Abrechnung in London - Thomas Riedel - E-Book

Abrechnung in London E-Book

Thomas Riedel

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ob laut und brutal mit einer Kugel oder leise und kalt mit einem Messer, auch Gift tötet – nur heimtückischer und schleichend, aber nicht zwingend langsamer! Doch ganz gleich wie, ist die Art der Ausführung stets Ausdruck der Mentalität des Mörders. Im Kaiserreich China wurde den chinesischen Herrschern bei deren Ableben eine große Perle in den Mund gelegt. Vielleicht wusste der Täter davon, als er seine Opfer mit kostbaren Perlencolliers ›beschenkte‹ … Auf jeden Fall unterbricht er die Monotonie und Alltagssicherheit der Londoner High Society. Als Mrs. Dorseys Halsschmuck mit den schwarzen Perlen verschwindet, engagiert sie Colin Bradley, der kurz darauf über eine erste Leiche stolpert!

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Seitenzahl: 180

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Abrechnung in London

Kriminalroman

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar

2. Auflage (überarbeitet)

Cover- und Buchgestaltung:

© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

Cover- und Buchgrafiken:

© Depositphotos.com

ImpressumCopyright: © 2019 Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Mord: Die Tötung eines

Menschen durch einen anderen.

Es gibt vier Arten von Mord:

verbrecherischen, entschuldbaren,

gerechtfertigten und rühmlichen,

doch dem Ermordeten ist es egal,

welcher Art er zum Opfer fiel

- die Klassifizierung ist nur

zum Nutzen der Juristen da.«

Ambrose Gwinnet Bierce (1842-1914)

1

London, 1926

Die milchige, zweiflammige Deckenleuchte warf nur ein spärliches Licht über den ovalen Tisch und die Gruppe hochlehniger Stühle, die um ihn herumstanden, während der Rest des Zimmers im Halbdunkel lag, aus dem sich die anderen Möbelstücke nur in schemenhaften Umrissen abhoben. Trotz der heißen Sommernacht waren die beiden Fenster geschlossen, und der starke, süßlich intensive Geruch von Sommerjasmin vermischte sich mit der abgestandenen Luft im Raum zu einer atemraubenden Atmosphäre. Dieser Eindruck wurde noch durch die drückende, tiefe Stille verstärkt, in die nur der ferne Verkehrslärm der Innenstadt wie das schwache Summen eines Insektes eindrang.

Colin Bradley stand schon eine Weile neben der schmalen Tür, durch die er gekommen war. Suchend huschte sein Blick durch das Zimmer, das in seiner Stille und Leere wahrhaftig etwas Unheimliches hatte.

Seine rechte Hand umspannte die Luger, eine achtschüssige P08, die er für alle Fälle bereithielt, denn noch wusste er nicht, warum ihn ein Unbekannter, der ihm seinen Namen absolut nicht nennen wollte, in dieses Haus gerufen hatte. Das vornehme zweistöckige Gebäude gehörte dem bekannten Arzt und Psychiater Andrew Dorsey, dessen Gattin Amanda, ihn am Morgen mit der diskreten Wiederbeschaffung eines abhanden gekommenen, kostbaren Perlencolliers beauftragt hatte. Dies war eigentlich auch der Grund, weshalb er dem mysteriösen Anruf des Fremden sofort gefolgt war. Hier hoffte er Anhaltspunkte für seine Arbeit an diesem Auftrag zu finden.

Routinemäßig durchsuchte er das Zimmer. Dabei näherte er sich einem Bambusgitter, von dessen grünem Rankengewirr sich weiße Blüten wie riesige Schneeflocken abhoben und einen verwirrenden, süßen Duft ausströmten. Bradley warf einen Blick durch eine winzige Lücke im Lianengewirr – und stutzte plötzlich. Mit zwei Sätzen umrundete er das Gitter, riss einen Taftvorhang zur Seite, dessen Laufrollen etwas hakten, und blickte auf eine hart an der Wand stehende, mausgraue Couch nieder, die nun ebenfalls im milchigen Lichtschein der Deckenlampe erschien.

Lang ausgestreckt lag die Gestalt einer jungen Frau auf der Chaiselongue. Wie in einem Krampf hatten sich ihre schmalen Finger in den weichen roten Plüsch verkrallt. Ihre ängstlichen, dunklen Augen stachen gleich matt-glänzenden Onyxsteinen aus ihrem wächsernen, von blauschwarzen Haaren umrahmten Gesicht hervor, und ihr glasiger Blick war gegen die mattgrün erscheinende Decke gerichtet. Das hochgeschlossene nachtblaue Kleid, das ihre knabenhafte Figur umschloss, gab der Szene einen fast weihevollen Akzent.

Eine Weile verharrte Bradley regungslos. Er versuchte sich jede Einzelheit einzuprägen, während sein Verstand nach Zusammenhängen suchte. Was ist hier vorgefallen? Ist sie einen natürlichen Tod gestorben? Aber daran wollte er nicht wirklich glauben, denn der Ausdruck von Angst, Schrecken und Grauen in ihrem Gesicht ließ ihn auf einen gewaltsam herbeigeführten Tod schließen. Der Fremde! Sein Anruf!, schoss es ihm durch den Kopf. Hat er davon gewusst? Ist er der Täter? Wenn ja, warum rief er mich an, warum nicht den Yard? Oder liegt ein Suizid vor … ein Unfall vielleicht?

So sehr er sich auch bemühte, Spuren von Gewaltanwendung bei ihr festzustellen – er fand nichts, was darauf hätte schließen lassen. Suchend sah er sich um. Über der Lehne eines Stuhls bemerkte er eine zusammengelegte Tagesdecke. Er faltete sie auseinander, legte sie über die Tote und machte sich daran, systematisch nach Spuren zu suchen, die einen Lichtblick in diese mysteriöse Sache zu bringen vermochten.

Bradley steckte seine Parabellum-Pistole in das Schulterholster zurück. Aus einem ihm unerfindlichen Grund musste er in diesem Augenblick an die Bezeichnung ›Parabellum‹ denken, die sich vom lateinischen Ausspruch ›si vis pacem para bellum‹ ableitete – ›Wenn du Frieden willst, bereitete dich auf den Krieg vor.‹ Dann leuchtete er mit seiner Taschenlampe, Inch um Inch, die im Dunkel liegende Umgebung des Kanapees ab. Der Lichtkegel fiel auf Zierschränkchen und Blumenkübel, einige Regale und zwei Bücherborde. Alles stand ordentlich an seinem Platz und nichts ergab einen Anhaltspunkt dafür, dass hier jemand gewaltsam eingedrungen war.

Er schritt hinüber zum Telefon, das er auf einem Tischchen bemerkt hatte, um die Mordkommission von Scotland Yard anzurufen. Als er dabei in einem Aschenbecher auf dem Mahagonitischchen eine halbgerauchte Zigarette bemerkte, pfiff er kurz leise durch die Zähne, denn unmittelbar daneben lag ein Zigarettenetui. Er hob das Behältnis mit einem Taschentuch an und betrachtete es eingehend: Das Etui war aus Silber, was an der Reihe der Punzierungen eindeutig zu erkennen war. Der ungekrönte Leopard, zeigte an, dass es in London gefertigt worden war. Der Buchstabe wies auf das Jahr 1836 hin, und der Löwe bezeugte den Feingehalt von 925/1000. Es folgten noch die Stempelungen ›RG mit Krone‹, für den damaligen Hoflieferanten Robert Garrad und die Steuermarke Georg III. Viel interessanter aber waren die eingravierten Initialen und die Jahreszahl in der rechten, unteren Ecke: ›A.D. 1923‹.

Als er das Behältnis öffnete, sah er, dass es mit Zigaretten gefüllt war; nur eine fehlte. Er verglich die Beschriftung des Stummels im Aschenbecher mit der der Zigaretten im Etui. Es war die gleiche Sorte: ›Abdulla Cigarettes – The Flower of Virgina‹. Er nahm die Kippe auf und legte sie in das Etui, das er in der Jackettasche verschwinden ließ.

Eine männermordende Sorte, so eine filterlose ›Abdulla‹. Die verträgt nur eine gut trainierte Lunge, überlegte er. Es erscheint mir sehr unwahrscheinlich, dass dieses Mädchen dieses Kraut geraucht hat, … auch würde sie sicher eine Zigarettenspitze benutzt haben. Der Raucher muss ein Mann gewesen sein ... hm, ist noch feucht am Stummel. ›A.D.‹ vielleicht? Wer aber ist ›A.D.‹? Allerdings ist es ein antikes Etui und die Initialen müssen nicht stimmen. Möglicherweise sind es auch keine Initialen und es steht einfach nur für ›anno Domini‹? Wenn es aber doch Andrew Dorsey gehört, dann muss er hier gewesen sein … und wenn dem so ist …

Er wagte nicht weiter zu denken, griff nach dem Hörer und bemerkte neben dem Telefon einen Zettel. Er nahm ihn an sich. In flotter Handschrift hatte jemand mit Bleistift eine Adresse darauf geschrieben: ›Bradley, Private Investigator, London, Victoria Road, Phone: …‹

Die Schrift einer Frau, dachte Bradley, und steckte den Zettel ein. Durch diesen Fund angeregt, suchte er mit einer solchen Intensität weiter, dass er darüber seine Absicht, das Yard anzurufen, vergaß.

Auf einem wuchtigen Büfett stand ein Kristallglasleuchter, der das matte Licht der Deckenleuchte vielfarbig reflektierte. Er trat an das Büfett heran, nahm ein schwarzes, schmales Kästchen an sich, das darauf lag und öffnete es. Das Kästchen war mit zitronengelbem Samt ausgelegt. Auf dem Boden entdeckte er ein Firmenzeichen: ›L.B.‹. Als er sich die Innenseite des Deckels näher ansah, fanden sich in schwarzer Zierschrift die handgeschriebenen Worte ›Liebe Amanda, ich denke immer an Dich – Dein Roger Kensington‹, zu der Mr. Kensington offenbar japanische Tusche verwendet hatte.

Das ist das Etui in dem sich das Perlenhalsband von Mrs. Dorsey befunden haben muss!, schoss es ihm durch den Kopf. Aber es ist leer! … Und vor allem, wie kommt es hierher? Ich kenne die Tote zwar nicht, aber sie ist bestimmt nicht Amanda Dorsey. Ich glaube eher, dass es sich bei dem toten Mädchen um Mrs. Dorseys Zofe handelt. Wie um seine Vermutung zu untermauern, ließ er seinen Blick noch einmal durch das Zimmer gleiten. Das Zimmer ist einfach nicht von der Eleganz, die ich bei den Dorseys erwarten würde … Die gehören immerhin zur High Society!

Plötzlich hatte er eine Idee. Schnell begab er sich noch einmal zur Toten hinüber, nahm das Tuch fort, mit dem er sie zuvor bedeckt hatte, so dass er ihren Hals besser sehen konnte. Enttäuscht schüttelte er den Kopf und deckte sie wieder zu Bradley schoss ein Gedanke durch den Kopf Er lief noch einmal zu der Toten hinüber, nahm das Tuch weg, mit dem er sie bedeckt hatte, so dass er ihren Hals sehen konnte.

Sie trägt keine Halskette! Nachdenklich blieb er eine Weile stehen, dann schritt er wieder zum Telefon, um den vergessenen Anruf nachzuholen. Er wollte gerade zum Hörer greifen, als plötzlich das Licht ausging. Instinktiv reagierte er, duckte sich, schlich auf Zehenspitzen zur Seite und lauschte angestrengt ins Dunkel.

Sekundenlang dauerte die lauernde, drohende Stille an. Aber Bradley hätte darauf schwören können, dass außer ihm und der Toten noch jemand im Raum war. Seine Vermutung bestätigte sich, als plötzlich ein verhaltenes, unterdrücktes Atmen zu hören war, dem ein behutsames Schleichen folgte und ein leises Schaben auf dem Teppich. Wer auch immer anwesend war, streifte ein Stuhlbein. Leise knarrte ein Schuh. Dann klirrte hauchfein ein Glas, polterte plötzlich, krachte und splitterte! Im gleichen Augenblick drang ein unterdrückter Fluch an Bradleys Ohr.

Das war der Leuchter auf dem Büfett!, schoss es ihm, beim klirrenden Zerbersten des Glases, durch den Kopf. Sofort schnellte er über den dicken Teppich lautlos auf die Zimmertür zu. Sie war der einzige Ausgang aus dem Raum und genau den galt es schnellstens zu versperren. Vielleicht bringt eine kleine Konversation mit dem Besucher ein wenig Klarheit in die ganze Sache, dachte er.

Im Vorbeigleiten packte Bradley mit festem Griff einen der Stühle, wirbelte ihn durch die Luft hinüber und warf ihn, etwa einen Yard vor der Tür auf den Boden. Blitzschnell trat er dann einen halben Schritt zurück in die Richtung der Tür, zog seine Luger aus dem Schulterhalfter und brachte sie in Anschlag. Sekunden verstrichen …

… Er spürte die Nähe des anderen fast körperlich, meinte ihn förmlich berühren zu können und spannte jeden Muskel. Das kurze, ruckweise Atmen des Anderen, verriet ihm, dass langsame Näherkommen.

Überraschend unterbrach ein lautes Krachen und Poltern die Stille, gefolgt von einem aufgebrachten Fluch. Knapp vor Bradleys Füßen versuchte der Fremde, sich aus den Trümmern des zerbrochenen Stuhles zu befreien und wieder auf die Beine zu kommen, was ihm beachtlich schnell gelang. Plötzlich spürte er den keuchenden Atem des Mannes im Gesicht, und schoss vorbereitet eine linke Gerade gegen ihn ab.

Es folgte ein Sturz. Direkt darauf kam ein schmerzhafter Fluch des Fremden als Antwort vom Teppich her.

Bradley hatte schon die Taschenlampe in der Linken, als ihm plötzlich mit einem wuchtigen Schlag das Standbein weggerissen wurde. Er ließ sich auf Kampfsportart nach hinten abrollen. Sein Gegner konnte nicht ahnen, dass er sich mit einem Sparringspartner einließ, der während des Ersten Weltkrieges in einer Spezialeinheit des schottischen Hochlandregiments unter Major Frederick Russel Burnham gedient hatte. Die ›Lovat Scouts‹ waren in der Kampf-, Feld- und Schießkunst gut geübt. Nach dem Krieg war er in die erste Scharfschützeneinheit der britischen Armee gewechselt, wo man ihm den Spitznamen ›Cobra‹ verpasst hatte. Ein Name, den die Londoner Unterwelt das Fürchten lehrte. Den Dienst hatte er vor zwei Jahren im Rang eines Lieutenants quittiert.

Blitzschnell hatte er bei seiner Rolle beide Beine angezogen, denn sein Kontrahent warf sich mit kolossaler Wucht auf ihn, sodass ihm für einen Moment die Luft wegblieb. Es war klar, dass der Fremde ein enormes Körpergewicht haben musste. Dann spürte er auch schon zwei mächtige Pranken an seinem Hals, die erbarmungslos zudrückten. Krampfhaft begann er um Luft zu ringen.

Gleichzeitig packte er die kleinen Wurstfinger an beiden Händen des Würgers und riss sie Qualen verursachend seitwärts. Mit Erfolg, denn augenblicklich ließ der Gegner seinen Hals mit einem Schmerzensschrei los. Bradley streckte ruckartig die angezogenen Beine und rammte sie dem Unbekannten gegen den Leib. Mit Genugtuung hörte er, wie der Tisch krachte, als berste er auseinander, und vernahm zugleich ein Knurren, das von einem Raubtier hätte herrühren können. Mit dem Schwung seines Rammstoßes war Bradley wieder auf die Beine gekommen und vollzog einen sofortigen Stellungswechsel zur Tür hin.

Schnaufend wie eine Dampflok raste sein Gegner kurz danach auf die Tür los, und Bradley hatte das Gefühl, einem spanischen Stierkämpfer gleich, einem verwundeten Bullen in der Arena gegenüberzustehen, der ihn blindwütig angriff. Er reagierte blitzschnell, sprang zur Seite und knipste gleichzeitig das Licht an. Er sah gerade noch einen riesigen Mann, der, den Kopf weit vorgebeugt, dicht an ihm vorüber gegen die schmale Tür raste, die zum Flur hinaufflog. Tapsend eilte der Riese durch den schummerigen Flur davon und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Während Bradley ihm hinterher sah, überlegte er kurz, ob er ihm folgen sollte. Aber er erkannte, dass es wohl eher nicht von Erfolg gekrönt war und steckte mit einem tiefen Seufzer seine Selbstladepistole in das Schulterhalfter zurück und die Taschenlampe wieder in die Jackettasche. Er warf einen Blick hinüber, wo die Seitentür, durch die Fremde gekommen war, noch immer offenstand, und ärgerte sich maßlos darüber, dass er ihr nicht schon früher Beachtung geschenkt hatte.

Er wandte sich dem kleinen Raum zu, der anscheinend das Schlafzimmer der Toten darstellte, sofern sie überhaupt in das Haus gehörte und sah sich um. Aber trotz intensiver Durchsicht konnte er nichts Auffälliges feststellen. Wer ist dieser Riese nur, und was hat er hier gewollt?, fragte er sich. Er grübelte noch darüber nach, als er vom Flur her eilige Schritte vernahm, die immer lauter wurden. Erneut galt es für ihn, auf schnellstem Weg zu verschwinden. Mit wenigen langen Sätzen begab er sich hinter einen der Vorhänge, nahe beim Fenster, der bis zum Boden reichte; und wieder holte er seine Luger heraus, mit deren Lauf er einen winzigen Spalt von der Stoffbahn offenhielt, sodass er den ganzen Raum gut überblicken konnte.

Die Schritte verhielten ruckartig vor der Tür, ehe sie aufgerissen wurde und eine Frau eintrat. Einen Augenblick blieb sie unschlüssig stehen und sah sich prüfend im Raum um. Auf diese Weise bot sie ihm ausreichend Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Das könnte Amanda Dorsey sein, dachte er bei sich, auch wenn er nur ihre Stimme vom Telefon her kannte, aber die gepflegte Erscheinung dieser Frau zählte unzweifelhaft zur ersten Gesellschaft Londons.

Sie war schlank, gerade, hochgewachsen und von ebenmäßiger Statur. Ihr immer noch jugendliches Antlitz besaß eine bestrickende Lieblichkeit. Der zarte Teint passte gut zu dem tiefen Gold ihres Haares und zeigte kaum Spuren des Alters. Wenn ihr entschlossenes Kinn und ihre scharf geschnittenen Lippen einen gewissen Mut verrieten, so strahlten ihre klugen, großen Augen eine gewisse Zartheit und Aufrichtigkeit aus. Sie schien nervös, nestelte an ihrer strassbesetzten schwarzen Handtasche, trat unentschlossen einige Schritte vor, verharrte wieder, schien zu überlegen und wandte sich dann dem Büfett zu, auf dem sie etwas zu suchen schien. Unvermutet schritt sie zum Bambusgitter hinüber, bemerkte den aufgezogenen Vorhang und erblickte auf der Couch dahinter die Tote.

Bradley hatte einen entsetzten Aufschrei erwartet, aber er wurde enttäuscht, denn die Frau wandte sich nur abrupt um, und ging seelenruhig zurück zum Büfett, wo sie sich wieder ihrer Suche widmete. Nach einer Weile nahm sie ihre Tasche, die sie auf der Anrichte abgelegt hatte wieder an sich und schritt eiligen Schrittes zur Tür.

»Hallo, Mrs. Dorsey!«, sprach Bradley sie an, steckte seine Pistole in das Holster und trat hinter dem Vorhang hervor. »Es wäre mir recht, wenn Sie noch nicht gehen!«

Als hätte der Blitz vor ihr eingeschlagen, blieb die Frau schlagartig stehen. Dann drehte sie sich langsam um, und er blickte in die Mündung einer ›Liliput‹, einer kleinen halbautomatischen Taschenpistole.

»Wer sind Sie?«, stieß sie mit ungestümer Aggressivität hervor und es klang wie das gefährliche, laute, metallische Zischen einer Natter. Sie hatte ihren Kopf leicht vorgebeugt, den frisch gelackten Mund zu einem engen Strich zusammengepresst und die Augen halb geschlossen. Voller Misstrauen musterte sie ihn.

Gelassen holte Bradley eine Packung seiner filterlosen ›Woodbine‹-Zigaretten aus der Innentasche seines Jacketts. »Rauchen Sie, oder mögen Sie lieber eine ›Abdulla‹, Mrs. Dorsey?«, fragte er betont höflich, die winzige Waffe in ihrer Hand völlig ignorierend. Fast schien es ihm, als wäre sie bei Nennung der Zigarettenmarke leicht zusammengezuckt, doch er war sich dessen nicht ganz sicher.

»Was suchen Sie hier?«, fragte sie noch einmal halblaut und sichtlich gereizter. Dabei hob sie die Waffe leicht an, sodass der kurze Lauf genau auf seine Brust gerichtet war.

»Nun, … Sie sind also Mrs. Dorsey. Mein Name ist Bradley«, erwiderte er unbeirrt und trat sogar einen Schritt auf sie zu.

»Kommen Sie nicht näher, Mister!«, reagierte sie mit einem gefährlichen Unterton. »Was beweist mir, dass Sie der sind, der Sie zu sein behaupten?«

Er lächelte herausfordernd. »Vielleicht, dass ich hier Ihr Perlencollier suche?«

Sie nickte mechanisch und ließ, wenn auch noch ein wenig unsicher, ihre Taschenpistole ein Stück nach unten sinken. Dann musterte sie ihn eingehend und endlich steckte sie die ›Liliput‹ in ihre Handtasche zurück. Die Dame entschied sich, ihm für den Moment zu vertrauen.

»Das Collier hat sich mittlerweile wieder angefunden«, erklärte sie zu seinem Erstaunen. »Ich muss gestehen, dass ich das Schmuckstück nur verlegt hatte.« Mrs. Dorsey sah ihn mit leicht angehobenen Augenbrauen an. »Aber sagen Sie: Wieso kommen Sie jetzt hierher … und dazu noch mitten in der Nacht?«

»Ach, wissen Sie, ich habe so meine Angewohnheiten«, erklärte er ausweichend. »Und schließlich konnte ich ja nicht wissen, dass sich der Schmuck inzwischen wiedergefunden hat!« Er lächelte kurz, bevor er dann plötzlich scharf und schnell fragte: »Was suchen Sie noch? Es ist die Kassette, nicht wahr?«

Sie zuckte leicht zusammen. »Ich verbitte mir diesen unangebrachten Ton!«, fauchte sie böse. »Gehen Sie! … Ich benötige ihre Dienste nicht mehr!« Damit wandte sie sich um und schritt auf die Tür zu.

»Halt!« rief er und ging auf sie zu.

Sie hielt inne und wandte sich ihm noch einmal zu. Ihr Gesicht war bleich. »Was wollen Sie noch, Mr. Bradley?«, reagierte sie eisig. »Wenn es um Ihr Honorar geht, … darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie werden es bekommen!«

»Darum geht es nicht«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Ich möchte Sie nur noch etwas fragen: Wer ist die junge Frau?« Kalt und drohend sah er sie an, sodass sie langsam vor ihm zurückwich. »Reden Sie!«

»Olivia … Olivia Corbett, unser Hausmädchen«, hauchte sie jetzt ängstlich, mit einem Seitenblick auf die Tote.

»Verraten Sie mir, woher Sie das so genau wissen? Immerhin ist sie zugedeckt!«, setzte er nicht minder scharf im Ton nach. Ihre entsetzten Augen zeigten ihm, dass sie sich gerade ihres Fehlers bewusstgeworden war, und er fügte befriedigt hinzu: »Sie wissen es, weil Sie schon einmal hier waren, Mrs. Dorsey!«

Sie resignierte über ihren Fehler, sackte sichtlich in sich zusammen und wandte sich ab in Richtung der Tür. »Nein! … Nein!«, brachte sie schluchzend heraus und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Einige Sekunden starrte er gedankenverloren vor sich hin. Dann wandte er sich erneut dem Telefon zu, rief die Zentrale des Yards an und ließ sich mit der Mordkommission verbinden.

2

»Wo kommst du her, Amanda?«, fragte Andrew Dorsey, als seine Frau durch die Tür wankte und sich in einen Sessel fallen ließ. Sie schien seine Worte nicht gehört zu haben, stützte den Kopf in die Hände und schwieg. »Was ist mit dir?« fragte er deshalb weiter und fasste ihr unter das Kinn, sodass sie ihn ansehen musste.

»Mein Gott, Andrew!«, brachte sie erschrocken heraus und blieb ihm eine Antwort schuldig. »Wie siehst du denn aus?«

»Wieso, … ach, ja, … es ist nicht schlimm … Ich habe mich nur gestoßen«, erwiderte er stammelnd und versuchte zu lächeln. Dabei griff er mit der Hand an das Pflaster, das er auf der Stirn trug. Dann murmelte er etwas Unverständliches.

Unerwartet begann seine Frau laut zu schluchzen.

Verwirrt sah er sie an, denn er wusste nicht, was er davon halten sollte. »Ach, komm schon … So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, versuchte er sie zu beruhigen, in der Annahme, es sei wegen seines Aussehens.

»Andrew …« Sie stockte und schluchzte wieder. Dann brach es aus ihr heraus. »Olivia ist tot!«, schrie sie, und er wurde sich seines Irrtums bewusst.

»Woher weißt du das?«, fragte er erschrocken und sah sie scharf an. »Woher weißt du das?« wiederholte er lauernd, da sie nicht sofort antwortete.

Die Frau stellte plötzlich ihr Weinen ein. Seine Frage hatte in ihr eine furchtbare Ahnung aufkommen lassen.

»Sag mal, warum bist du nicht im Club?«, wollte sie wissen. »Du hattest mir doch gesagt, dass du in den Club wolltest.« Sie sah ihn eindringlich an, und als er schwieg, setzte sie drohend hinzu: »Gib es zu: Du warst bei Olivia!«

»Ich habe noch im Labor gearbeitet! Ich verstehe deine dumme Eifersucht nicht, mit der du mich ständig verfolgst!«, entgegnete er rau und wandte sich ab. Doch dann sauste er wie ein Kreisel herum: »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich ...«, begann er entsetzt.

»Was? …« Sie ließ offen, was sie meinte, wusste aber, dass er sie auch so verstanden hatte.

»Aber das ist doch völlig absurd!« schrie er und stampfte im Rhythmus einer Lokomotive im Zimmer auf und ab. Ruckartig blieb er am Fenster stehen, schob die Gardine zur Seite und spähte hinaus. Er hörte einen ständig lauter werdenden Motorenlärm. »Was ist das denn? Polizei! Sie biegen hier ein. Hast du sie gerufen?«, fragte er hastig und wandte sich wieder zu seiner Frau um.

»Nein!«

»Die kommen doch nicht einfach so!«

»Vermutlich hat Mr. Bradley die Polizei verständigt«, ergänzte sie.

»Mr. Bradley?« Irritiert sah er sie an. »Wer soll das sein?«

»Das ist der Detektiv … unten!«