es darf sich jedoch nicht anheischig machen, die Basis eines universal verbindlichen Menschenrechtskatalogs zu bilden. Ein ›christlicher‹ Katalog von Menschenrechten hat Bedeutung für die Frage nach Sinn und Gestalt eines Grundrechtsteils in Kirchenverfassungen, er kann jedoch aus mehreren Gründen nicht die Basis einer für alle Menschen verbindlichen Menschenrechtserklärung abgeben. Denn eine solche Erklärung darf (1) schon von ihrer Intention her nicht auf partikularen Überzeugungen aufbauen […] Sie hat […] (2) den Drang nach rechtlicher Implementierung in sich. Ein juristisch relevanter Text muß jedoch begründungsoffen formuliert sein. (3) Aus spezifisch christlicher Sicht verschärfen sich diese Argumente noch. Denn gerade der oben genannte Respekt vor den anderen Menschen verbietet, die eigenen Überzeugungen auch für andere verbindlich zu machen.«20
Die Empirie kann ebenso wenig wie religiöse Systeme eine echte Begründung bieten, weil ethische Normen eine transempirische Basis benötigen, so sie nicht in die Unverbindlichkeit und Beliebigkeit abrutschen wollen. 21 Empirische und faktische Tatbestände sagen eben noch lange nichts über den Wert einer Sache aus. Hier wird vom Sein auf das Sollen geschlossen. Es gilt die Normativität des Faktischen. Man könnte fast von einem empiristischen Fehlschluss sprechen.22 Weil etwas in einer Gruppe, Gesellschaft, Kultur so praktiziert wird, deshalb soll es auch sein. »Überzeugungen, die kulturell überliefert und dem Einzelnen im Laufe seiner Sozialisation als bewährte Grundwahrheiten sozialen Lebens in bestem Glauben der Erziehenden zur Orientierung in der Gesellschaft mitgegeben werden, sind voll von Werturteilen, die scheinbar naturgegebene, jedoch oftmals sozial oder historisch bedingte Lebensumstände und Konventionen umschreiben.«23 Umgekehrt formuliert, artikuliert sich dieser Fehlschluss im Kontext der Menschenrechtsdebatte dahingehend, dass er den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte bestreitet, mit der Begründung, dass sie weltweit nicht eingehalten werden. Deren faktische Missachtung und Verletzung wird zum Argument gegen das ›Sein-Sollen‹ ihrer Existenz.
Thomas Göller spricht in diesem Kontext von der Notwendigkeit einer »subjekttheoretischen Wende«24 zur Begründung der menschlichen Würde, die »kulturphilosophisch relevant und interkulturell tragfähig ist«25. Diese meint nichts anderes, als anzuerkennen, dass der Mensch die letzte Geltungskompetenz aller seiner Aussagen ist. Der alte ›homo-mensura-Satz‹ in neuem Gewande. Und das sollte niemanden trotz der jahrtausendealten Polemik gegen diesen Satz abschrecken, denn Protagoras sprach mit ihm eine sehr fundamentale Wahrheit aus: Wir haben kein anderes Kriterium zu Bewertung von Wahr und Falsch als das menschliche Denken.26 Dieses kann nämlich, bedingt durch seine Reflexionsfähigkeit, über das rein Bedingte auf das Unbedingte hin reflektieren. Kultur, Gesellschaft etc., die den Menschen prägen und bestimmen, sind ohne den Menschen als diese prägende und bestimmende Größe eben selbst nicht denkbar. »Das Subjekt ist die für das eine wie für das andere zugrunde liegende und verbindliche Instanz. […] Genau durch diese Geltungskompetenz sowie durch die damit implizierte Geltungsverantwortung ist, epistemologisch gesehen, die Würde des Menschen bestimmt; sie konstituiert seine Dignität als Subjekt.«27 Da sich diese Geltungskompetenz in verschiedenen Lebensvollzügen, aber auch in verschiedenen Kulturen manifestiert, manifestiert sich menschliche Würde wiederum in den verschiedenen Kulturen. Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass es »individuelle bzw. faktische und kulturelle Besonderheiten gibt, die der kulturellschöpferischen Potenz eines Einzelnen und der kulturellen Gestaltung eines Kollektivs […] manchmal enge Grenzen setzen«28. Der hier vorgelegte Begriff der menschlichen Würde versteht sich expressis verbis als normativer und nicht als empirisch-deskriptiver.
1.1.2 Der Gedanke der Menschenwürde in der abendländischen Tradition
Wenn man nach einer Begründung für die Annahme einer dem Menschen innewohnenden Würde sucht, so wird man in der Antike zwei Antwortkonzepte antreffen: das der orientalisch-jüdisch-christlichen Tradition und das der griechisch-paganen, welches wiederum auf das orientalisch-jüdisch-christliche einwirkte. Im ersten sah man die Würde des Menschen in seiner Gottesebenbildlichkeit begründet,29 im pagan-hellenistischen in seiner Logoshaftigkeit und im Naturrecht. Dass sich Gottesebenbildlichkeit und Logoshaftigkeit ergänzen, zeigte nicht nur die jüdische Theologie eines Philon von Alexandrien und die der christlichen Kirchenväter, dies demonstrierten schon die alten griechischen Philosophen, die Gott als reine Vernunft bzw. als reinen Geist (Nous/Logos) bestimmten, an dem der Mensch durch seinen Logos oder Nous Anteil hat.
So betonte bereits Platon die Unsterblichkeit und gewissermaßen die Würde der Seele aufgrund ihrer Schöpfung durch den Demiurgen selbst.30 Wenn Platon dennoch nicht alle Menschen als gleichwertig betrachtet, dann hängt dies mit seiner Seelenlehre zusammen, der gemäß jeder Mensch aus drei Seelenteilen besteht,31 wobei er aber immer nur einem seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet und dementsprechend lebt. Wer nur dem triebhaften Teil der Seele folgt, lebt eigentlich wie ein Tier und nicht wie ein Mensch. Durch seine Lebensform bestimmt der Mensch sein Schicksal, d.h. sein nächstes Leben, selbst. Niemand wird zu einem vernunftlosen, triebhaften Leben gezwungen oder ist dazu vorherbestimmt. »Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.«32 Ein wahrhaft gutes Leben wählt nur der, der sich der Philosophie zuwendet, denn nur er bemüht sich um die Erkenntnis des Unsterblichen, Unvergänglichen, Wahren und Schönen. Zum Tagelöhner wird z.B. der, der zu schwach ist, den edlen Seelenteilen zu folgen.33 Sein Wesen ist daher von niederer Natur als das des Philosophen. Damit war aus griechischer Sicht die Sklaverei zu rechtfertigen.
Sklaverei war für Platon wie für Aristoteles – wie aber auch für die gesamte orientalische Kultur – etwas Selbstverständliches. Aristoteles begründet die Sklaverei damit, dass es Menschen gebe, die von Natur aus zum Sklavendasein bestimmt seien.34 Gegen diese Ansicht erhob sich aus den Reihen des Kynismus und der Stoa heftiger Protest. So heißt es bei dem römischen Stoiker Seneca: »Dieselben Anfänge haben alle und denselben Ursprung; niemand ist vornehmer als der andere, außer wenn er eine aufrechtere und zum guten Handeln fähigere Anlage besitzt. […] Alleiniger Erzeuger aller ist die Welt; auf sie wird der erste Ursprung eines jeden, ob über glänzende oder über unansehnliche Stufen, zurückgeführt.«35 Kynismus und Stoa hatten wie Platonismus und Aristotelismus ihre Wurzeln in der sokratischen Philosophie, doch zogen sie aus der sokratischen Lehre gänzlich andere Schlüsse, was das gesellschaftliche Leben anbelangte. Nicht mehr die Polis, sondern der Kosmos war der Ort ihres Daseins. So antwortete der berühmte kynische Philosoph Diogenes von Sinope dann auch auf die Frage, wo er herkäme, er sei ein Weltbürger, ein Kosmopolit.36
Diese kosmische Dimension bestimmte die Ethik der Kyniker und Stoiker, die nicht nur die Sklaverei ablehnten, sondern den bei Platon bereits geäußerten Gedanken des Naturrechts aufgriffen und ausarbeiteten. Für die Stoa war der Urgrund der Welt das Urpneuma, das sie auch als Gott oder Logos bezeichneten. Dieses Pneuma ist allerdings nicht geistiger, sondern quasi materieller Natur. Weil die gesamte Natur von diesem durchdrungen und gestaltet wird, ist folglich alles mit allem irgendwie verbunden. Alles Seiende hat gemäß seiner Entwicklungsstufe auf unterschiedliche Weise an diesem Pneuma Anteil. »Die höchste nur endzweckhafte Stufe des Seins ist dort erreicht, wo das Pneuma zum Logos sich verdichtet.«37 Dies ist im Menschen der Fall. Der Mensch partizipiert daher, weil seine Seele wesenhaft vernünftig ist – der oberste Teil der Seele, das Hegemonikon, ist reiner Logos -, an der ewigen Weltseele, dem ewigen Logos. Die Forderung der Stoiker, naturgemäß zu leben, bedeutete nichts anderes, als entsprechend dieser Vernunft zu leben.
Aufgrund der Teilhabe aller Menschen an der Weltseele haben auch alle Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte. Aus dieser ursprünglichen Gleichheit aller Menschen leiteten die Stoiker das Gebot der universalen Menschenliebe ab, die zu einer der stoischen Grundtugenden wurde und von der christlichen Tradition fortgesetzt wurde. Die Würde des Menschen wurde von der Stoa durch die Teilhabe aller an der kosmischen Vernunftseele begründet.
Über die praktischen Konsequenzen der Lehre von der allgemeinen Menschenliebe in der Stoa gehen die Meinungen jedoch auseinander. Es lassen sich innerhalb der römischen Rechtstraditionen durchaus gewisse Einflussgrößen der stoischen Lehren erkennen. Die Differenzierung zwischen individualstaatlichem und universalem Völkerrecht war ein Resultat der stoischen Naturrechtslehre. So vertrat der römische Jurist Gaius in seinen ›Institutiones‹ die Ansicht, dass es neben dem bürgerlichen Recht, das bei allen Völkern verschieden sei, ein gemeinsames Recht aller Menschen (ius gentium) gebe, weil es von der natürlichen Vernunft gesetzt sei und deswegen auch von allen verstanden und erkannt werden könne. Auch wurden im Römischen Reich im Lauf der Jahrhunderte einige Gesetze erlassen, welche die Stellung der Sklaven und Frauen etwas verbesserten. Doch insgesamt betrachtet, war die praktische Umsetzung des Naturrechtsgedankens eher unbedeutend.
Ein entscheidender Schritt hin zur Postulierung allgemein verbindlicher Rechte eines jeden Menschen in dieser Welt geschah erst durch den Humanismus und die Aufklärung. Zwar gab es bereits im ausgehenden Mittelalter immer wieder Ansätze, welche die Gleichheit aller Menschen betonten und damit das streng hierarchische Herrschaftsgefüge des Mittelalters negierten, doch bildeten diese eine absolute Außenseiterposition. Unter diese Kategorie fallen der im 13. Jh. in Frankreich verfasste ›Roman de la Rose‹38, der die natürliche Gleichheit aller Menschen betont, oder der ›Sachsenspiegel‹39, der gegen die Leibeigenschaft argumentiert. Das mittelalterliche Menschenbild, das die Theologie vertrat, war noch zu sehr durch die Erbsündenlehre geprägt und verdunkelt, sodass eine positive Würdigung des Menschen und die Zuschreibung unveräußerlicher Rechte für jeden in diesem irdischen Dasein nicht zur Debatte standen. Der Sündenfall des Menschen wurde zur Rechtfertigung des hierarchischen Gesellschaftssystems ebenso herangezogen wie zur Rechtfertigung der Sklaverei. Freiheit und Gleichheit waren keine politisch-sozialen, sondern ausschließlich metaphysische Kategorien, die erst im Jenseits Gültigkeit haben sollten.
Der Humanismus hingegen vertrat ein verändertes Menschenbild, das nicht mehr unter dem Verdikt der Erbsündenlehre stand.40 »Die mittelalterliche Lehre des fundamentalen Erlösungsbedürfnisses des Menschen wird verlassen, und es zeigt sich eine auffallende Relativierung der Erbsündenlehre.«41 Durch dieses geänderte Menschenbild trat nun wieder mehr der Aspekt der unveräußerlichen menschlichen Würde in den Vordergrund. Einer der kühnsten Denker diesbezüglich war der Niederländer Wessel Gansfort (1419-1498), der die Erbsündenlehre für eine verängstigte Torheit hielt, da Gott nur auf die vom Menschen individuell begangenen Sünden achte und nicht auf die, die andere in der Vergangenheit begingen.42 Für Gott zählt nur der aktuelle Augenblick. Vergangene Sünden haben für ihn keine Bedeutung mehr. Gansfort vertrat damit eine Position, die schon der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart lehrte. Damit leugnete Gansfort nicht die Sündhaftigkeit des Menschen als solche, sondern es ging ihm darum zu betonen, dass trotz der Sünde die ursprüngliche Vollkommenheit der Gottesebenbildlichkeit in weiten Zügen erhalten geblieben sei.
Ähnliches vertrat der andere große holländische Humanist, Erasmus von Rotterdam (1466-1536). Auch er betrachtete die mittelalterliche Erbsündenlehre als eine Übertreibung, was ihn nicht nur in scharfe Opposition zu Luther, sondern auch zur katholischen Kirche brachte, die zwar gegen Luther immer den freien Willen verteidigte, diesem in der Praxis jedoch keinen Raum ließ, da der Mensch auch nach katholischer Lehre völlig unter dem Einfluss des Bösen stand. Die Erbsünde ist für Erasmus zwar existent und macht sich in drei Aspekten bemerkbar, der Verblendung, der Leiblichkeit und der Schwachheit des Menschen, aber sie hat nicht die Bedeutung wie in der offiziellen Theologie der Kirche. Zur Erbsünde tritt noch die Aktualsünde des Menschen hinzu. Gegen beide, d.h. gegen ihre Folgen, muss der Mensch beständig ankämpfen.
Was Erasmus’ Sündentheologie aber von der Luthers oder Augustinus’ unterschied, war der Glaube, dass die Gottesebenbildlichkeit nicht so weit zerstört sei, dass der Mensch nicht doch aus eigener Kraft etwas tun könnte. Erasmus bestritt weder die fatale Wirkung der Sünde noch die Notwendigkeit der göttlichen Gnade zur Wiederherstellung der Willensfreiheit, doch sah er die Willensfreiheit des Menschen auch im Zustand der Sünde als gegeben an.43 Er erkannte die Problematik einer reinen Prädestination, die jegliche Ethik und Anstrengung des Menschen ad absurdum führt und damit unterminiert. »Wo aber reine und ewige Notwendigkeit ist, da kann weder Verdienst noch Schuld sein.«44
Zudem lässt sich der Gedanke der Vorherbestimmung des Menschen nicht mit der Lehre vom barmherzigen Gott vereinbaren. Glaube und Liebe an und für Gott hochzuhalten, ist legitim, aber es darf nicht auf Kosten des freien Willens geschehen. »Man hätte sich jedoch davor hüten sollen – während man sich zum Lobe des Glaubens einsetzte -, die Willensfreiheit umzustoßen, da, wenn dies geschieht, nicht einzusehen ist, auf welche Weise das Problem der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes gelöst werden könnte.«45 Wenn der Mensch keinerlei Wahlmöglichkeit hat, dann ist er auch nicht für das Böse, das er tut, verantwortlich. Die Konsequenz dieser Ansicht ist die, dass Gott selbst das Böse im Menschen wirkt: »eine Aussage, die ein frommer Mensch nicht anhören kann, ohne im tiefsten zu erschauern«46.
Erasmus erkannte die Motivation der Willensleugner durchaus an, da sie gegen eine falsche Werkgerechtigkeit und Übermütigkeit des Menschen argumentierten und deswegen Gnade und Heil so stark betonten. Aber mit ihrer Überbetonung erdrosselten sie den freien Willen und brachten sich selbst in unlösbare Schwierigkeiten. Aus diesen Schwierigkeiten kann man sich dann nur noch wie Lorenzo Valla (1407-1457) retten, indem man erklärt, dass die Lösung für alle daraus resultierenden Fragen, wie z.B. die der Vereinbarkeit der Gutheit Gottes mit der Beraubung der menschlichen Willensfreiheit, gleichsam wie in einer geheimen Schatzkammer verborgen sei, in die der Mensch nicht eindringen könne.47
Ein weiterer Humanist, der die Würde der Person gegen die Erbsünde verteidigte, war der Italiener Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494). Pico betonte besonders die Willensfreiheit des Menschen, die er als von Gott verliehen sah und mittels derer der Mensch sich für das Gute oder das Böse entscheiden kann. Gott schuf den Menschen als ein Wesen, das an den Eigenschaften aller schon geschaffenen Wesen teilhat. So wie Gott dem Menschen keinen festen Ort zugewiesen hat, so auch keine beschränkte, festgelegte Natur. »Keinen festen Ort habe ich dir zugewiesen und kein eigenes Aussehen, ich habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, da du, Adam, den Ort, das Aussehen, die Gaben, die du dir wünschst, nach eigenem Willen und Ermessen erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben habe. Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen. […] Ich habe dich nicht himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der von dir gewollten Form herausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum Tierischen, entarten; du kannst, wenn du es willst, in die Höhe, ins Göttliche wiedergeboren werden.«48 Diese Freiheit des Menschen verleiht ihm seine Würde.
Die Entscheidung für ein gutes und damit ethisches Leben trifft der Mensch aus freiem Willen. Der Mensch kann wie ein Tier leben oder er kann ein Leben gemäß dem Verstand führen, dann wird er ein himmlisches Lebewesen. Und wenn er »sich zurückzieht auf das Zentrum seiner selbst und so mit Gott ein Geist wird im einigen dunklen Grund Gottes des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, so wird er über allen Dingen stehen«49. Pico ließ auch keinen Zweifel daran, dass er es für möglich hielt, dass der Mensch mit Gott ein Geist wird. 50 Dazu muss der Mensch mittels Ethik seine Affekte bändigen, dann durch die Dialektik die Finsternis des Verstandes zerstreuen, auf dass die so gereinigte Seele durch die Erkenntnis der göttlichen Dinge zur Vollkommenheit gelangt.51 Dass Pico hier nichts Neues lehrte, sondern auf die Lehren der Platoniker, Neoplatoniker, der christlichen Wüstenväter und Mystiker zurückgriff, betonte er selbst in seiner Schrift.
»Die für den Humanismus charakteristischen Elemente, wie etwa die optimistische Anthropologie und der religiöse Neutralismus, markieren die Wende des theozentrischen zum anthropozentrischen Denken.«52 Dass dieses neue Menschenbild aber gesellschaftlich noch keine Relevanz hatte, zeigt die Geschichte des 16. und 17. Jh., die weiterhin durch die Kirche bzw. die Kirchen bestimmt war, denn auch Luther (1483-1546) und die Seinen standen diesbezüglich ganz in der katholischen Tradition. Vielleicht hing es mit Luthers tiefer Überzeugung der vollkommenen menschlichen Verderbtheit durch die Erbsünde zusammen, dass er zu keiner negativen Bewertung der Leibeigenschaft kam, sondern gegen all jene polemisierte, die gegen diese vorgingen. Als Sebastian Lorzer, Kompilator der zwölf Artikel der schwäbischen Bauernschaft, die Ansicht vertrat, die Leibeigenschaft sei räuberisch und damit wider den Geist des Evangeliums, erwiderte Luther, räuberisch sei es, den Besitzern der Leibeigenen diese entziehen zu wollen; ferner sei die Leibeigenschaft durch das Alte Testament gerechtfertigt, weswegen eine Auflehnung dagegen letztlich eine Auflehnung gegen Gott bedeute. Ein weiterer Aspekt war die starke Spiritualisierung des Freiheits- und Gleichheitsgedankens, der schon in der alten Kirche festzustellen war. Die Freiheit eines Christenmenschen war eben keine materielle, sondern eine ideelle in und vor Gott.
Erst mit der Aufklärung und der sich verstärkt durchsetzenden Trennung von Staat und Kirche kamen die im Humanismus vorgedachten Ideen langsam gesellschaftlich zum Tragen.53 Mit Beginn des 19. Jh. kam es in Europa immer öfter zu Resolutionen und letztlich zur Verabschiedung staatlicher Akten, die die Abschaffung der Sklaverei zum Inhalt hatten.54 Einer der wichtigsten kirchlichen Protagonisten der Antisklavereibewegung im 19. Jh. war der französische Kardinal und Gründer des Ordens der ›Weißen Väter‹ und der ›Weißen Schwestern‹ Charles-Martial-Allemand Lavigerie (1825- 1892). Er, wie alle kirchlich engagierten Bekämpfer der Sklaverei, sah in ihr eben nicht eine Strafe infolge des Sündenfalls und hielt sie deswegen nicht für etwas Gottgewolltes, sondern für eine menschliche Institution, die abzuschaffen sei.
Der bedeutendste Denker des 18./19. Jh., der philosophisch den entscheidenden Beitrag zur Begründung der Unverletzlichkeit der menschlichen Würde leistete, war Immanuel Kant (1724-1804). Sein Verdienst bestand in der Betonung des Selbstzwecks des Menschen. »Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.«55 Dieser Selbstzweck des Menschen, der frei ist von jeglicher Verfügung, ist in der Vernunft des Menschen begründet. Der Mensch kann mittels Vernunft nicht nur sein Verhalten und Tun autonom bestimmen, sondern es auch einer kritischen Prüfung unterziehen. Jedem Menschen kommt qua seiner Geburt eine unverletzliche Würde zu. Wer diese menschliche Würde verletzt, degradiert den Menschen in seiner Natur.
Zu Recht zeigte Kant, dass Würde unabhängig von Stand und Ehre eines Menschen ist. »Die universalistische Idee der Menschenwürde impliziert kritische Distanz gegenüber konventionellen Begriffen wie Ehre und Anstand, mit denen die Würde nicht verwechselt werden darf. Die Einsicht in die allgemeine Menschenwürde führt somit notwendig zur Kulturkritik.«56 Leider führt sie nicht zu einem Freisein vom Kulturchauvinismus. Blättert man ein wenig in Kants Vorlesungen zur ›Physischen Geografie‹, in denen er sich mit den Ländern, Völkern und Religionen des Ostens beschäftigte,57 so zeigt sich doch ein etwas anderes Gesicht des großen Königsbergers. Auf der einen Seite finden sich neutrale oder sogar positive Wertungen über die Kulturen des Ostens, auf der anderen Seite kann man auch lesen: »Die Inder (nämlich in Asien) haben eine Art von Selbstbeherrschung, geraten fast nie in Hitze. Doch haben sie starke Leidenschaften und tragen es nach. Sie nehmen alle bürgerliche Kultur an, sind aber keiner Aufklärung fähig. Sie haben ein Maß, über das sie nicht kommen. Ihre Religion bleibt unverändert. Sie haben wohl Künste, aber keine eigentlichen Wissenschaften. Als Bürger sind sie geduldig und gehorsam. Sie haben keine eigentlichen Begriffe von Ehre und Tugend. Denn dies setzt Geist und Genie voraus. Sie legen sich auf List und Ränke.«58
Und über die chinesische Kultur und Wissenschaft weiß Kant nun gar nichts Positives mehr zu berichten, was u.a. wohl eine Folge der zu seiner Zeit aufkommenden kritischeren Darstellung Chinas war. Als die jesuitischen Berichte über China im Europa des 17. Jh. bekannt wurden, entstand zunächst eine regelrechte Chinabegeisterung, die sich zu Kants Zeit jedoch schon deutlich abgeschwächt hatte. So kann man bei ihm über die Chinesen Folgendes lesen: »Ihre Moral und Philosophie ist weiter nichts als ein alltäglich Gemisch elender Regeln, die jedermann schon von sich weiß. Wollen wir die Frage aufwerfen, ob sie wohl sonst noch Wissenschaften haben?, so ist die Antwort: auch keine einzige; denn sie zählen ja selbst unter ihre Elemente das Holz […] Sie können es daher niemals in Wissenschaften weit bringen, zu denen man durch Begriffe gelangen kann.«59 Kants Einschätzung bezüglich aller östlichen Lehren wird im folgenden Zitat noch einmal deutlich: »Wollte Gott, wir wären mit orientalischer Weisheit verschont geblieben; man kann nichts daraus lernen, und die Welt hat niemals von ihnen als eine Art mechanischer Kunst, Astronomie, Zahlen etc. gelernt. Wenn wir schon okzidentale Bildung durch die Griechen hatten, so konnten wir in die orientalischen Schriften Verstand hineindenken, niemals aber haben sie durch sich selbst den Verstand aufgeklärt.«60 Damit soll nicht Kants Bedeutung für eine allgemeine Fundierung der Ethik geschmälert werden. Doch die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, auch auf diese Seite des kantischen Denkens hinzuweisen, das ihn als Kind seiner Zeit ausweist.
Das auf der Vernunftstruktur basierende ethische Handeln drückt sich laut Kant in deren Selbstgesetzgebung (Autonomie) aus, dem kategorischen Imperativ, der da lautet: »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«61 Damit formuliert er die allenthalben bekannte und anerkannte Goldene Regel um. »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Der kategorische Imperativ ist also nichts von außen Verordnetes, sondern ein autonomes Gesetz, da es nicht den Naturkausalitäten unterliegt. Jeder Mensch kann es nur in sich entdecken und erkennen, da es der Freiheit verbunden ist. Dass der kategorische Imperativ dennoch ein einheitlicher ist, hängt mit der Struktur der menschlichen Erkenntnis zusammen. Jeder Mensch, der seine Vernunft bemüht, wird zu dieser Einsicht gelangen. »Kant verbindet hier den Gedanken des Sittengesetzes mit dem der Selbstgesetzgebung oder Autonomie. Im kategorischen Imperativ impliziert ist also die Idee des Willens jedes Vernunftwesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens. Der gute Wille ist mithin einem Gesetz unterworfen, das er sich selbst gegeben hat. Ist der kategorische Imperativ der Maßstab des moralischen Handelns, so ist die Autonomie des Willens die Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns.«62 Der kategorische Imperativ ist letztlich eine rein formale Größe. »Jeder Mensch kann durch Analyse der Beurteilung seines Handelns zu dem Ergebnis kommen, daß seinen Handlungen Maxime [sic] zugrunde liegen, deren formale Struktur sie als Form einer allgemeinen Gesetzgebung aufweist.«63
Problematisch wird es bei Kant dort, wo er beginnt, den kategorischen Imperativ inhaltlich zu bestimmen. Hier gelingt es ihm nicht immer, zwischen universell gültigen Strukturen und kulturellen Werten und Normen zu unterscheiden. »Kants kategorischer Imperativ ist absolut universalistisch, doch die Beispiele, mit denen er dessen Geltung prüft, sind stets konkret und partikular.«64 Besonders deutlich wird dies bei seiner Begründung der Ablehnung des Selbstmordes.65 Dieser ist nach Kant nicht erlaubt, da man – wäre es ein allgemein gültiges Gesetz, dass ein des Lebens überdrüssiger Mensch dieses vernichten dürfe – die Natur gegen ihre Bestimmung, sich zu entwickeln und fortzubestehen, wenden würde. Was auf den ersten Blick plausibel klingt, erscheint bei einer genaueren Analyse nur als Ausdruck einer bestimmten sozio-kulturellen Norm und Wertung.
Woher wissen wir von der Zielgerichtetheit und Bestimmtheit der Natur, Leben zu erhalten? Weil Aristoteles es formulierte und die christliche Tradition ihm hierin folgte? Die Behauptung einer teleologischen Ausrichtung der Natur ist nichts anderes als eine metaphysische ex-post Interpretation bestimmter naturhafter Prozesse.66 Dieses Phänomen tritt bei mehreren Beispielen Kants in Erscheinung. »Kants Beispiele, vor allem sein notorisches Beispiel vom Verbot, aus Menschenliebe zu lügen (vgl. AA VIII, S. 423 ff.), lassen gelegentlich einen geradezu grotesken Mangel an Urteilskraft erkennen. Es hat den Eindruck, daß Kant die strenge Universalisierungsfähigkeit, in der sich die Unbedingtheit des moralischen Anspruchs darstellt, in starrunveränderliche Maximen hinein übersetzt, die die Unbedingtheit des Sittlichen in gleichsam zeitloser Reinheit repräsentieren soll.«67
Kants Verdienst besteht in der Differenzierung zwischen einer naturnotwendigen Kausalität und einem Akt der menschlichen Freiheit, Kausalketten anzustoßen (Kausalität aus Freiheit), und darin, die Verantwortung des Menschen als eines selbstsetzenden Wesens gegenüber einem nicht-vernünftigen, weil mechanisch ablaufenden Determinationsprozesses festzuhalten. So zeigt Kant, dass alles Transzendente nicht mehr in den Geltungsbereich der Empirie fallen kann. »Wo aber alle Bestimmung nach Naturgesetzen aufgehört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig, als Verteidigung, d.i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben, und darum die Freiheit dreist für unmöglich erklären.«68
Freiheit, die den kategorischen Imperativ ermöglicht, ist selbst nicht beweisbar, da ein Beweis nach kausalen Gesetzen erfolgt, Freiheit aber gerade das Freisein von diesen impliziert. »Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht nach einer möglichen Erfahrung, dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgendeiner Analogie ein Beispiel unterlegt werden mag, niemals begriffen oder auch nur eingesehen werden kann.«69 Ohne das Postulat der Freiheit kann es keine Autonomie und damit auch keine Würde des Menschen geben. Das Postulat der Freiheit basiert aber nicht auf einem reinen Wunschdenken des Menschen, sondern, so seltsam dies klingen mag, sie ist Bedingung einer jeglichen Erkenntnis. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Kausalität im Bereich des Naturhaften, ja überhaupt die Erkenntnis einer Kausalität kann nur dort erfolgen, wo keine Kausalität wirkt, ansonsten wäre es keine Erkenntnis.
Kant zeigt, dass es keine metaphysikfreie Begründung von geistigen Größen wie Autonomie, Würde, Sittlichkeit etc. geben kann. Damit ist letztlich jeder Versuch, die absolute Verbindlichkeit der Menschenrechte rein empirisch zu begründen, als Unmöglichkeit erwiesen.70 »Aus dem Angeführten erhellet: daß alle sittlichen Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben, und dieses zwar in der gemeinsten Menschenvernunft eben sowohl als der im höchsten Maße spekulativen; daß sie von keinem empirischen und darum bloß zufälligen Erkenntnisse abstrahiert werden können […].«71 Empirische Beispiele begründen eben keine Sittlichkeit, da bereits im Vorfeld ein Raster der Sittlichkeit existieren muss, nach dem ich meine Beispiele auswähle. »Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Prinzipien der Moralität beurteilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d.i. zum Muster zu dienen, keineswegs aber kann es den Begriff derselben zuoberst an die Hand geben.«72 Das Begründungsproblem wird damit nur einen Schritt nach hinten verlagert.
1.2 Naturrechtsgedanke und Weltgesetz
Dass die Postulierung eines überzeitlichen Rechts, das kein menschliches Gesetz aufheben oder widerlegen kann und das universelle Gültigkeit hat, nichts Neuzeitliches ist, zeigt ein Blick in die griechische Antike. Der Tragödiendichter Sophokles thematisierte bereits Mitte des 5. Jh. v.Chr. die Spannung von positivem und überzeitlichem Recht. Antigone, die Protagonistin seiner gleichnamigen Tragödie, beruft sich, nachdem sie den Leichnam ihres Bruders gegen Kreons Gebot mit Staub bedeckt hat, auf das ewige, göttliche Gesetz, das kein Mensch aufheben kann, eben auch nicht Kreon mit seiner Anweisung. »War es doch Zeus nicht, der mir das geboten, | Noch Dike, wohnend bei den untern Göttern, | Die solch Gesetz den Menschen aufgestellt. | Und schien mir deine Botschaft nicht so mächtig, | Daß Sterbliche der Götter ungeschriebne, | Ewige Satzung überholen könnten.«73 Kreons Ansicht, dass man einem vom Staat verordneten Gesetz auch gehorchen müsse, wenn es Unrecht sei, erteilt Sophokles durch Antigones Handlung eine deutliche Absage. Das kosmische Gesetz hat Vorrang vor jedem menschlichen Recht.
Sophokles stand mit dieser Idee jedoch nicht alleine. Der griechische Philosoph Heraklit (544-484 v.Chr.), der einige Jahrzehnte vor diesem sein Werk verfasste, das heute nur noch in Fragmenten vorliegt, vertrat bereits ähnliche Gedanken. Die alles ordnende Kraft bezeichnet Heraklit als Logos. Dieser ist allgemein.74 Er ist die eine Weisheit, nach der überall alles geleitet wird.75 Er ist das göttliche Gesetz, aber auch das Göttliche selbst. An diesem Logos hat jeder Mensch Anteil. Deswegen ist verständig sein »die höchste Tugend; und die Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstimmung mit der Natur, im Hinhorchen«76. Die Natur, auf die zu horchen ist, ist die göttliche Natur des Logos, der alles durchwaltet, auch die menschlichen Gesetze, denn auch sie werden vom Göttlichen ernährt, wie Heraklit sagt.77 Und umgekehrt bedeutet dies natürlich, dass sie sich nach dem göttlichen Gesetz richten müssen.
Den Gedanken eines durch ein universelles Gesetz wohlgeordneten Kosmos griff Platon in seiner Staatsschrift auf. Der Philosoph ist nicht nur derjenige, der dieses Gesetz erkennt, sondern auch nach ihm lebt, da es vollkommen ist. Dass dieses Gesetz über den von Menschen verabschiedeten Gesetzen steht, ist offensichtlich. »Denn wer in der Tat seine Gedanken auf das Seiende richtet, o Adeimantos, hat ja wohl nicht Zeit hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen und im Streit gegen sie, sich mit Eifersucht und Widerwillen anzufüllen; sondern auf Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes schauend, was unter sich kein Unrecht tut oder leidet, sondern nach Ordnung und Regel sich verhält, werden solche auch dieses nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden. Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, daß einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme? Unmöglich, sagte er. Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur dem Menschen möglich ist.«78
Aber nicht nur die eher idealistisch orientierte platonische Philosophie kennt den Naturrechtsgedanken, sondern auch die auf einem materialistischen Weltbild basierende Stoa. Dies hängt mit dem stoischen Naturbegriff zusammen. Physis, also Natur, ist für die Stoa Logos und damit Gott. Naturrecht ist für Zenon von Kition (336-264 v.Chr.), den Gründer der Stoa, »ein göttliches Gesetz und besitzt als solches die Macht, zu regeln, was Recht ist und Unrecht«79. Das Naturrecht ist dem positiven Recht vorgeordnet. Da der Mensch wesenhaft vernünftig ist, kann er qua seiner Vernunft dieses Naturrecht erkennen. »Eine der edelsten Früchte aus der stoischen Ethik ist der Naturrechtsbegriff und das damit zusammenhängende Humanitätsideal.«80
Einen bedeutenden Beitrag zur stoischen Naturrechtslehre lieferte der römische Staatsmann und Philosoph Cicero (106-43 v.Chr.). Weder Meinung noch willkürliche Setzung bilden die Grundlage für das Recht, sondern nur die Natur des Menschen.81 Der Grund, weswegen gerade die menschliche Natur die Norm ist, hängt damit zusammen, dass diese durch die Stoa als wesenhaft vernünftig bestimmt wurde. Nicht das Naturhafte als Triebhaftes macht die menschliche Natur aus, sondern die Vernunft, die dem Menschen angeboren ist.82 Damit gibt es ein Element, das die Menschen mit dem Göttlichen verbindet. »Es ist also, da es ja nichts Besseres als die Vernunft gibt und diese im Menschen wie auch in Gott ist, die erste Gemeinsamkeit des Menschen mit Gott die gemeinsame Vernunft.«83 Wer seine eigene Natur in und durch die Vernunft erkennt, erkennt auch die der Götter. Selbsterkenntnis ist damit wesenhaft Gotteserkenntnis.84 Aus diesem Grund kommt der Verehrung der Götter eine wichtige Bedeutung zu.
Weil der Mensch durch seine Vernunft wesenhaft auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist, liegt »die Grundlage des Rechts nicht in einer subjektiven Meinung, sondern in der Natur«85. Die Rechtsgrundlage, die Cicero hier fordert, ist das Naturrecht. Das göttliche Gesetz geht jedem menschlichen Gesetz voraus. Es ist »die richtige Vernunft auf dem Gebiet des Befehlens und Verbietens« 86. Das Gesetz bestimmt nun seinerseits wieder das Recht, das deswegen niemals willkürlich sein kann und darf. Nur die Gesetze, die gemäß der Vernunft sind, können den Anspruch erheben, gerecht zu sein. »Würde sich das Recht nur auf die Weisungen der Völker, die Anordnungen der Verantwortlichen und die Entscheidungen der Richter stützen, dann wäre es Recht zu rauben, die Ehe zu brechen und Testamente zu fälschen, wenn dies nur durch Abstimmungen und Beschlüsse der Mehrheit gebilligt würde.«87
Cicero erteilt damit dem Rechtspositivismus eine klare Absage. Ein Unrecht, das begangen wird, nur weil kein geschriebenes Gesetz vorliegt, das dieses verbietet, bleibt dennoch ein Unrecht, da es mittels Vernunft als Unrecht erkannt werden kann.88 Durch die Natur, d.h. Vernunft, kann der Mensch zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht differenzieren. Dass der Mensch nicht nach diesem Naturrecht handelt, hängt damit zusammen, dass das Übel der schlechten Gewohnheit diese natürlichen Ansätze im Keim erstickt.89 Aufgabe des Menschen ist es daher, seine Vernunft zu schulen und die üblen Gewohnheiten zu bekämpfen. Weise ist demnach derjenige, dem es gelungen ist, die Vernunft in sich zu vervollkommnen.90 Ziel eines jeden Menschen sollte es deshalb sein, weise zu werden, seine Vernunft zu perfektionieren, um richtig handeln zu können.
Auch der Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430) nahm den stoischplatonischen Gedanken vom ewigen und weltlichen Gesetz auf. Nur das weltliche Gesetz, d.h. nur das positive Recht, ist gerecht, das im ewigen Gesetz gründet. »Ich glaube, daß du auch zugleich siehst, wie in jedem zeitlichen Gesetz nichts Gerechtes und nichts Ordnungsmäßiges enthalten ist, das sich die Menschen nicht aus diesem ewigen Gesetz abgeleitet haben […].«91 Dass der Mensch dieses ewige Gesetz erkennen kann, hängt an seiner Vernunft, die ihn wesenhaft vom Tier unterscheidet. Mittels Vernunft kann der Mensch die unvernünftigen Seelenteile kontrollieren und lenken. Wenn ihm das gelungen ist, herrscht in ihm das ewige Gesetz, und er ist weise. Der Törichte ist der, der zwar Verstand bzw. Vernunft besitzt, sie aber nicht anwendet, weswegen seine unvernünftigen Seelenteile ihn beherrschen. 92 In seinem Kapitel über den Frieden in ›De Civitate Dei‹ versucht Augustinus nochmals den Nachweis für die Existenz eines Naturrechts zu bringen.93
Einen weiteren wichtigen Schritt auf dem langen Weg zur Anerkennung unveräußerlicher Grundrechte eines jeden Menschen stellt die mittelalterliche Rezeption des antiken Naturrechtsgedankens dar. Besonders Thomas von Aquin (1224-1274) griff diese Lehre auf und fügte sie in sein System ein. Er war zwar nicht der erste mittelalterliche Denker, der sich auf das Naturrecht bezog, wohl aber der einflussreichste.94 Die enge Verbindung von Staat und Kirche, wie sie für die ausgehende Antike und das Mittelalter kennzeichnend war verhinderte jedoch noch die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte. Die dezidierte Trennung der Aufgabenbereiche von Staat und Kirche, wie sie von Thomas bereits angedacht wurde, ermöglichte aber spätere Entwicklungen, die schließlich in die Anerkennung der Menschenrechte mündeten.
Der Staat hat sich nach Thomas um das diesseitige Wohl der Menschen zu kümmern und die Kirche um das jenseitige. Der Wirkkreis der Kirche ist der geistige Bereich. Thomas’ System prägte die nachfolgenden Generationen. Gesetze sind prinzipiell notwendig, um zu verhindern, dass der Mensch rein nach seinen Lüsten, Begierden und der Willkür lebt. Das Gesetz ist Regel und Maßstab für alles Handeln, ohne das der Stärkere rücksichtslos seine Interessen gegen den Schwächeren durchsetzen würde. Gesetze, die das menschliche Zusammenleben organisieren, sind nicht willkürlich, sondern aus der Vernunft des Menschen abgeleitet, wobei sie nicht nur einen vernunftbezogenen, sondern auch einen voluntativen Aspekt beinhalten. Wo der Wille gegen die Vernunft steht, ist das auf dem unvernünftigen Willen basierende Gesetz nur eine Perversion des wahren Gesetzes. Durch die Rückbindung an die Vernunft wurde der Rechtspositivismus in Zaum gehalten, da Vernunft bei Thomas wie auch in der antiken Tradition nicht willkürliches menschliches Räsonieren, sondern die ›conditio sine qua non‹ meint.
Thomas differenzierte in der ›Summe‹ drei verschiedene Gesetze, das ewige (lex aeterna), das Naturgesetz (lex naturalis) und das menschliche (lex humana); ein quasi viertes ist das göttliche Recht (lex divina), das Anweisungen beinhaltet, die nur aufgrund der göttlichen Offenbarung und nicht aufgrund einer Weisung der Vernunft ihre Gültigkeit erhalten. Die drei zuerst genannten sind aufeinander bezogen. Das oberste Gesetz ist das ewige. Es ist Gottes weisheitliche Vorsehung, seine ewige Vernunft, die alles leitet. Damit ist es aber eigentlich kein Gesetz, da es keine konkreten Einzelgesetze enthält, sondern es ist der alles bestimmende und regelnde Weltplan in seiner Totalität. In ihm sind sowohl die sittliche als auch die Naturordnung enthalten. Am ewigen Gesetz haben daher die beiden anderen Formen Anteil. »Thomas geht davon aus, daß das Universum als Schöpfung von der göttlichen Vernunft geleitet wird. Diese Vorsehung Gottes, die die Welt regiert, versteht Thomas als das ewige Gesetz. Ewig ist dieses Gesetz, weil Gott nicht aus zeitlichen Gegebenheiten schöpft, sondern seine Ideen von Ewigkeit her bildet.«95 Das ewige Gesetz kann aber der Mensch mit seiner beschränkten Vernunft nicht in seiner Totalität erfassen.
Daher bedarf es des Naturgesetzes, das der Mensch kraft seiner natürlichen Vernunft erkennen kann. Das Naturgesetz hat seine Verbindlichkeit und Gültigkeit durch seine Teilhabe am ewigen Gesetz. »Mithin wird klar, daß das natürliche Gesetz nichts anderes ist als eine Teilhabe am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf.«96 Das Naturgesetz ist das in der Welt wirkende ewige Gesetz, an dem alles aufgrund der göttlichen Vorsehung teilhat. »Aus dem Gesagten (Art. 1) ergibt sich aber, daß alle Dinge, die der göttlichen Vorsehung unterliegen, vom ewigen Gesetz geregelt und bemessen werden. Somit nehmen offensichtlich alle Dinge in irgendeiner Weise am ewigen Gesetz teil.«97 Thomas vertritt hier ganz das stoische Ideal, das die Natur des Menschen als vernünftig bestimmte, weswegen es dem Menschen auch möglich ist, mittels Vernunft das kosmische Gesetz zu erkennen. Die naturhafte Prägung des Menschen wird immer von seiner Vernunft begleitet und gegebenenfalls korrigiert. Während Tiere nur ihrem naturhaften Instinkt folgen, kann der Mensch durch seine Vernunft eigenverantwortlich handeln und entscheiden. Weil die Natur des Menschen auf das Gute, die Glückseligkeit, ausgerichtet ist, führt die Befolgung des Naturgesetzes zu echter Sittlichkeit. »Die erste Regel der Vernunft ist aber das Naturgesetz.«98 Darauf wies bereits Paulus hin, der davon sprach, dass die Heiden aufgrund ihrer Vernunft das tun, was das Naturgesetz verlangt. Deswegen können sie sittlich handeln, ohne das göttliche Gesetz selbst zu kennen. Dies ist vermutlich der Grund, weswegen Thomas zugesteht, dass bestimmte Heiden selig geworden seien.99
Das Naturgesetz wird allerdings nicht einfach durch die Vernunft erkannt, sondern die Vernunft bringt das Naturgesetz hervor. Deswegen sind zwar die Prinzipien des Vernunftgesetzes identisch, nicht aber seine konkreten Umsetzungen. Wie ein Mensch in einer bestimmten Situation diese Prinzipien anwendet, ist völlig offen. Was für Thomas zu den fundamentalen Grundrechten zählt, die durch das lex naturalis begründet sind, ist das Recht auf Selbsterhaltung, demzufolge alles verboten ist, was dem zuwiderläuft; ferner das Recht auf Arterhaltung, mit dem unweigerlich das Recht auf Ehe verbunden ist,100 und das Leben nach dem Geist, d.h. der Suche nach der Wahrheit.101 Auch wenn es mehrere Grundrechte gibt, so haben sie nur eine gemeinsame Wurzel: das eine Naturgesetz.
Thomas verwendet neben dem Begriff des Naturgesetzes auch den des Naturrechts, ohne diese immer scharf zu trennen. Verallgemeinernd kann man sagen, dass das Naturrecht eher darauf abzielt, im konkreten Fall zu entscheiden, was gerecht ist und was nicht. Die Entscheidung darüber fällt wiederum die Vernunft. Der Begriff des Rechts gehört für Thomas damit mehr in den Bereich der Moral und ist eher individualistisch ausgerichtet, während Gesetz auf die Ordnung der Gemeinschaft zielt.102 Die Verbindung zwischen beiden besteht darin, dass das Gemeinwohl immer auf das Individualwohl bezogen sein muss. »Das ›bonum commune‹ ist immer rückbezogen auf das ›bonum singulare‹, geht aber darüber hinaus.«103 Unter Gemeinwohl versteht Thomas das Wohl, das allen als Gemeinschaft zukommt. Frieden und Gerechtigkeit sind die wesentlichsten Gemeinschaftsgüter, um deren Erhalt sich alle Mitglieder der Gemeinschaft kümmern müssen. Wo es um überirdische und naturrechtliche Güter geht, steht der Mensch über dem Staat, d.h. der Staat darf ihm diese nicht verweigern.
Das menschliche Gesetz (lex humana) stellt die unterste Ebene dar. Es ist aufgrund der Unvollkommenheit der menschlichen Teilhabe am ewigen Gesetz notwendig, das nicht in seiner Totalität erfasst wird. »Das Naturgesetz darf keinesfalls in dem Sinne mißverstanden werden, daß die Vernunft aus ihm unmittelbar konkrete Gesetze entnehmen könnte. Vielmehr beschränkt sich das Naturgesetz auf grundlegende Prinzipien und einige wenige benennbare naturhafte Neigungen. Daher ist es die Aufgabe der Vernunft, auf diesen Vorgaben des Naturgesetzes aufbauend konkrete Gesetze zu benennen.«104 Das positive Recht ist zur Regelung des Alltäglichen notwendig, ohne selbst aber den Anspruch auf Vollkommenheit und Unfehlbarkeit erheben zu können. 105 Es kann geändert werden, wenn das Allgemeinwohl davon profitiert. Das menschliche Recht unterteilt Thomas noch einmal in das Völkerrecht und das bürgerliche Recht. Während in der römischen Rechtstradition Völkerrecht und Naturrecht mehr oder weniger identifiziert wurden, ordnet Thomas das Naturrecht als das allgemeinere dem Völkerrecht vor.
Positives Recht ist letztlich immer eine Interpretation des Naturrechts, da das Naturrecht keine konkreten Handlungsanweisungen liefert. Die richtige Interpretation zu finden, ist jedoch nicht so leicht. Dies hängt nach Thomas unter anderem damit zusammen, dass der Mensch zwar mittels Vernunft Einsicht in das Naturgesetz hat, diese Klarheit aber nur den Bereich des Notwendigen umfasst. Dort sind klare Schlüsse und Erkenntnisse möglich, nicht aber im Bereich des Zufälligen, d.h. dem nicht Kausal-Determinierten. Das Allgemeine ist zu erkennen, nicht aber das Einzelne und Spezielle. »Im Bereich des Handelns dagegen liegt nicht für alle dieselbe tätigkeitsbezogene Wahrheit oder Rechtheit im Einzelnen vor, sondern nur hinsichtlich des Allgemeinen; und dort, wo im Einzelnen die nämliche Rechtheit für alle vorliegt, da ist sie nicht allen in gleicher Weise bekannt.«106 Das von Menschen entworfene Recht muss aber immer auf das Naturrecht zurückgeführt werden können. Ein gesatztes Recht, das gegen das Naturrecht steht, ist für Thomas kein Gesetz, sondern Gesetzesverderbnis.
Was durch das Naturrecht jedoch nicht gesichert ist, ist die Unverfügbarkeit der Person. »Ein allgemeines Naturrecht der physischen Freiheit kennt Thomas nicht […].«107 Thomas hatte unter Berufung auf seine Hauptquelle Aristoteles keine Probleme, Sklaverei als etwas Natürliches zu betrachten. Ebenso stand die Unterordnung der Frau unter den Mann für Thomas in keiner Weise zur Disposition. Sklaverei ist zwar nichts naturrechtlich Verankertes, aber sie ist Strafe für die Sünde des Menschen. Weil jedoch auch der Sklave ein vernunftbegabtes Wesen ist, muss er anders behandelt werden als z.B. ein Tier. So hat der Sklave das Recht auf Existenz sowie auf Nachkommen und Ehe.
Die unverlierbare menschliche Freiheit, von der Thomas immer wieder spricht, ist eine metaphysische Freiheit, weswegen diese für ihn auch mit dem Gedanken der physischen Unfreiheit im Sinne der Sklaverei vereinbar ist. Freiheit und Gleichheit sind nach Thomas Güter des jenseitigen Daseins. Wie schon die Väter vor ihm betont er, dass Jesu Wirken nicht darauf ausgerichtet war, die irdische Ordnung aufzuheben, sondern eine geistige und himmlische Neuordnung zu verkünden. In dieser geistigen Ordnung sind alle gleich, weswegen auch Sklaven und Frauen die ewige Herrlichkeit erlangen können.
Ein Gut, das Thomas besonders hochhielt, war die Gewissensfreiheit. Das Gewissen ist die oberste Instanz des menschlichen Handelns. Würden z.B. kirchliche Autoritäten vom Einzelnen eine Entscheidung gegen das Sittengesetz fordern, müsste er diese verweigern. Für Thomas hat selbst das irrende Gewissen absolute Gültigkeit. Die von ihm betonte Gewissensfreiheit findet jedoch ihr Ende dort, wo sich der Mensch einmal der christlichen Lehre angeschlossen hat. Gewissensfreiheit impliziert nicht das Recht, von der kirchlichen Lehre abzufallen. Zwar ist die Entscheidung für den Glauben eine Sache des freien Willens, weswegen niemand zum Glauben gezwungen werden darf. Wer sich aber einmal aus freiem Willen für den Glauben entschieden hat, muss diesem treu bleiben. Sosehr sich Thomas gegen die Mission mit dem Schwert aussprach, so sehr verteidigte er die gewaltsame Rückführung von Häretikern und ihre Tötung, so sie von ihrem Irrtum nicht abzuschwören bereit sind.
»Es wird immer wieder auf den gedanklichen Beitrag hingewiesen, den Thomas von Aquin zur Vorstellung von der Menschenwürde und der auf die eigene Gewissensentscheidung begründeten Person geleistet habe. Aber das hat bei Thomas weder zum Widerspruch gegen die Verfolgung der Ketzer noch gegen die Sklaverei geführt.«108 Thomas in diesen Punkten dadurch zu exkulpieren, indem man darauf verweist, dass »Theologie und Philosophie als Wissenschaft […] immer im historischen Zusammenhang«109 stünden und dass die »Ausdifferenzierung der Wahrheitserkenntnis […] immer an den Kontext der jeweiligen Kultur«110 gebunden sei, widerspricht jedoch dem Selbstanspruch des Aquinaten, der gerade keine zeitabhängige, sondern eine ewig gültige Lehre vortragen wollte.
Einen weiteren wichtigen Beitrag auf dem Weg zur Anerkennung des Naturrechts und damit zur Anerkennung der Würde eines jeden Menschen leistete der spanische Spätscholastiker und Thomist Francisco de Vitoria (1482/86-1546).111 Vitoria beschäftigte sich vor allem mit der Frage des Verhältnisses der verschiedenen Völker zueinander und ihren jeweiligen Rechten. Diese Frage wurde besonders durch die Kolonialpolitik der Spanier und ihren Umgang mit den eroberten Völkern virulent. Vitoria führte den Nachweis, dass es keinen Grund gebe, die Indios nicht als Menschen und rechtmäßige Herren ihrer Ländereien zu betrachten. Er stand damit in Widerspruch zu einer nicht unerheblichen Anzahl von Theologen und Juristen, die eine supernaturalistische Argumentation bemühten, um das Vorgehen der spanischen Krone und ihrer Abgesandten in Südamerika zu rechtfertigen. Für Vitoria gab es keine Zweifel, dass Indios vernünftige Wesen sind, weswegen sie Recht auf Besitz haben. »Der Unglaube ist kein Hindernis dafür, daß jedermann wahrer Herr ist.«112
Das Verweilen in der Todsünde hat keine Auswirkung auf Besitzverhältnisse. »Weder die geistliche noch die bürgerliche Gewalt wird durch die Todsünde verloren, weil die weltliche Gewalt viel weniger auf der Gnade begründet ist als die geistliche.«113 Dies hängt damit zusammen, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. »Aber der Mensch ist das Ebenbild Gottes von Natur aus, d.h. vermöge der ihm verliehenen Kräfte der Vernunft; und dies wird nicht durch die Todsünde vernichtet.«114 Das Naturrecht hat immer Geltung, unabhängig, ob einer gläubig ist oder nicht. »Nach dem heiligen Thomas beseitigt der Unglaube weder das Naturrecht noch das menschliche Recht. […] Die gegenteilige Ansicht ist demgemäß ein entscheidender Irrtum, ebenso wie der vorhergehende. Das geht auch daraus hervor, daß es nicht erlaubt ist, Sarazenen, Juden oder anderen Ungläubigen das, was sie besitzen, nur aus dem Grund wegzunehmen, weil sie ungläubig sind; das ist ebenso Diebstahl oder Raub wie die Wegnahme des Vermögens von Christen.«115
Das Besondere an Vitorias Argumentation war, dass er den Gedanken des Naturrechts in den Vordergrund stellte, dem zufolge alle Menschen aufgrund ihres Menschseins mit Würde begabt sind, ein Gedanke, der in der griechischen Antike von den Kynikern und Stoikern vorgebracht wurde. »Staat und Herrschaft sind nicht aus dem geoffenbarten Willen Gottes abzuleiten, sondern gründen im Naturrecht, so lautet das Kernstück seiner Argumentation. Auch der heidnische Staat ist naturgegeben und deshalb gottgewollt.«116 Vitoria argumentierte vor allem gegen diejenigen, die den Gedanken des natürlichen Rechts gegenüber dem göttlichen ablehnten. Dieser Argumentation nach wären die Indios Barbaren, weswegen sie keine Rechte hätten. »Der Ausbreitung des Evangeliums gegenüber verschwinden hier alle natürlichen Rechtstitel. Nicht das Menschsein der Indianer schlechthin, sondern nur ihre Stellungnahme gegenüber dem Glauben und ihre moralische Entwicklungsstufe bestimmen ihr Recht bzw. ihre Rechtlosigkeit.«117 Die Argumentation Vitorias bedeutete aber nicht nur für die Lateinamerikamission einen Einschnitt, sondern sie stellte einen weiteren Schritt für die Entwicklung der Menschenrechtsidee dar. »Als positiver Faktor für die Menschenrechte bleibt aber festzuhalten, daß in der Scholastik und Spätscholastik die mittelalterliche theokratische These überwunden und das natürliche Sein des Menschen als Grundlage von Würde und Recht anerkannt wurde.«118