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Viele Menschen fühlen sich in ihrem Alltag anderen Menschen ausgeliefert. Sie empfinden sich als Opfer ihres Handelns oder ihrer Willkür. Im schlimmsten Fall fühlen sie sich hilflos, sehen keine Möglichkeit, an der Situation etwas zu verändern. Verena Kast gibt nicht nur den Gefühlen dieser Menschen eine Stimme. Sie beschreibt auch, wie es überhaupt zu dieser Situation kommt.
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Seitenzahl: 193
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Verena Kast
Abschied von der Opferrolle
Das eigene Leben leben
Neuausgabe 2019
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1998
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim
Umschlagmotiv: © Linjerry / iStock / GettyImages,
© Perkus / iStock / GettyImages
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN E-Book 978-3-451-81663-5
ISBN Print 978-3-451-60077-7
Viele Menschen fühlen sich in ihrem Alltag anderen Menschen ausgeliefert – sie sind Opfer ihres Handelns oder auch ihrer Willkür. Im schlimmsten Falle fühlen sie sich hilflos, sehen keine Möglichkeit, an der Situation etwas zu verändern. Verena Kast gibt nicht nur ihren Gefühlen eine Stimme. Sie beschreibt auch, wie es überhaupt zu dieser Situation kommt. Was steht hinter dieser Dynamik? Etwa wenn bestimmte Menschen immer etwas „vergessen“: Warum ist das so und warum gibt es immer wieder die anderen, die dem Vergesslichen helfen? Oder was geht vor, wenn sich Menschen immer wieder übersehen fühlen? Verena Kast zeigt, welche Rolle der „Täter“ und welche das „Opfer“ dabei spielen. Mit zwei Märcheninterpretation von „Blaubart“ und „Rumpelstilzchen“, in denen scheinbar ausweglose Situationen durchbrochen werden. Mit einem gesunden Selbstwertgefühl wird es möglich, erstarrte Positionen aufzugeben und das eigene Leben wirklich zu leben.
Verena Kast, geboren 1943, Psychotherapeutin, Dozentin am C.G.-Jung-Institut in Zürich, Professorin an der Universität Zürich, Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie. Autorin zahlreicher Bücher u.
[Titelinformationen]
[Impressum]
[Das Buch]
[Die Autorin]
Worum es mir geht
Blaubart: Die Überwindung der Opfer-Aggressor-Dynamik im Märchen
Blaubart – Das Märchen
Die Opfer-Aggressor-Thematik
Der Weg aus der Opferposition
Die Identifikation mit dem Tod als dem unzerstörbaren Zerstörer
Die Konsequenz
Aggression und Ärger
Ärgervorstellungen
Aggression als Grenzverschiebung
Typische Reaktionen auf Ärger
Der Opfertyp
Der Angreifertyp
Die Mittelposition
Der passive Aggressionstyp
Vergesser und Co-Vergesserinnen
Der Gewinn aus der passiven Aggression
Der Ausweg aus der Kollusion
Ärger und Angst
Ärger und Hilflosigkeit
Die projizierte Aggression und die Identifikation mit dem Angreifer oder der Angreiferin
Die Flucht in die Grandiosität
Opfer und Opferschatten
Der Aggressor, das Opfer und die Komplexe
Das Konzept der Komplexe
Übersehenwerden als Komplexthema
Die Komplexepisode
Der Komplex als Opfer-Aggressor-Konstellation
Die Wandlung der Komplexe
Komplexe als Brennpunkte der Entwicklung
Die Schlüsselsituation imaginieren
Krisenintervention durch Imaginieren einer Komplexepisode
Die Identifikation mit Angreifern aufgeben
Schuldgefühle akzeptieren
Kreativ gestalten
Sich entwickeln, wo der Komplex nicht ist
Die Einschränkung
Rumpelstilzchen – oder vom Umgang mit der Grandiosität
Rumpelstilzchen – Das Märchen
Die Überforderung durch die Grandiosität
Das Opfern der Grandiosität
Nicht Opfer – nicht Aggressor: Das eigene Leben leben
Danksagung
Fußnoten
Im alltäglichen Leben gibt es immer Opfer, und es gibt immer Angreifer und Angreiferinnen. Opfer können nicht ohne Aggressoren entstehen, Aggressoren gibt es nicht ohne Opfer. Das war schon immer so. Auch in alten Mythen begegnet uns dieses Muster. Gelegentlich sind die Angreifer Götter und Göttinnen, die Opfer Menschen; erinnern wir uns zum Beispiel an den Mythos von Sisyphos, in dem dieser dazu verdammt ist, einen Stein auf den Berg zu schieben, der kurz, bevor er den Gipfel erreicht hat, wiederum herunterrollt.1
Bei der Opfer-Aggressor-Thematik geht es in vielfacher Weise um Verhältnisse von Macht und Ohnmacht, und dies hat wiederum viel zu tun mit Angst, Aggression und der Regulierung des Selbstwertgefühls. Ich möchte vorausschicken, daß ich von der alltäglichen Opfer-Aggressor-Dynamik spreche, mit der alle Menschen in Kontakt kommen, ich spreche nicht von den Opfern schwerwiegender traumatisierender Übergriffe und von den Aggressoren, die daran ihren Anteil haben. Mir scheint es sinnvoll, auf die alltägliche Opfer-Aggressor-Thematik und deren mögliche Überwindung zu fokussieren, damit wir für dieses Thema in einem weiten Bereich sensibilisiert werden und sich Veränderungen im Alltag anbahnen können. Möglicherweise hat das dann auch eine Wirkung auf die schweren traumatisierenden Übergriffe.
Mir geht es aber nicht nur darum, die Aggressor-Opfer-Thematik aufzuzeigen und für diese Thematik auch im Alltag zu sensibilisieren, sondern ich möchte immer wieder auch deutlich machen, wie man sich aus dieser Verklammerung von Opfer und Täter lösen kann. Aber: kann man sich überhaupt aus dieser Verklammerung lösen, gibt es einen Ausweg aus diesem System? Gibt es das sogenannte Dritte neben diesen beiden Möglichkeiten, oder gibt es dieses Dritte nicht? Ist es der gestaltende Mensch, der der Opfer-Aggressor-Thematik nicht verfallen ist?
Diesen und anderen Fragen will ich anhand von Märchen, anhand der Komplextheorie und den Wirkungen von unseren Komplexen im Alltag nachgehen. Ich werde immer einmal auch Anregung zur Selbsterfahrung geben. Solche Anregungen können selbstverständlich aufgenommen oder übersprungen werden. Diese Anregungen aufzunehmen ist nicht angenehm. Und zwar betrifft dies beide Aspekte: Opfer zu sein ist nicht angenehm, und Aggressor zu sein ist auch nicht so angenehm. Doch die Fragen nach Macht und Ohnmacht sind so wichtig und allgegenwärtig in unserem Leben, daß wir sie nicht einfach übersehen oder an „andere Menschen“, an die „Aggressoren und Aggressorinnen“ oder an die „Opfer“ delegieren können. Wir müssen auch bei uns selbst nachsehen, wo wir welchen Part spielen, auch wenn es sich um ein Thema handelt, das im Schatten liegt, das wir also mit unserem Ideal von uns selbst nicht vereinen können.
An einem Märchen, das diese Thematik explizit behandelt, werde ich die Aggressor-Opfer-Thematik herausarbeiten sowie die Möglichkeit beleuchten, aus dieser destruktiv wirkenden Dynamik herauszufinden.
Märchen sind Geschichten, die vorstellungsbezogen erzählt worden sind. Lassen wir uns diese Geschichten auch wiederum erzählen, oder lesen wir sie so, daß die Bilder lebendig werden können, dann befinden wir uns in einem Vorstellungsraum, in einem Raum der Imagination, in dem die Bilder des Märchens auch Bilder in unserer eigenen Psyche beleben können. Das heißt aber auch, daß die angesprochenen Themen uns emotional wesentlich mehr betreffen, als wenn wir das Märchen bloß auf seinen Informationsgehalt hin lesen. Sind wir aber in unseren Emotionen angesprochen, dann können wir uns auch eher in unserem Verhalten erkennen und verwandeln. Dieser Vorstellungsraum ist indessen nicht nur ein Raum der visuellen Vorstellung, es ist auch ein Raum, in dem imaginativ gerochen, gehört, Bewegungen mitempfunden werden. Je mehr Kanäle unserer Wahrnehmung wir bei diesem „Vorstellen“ benützen können, um so lebendiger wird der Vorstellungsraum, um so lebendiger fühlen wir uns dabei. Es empfiehlt sich deshalb, sich das Märchen vorlesen zu lassen, allenfalls es selber auf einen Tonträger zu sprechen und es dann wieder zu hören, damit man sich diesen inneren Bildern wirklich überlassen kann. In dieser Weise läßt man sich durch die Bilder des Märchens in der eigenen Bilderwelt anregen.
Will man Märchen verstehen und deuten, dann kann man sie auf der sogenannten Objektstufe betrachten oder, was häufiger ist, auf der Subjektstufe. Auf der Objektstufe ist das Märchen eine Geschichte mit verschiedenen Protagonisten und Protagonistinnen, das aus einer bestimmten Zeit stammt, eine bestimmte soziale Struktur auch zum Ausdruck bringt. Auf der Subjektstufe entspricht das Märchen einem intrapsychischen dynamischen Prozeß einer Protagonistin oder eines Protagonisten. Andere vorkommende Personen oder auch Tiere werden dann als innere Anteile dieses Protagonisten oder dieser Protagonistin gesehen.
Es war einmal ein Mann, der besaß schöne Häuser in Stadt und Land, goldenes und silbernes Tafelgeschirr, Möbel und Stickereien und vergoldete Kutschen. Aber unglücklicherweise hatte dieser Mann einen blauen Bart. Das machte ihn so häßlich und abschreckend, daß es keine Frau und kein Mädchen gab, die nicht vor ihm geflohen wäre. Eine seiner Nachbarinnen, eine Dame aus vornehmem Stande, hatte zwei wunderschöne Töchter. Der Blaubart erbat sich eine von ihnen zur Frau und überließ es der Mutter, welche von beiden sie ihm geben würde. Beide aber wollten ihn nicht, und eine schob ihn der anderen zu, weil keine sich entschließen konnte, einen Mann mit einem blauen Bart zu heiraten. Außerdem schreckte es sie ab, daß er schon mehrere Frauen geheiratet hatte und daß niemand wußte, was aus diesen Frauen geworden war.
Um sie näher kennenzulernen, lud der Blaubart die Schwestern ein, mit ihrer Mutter, mit drei oder vier ihrer besten Freundinnen und einigen jungen Leuten aus der Nachbarschaft in eines seiner Landhäuser zu kommen. Volle acht Tage verbrachten sie dort mit Spaziergängen, mit Jagd und Fischfang, mit Tanz und Festmahl, wobei Titel und Würden verliehen wurden. Sie kamen überhaupt nicht zum Schlafen, sondern verbrachten die Nächte mit Scherz und Spiel. Zu guter Letzt war es soweit, daß die Jüngste den Bart des Hausherrn schon nicht mehr so blau fand und ihn selbst aller Ehren wert. Sobald sie in die Stadt zurückgekehrt waren, wurde die Hochzeit gefeiert.
Nachdem ein Monat vergangen war, sagte der Blaubart zu seiner Frau, er müsse in einer wichtigen Angelegenheit für mindestens sechs Wochen in die Provinz reisen, und sie möge sich in seiner Abwesenheit gut unterhalten; sie könne sich ihre Freundinnen einladen und mit ihnen aufs Land fahren, wenn sie Lust hätte, und sie solle das Beste aus Küche und Keller auftischen lassen. „Hier sind die Schlüssel“, sagte er dann, „diese sind für die beiden großen Möbelkammern, diese sind für das goldene und silberne Tafelgeschirr, das nicht alle Tage benutzt wird, diese für die eisernen Truhen, in denen mein Gold und mein Silber aufbewahrt ist, diese für die Kassetten mit meinen Edelsteinen, und dies ist der Hauptschlüssel für alle Gemächer. Und dieser kleine Schlüssel hier, das ist der Schlüssel zu dem kleinen Gemach am Ende des langen Ganges im Erdgeschoß. Ihr dürft alles öffnen und überall hineingehen, nur nicht in dies kleine Gemach. Ich verbiete Euch, es zu betreten, ich verbiete es Euch mit aller Strenge. Solltet Ihr es dennoch tun, würde Euch mein fürchterlichster Zorn treffen.“ Sie versprach, alles, was er ihr befohlen hatte, genau zu befolgen. Er umarmte sie, stieg in seine Kutsche und trat seine Reise an.
Die Nachbarinnen und guten Freundinnen warteten nicht, bis sie eingeladen wurden, die Jungvermählte zu besuchen, denn sie brannten vor Neugier, allen Reichtum des Hauses zu sehen. Solange der Gemahl da war, hatten sie nicht zu kommen gewagt, weil sie sich fürchteten vor seinem blauen Bart. Jetzt aber liefen sie durch die Gemächer, durch Kammern und Kleiderzimmer, von denen die einen immer schöner und prächtiger waren als die anderen. Dann stiegen sie hinauf zu den Möbelkammern, wo des Staunens kein Ende war über die vielen herrlichen Teppiche, die Betten, die Sofas, die Schränke mit den Geheimfächern, die Tische und die Spiegel, in denen man sich von Kopf bis Fuß sehen konnte, mit Rahmen aus Glas, aus Silber und aus vergoldetem Silber, die schönsten und prächtigsten, die man je gesehen hatte. Sie konnten sich nicht genugtun, überschwenglich das Glück ihrer Freundin zu preisen und zu neiden. Die junge Frau jedoch hatte keine rechte Freude beim Anblick all dieser Schätze vor lauter Ungeduld, das kleine Gemach im Erdgeschoß zu öffnen.
Sie war so getrieben von ihrer Neugier, daß sie nicht daran dachte, wie unhöflich es sei, ihre Gäste alleine zu lassen, über eine kleine Geheimtreppe eilte sie hinab mit so großer Hast, daß sie sich zwei- oder dreimal fast den Hals gebrochen hätte. Als sie vor der Tür des kleinen Gemaches angelangt war, hielt sie erst einen Augenblick inne und dachte an das Verbot ihres Gemahls und überlegte, daß ihr Ungehorsam sie unglücklich machen könnte. Aber die Versuchung war so groß, daß sie ihr erlag. Also nahm sie den Schlüssel und öffnete zitternd die Tür zu dem Gemach.
Zuerst sah sie nichts, weil die Fensterläden geschlossen waren; nach einigen Augenblicken konnte sie erkennen, daß der Fußboden mit geronnenem Blut befleckt war. Und in diesem Blut spiegelten sich die Leiber mehrerer toter Frauen, die rings an den Wänden festgebunden waren. (Es waren alle Frauen, die der Blaubart geheiratet und eine nach der anderen umgebracht hatte.) Die junge Frau glaubte, vor Furcht zu sterben, und der Schlüssel, den sie aus dem Schloß gezogen hatte, fiel ihr aus der Hand. Nachdem sie ein wenig zur Besinnung gekommen war, hob sie den Schlüssel auf, schloß die Tür wieder ab und stieg in ihr Zimmer hinauf, um sich zu fassen, aber es gelang ihr nicht, zu groß war ihre Erregung. Als sie bemerkte, daß der Schlüssel mit Blut befleckt war, wischte sie ihn zwei- oder dreimal ab, aber das Blut ließ sich nicht beseitigen. Sie mochte ihn noch so oft abwaschen, sie mochte ihn sogar mit Sand und Sandstein scheuern, immer blieb er blutig, denn der Schlüssel war verzaubert, und es gab kein Mittel, ihn völlig zu reinigen: Hatte man das Blut auf der einen Seite entfernt, so kam es auf der anderen wieder hervor.
Noch am selben Abend kehrte der Blaubart von seiner Reise zurück. Er sagte, er habe unterwegs Briefe empfangen, daß die Angelegenheit, derentwegen er zur Reise aufgebrochen war, sich bereits zu seinen Gunsten entschieden habe. Seine Frau tat, was sie konnte, um ihm zu bezeugen, wie entzückt sie sei über seine schnelle Rückkehr. Am nächsten Tag verlangte er die Schlüssel zurück. Sie gab sie ihm so zitternd, daß er ohne Mühe erriet, was vorgefallen war. „Wie kommt es“, sagte er, „daß der Schlüssel für das kleine Gemach nicht dabei ist?“ – „Ich muß ihn oben auf meinem Tisch gelassen haben“, antwortete sie. „Vergeßt nicht, ihn mir nachher zu geben“, sprach der Blaubart. Sie zögerte es so lange wie möglich hinaus, aber schließlich mußte sie ihm den Schlüssel bringen. Als der Blaubart ihn betrachtet hatte, sagte er zu seiner Frau: „Warum ist Blut an diesem Schlüssel?“ – „Das weiß ich nicht“, erwiderte die arme Frau, bleicher als der Tod. „Das wißt Ihr nicht?“ rief der Blaubart. „Aber ich, ich weiß es! Ihr wolltet in das kleine Gemach! Nun, meine Liebe, Ihr sollt hineinkommen und Euren Platz haben neben den Damen, die Ihr dort gesehen habt.“ Sie warf sich weinend ihrem Gemahl zu Füßen und flehte um Gnade und zeigte wahre Reue, daß sie so ungehorsam gewesen war. Sie hätte einen Felsen erweicht, so schön und so verzweifelt wie sie war. Aber des Blaubarts Herz war härter als ein Felsen. „Ihr müßt sterben, meine Liebe, und zwar sofort!“ – „Wenn ich denn sterben muß“, antwortete sie und sah ihn tränenüberströmt an, „so gebt mir noch ein wenig Zeit, um zu Gott zu beten.“ – „Ich gebe Euch eine halbe Viertelstunde“, erwiderte der Blaubart, „aber nicht einen Augenblick mehr.“
Als sie oben in ihrem Zimmer allein war, rief sie ihre Schwester und sagte: „Meine liebe Anne“ (denn so hieß die Schwester), „bitte steige auf den Turm, um zu schauen, ob unsere Brüder nicht kommen; sie haben versprochen, mich heute zu besuchen. Wenn du sie siehst, gib ihnen Zeichen, daß sie sich beeilen.“
Die Schwester stieg auf den Turm hinauf, und die arme Verzweifelte rief ihr von Zeit zu Zeit zu: „Anne, meine Schwester Anne, siehst du nichts kommen?“ Und die Schwester antwortete ihr: „Ich sehe nur die Sonne, die scheint, und das Gras, das grünt.“ Indessen rief der Blaubart, einen großen Hirschfänger in der Hand, aus Leibeskräften nach seiner Frau: „Komm sofort herunter, oder ich komme hinauf!“ – „Noch einen Augenblick bitte“, bat seine Frau und rief leise: „Anne, meine Schwester Anne, siehst du nichts kommen?“ Und die Schwester antwortete: „Ich sehe nur die Sonne, die scheint, und das Gras, das grünt.“ – „Komm jetzt sofort herunter“, schrie der Blaubart, „oder ich komm’ hinauf!“ – „Ich komme ja schon“, erwiderte seine Frau, und dann rief sie: „Anne, meine Schwester Anne, siehst du nichts kommen?“ – „Ich sehe eine große Staubwolke auf uns zukommen“, erwiderte die Schwester. „Sind es die Brüder?“ – „Ach nein, liebe Schwester, es ist eine Schafherde.“ – „Willst du endlich herunterkommen?“ brüllte der Blaubart. „Einen Augenblick noch“, erwiderte seine Frau, und dann rief sie: „Anne, meine Schwester Anne, siehst du nichts kommen?“ – „Ich sehe zwei Reiter auf uns zukommen“, antwortete die Schwester, „aber sie sind noch sehr weit!“ Und gleich darauf: „Gott sei Lob und Dank. Es sind die Brüder! Ich gebe ihnen Zeichen, so gut ich kann, damit sie sich beeilen.“
Da schrie der Blaubart so laut, daß das ganze Haus erzitterte. Die arme Frau stieg hinab und warf sich ihm zu Füßen, in Tränen aufgelöst und mit zerrauftem Haar. „Es nützt Euch alles nichts“, sagte der Blaubart, „Ihr müßt sterben.“ Er packte sie mit einer Hand bei den Haaren, mit der anderen hob er den Hirschfänger, um ihr den Kopf abzuschlagen. Die arme Frau blickte ihn an, Todesangst in den Augen, und bat ihn, ihr einen letzten Augenblick zu gewähren, damit sie sich sammeln könne. „Nein, nein“, sagte er, „befiehl deine Seele Gott.“ Und er holte aus mit dem Arm… In diesem Augenblick wurde so laut an die Tür geklopft, daß der Blaubart kurz innehielt. Man öffnete, und zwei Reiter stürzten mit dem Degen in der Hand geradenwegs auf den Blaubart zu. Er erkannte die Brüder seiner Frau, den Dragoner und den Musketier, und ergriff sofort die Flucht, um sich zu retten. Aber die Brüder blieben ihm auf den Fersen und stellten ihn, bevor er die Freitreppe erreichen konnte. Sie durchbohrten ihn mit ihren Degen und ließen ihn tot liegen.
Die arme Frau war fast so tot wie ihr Mann. Sie hatte nicht mehr die Kraft, um sich aufzurichten, um ihre Brüder zu umarmen.
Es stellte sich heraus, daß der Blaubart keine Erben hatte, und so fiel sein ganzer Reichtum seiner Frau zu. Einen Teil davon verwendete sie dazu, ihre Schwester Anne mit einem jungen Edelmann zu vermählen, den sie seit langem liebte, von einem anderen Teil erwarb sie für ihre beiden Brüder den Hauptmannsrang, und den Rest brachte sie selbst einem höchst ehrenwerten Mann mit in die Ehe, der sie die schlimme Zeit vergessen ließ, die sie mit dem Blaubart verbracht hatte.2
Blaubart ist deutlich Aggressor, die junge Frau das Opfer.
Wie haben Sie sich Blaubart vorgestellt? Jeder Mensch hat ein eigenes Bild, und diese Bilder sind in Ordnung. Man kann natürlich realitätsnah sich einen blassen Mann mit seinem schwarzblauen Bart vorstellen, aber man kann sich auch ganz andere Bilder vorstellen. Es gibt ja ganz verschiedene Blautöne. In unserer Imagination haben wir eine große Freiheit der Vorstellung.
Was aber soll der blaue Bart? Was ist seine Funktion? Hervorstechende Körpermerkmale im Märchen haben immer auch eine Funktion. Die Farbe des Bartes ist ungewöhnlich, hat etwas Gespenstisches, er schafft Distanz.
Die jungen Frauen reagieren zunächst ablehnend, und zwar nicht nur wegen des blauen Bartes, sondern auch wegen der verschwundenen Frauen, von denen man sich erzählt. Sie stehen vorerst zu ihrem ablehnenden Gefühl – sie sind noch keine Opfer – vorerst. Blaubart hat nicht nur einen blauen Bart, sondern er ist auch ungeheuer reich. Offenbar hat er Titel und Würden zu vergeben. Das verführt. Volle acht Tage verbrachten die jungen Frauen auf seine Einladung hin mit Spaziergängen, Tanz, Festmahl. Es geschieht viel in dieser kurzen Zeit. Etwas Besonderes wird da inszeniert, mit großem Tempo, viel Vitalität, mit einer fast manischen Raserei, geschlafen wird nicht. Vielleicht sind am Ende alle „blau“.
Die Folge: die jüngste Tochter fand den Bart des Mannes gar nicht mehr so blau. Sie ließ sich bestechen. Dieses Moment spielt bei der Aggressor-Opfer-Thematik eine wichtige Rolle. Die Distanz ist wesentlich verringert, sie hat jetzt Anteil an Blaubart und an seinem Reichtum und dem damit zusammenhängenden Lebensstil. Sie partizipiert an seiner Macht, an seiner Bedeutung. Sieht man diese Situation nun unter der Aggressor-Opfer-Thematik, dann würde man sagen, daß der Blaubart zu Anfang wenig Macht, und die jungen Frauen verhältnismäßig große Macht hatten. Er sucht Nähe, sie wehren ihn ab. Das ist die erste Phase – die Distanz.3
Daraufhin verführt er sie mit allem, was er hat – nicht mit dem, was er ist–, und jetzt nähert sich ihm die Jüngste in der Macht in etwa an.
In der dritten Phase – der Phase der Hochzeit und nach der Hochzeit – verändert sich das Verhältnis nochmals entscheidend. Es ist nicht so, daß der Aggressor immer Aggressor bleibt und das Opfer immer Opfer. Opfer und Aggressor können sehr leicht die Rollen vertauschen. Die Frau gewinnt zunächst noch durch die Identifikation mit seiner Macht an Bedeutung, diese ist aber in bezug auf ihr wahres Selbst kleiner geworden. Sie ist nicht mehr bei sich, sie hat ihr Gefühl verraten. Der Mann mag noch so reich sein, der blaue Bart, der wohl gespenstisch anmutete, der Angst auslöste und dadurch Distanz erzwang, hat sich keineswegs verändert, auch wenn er ihr weniger blau zu sein schien. Sie bringt aber ihr berechtigtes, mißtrauisches Gefühl zum Schweigen und verrät sich selbst. Sie verliert also an wirklicher Macht, die man natürlicherweise hat und die man, wenn man mit sich selbst im Lot ist, auch nicht mißbrauchen muß. Aber von der Welt der äußerlichen Bedeutung her gesehen ist sie außerordentlich mächtig. Die Identifikation mit dem Angreifer gibt eine vermeintliche Größe. Eine solche „Identifikation mit dem Angreifer“ ist auch ein bekannter Abwehr- oder Bewältigungsmechanismus: Ängstigen wir uns vor jemandem, dann können wir seinen Stand- und Gesichtspunkt übernehmen, uns selber dabei verraten und dabei vorübergehend unser Selbstwertgefühl stabilisieren, weil wir ja vermeintlich mit dem Starken einig gehen – wir sind identifiziert mit dem Angreifer.
Dazu ein Beispiel: Sie sind in einer Männerrunde die einzige Frau. Die Männer sagen scheinbar anerkennend: „Gut, daß wir dich da haben, denn mit den Weibern kann man ja sonst doch nichts machen.“ Wenn Sie diesen Satz stehenlassen oder sich gar für das Kompliment bedanken, dann identifizieren Sie sich mit den Angreifern. Wenn Sie so reagieren, dann, um vermeintlich gut angesehen zu sein. Sprechen Sie das Problem an, dann werden sie kritisiert, vielleicht als eine ganz schreckliche Emanze abgestempelt. Sie haben dann an Ansehen verloren, aber Sie haben sich selber nicht verleugnet und verraten. Sie verlieren jedoch viel Macht und Ansehen in den Augen der Angreifer.
Die Identifikation mit dem Angreifer, auf die wir noch eingehen wollen, ist eine zentrale Problematik bei der Aggressor-Opfer-Thematik.
Um zu verhindern, daß man ein Opfer wird, kann man sich eine vermeintliche Größe zulegen. Das Erlangen dieser vermeintlichen Größe erfordert oft, daß man sich von sich selber entfernt. Und das ist bereits ein erster Schritt in Richtung der Opferposition. Vom Märchen her gesehen: Die Distanz besteht nicht mehr zum Blaubart, sondern von der Frau her gesehen zu sich selber.
Beschäftigen wir uns mit der Schlüsselszene: Nach einem Monat sagt der Blaubart zu seiner Frau, er müsse verreisen. Gleich kommen alle Freundinnen zu Besuch und durchsuchen das ganze Haus. Eine ungeheure Neugier bricht sich Bahn. Die Frau vom Blaubart ist sehr ungeduldig, in das ihr verbotene Gemach zu kommen. Sie beeilt sich so sehr, daß sie sich beim Hinuntergehen schon zwei-, dreimal fast den Hals gebrochen hätte. In diesem Moment ist sie sicher nicht das Opfer von Blaubart, höchstens das Opfer ihrer Ungeduld und ihrer Neugierde. Im Gegenteil: für diesen Moment ist sie von außen gesehen die Herrin, denn sie hat die Macht, eine ungeheure Macht. Sie hat etwas zu zeigen, und sie hat auch die Schlüsselgewalt.
Verbotene Kammern im Märchen bezeichnen jeweils eine Tabuzone. Dieses Tabu muß gebrochen werden, damit es zu einem weiteren Entwicklungsschritt kommen kann.4 Der Tabubruch ist sozusagen ein glücklicher Sündenfall, der im Märchen zwar jeweils geahndet wird, aber dennoch die Öffnung auf eine andere, bessere Zukunft hin bedeutet. Wir haben uns daran gewöhnt, daß im Märchen regelhaft das Tabu gebrochen wird, man würde sich wundern, würde es nicht gebrochen. Dennoch wird der Tabubruch meistens schwer geahndet. Wer ein Tabu bricht, muß dafür mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit, des ganzen Lebens bezahlen. Ein Tabubruch verändert das Leben total. Er erfordert einen totalen Einsatz aller Kräfte, um die ausstehende Veränderung herbeizuführen; denn es geht um die Integration von etwas, was bisher abgespalten war, „abgeschlossen“, es geht um das Erkennen und Akzeptieren eines verbotenen Raumes.