Nostalgie und Aufbruch - Verena Kast - E-Book

Nostalgie und Aufbruch E-Book

Verena Kast

0,0

Beschreibung

Aus Furcht vor der Zukunft die Sehnsucht nach einem verklärten Gestern pflegen? Oder Lust auf Zukunft zulassen und beharrlich das Mögliche anpeilen und gestalten? Wann immer Zukunftsangst uns lähmt, bleiben wir Opfer der Situation, wo immer wir mitgestalten, eröffnen wir die Möglichkeit zu Veränderungen und damit die Zuversicht und die Vorfreude darauf. Verena Kast wendet sich gegen den allgemeinen Trend, die Vergangenheit zu glorifizieren – und die Gegenwart dabei abzuwerten. Scharfsinnig und mit feiner Ironie lädt sie uns dazu ein, diese "Vergangenheitssucht" zu überwinden. Schließlich gibt es noch ein Leben vor dem Tod!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 77

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verena Kast

Nostalgie und Aufbruch

Von der Lust, die Welt zu gestalten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Agentur IDee

Umschlagmotiv: © antadi1332 / iStock / GettyImages

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services, Leipzig

ISBN Print 978-3-451-60096-8

ISBN E-Book 978-3-451-81874-5

Inhalt

Impressum

Einleitung

Zurück zum Zurück

Warum wende ich mich diesem Thema zu?

Utopie oder Retrotopie

Statt Utopie – Retropie oder Retrotopia …

Zurück

Die Phantasie zurück: eine kollektive Nostalgiephantasie

Von der Angst

Nostalgiephantasien – ein Versuch, die Angst zu besänftigen

Das Aushalten von Ungewissheit

Das aktivierte Bindungssystem

Angst und Ärger

Der Schatten

Angstkontrolle und Gefahrenkontrolle

Nostalgie – Sackgasse oder Hilfe im Umgang mit der Angst?

Formen der Nostalgie

Restaurative Nostalgie – Reflektive Nostalgie

Nostalgiephantasien als persönliche emotionale Erfahrung

Nostalgische Tagträume – nostalgische Emotionen

Die Bedeutung der Sehnsucht

Die Opferrolle

Von der Versuchung, uns als Opfer zu verstehen

Das Ressentiment

Was sagen neuere Forschungen?

Marquard und die „Penetranz der Reste“

Von der Lust, zu gestalten

Positivitätsverdrängung und Explorationslust

Grundemotionssysteme

Die Lust am Gestalten – nicht nur am Bewahren

Vorfreude

Hoffnung und Vertrauen

Positivitätssuche – Hoffnung als Grundemotion

Hoffnung

Hoffnung und Erwartung sind zu unterscheiden

Vertrauen – durch Andere, in Andere, mit Anderen

Sich für das Vertrauen entscheiden

Hoffnung pragmatisch – Die Lust am Gestalten

Anmerkungen

Die Autorin

Einleitung

Diesem Essay liegt mein Vortrag „Utopie oder Retropie? Von der Versuchung, Opfer zu sein, und von der Lust am Gestalten“,1 zugrunde, den ich anlässlich der Tagung der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie in Lindau am 28.10.2018 gehalten habe. Ich habe ihn erweitert und ergänzt und danke hiermit dem Herder Verlag und Herrn Dr. Neundorfer für die Möglichkeit, meine Gedanken in dieser Form zu publizieren.

Zurück zum Zurück

Warum wende ich mich diesem Thema zu?

Weil ich mich dagegen wehre, dass in einer Situation, in der die Menschheit vor sehr schwierigen Herausforderungen steht – ich nenne nur die ökologische Bedrohung, die Digitalisierung, die Bedrohung der Demokratie an vielen Orten der Welt –, als Antwort darauf ein Megatrend in die Verklärung der Vergangenheit geht: Kopf in den Sand, Flucht in eine Vergangenheit, die es so nie gegeben hat, Flucht in eine große Nostalgiephantasie! Also keine lustvollen oder zumindest mutigen Konzepte für die Zukunft, keine Phantasien, wie das menschliche Leben und das Zusammenleben besser gestaltet werden könnten, wie mit den Herausforderungen konstruktiv umgegangen werden könnte – das Beste liegt offenbar hinter uns. Aus Angst zurück zum Zurück!!! (Nach rückwärts.) Und was wollen wir da finden? Das Vertraute, Überschaubare, Kontrollierbare – das Kleinteilige wohl meistens – und damit aber eine notorische Unzufriedenheit pflegen? Uns als Opfer fühlen? Alles verloren geben?

Gegen diese Bewegung zurück steht die Aussage des alten Esels in einer prekären Situation im Märchen der Bremer Stadtmusikanten: „Etwas Besseres als den Tod findest du allemal.“ Alles ist besser als die Selbstdestruktion durch das Aufgeben einer doch auch möglichen guten Zukunft.

Man könnte auch aufbrechen, nicht in blindem Vertrauen, aber zuversichtlich. Die Gegenbewegung zu diesem Zurück wäre das beharrliche Anpeilen und Gestalten von Möglichkeitsräumen, von pragmatischer Hoffnung getragen, manchmal sogar auch lustvoll – trotz allem.

Utopie oder Retrotopie

Utopien: Große Idealvorstellungen von der Zukunft, das haben wir schon lange nicht mehr. Viele kleinere Utopien tun es allerdings auch: Gleiche Rechte für alle, das wäre vielleicht gar keine so kleine Utopie, selber machen statt kaufen, Spaß am Minimalismus: Wie viel Zeug brauche ich wirklich? Und es gibt noch viele andere kleinere und größere Utopien.

Aber: Utopische Visionen für die einen, auch kleine, sind dystopische Visionen für die anderen. Emanzipation der Frauen etwa als gleichberechtigte Partizipation in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist für viele eine erstrebenswerte Utopie, für andere, Konservative, eine Dystopie, nämlich die Auflösung der Geschlechterordnung, die sie erhalten wissen wollen. Und zu schnell sprechen die Repräsentanten einer bestimmten Gruppe einer in den Ideen kontrastierenden Gruppe die Vernunft ab, die Würde ab – und damit auch eine wirkliche Gleichberechtigung.

Statt Utopie – Retropie oder Retrotopia …

Das Wort „Retrotopia“ stammt von Zygmunt Bauman, einem Soziologen, 2017 gestorben, dessen letztes, posthum herausgegebenes Werk eben diesen Titel trägt: Retrotopia. Und eine Hauptthese lautet: Der Glaube an eine bessere Zukunft werde heute ersetzt durch die Hinwendung zur Vergangenheit. Die Visionen „speisen sich nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft, sondern aus der verlorenen, geraubten, verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit.“2 Offenbar fühlen wir uns demnach alle als Opfer, alle beraubt – und der Schritt zurück soll dieses Opfersein aufheben. Opfer deshalb, weil irgendwo die Weltgeschichte eine falsche Abzweigung genommen hat und wir nun mit den üblen Folgen dessen konfrontiert sind. Es wird in dieser Denke offenbar davon ausgegangen, dass die Weltgeschichte einmal einem „richtigen, gottgewollten“ (?) Plan folgte, dass der Strom der Geschichte der Menschheit irgendwie festgelegt war, dass man in Harmonie in einer natürlichen Ordnung leben konnte, bis einigen Intellektuellen, Politikern usw. es eingefallen ist, diese Ordnung zu stören. Es gibt aber keinen vorhersehbaren Strom der Geschichte; weltgeschichtliche Entwicklung ist die Folge unzähliger Wirkfaktoren, die nur teilweise zu beeinflussen sind, die ineinander greifen und unerwartete Emergenzen und Entwicklungen auslösen. Und manchmal sind diese Entwicklungen sehr schnell. Modernes Leben fühlt sich heute an wie eine permanente Revolution.3 Man hat zu wenig Zeit, sich mit den Veränderungen anzufreunden – und das löst Angst aus. Und mit dieser Angst muss umgegangen werden. Aber muss das in der Bewegungsrichtung „zurück“ sein?

Zurück

Zygmunt Bauman sieht eine vierfache Rückwärtsbewegung: „Zurück zu Hobbes“,4 „Zurück zum Stammesfeuer“,5 „Zurück zur sozialen Ungleichheit“,6 „Zurück in den Mutterleib“.7

Zurück zu Hobbes: Von Hobbes stammt die Aussage, der Mensch sei dem anderen Menschen ein Wolf. Und die daraus folgenden brutalen Auseinandersetzungen unter Menschen werden heute in den Medien zu „globalen, markerschütternden Schockereignissen“,8 was wiederum Angst und Wut auslöst und Nachahmer anstachelt. Durch die sozialen Medien können sich diese Meldungen heute blitzschnell verbreiten.

Wenn sich allemal der Stärkere durchsetzt, steht die soziale Gleichheit auf dem Prüfstand oder ist in Gefahr, und damit auch die Demokratie.

Zurück zum Stammesfeuer: Was ist damit gemeint? Eine Phantasie einer ehemals homogenen Gemeinschaft (dem Stamm, dem Volk?), die sich durch aktuelle Verschwörungstheorien und Bedrohungsszenarien stabilisiert, und dadurch eine gemeinsame Identität herstellt, auch als Grundlage für Nationalismus. Damit ist aber auch Ungleichheit programmiert: Wir gegen die Anderen – nicht Wir und die Anderen. Verloren gehen kann dabei auch der gegenseitige Respekt, der davon ausgeht, dass der Andere in vielem auch so ist wie ich, also auch Respekt verdient. Wechselseitiger Respekt, ein universales Verständnis der Würde, ist die Voraussetzung für demokratisches, und das heißt auch freiheitliches Denken und Handeln auch als Voraussetzung der Solidarität.

Zurück zum Mutterleib: Das ist für Psychologen und Psychologinnen ein besonders interessanter Aspekt des „Zurück“. Bauman spricht in diesem Zusammenhang vom Narzissmus, vom Abwenden von der Außenwelt hin zum eigenen Ich, aber auch vom Spiegeln im Spiegelsaal von Facebook und anderen Medien, von der Begegnung vor allem mit dem, was einem ähnlich ist. Keine Ungleichheit und damit Auseinandersetzung, sondern eine vermeintliche Identität.9

Zurück in den Mutterleib heißt aber auch, die Außenwelt Welt sein zu lassen – und sich eine gute Nische zu sichern, in der man sich wohl fühlen kann in dieser unvorhersagbaren, bedrohlichen Umwelt. Es ist eine nostalgische Sehnsucht nach dem Paradies, ein Schrei nach Ruhe.10 Man lässt es sich gut gehen und wartet darauf, dass andere die Lösungen finden; man beklagt, dass man benachteiligt ist, dass Annehmlichkeiten, die man noch hat, vielleicht in Zukunft nicht mehr möglich sein werden. Man möchte alles behalten, so wie es einmal war. Dass sich Leben permanent verändert, wird als eine zu Unrecht herausfordernde Kränkung erlebt von Menschen, die leicht kränkbar sind, denn irgendwie besteht der Anspruch auf ein betreutes Leben, und das wäre in Gefahr. Was fehlt, ist Distanz zu der eigenen Befindlichkeit, die man doch auch mit etwas Humor wahrnehmen könnte. Bei einem nüchterneren, weniger selbstbezogenen Blick auf die Probleme, die natürlich vorhanden sind, gäbe es vielleicht neue Ziele.

Die Phantasie zurück: eine kollektive Nostalgiephantasie

Über das Phänomen der Nostalgie schrieb Mario Jacoby bereits 1980:11 „Die Nostalgiewelle, von der wir seit längerer Zeit überflutet werden, breitet sich immer mehr aus. So folgt beispielsweise eine Antiquitätenmesse der anderen …“12

Die Nostalgie ist nach Swetlana Boym ein Gefühl des Verlusts und der Entwurzelung, zugleich aber auch „eine Romanze mit der eigenen Phantasie“.13

Die Nostalgie als eine historische Emotion ist eine Sehnsucht nach einem Platz der Erfahrung, der nicht mehr mit dem neuen Horizont der modernen Erwartungen übereinstimmt. Die Nostalgie und der Fortschritt gehören im Grunde zusammen, Fortschritt weckt die Nostalgie, die Sehnsucht nach dem Vergangenen, das dann gerne verklärt wird. Kollektive Nostalgie ist nichts Neues. Schon im späten 19. Jahrhundert eroberte sie den öffentlichen Raum: Archive, Volksliedersammlungen, Sammlungen überhaupt wurden modern, das kulturelle Gedächtnis geschätzt, das verdanken wir letztlich der Romantik.

Jetzt aber – so meine ich – haben wir weit über die Bewahrung von vergangenen kulturellen Erzeugnissen hinaus aktivierte kollektive Nostalgiephantasien, die politisch natürlich sehr gut bewirtschaftet werden können und auch bewirtschaftet werden. Phantasien der Nostalgie werden dann aktiviert, wenn wir Menschen beunruhigt sind, die Welt nicht mehr verstehen, uns von den Ereignissen überfordert und bedroht fühlen.

Von der Angst

Nostalgiephantasien – ein Versuch, die Angst zu besänftigen