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"Wo Licht ist, ist auch Schatten", heißt es. Ebenso verhält es sich mit der menschlichen Persönlichkeit: Wir stellen bestimmte Seiten von uns ins Licht, während andere Persönlichkeitsaspekte ins Unbewusste verdrängt werden. Der Schatten ist das, was ein Mensch nicht sein will, aber gleichwohl ist, und er wird oft auf andere projiziert – z.B. auf Fremde oder Asylantinnen und Asylanten – und dort bekämpft. Der Schatten kann aber auch positiv sein und verborgene Fähigkeiten und Potenziale enthalten. In diesem Standardwerk zum Schattenkonzept C. G. Jungs zeigt die renommierte Jung'sche Analytikerin und Psychotherapeutin Verena Kast: Wenn wir bereit sind, für unsere dunklen Seiten die Verantwortung zu übernehmen, wird der Schatten zu einer Kraft, die uns menschlicher und lebendiger macht.
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Cover
Haupttitel
Inhalt
Über die Autorin
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Leseempfehlung
Verena Kast
Der Schatten in uns
Die subversive Lebenskraft
Patmos Verlag
Vorwort
Der Schatten – ein Konzept von C. G. Jung
Persona und Schatten
Der Funktion der Persona
Die Sozialisation der Persona
Die geschönte Existenz und der Schatten
Der Schatten
Der Schatten der anderen Menschen ist interessant
Der eigene Schatten ist lästig
Abwehr des Schattens
Der Doppelgänger
Schattenschwestern/Schattenbrüder
Vom Umgang mit dem alltäglichen Schatten
Ertappt bei schattenhaftem Verhalten
Die Schattenverschreibung
Die »Man-Persona«, der »Man-Schatten«
Der Schatten als das Fremde
Das Fremde als das Faszinierende
Das Fremde als das Unheimliche
Der Schatten als die Fremden
Sind wir uns denn so fremd?
Der kollektive Schatten
Das Böse
Der kollektive Schatten und die Frage nach einer neuen Ethik
Der kollektive Schatten
Eine neue Ethik?
Modelle von Schattenakzeptanz
Schattenakzeptanz im Mythos
Schattenakzeptanz im Märchen
Über Entwicklung zur Akzeptanz eines komplementären Schattens
Der Kampf mit dem Schatten: Gilgamesch und Enkidu
Schattenkampf – Konfliktfreundschaft
Die Akzeptanz des komplementären und des analogen Schattens
Der komplementäre Schatten – die unbekannte Seite
Die Akzeptanz des analogen Schattens durch Kampf
Was die Akzeptanz des Schattens erschwert
Lieber sterben, als das Gesicht zu verlieren
Das Schattenkonglomerat
Der Schatten in der Beziehung
Den Schatten vom anderen »verdauen lassen«
Die Delegation des Schattens
Der »gemeinsame« Schatten ist bedeutender als der »einsame«
Der Schatten der Beziehungsideale
Der Familienschatten
Die Sprengkraft des Schattens
Die verschatteten Frauen
Schluss
Dank
Anhang
Literatur
Anmerkungen
Es gibt Themen, die nie veralten, wie etwa das des menschlichen Schattens. Wer kennt nicht die Novelle von Robert Louis Stevenson: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hide. Mr. Hide, der sich eben versteckt, nachts sein Unwesen treibt, Dr. Jekyll, der Menschenfreund, der Wohltäter. Dabei geht es nicht um zwei Menschen, sondern um zwei Seiten des einen Menschen: die eine Seite so hell, so schön, die andere so abscheulich – der Schatten eben. So krass wie in dieser Geschichte sind die Unterschiede zwischen der bewussten Haltung, aber auch dem Bild, das man von sich zu zeigen bemüht ist, und den verdrängten unansehnlichen, verwerflichen Seiten nicht – aber als Beispiel mag diese Geschichte allemal gelten. Der Schatten: das Bedrohliche aus dem Untergrund, das Verbotene, das Bedrohliche, mit dem man sich auseinandersetzen muss und es oft doch nicht kann.
Natürlich wissen Menschen um ihren Schatten; die meisten Erzählungen handeln von ihm, auch davon, wie man mit ihm umgehen kann. Und dennoch: Er wird projiziert, bei anderen Menschen gesehen, dort manchmal auch etwas voyeuristisch genossen – der andere ist ja schattenhaft, nicht ich! –, er wird gegeißelt und bei sich selbst geleugnet.
C. G. Jung hat 1912 das Schattenkonzept erstmals formuliert und wohl alle schreibenden Jungianer und Jungianerinnen haben sich weiter damit auseinandergesetzt. Das Konzept, das auf den ersten Blick so eingängig den Widerspruch beschreibt zwischen dem, was wir sein wollen, und dem, was wir dennoch auch sind, selbst wenn es uns peinlich ist, geht aber viel tiefer. Oft ist der Schatten uns fremd, gar nicht einfach »böse«, aber fremd, und uns deshalb unheimlich, wie alles, was wir noch nicht kennen. Wir wissen aber, dass der Schatten leicht projiziert wird, und so hängt die Frage nach einem schattensensitiven Umgang mit sich selbst auch damit zusammen, wie wir mit Fremdem und dem Fremden umgehen – ein wichtiges Thema.
Im vorliegenden Buch habe ich Aspekte des Umgangs mit dem Schatten im eigenen Leben, im Leben der Paare, der Gemeinschaft gestreift. Ich freue mich darüber, dass dieser Text neu wieder vom Patmos Verlag herausgegeben wird, und danke meiner Lektorin Christiane Neuen sehr herzlich für ihr Engagement und die wie immer sehr angenehme Zusammenarbeit.
Verena Kast, Dezember 2015
Wo Licht hinfällt, da entsteht auch Schatten; sieht man Schatten, ist auch eine Lichtquelle auszumachen: Hell und Dunkel bedingen einander, gehören zusammen. Was in der Natur gilt, gilt auch für die Persönlichkeit: Wir stellen gewisse Aspekte von uns ins Licht, diese sollen gesehen werden, und dadurch geraten andere Aspekte von uns in den Schatten. Oder aber wir versuchen schon von vornherein, gewisse Seiten von uns im Halbdunkel zu lassen – oder auch ganz im Dunkeln.
Diese Metapher von Licht und Schatten weist auf zwei Konzepte von C. G. Jung hin, die einander bedingen: Persona und Schatten. Unter dem Schatten eines Menschen verstehen wir jene Persönlichkeitszüge, die auf gar keinen Fall offen vor der Welt daliegen und gesehen werden sollen. Tun sie es doch, verliert der Betreffende zumindest vorübergehend das Gesicht, was bei den meisten Menschen mit Scham und Angst verbunden ist.
Beim persönlichen Schatten eines Menschen kann es sich um eine einzelne Eigenschaft der Persönlichkeit handeln, die mit einem bestimmten Verhalten verbunden ist und die von diesem Menschen nicht akzeptiert werden kann, zum Beispiel Neid oder Geiz; es können damit aber auch alle zu einem gewissen Zeitpunkt bewussten Eigenschaften und Verhaltensweisen gemeint sein, die wir an uns selber nicht annehmen können und daher verdrängen. Es gibt aber immer auch Schatten, der uns selber verborgen ist.
Das psychologische Konzept des Schattens ist von großer Relevanz; Jung erwähnte es wohl erstmals 19121 im Zusammenhang mit dem Thema des »Schattenbruders« in Die Elixiere des Teufels bei E. T. A. Hoffmann. Die Auseinandersetzung mit dem Schatten blieb seither ein Thema im Denken Jungs; insbesondere im Jahr 1939 sowie 1945 und 1946 ist in seinem Werk oft vom Schatten die Rede. 1948 wurde von Erich Neumann, einem bedeutenden Schüler Jungs, eine Schrift zum Thema publiziert: Tiefenpsychologie und neue Ethik, eine Auseinandersetzung mit dem Schatten und ein Vorschlag, wie er integriert werden könnte.
»Gefunden« wurde nach Jung das Schattenthema von Sigmund Freud. Jung sieht die Freud’sche »Aufklärungsmethode« als eine »minutiöse Ausarbeitung der menschlichen Schattenseiten«2. Sie lasse einem keine Illusionen über das Wesen des Menschen, sie sei das beste Gegengift gegen eine zu idealistische Sicht der menschlichen Persönlichkeit. Jung fügt aber noch hinzu, und das ist typisch für Jung’sches Denken, dass man den Menschen nicht ausschließlich von seiner Schattenseite her erklären dürfe. »Schließlich ist ja nicht der Schatten das Wesentliche, sondern der Körper, der den Schatten erzeugt.«3 In der Jung’schen Psychologie spielt demgemäß nicht nur die Pathologie des Menschen eine Rolle, sondern der Mensch wird auch in seinen Stärken gesehen; sie ist von vornherein eine auf Ressourcen hin orientierte Psychotherapie.
Der Schatten wurde, wie der »Schattenbruder« in Die Elixiere des Teufels von Hoffmann zeigt, in der Literatur seit langem thematisiert: Er ist ein allgemeinmenschliches Thema, das schon immer interessierte. Die tiefenpsychologische Perspektive fragt im Besonderen, in welchem Kontext der Schatten des Menschen entsteht, woraus er besteht und wie mit ihm idealerweise umzugehen wäre. Das sind grundlegende Fragen, denn es geht immerhin um das Dunkle im Menschen, das im zwischenmenschlichen Bereich sehr destruktiv wirken kann.
Bedenken wir die Metapher von Licht und Schatten, dann wird deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, mit Schatten umzugehen, dass auf jeden Fall nicht einfach Licht werden kann, wo Schatten war, denn jede neue Lichtquelle wirft wieder einen neuen Schatten. Es wird in der Auseinandersetzung mit dem Schatten darum gehen, grundsätzlich eine Schattenakzeptanz zu entwickeln, zu verstehen, dass im menschlichen Leben das Helle und das Dunkle zusammenspielen; es wird auch darum gehen, eine Schattensensibilität zu entwickeln, so dass wir lernen, mit den schattenhaften Aspekten in uns verantwortlich umzugehen. Dabei geht es nicht um einen Verlust der Wertehaltung, sondern um eine Umwertung der Werte.
Die Metapher von Licht und Schatten weist, wie oben erwähnt, auf zwei Konzepte von C. G. Jung hin: den Schatten und die Persona. Der Ausdruck Persona geht zurück auf das Schauspiel im alten Griechenland. Da stülpte sich der Schauspieler eine Maske – eine Persona – der mythischen Gestalt über, die er spielte, und damit war er identifiziert mit dieser Gestalt. Nun sind wir, wenn wir uns unsere »Seelenmasken«4 überstülpen, meist nicht identifiziert mit einer mythischen Gestalt, sondern mit einer Vorstellung von uns selbst, wie wir uns in einer Situation am besten präsentieren. Dieses Bild von uns, das wir der Welt zeigen, kann gut mit unserer Identität übereinstimmen, wir können aber auch das Gefühl haben, unecht zu sein, eine Rolle zu spielen, die uns wenig liegt, uns verkleidet zu haben.
Die Persona entspricht zum einen unserem Ichideal, zum anderen unserer Vorstellung davon, wie die Menschen uns sehen wollen. Damit wir möglichst ansehnlich sind, verdrängen wir die Seiten, die nicht zu unserem »schönen« Bild von uns gehören, und daraus wird dann der Schatten, verstanden als die Seiten, die wir an uns nicht akzeptieren können, zu denen wir nicht stehen können. Sie gehören aber dennoch zu unserer Persönlichkeit und zeigen sich, wie alles Verdrängte, auch immer wieder gegen unseren Willen.
Im Zusammenhang mit der jeweiligen Personahaltung oder dem Personaausdruck steht zum Beispiel die Frage, was »man« denn zu einem bestimmen Anlass anzieht, wie »man« sich herrichtet. Eine weitere Frage ist die nach der Kontrolle: Wie sehr kontrolliert »man« in einer bestimmten Umgebung zum Beispiel die Emotionen, wie viel gibt »man« preis von seinen Gefühlen? Welche Seiten von sich selbst zeigt »man«?
Kleider, die Frisur, das Make-up, Hüllen, Fassaden, Masken, aber auch Autos usw. sind symbolische Darstellungen der Persona. Wie wir uns verhüllen, enthüllt auch etwas von uns, präsentiert etwas von uns. Und sehr oft zeigen wir nicht nur das, was wir zu zeigen beabsichtigen, sondern durchaus auch das, was wir eigentlich verhüllen wollen, nämlich den Schatten.
Die Persona ist also das, was wir der Welt in den jeweiligen Beziehungssituationen von uns zeigen, was wir darstellen, wie wir unsere Persönlichkeit in den jeweiligen sozialen Situationen zum Ausdruck bringen. Wir können den Begriff »Persona« eher statisch betrachten, wie man das früher getan hat, und ihn als Identifikation mit einer sozialen Rolle verstehen, wir können ihn aber auch, wie das heute der Fall ist, sehr viel dynamischer bestimmen.
Jung spricht auch gelegentlich dann von der Persona, wenn ein Mensch so ganz und gar identifiziert ist mit der Rolle, die er in der Welt spielt: »Ein häufiger Fall ist die Identität mit der Persona, jenem Anpassungssystem oder jener Manier, in der wir mit der Welt verkehren. So hat fast jeder Beruf die für ihn charakteristische Persona. […] Die Welt erzwingt ein gewisses Benehmen, und die professionellen Leute strengen sich an, diesen Erwartungen zu entsprechen. Die Gefahr ist nur, daß man mit der Persona identisch wird, wie etwa der Professor mit seinem Lehrbuch […].«5 Hier beschreibt Jung eine »erstarrte« Persona: Ein Mensch spielt eine Rolle, kann auch nichts anderes mehr spielen als diese Rolle, ist darin erstarrt, und die lebendige Persönlichkeit ist nicht mehr spürbar.
Heute sind sowohl die Persona an sich als auch das Konzept der Persona viel flexibler geworden. So sind auch Lebensübergänge nicht mehr mit Forderungen nach einer bestimmten Persona verbunden: Unsere Großmütter kleideten sich nach der Menopause in Schwarz, heutzutage kennt die Mode keine Altersgrenze mehr. Es ist immer mehr auch ein spielerischer Umgang mit der Persona auszumachen, bis hin zur Frage: Wie inszeniere ich mich in einem bestimmten sozialen Zusammenhang? Möglicherweise ist das eine Folge der Mediengesellschaft: Zum einen bieten uns die Medien sehr viele Modelle, wie wir uns darstellen können, zum anderen nötigen sie uns auch, uns zu inszenieren.
Solche Inszenierungen werden auch von Künstlerinnen und Künstlern gemacht, etwa von Cindy Sherman, die damit die Absicht der künstlerischen »Demaskierung der gesellschaftlichen Maskenbildnerei von Identitätszwangsjacken für die sogenannte ›Frau‹«6 verbindet. Gesellschaftliche Maskenbildnerei als Rollenzwang und damit auch Personazwang wird durch diese Künstlerinnen in Frage gestellt, und gleichzeitig wird demonstriert, dass man sich diesem Zwang nicht unterwerfen muss.
Wenn der Rollenzwang sich lockert, die Personahaltungen flexibler und auch spielerischer gehandhabt werden, dann ist damit zu rechnen, dass Menschen eher zu gewissen Schattenseiten stehen können, sich nicht mehr »nur schön« sehen müssen. Es ist aber auch damit zu rechnen, dass die fixierten Rollenvorstellungen zu Schatten werden, zu etwas, das wir ablehnen und dann bei anderen Menschen als unemanzipiert geißeln. Ins Bewusstsein kommen müsste eigentlich die Differenz zwischen diesem Spiel mit der Persona – und damit auch der Frage, wie wir unsere Persönlichkeit ausdrücken können – und dem alten, starren Rollenverhalten. Mit der Flexibilisierung der Persona, und das ist bestimmt die Wirkung von einem Jahrhundert tiefenpsychologischen Denkens, setzt unabweisbar die Frage nach der eigenen Identität ein.
Die Persona regelt unsere Beziehung zur Außenwelt, zeigt, was wir zeigen möchten, und bestimmt, welche Aspekte unserer Persönlichkeit von den Mitmenschen gesehen und auch anerkannt werden sollen. Ob ich mich darstelle als ein Mensch mit »vielen Gesichtern« oder als jemand, der sich eigentlich immer gleicht – in genau diesen Aussagen über mich selbst will ich bestätigt werden. Insofern zeigen wir mit unserer Persona durchaus einen Aspekt unserer Identität. Identität ist ja nie allein etwas Inneres, sondern sie muss von der Umwelt immer auch bestätigt werden. Wenn nur ich selbst mich für eine Künstlerin halte und niemand in der Umwelt mir das bestätigt, dann bin ich eben doch keine Künstlerin.
Diese Bestätigung von außen reguliert auch unser Selbstwertgefühl. Wir werden in der Regel versuchen, jeweils die Personahaltung einzunehmen, die uns am meisten Akzeptanz garantiert. Möglicherweise wird uns aber bewusst, dass wir eine solche Haltung nicht einnehmen können, weil wir damit unsere wahre Persönlichkeit verraten. Wir wüssten jeweils schon, wie wir uns zeigen und verhalten müssten, aber wir können das nicht, weil wir authentisch sein wollen. Das Bedürfnis, echt zu sein, und die gesellschaftliche Notwendigkeit, eine bestimmte Rolle zu spielen, können zu einem Konflikt führen.
Andere wiederum haben es längst aufgegeben, Akzeptanz zu erstreben, sie kultivieren eine Persona, die erschrecken soll, die andere Menschen aufschrecken soll und die zumindest Beachtung verschafft. Und Menschen, die sich immer wieder in anderer Aufmachung und auch in einem anderen Stil zeigen, stellen mit ihren Inszenierungen die Frage, wer sie eigentlich sind. Personadarstellungen und Personahaltungen sind also nicht nur die Kehrseite des Schattens, sie verweisen auch auf den Kern der Persönlichkeit.
Die Persona regelt, wie oben erwähnt, die Beziehung zur Außenwelt auch in dem Sinne, dass wir uns entsprechend der Vorstellung geben, wie wir unsere Gefühle in bestimmten Situationen einbringen wollen, in welchem Maße wir unsere Emotionen kontrollieren, in welcher Art wir sie auch kommunizieren wollen. Zur Personahaltung gehören zudem die Konventionen des alltäglichen Miteinanders wie etwa Regeln der Höflichkeit. Mario Jacoby7 betont, wie sehr die Persona die Intimität des einzelnen Menschen schützt, und malt aus, wie es wäre, wenn wir einfach jedes Gefühl ausagieren würden, wenn wir uns an keine Konventionen halten würden.
Jeder Schutz kann indessen auch zu einer Einengung werden. Im Bereich der Emotionen ist das besonders deutlich: Kontrollieren wir unsere Emotionen zu sehr, dann werden die menschlichen Beziehungen kalt, distanziert. Wer die Emotionen zu sehr kontrolliert, empfindet sich bald als unlebendig, verliert den Kontakt zu sich selbst.8 Wer die Emotionen allerdings zu wenig kontrolliert, wird distanzlos, überfällt Menschen ständig mit der eigenen Befindlichkeit. Die Persona schützt also nicht nur die eigene Intimität, sie schützt auch die anderen Menschen vor zu viel Intimität. Die Gefahr besteht darin, dass die Kontrolle übermäßig wird, dass Konventionen – im Dienste der Angepasstheit – übertrieben werden und die Echtheit unserer Gefühle, die ja immer auch zu unkonventionellem Verhalten führt und daher mit gewissen Komplikationen verbunden ist, im zwischenmenschlichen Bereich darunter leidet. Wir spüren dann den anderen Menschen nicht mehr wirklich, fühlen uns nicht mehr auf ihn bezogen.
In der Familie werden wir auf eine bestimmte Personahaltung und Personadarstellung hin sozialisiert. Kleine Kinder zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie kaum Persona zeigen. Erst mit der Entwicklung des Schamgefühls zwischen drei und sechs Jahren9 entwickelt sich auch die Personahaltung, die weitgehend Frucht der Erziehung ist. Kontinuierlich spürt dann das Kind, dass man sich nicht in allen Umgebungen gleich gibt, dass man sich je nachdem unterschiedlich benimmt, um gut anzukommen und nicht anzuecken. In der Adoleszenz werden dann verschiedene Personahaltungen und Personadarstellungen ausprobiert, meist in großer Übereinstimmung mit der Gruppe der Gleichaltrigen.10 Es ist aber keineswegs so, dass in der Adoleszenz die Persona frei wählbar wäre, denn in diesem wichtigen Lebensübergang ist das Selbstwertgefühl labil, und es ist deshalb besonders wichtig, gut anzukommen. Das hat zur Folge, dass sich die Heranwachsenden einem gewissen Personadruck unterziehen.
Auch der Zeitgeist, der zum Beispiel in der Mode zum Ausdruck kommt, beeinflusst die Darstellung der Persona. Das können wir leicht feststellen, wenn wir Fotos von uns selbst über die Jahre hinweg vergleichen und dabei auch immer wieder feststellen, dass wir uns einer Mode »unterzogen« haben oder uns sichtlich gegen eine bestehende Mode gewehrt haben. Das gilt auch für den Kommunikationsstil, der ebenfalls zur Persona gehört. Jede Jugend hat ihre Sprache mit spezifischen Ausdrücken, und Menschen, die einer vergleichbaren Intereressengruppe angehören, etwa an Psychologie interessierte Menschen, verwenden einen zeitspezifischen Jargon.
Grundsätzlich spielen unsere körperliche und unsere psychische Konstitution im Zusammenhang mit der Persona eine wesentliche Rolle. Es ist einleuchtend, dass jemand mit einem schweren Körperbau sich anders darstellen wird als ein dünnes Leichtgewicht. Doch nicht nur die körperliche Konstitution setzt uns Grenzen bei unserer Selbstdarstellung, sondern auch die psychische. Wenn wir von einer Frau sagen, sie trage ein »gewagtes« Kleid, dann hat dieser Ausspruch mit unserer eigenen Exhibitionsscham zu tun. Dieses Kleid ist deshalb ein gewagtes Kleid, weil wir selber es nicht anzuziehen wagen würden, weil wir uns schämen würden. Es ist unsere psychische Konstitution, die eine bestimmte Exhibitionslust erlaubt, die festlegt, was wir gerade noch zu zeigen wagen oder nicht mehr wagen, und die irgendwo die Schamgrenze setzt. Die Schamgrenze verweist uns auf unsere Grenzen im Uns-zeigen-Können. Sie findet sich nicht bei allen Menschen am selben Ort, sie ist aber flexibel: Geht es uns psychisch gut, dann können wir mehr wagen, geht es uns schlecht, werden wir versuchen, nicht aufzufallen.
Die Persona entspricht des Weiteren dem persönlichen Aspekt unseres Ichideals, dem geschönten Bild, das wir uns von uns machen und das zeigt, wofür wir uns halten, wofür wir uns halten möchten. Meist ist im Ichideal ein recht perfekter Mensch vorgegeben, und somit muss das Unperfekte verdrängt werden. Die Persona entspricht aber auch dem sozialen Aspekt unseres Ichideals, das wir in der Regel als Ideal der Umwelt erfahren, obwohl es weitgehend eine Projektion unseres persönlichen Ichideals ist.
So war ein Student zutiefst davon überzeugt, dass er nur akzeptiert werde, wenn er perfekt ausgearbeitete Referate liefere, obwohl nur Thesenpapiere gefordert waren. Seine Argumentation: Thesenpapiere fordert der Professor nur deshalb, weil er den meisten nicht zumuten kann, eine Arbeit wirklich perfekt auszuarbeiten. Erst die rigorose Forderung, auch ein solches Thesenpapier zu verfassen, brachte den Studenten dazu, sich zu überlegen, ob er da wohl etwas falsch verstanden hatte. Es ist offensichtlich, dass er sein Ichideal auf den Professor und auf die Lernsituation projizierte.
Dass man sich an den eigenen Anforderungen misst, sich aber auch mit der Meinung der anderen beschäftigt, um dadurch im Selbstkonzept bestätigt oder zur Revision angeregt zu werden, ist konstitutiv sowohl für die Persona als auch für den Schatten.
Das Ideal der Umwelt ist ebenfalls zusammengesetzt: Zum einen handelt es sich um den Zeitgeist und die Anpassung an das, was Mode ist – den sichtbar gemachten Zeitgeist. Zum anderen sind es aber auch verinnerlichte Erwartungen aus der Kindheit, die wir auf die Umgebung projizieren. Sagt zum Beispiel jemand: »Das kannst du dir in dieser Situation absolut nicht leisten«, dann kann dieser Satz sehr wohl ein »Vater- oder Muttersatz« sein, der mit unseren Vater- oder Mutterkomplexen zusammenhängt, die wir noch zu wenig bearbeitet haben.11 In der Folge unterwerfen wir uns der Umgebung projektiv, das heißt, wir sind überzeugt, dass die Umwelt eine genaue Vorstellung hat, wie wir uns benehmen, anziehen, geben sollen. Gelegentlich geben wir uns große Mühe, diesen vermeintlichen Anforderungen zu entsprechen, ernten aber keine besondere Akzeptanz und auch keine besondere Aufmerksamkeit – wir haben nur eine alte Geschichte agiert. Elterliche Gebote führen sehr leicht zu Personahaltungen.
Die Persona ist, zusammenfassend gesagt, eine psychische, physische und soziale Haltung, die zwischen der inneren und der äußeren Welt vermittelt, vielleicht mehr »Gesicht« als »Maske«, wie Rudolf Blomeyer das formuliert.12 In der Personahaltung muss also etwas ausgedrückt sein, das zutiefst unserem Wesen entspricht, auch wenn die Persona eine Anpassung an die Anforderungen der Gesellschaft darstellt. Und selbst wenn die Persona inszeniert wird, und dies geschieht vielleicht immer häufiger, wird dennoch von innen und von außen so etwas wie »Identität« einer Person erlebt: das Gleichbleibende durch alle Veränderungen hindurch. Deshalb werden die meisten Menschen von anderen über Zeiten und Situationen hinweg als verhältnismäßig unverändert wahrgenommen.
Menschen machen sich gern schöner, als sie sind, wenn sie in die Außenwelt gehen. Und sie wissen das auch. Kaum jemand zeigt freiwillig seine weniger schönen Seiten. Das Ärgerliche ist nur, dass diese dennoch sichtbar werden. Jung schreibt 1945 dazu: »[In der] Konfrontation mit der Wirklichkeit ohne falsche Schleier und sonstige Verschönerungsmittel […] tritt der Mensch hervor, wie er ist, und zeigt das, was zuvor unter der Maske der konventionellen Anpassung verborgen war, nämlich den Schatten. Dieser wird durch die Bewußtwerdung dem Ich integriert, wodurch sich eine Annäherung an die Ganzheit vollzieht.«13
Bemerkungen wie diese, die bei Jung immer wieder zu finden sind, haben der Persona einen gelegentlich etwas schlechten Beigeschmack verpasst. Als ob man bewusst eine bestimmte Persona wählt, um damit den Schatten zu verbergen. Das kann natürlich in einer gewissen Situation so sein: Ein Mann, der seine Homosexualität nicht akzeptieren kann, sie als »schattenhaft« erlebt und überzeugt davon ist, dass er nicht weiterleben könnte, wenn seine Umgebung es erfahren würde, gibt sich als großer Frauenheld. Das ist die bewusste Wahl einer Personahaltung, die den Schatten verdecken soll. Sehr oft aber haben wir nicht die Intention, eine ganz bestimmte Schattenqualität mit unserer Personahaltung zu verdecken. Wir versuchen einfach, uns selbst so schön wie möglich zu finden und dies von der Umwelt auch bestätigt zu bekommen, damit wir ein gutes Selbstwertgefühl aufrechterhalten können.
Ein weiterer Aspekt in Jungs Beschreibung des Schattens ist mir wichtig: Noch 1945 ist er der Ansicht, dass der Schatten integrierbar ist und dass ein Mensch durch die Integration des Schattens seiner Ganzheit näherkommt. Es ist unbestreitbar so, dass der Schatten zum Menschen gehört und dass man durch Integration von Verdrängtem Zugang zu Aspekten der Persönlichkeit hat, die zu einem gehören. Schattenintegration setzt aber voraus, dass der Schatten auch wirklich vollständig zu integrieren ist, also in keiner Weise mehr abgelehnt werden muss. Das scheint mir etwas idealistisch gedacht zu sein – als Hypothese natürlich bestechend, denn damit bekämen wir sehr viele Probleme des menschlichen Lebens in den Griff. Was die praktische Umsetzung betrifft, ist diese Vorstellung aber wenig dem Wesen des Menschen nachempfunden; mir scheint es schon eine große Tat zu sein, wenn wir unseren jeweils konstellierten Schatten wahrnehmen und annehmen, mit ihm rechnen und Verantwortung dafür übernehmen.
Das Konzept des Schattens ist weitbekannt und auch akzeptiert, in der Rezeption dieses Konzepts sind jedoch Schlagseiten auszumachen, die zu seinem Missbrauch führen können: Zum einen liefert es eine Erklärung für viele menschliche Unzulänglichkeiten, die als Entschuldigung für unethisches Verhalten gebraucht werden kann; das Konzept wurde geradezu ein Freibrief für schattenhaftes Verhalten. Nehmen wir an, jemand versucht, Sie zu betrügen. Sie ertappen diesen Menschen dabei, er gibt es zu und sagt dann: »Ich stehe halt zu meinem Schatten.« Dass er um seinen Gaunerschatten weiß, berechtigt ihn aber noch lange nicht dazu, ihn zu leben. In der Zwischenzeit spricht man auch in der Psychoanalyse wieder mehr vom Prinzip Verantwortung.
Die fast lustvolle Identifikation mit dem Schatten ist auch eine Folge davon, dass durch die Psychoanalyse deutlich wurde, wie viele lustvolle Aspekte des menschlichen Lebens verdrängt wurden und wie sehr dadurch das Leben verarmte und die Menschen erkrankten. Die »Rückkehr des Verdrängten« war nun durch die Psychoanalyse sanktioniert, was sich besonders auch an der sexuellen Befreiung zeigt und der Psychoanalyse den Vorwurf eintrug, amoralischem Verhalten Vorschub zu leisten.
Den Schatten zu integrieren bedeutet natürlich nicht, ihn hemmungslos auszuleben. Das ist ein Missverständnis. Daher hat sich allmählich eingebürgert, dass heutige Autorinnen und Autoren nicht mehr so sehr von »Integration des Schattens«, sondern eher von »Akzeptanz des Schattens« sprechen. Damit werden sie auch dem ursprünglichen, dynamischen Konzept des Schattens gerechter, das besagt, dass neues Licht immer auch neuen Schatten bewirkt.
Schattenakzeptanz bedeutet, dass wir in einer bestimmten Situation die Schattenqualität unseres eigenen Verhaltens erkennen und – vielleicht vermittelt durch einen Traum – gegebenenfalls unser Verhalten korrigieren, dass wir uns aber in jedem Fall fragen, was es bedeuten würde, wenn wir diesen Schattenaspekt voll ausleben oder in eine Beziehung einbringen, welche Konsequenzen das Ausleben eines bestimmten Schattenaspekts hat. Wir müssen eine Schattensensibilität entwickeln, sowohl in Bezug auf unseren Schatten als auch auf den Schatten der anderen. Schattenakzeptanz und Schattensensibilität bringen eine Zunahme von Selbsterkenntnis, Toleranz uns selber und den anderen gegenüber sowie eine Abnahme von Heuchelei mit sich.
Der Schatten ist inhaltlich nicht definiert.14 Alles, was wir nicht oder noch nicht akzeptieren können, kann zum Schatten werden.15
Wenn wir von unserem persönlichen Schatten sprechen, meinen wir damit alle Schattenanteile, die uns bewusst sind, wie auch diejenigen, die wir erahnen. So kann jemand ohne Weiteres formulieren, was er oder sie an sich hasst – das Hassenswerte verweist uns immer auf unseren Schatten –, zum Beispiel das Aufbrechen von alten Programmierungen, Egoismus, Unterwürfigkeit, Dominanz der Sinneslust über alles andere, Besitzgier usw. Wir können mit »Schatten« aber auch den Schattenanteil benennen, der im Moment besonders aktuell ist. Es gibt jedoch immer auch Schattenanteile, die uns selber verborgen sind.
Träume sind besonders geeignet, uns Schattenanteile, um die wir nicht wissen, bewusst zu machen:
Ein Mann träumte über einige Wochen hinweg von männlichen Gestalten, die sich dadurch auszeichneten, dass sie alle geschlitzte Ohren hatten. Als ihm bewusst wurde, dass die Träume ihn auf seine »Schlitzohrigkeit« in ganz konkreten Lebenssituationen hinwiesen – was ihm äußerst peinlich war, weil er sich durch und durch für geradlinig hielt und den Gedanken daran, dass auch er andere Menschen übervorteilen könnte, weit von sich wies –, verschwanden diese Träume. Schlitzohrigkeit war zwar weiterhin ein Thema in der Therapie, aber es standen wieder andere psychische Anteile im Zentrum des Interesses.
Unser Schatten ist uns ausgesprochen peinlich. Werden wir bei einem schattenhaften Verhalten, das heißt einem Verhalten, das nicht unserem Ichideal entspricht, ertappt, schämen wir uns. Deshalb haben wir die Neigung, Schattenaspekte auf andere Menschen zu projizieren, sie an anderen wahrzunehmen. Wir machen diese Menschen zu Sündenböcken, an ihnen ärgert uns, was mit unseren eigenen Schattenseiten zu tun hat oder zumindest damit zusammenhängt.