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"Würden wir uns der Angst mehr stellen, dann bekämen wir mehr Zugang zu dem, was geändert werden muss, aber auch zu dem, was uns Halt gibt. Damit würden wir echter werden, mehr mit unseren Gefühlen verbunden, damit würden auch unsere mitmenschlichen Beziehungen wieder echter und damit lebendiger." (Verena Kast)
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Seitenzahl: 343
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Das Buch
Angst ist ein uns allen vertrautes Gefühl. Angst verändert: uns selber und unsere Beziehungen. Sie hat Einfluß auf die Seele und den Körper, sie spannt an, bedroht, sie stört und in jedem Fall betrifft sie den Kern unseres Selbstseins. Verena Kast beschreibt diese Emotion, analysiert die Dynamik, die sie zum lebensbestimmenden Element machen kann. Sie entschlüsselt ihre Sprache und Ausdrucksformen, zeigt, welche Schwierigkeiten in unerkannten Ängsten ihre Wurzel haben und weist auf die tieferliegende Funktion der Angst hin: Was will die Angst von uns? Was verschließt sie und was kann sie uns eröffnen? Nur wer zur Angst steht, sich nicht in Vermeidungsspiralen bewegt, nicht vor ihr flüchtet, sondern ihr standhält, wer aktiv mit ihr umgeht, kann sie verändern in eine positive Lebenskraft. Verena Kast zeigt, wie durch die Stabilisierung der Identität, durch Akzeptanz auch der dunklen Seiten, Ängste sich verwandeln können. „Würden wir uns der Angst mehr stellen, dann bekämen wir mehr Zugang zu dem, was geändert werden muß, aber auch zu dem, was uns Halt gibt. Damit würden wir echter werden, mehr mit unseren Gefühlen verbunden, damit würden auch unsere mitmenschlichen Beziehungen wieder echter und damit lebendiger.“
Die Autorin
Verena Kast, geboren 1943, Psychotherapeutin, Dozentin am C.G.-Jung-Institut in Zürich, Professorin an der Universität Zürich, Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie. Autorin zahlreicher Bücher.
Verena Kast
Vom Sinn der Angst
Wie Ängste sich festsetzen undwie sie sich verwandeln lassen
Impressum
Originalausgabe
6. Auflage 2013
(12. Gesamtauflage)
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1996
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption und -gestaltung:
R·M·E München/Roland Eschlbeck, Liana Tuchel
Umschlagmotiv: © Photonica
ISBN (E-Book) 978-3-451-80334-5
ISBN (Buch) 978-3-451-05839-4
Inhalt
Angst und Angstbewältigung
Einleitung
Angstfantasien – ihr Einfluß auf unser Erleben
Angstauslöser – Bedrohung und Gefährdung
Angstausdruck – wie Ängste sich zeigen
Angstbewältigung – wie wir mit der Angst umgehen
Das Emotionsfeld Angst – und der Gegenpol der Hoffnung
Die Antriebskraft der Angst – existenzphilosophische Zugänge
Der Anruf zum Unendlichen – Kierkegaard
Die Stimmung der Angst – Heidegger
Mut zur Angst – Konsequenzen
Aspekte der Angst
Anspannung – Möglichkeiten zu entspannen
Ungewißheit – neue Gewißheiten finden
Bedrohung von Werten – neue Sicherheiten suchen
Hilflosigkeit – Entwicklung von Kompetenz
Grundängstlichkeit und aktuelle Angsterlebnisse
Die Vermeidespirale – Flucht, Vermeidestrategien und Korrekturerlebnisse
Kontraphobisches Verhalten – Mut, der die Angst nicht eingesteht
Gefahrenkontrolle – Entstehung sekundärer Ängste
Magische Praktiken – und ihre Wirkung
Die Arbeit an der Identität
Übergangsphasen und ihre Gesetzlichkeiten
Angst und Wut – die Spirale der Gewalt
Angstkontrolle durch Bewältigungsmechanismen
Projektion und Dunkelangst
Die Überformung von intrapsychischen, interpersonalen und psychosomatischen Abwehrmechanismen
Der sekundäre Gewinn aus den Abwehrmechanismen
Die Prägesituationen für die Angstentwicklung
Selbstwerden und Trennungsangst – die Separations-Individuationsphase
Entwicklung von Autonomie und Beziehungsfähigkeit – die Bedeutung der Objektkonstanz
Die Erprobung der Welt – was steuernde Beziehungspersonen bewirken
Angststörungen
Zwangsstörungen
Zwangsstruktur
Panikstörungen
Generalisierte Angst
Panikattacken und Panikstörungen
Herzphobie – Geborgenheits- und Trennungswünsche
Die phobische Charakterstruktur
Traumatische Ängste und posttraumatische Belastungsstörung
Traumaverarbeitung
Wenn ein Trauma nicht verarbeitet werden kann – die posttraumatische Belastungsstörung
Zur Therapie von Panikstörungen
Beziehungsängste
Verlustängste – und die dahinter stehenden Werte
Trennungsangst – verborgene Aggressionen
Angst vor Nähe – Dynamik und Auswege
Angst vor Selbstverlust
Trennungsaggression als brutale Macht
Trennungsaggression als Gleichgültigkeit
Alltägliche Quellen der Enttäuschung
Sexualität – zwischen Geborgenheit und Angst
Die Angst vor der Intensität der Liebesgefühle
Die Angst vor dem Verlust der Intensität der Liebesgefühle
Symbole der Angst
Angstträume
Das Bedrohliche und die Kompetenz des Traum-Ichs
Eingeengtsein – sich Raum nehmen
Angegriffenwerden – Kontakt aufnehmen, Kommunizieren
Fremdbestimmung – Selbstbestimmung
Durchschautwerden – sich undurchsichtig machen
Beschämtsein – sein Selbstbild aufrecht erhalten
Sich verlieren – Besinnung auf sich selbst
Schattenangst – Schattenakzeptanz
Gewissensangst – Verantwortung
Fremdes – Vertrautes
Ausgestoßensein – sich neu beziehen
Verirren – Orientierung
Todesangst – Kreativität
Angststeigernde Szenarien
Kollektive Angstsymbole
Schlange
Blut
Dunkelheit und „schwarze“ Gewässer
Höhe
Vom Umgang mit der Angst in den Träumen
Alpträume
Märchen – Wegweiser aus der Angst
Tapferkeit vor der Angst
Was not tut: Gelassenwerden
Danksagung
Literatur
Angst und Angstbewältigung
Einleitung
Angst ist für uns ein sehr vertrautes Gefühl, ob wir dazu stehen oder auch nicht. Es scheint ja ein unausgesprochenes Ideal zu sein, daß der Mensch möglichst angstfrei zu sein hat. Deshalb wohl haben wir auch so viele Ausdrücke für Angst, die die Angst auch ein Stück weit bemänteln. So sagen wir etwa, daß wir angespannt sind, verwirrt sind, nervös sind, oder man spricht von Streß.
Es scheint mir sehr typisch für unseren heutigen Umgang mit der Angst zu sein, daß wir sie nicht mehr zu benennen wagen und andere Ausdrücke dafür brauchen. Wir wagen eher selten, sie wirklich bei ihren Namen zu nennen. Dadurch können wir aber ihre wichtige Funktion, die sie in unserem Leben hat, nicht nützen.
Das Wort Angst kommt von der indogermanischen Wurzel „angh“, hat also eine Verbindung zu Enge, zum Eingeschnürtsein. Diese „Enge“, die wir spüren, wenn wir uns ängstigen, bringen wir normalerweise mit dem Brustraum in Verbindung: Wir können nicht frei atmen, die Angst schnürt uns die Kehle zu. Können Menschen nicht frei atmen, dann sagen sie, es wäre ihnen eng auf der Brust. Es gehört ganz wesentlich zur Angst, daß wir nicht mehr so atmen können, wie wir zuvor geatmet haben. Wir spüren das vor allem auch dann, wenn eine Angstsituation vorüber ist, wenn wir wieder aufatmen, durchatmen können und wir unsere ursprüngliche Gelassenheit wiederfinden, vielleicht sogar eine ruhige Daseinsfreude empfinden oder Stolz darauf, eine bedrohliche Situation überstanden zu haben. Dann können wir wieder frei atmen.
Wir wissen meistens, welche Ängste wir in etwa haben, und wir können auch verschiedene Qualitäten dieser unserer Ängste unterscheiden. Wir können zum Beispiel feststellen, daß wir uns schnell anspannen, und wir wissen, daß diese leichte Spannung unsere Konzentration erhöht, daß wir diese Spannung in Konzentration umsetzen können. Das wäre der Sinn eines leichten Lampenfiebers. Diese ängstliche Spannung ist durchaus noch lustvoll. Balint hat den Ausdruck „Angstlust“ geprägt.1 Damit ist die leise Anspannung angesprochen, die eben auch noch in sich lustvoll ist. Angst kann dann aber mit zunehmender Spannung schnell unangenehm werden. Dann sprechen wir davon, daß wir wirklich ängstlich gespannt sind oder gar ängstlich verspannt. Man hat dann das Gefühl, „blockiert“ zu sein, eingeengt, wie eingeschnürt. Diese unangenehm wahrnehmbare Angstspannung kann sich zu einer hellen Angst steigern bis hin zu einer Panik. Wir alle kennen diese Abstufungen im Erleben der Emotion Angst. Und wir wissen auch, wie wir uns fühlen, wenn wir „richtig“ Angst haben. Wir fühlen uns unbehaglich, bedroht, es ist uns unheimlich, unerträglich, wir können nicht reagieren, wir verlieren ganz und gar unsere Souveränität. Sehr häufig werden wir „dumm“ bzw. wir reagieren dumm. Darauf bezieht sich der Ausdruck „Angst macht dumm“. Es gibt wohl kaum ein Schlagwort, das so stimmt wie dieses. Angst macht dumm und umgekehrt: Wenn Menschen sich sehr dumm anstellen, müßte man sich vielleicht überlegen, ob sie Angst haben oder ob wir in diesen Menschen Angst auslösen.
Wenn wir uns ängstigen, dann verlieren wir, zumindest für einen Moment, unsere gewohnte Souveränität, unser gewohntes Selbstvertrauen, wir fühlen uns hilflos und versuchen, dennoch zu reagieren. Sehr leicht ereignet sich dann ein Zirkel der Angst. Da wir den Eindruck haben, in einer Situation immer ungeschickter, immer gehemmter zu sein, ängstigen wir uns noch mehr. Das führt dazu, daß wir noch ungeschickter werden, noch „dümmer“. Das kann bis zu dem Gefühl gehen, sich in dieser Situation ganz und gar zu verlieren und nicht mehr man selbst zu sein. Dabei verliert man auch meistens die Sprache. Das geschieht besonders in traumatischen Situationen, in Situationen also, in denen ein Mensch emotional und kognitiv überfordert ist. Das bedeutet: Unter Angst tritt vorübergehend ein Identitätsverlust ein bis hin zur Fragmentierung. Dieser Identitätsverlust kann unter Umständen rasch wieder behoben werden, denn wir unternehmen sofort etwas dagegen, oder unsere Psyche unternimmt sofort etwas dagegen. Angst und Angstbewältigung oder zumindest der Versuch der Angstbewältigung sind fast gleich ursprünglich: Immer wenn wir große Angst verspüren, dann tun wir auch etwas gegen diese Angst.
Die Gefahr, sich in der Angstsituation selbst zu verlieren, wird auch daran deutlich, daß wir in dieser Situation ganz leicht in eine Kindposition geraten. Auch üblicherweise autonome Menschen, die sich auf ihre Selbständigkeit durchaus etwas einbilden und auch einbilden dürfen, können dann einem anderen Menschen die ganze Verantwortung übergeben: „Mach das doch für mich“, oder sie suchen Rat bei Menschen, die unter Umständen viel weniger wissen als sie selbst. Im Moment der Angst sind sie oft bereit, diesen Rat verhältnismäßig unkritisch zu übernehmen. In der Angstsituation geraten wir in die Kindposition und bringen dann natürlich die helfenden Menschen in die Position von Autoritäten, die dann das Sagen haben. Das erleben wir als eine Form der Angstbewältigung. Angst zu erleben betrifft also nicht nur unsere Identität, sie wirkt auch auf unsere Beziehungen.
Angst verändert unsere Beziehung zu den Mitmenschen. Wir werden entweder zu Hilfesuchenden, oder wir ziehen uns noch mehr zurück. Denn einerseits stammt sehr viel Angst, die wir noch aus unserer Kindheit und aus unserem früheren Leben mit uns tragen, aus Beziehungen, in denen die Kommunikation abgebrochen wurde. Sehr viel Bewältigung von Angst können wir andererseits aber wieder durch Beziehungen zu Mitmenschen leisten, weil wir sofort wieder den Eindruck haben, gestützt zu werden. Beziehungen machen also Angst, sie helfen aber auch, Angst zu bewältigen. Das wird ein Thema sein, daß uns sehr beschäftigen wird.
Angstfantasien – ihr Einfluß auf unser Erleben
Angst verändert uns also in unserem Selbsterleben. Angst verändert uns in unserem Beziehungserleben. Wenn wir Angst haben, haben wir zudem meistens bewußt oder unbewußt Fantasien, die auf unser Angsterleben einen großen Einfluß haben. Diese Fantasien sind auf eine katastrophale nähere oder fernere Zukunft gerichtet. Es sind meistens keine vollkommen ausgestatteten, ausgemalten Fantasien, sondern eher Fantasiesplitter; sie werden begleitet von körperlichen Angstreaktionen. Sätze, oft zu sich selbst gesprochen, wie „ich kann eine Arbeit nicht vollenden“, „alles ist aus“, „ich kann etwas, was mir so erstrebenswert erscheint, nicht mehr tun“, „ich werde durch das Examen fallen“, „ich kann nicht mehr leben in dieser Welt, ich halte es nicht mehr aus“ sind oft mit Bildern unterlegt, die mehr oder weniger bewußt wahrgenommen werden. In diese Bilder vertieft man sich, sie werden dann angereichert mit weiteren Fantasiebildern. Sagt man z. B. den Satz: „Ich kann diese Arbeit nicht rechtzeitig beenden“, dann fantasiert man meistens einen Menschen dazu, der deswegen sehr böse ist. Ist man visuell begabt, drängt sich einem das wütende oder verächtlich-kalte Gesicht der betreffenden Person geradezu auf. Dann fantasiert man weiter, wie man mit Schimpf und Schande davongejagt wird, wie man einen Ausschluß befürchten muß, wie man als Stadtstreicherin enden wird, wie Menschen dann über einen sprechen werden usw.
Eine andere Fantasie, die bei der Angst eine große Rolle spielt, ist der sogenannte „Gesichtsverlust“. Sehr viele Angstfantasien haben ja mit dem befürchteten Verlust unseres Selbstwerts zu tun. Wir stellen uns mehr oder weniger plastisch vor, wie wir in eine Situation kommen, wo einfach offensichtlich, das heißt für alle sichtbar wird, wie wir unser Gesicht verlieren und wie schrecklich das ist. Wir stellen uns vor, was die Menschen sagen, wie sie hämisch grinsen werden usw. Es wäre vielleicht sinnvoller auf der Bildebene zu bleiben und sich einmal vorzustellen, wie es denn eigentlich wäre, verlöre man das Gesicht. Käme wirklich eine Gesichtslosigkeit zustande oder ein anderes Gesicht, vielleicht ein wahreres Gesicht? Und wie sähe dieses aus? Aber solchen Spielereien auf der Imaginationsebene ist man in einer Angstsituation nicht zugänglich. Sind wir aber wirklich in einer Lebenssituation, in der wir das Gesicht verloren haben, stellen wir fest, daß das gar nicht so schlimm ist. Manchmal kann es sogar entlastend wirken, weil man jetzt nicht mehr das schöne Gesicht zeigen muß und man merkt, daß man nicht umkommt, wenn man einmal das Gesicht verliert. Haben wir aber Angst, das Gesicht zu verlieren, sind viele andere Befürchtungen mitbeteiligt. Das Gefühl des Zerstörtseins, die Scham darüber, oder auch das Gefühl des Sich-selbst-Verfehlens, das eigene Leben zu verfehlen, bilden den Untergrund für diese Angst und die damit verbundenen Angstbilder. Es geht also meistens nicht nur um die Frage, ob man jetzt das äußere Ansehen verlieren könnte, sondern sehr oft klingt hier die existentielle Frage mit, ob man möglicherweise das eigene Leben verfehlt. Sich diese Fragen zu stellen, ist sehr sinnvoll.
Solche Angstbilder zielen meistens auf unseren höchsten Wert im Leben. Und die Angst kann sich steigern bis zur Panik. Wenn wir in panische Angst geraten, dann machen wir uns nicht einmal mehr schlimme Fantasien über die Zukunft, sondern es gibt einfach keine Zukunft mehr für uns. Es entsteht das Gefühl, es gebe keine Zukunft mehr für uns, nur diese schreckliche Gegenwart, die immer schrecklicher wird. Damit befürchten wir eigentlich den Tod, denn wenn wir tot sind, haben wir keine Zukunft mehr. Und in dieser Situation gibt es dann allenfalls noch Fantasien, zerstört zu werden, verschlungen zu werden, von dem Nichts eingeschlossen zu sein oder eben überhaupt keine Bilder mehr.
Diese Bilder der Angst, diese Fantasien der Angst, werden normalerweise projiziert, und sie werden auch delegiert. Es sind Angstbilder vor dem Verschlungenwerden, vor dem Eingesogenwerden, vor dem Aufgefressenwerden, etwa durch ein Tier. Projiziert werden sie auf Menschen, die man als „verschlingend“ erlebt, auf das Leben, das den Tod kennt usw. Es gibt auch Angstbilder des Ausgestoßenwerdens, zum Beispiel des Ausgesetztwerdens in einem Körbchen auf dem Meer, möglichst bei Sturm. Dies sind klassische Angstbilder, darüber hinaus gibt es unendlich viele Angstbilder, die wir in unserer Vorstellung zusammenkomponieren, und die uns zeigen können, wo unsere Ängste sitzen.
Angstauslöser – Bedrohung und Gefährdung
Angst haben wir, wenn wir eine Gefahr erwarten oder von einer Gefahr ergriffen sind. Nun kann diese Angst von außen kommen und für alle Menschen sichtbar sein, z. B. eine Naturkatastrophe. Es kann aber auch eine Gefahr sein, die eigentlich von innen kommt, allenfalls außen erlebt wird, und die nicht von allen Menschen geteilt wird. Wenn zum Beispiel jemand furchtbare Angst vor einem Kaninchen hat, dann werden die meisten Menschen sich darüber einig sein, daß es keinen Grund gibt, sich vor einem Kaninchen zu ängstigen. Kaninchen bedrohen den Menschen nicht. Kaninchen springen selber weg. Wenn jemand aber sehr große Angst vor einer Giftschlange hat, dann werden es die meisten für vernünftig halten: Giftschlangen können beißen, das kann bedrohlich sein. Ein Mensch aber, der Angst vor Kaninchen hat, wird vollkommen unbeeinflußbar davon sein, was die anderen darüber denken. Und zwar einfach deshalb, weil er oder sie Angst davor hat. Mit dieser Angst vor dem Kaninchen ist dann eine Fantasie verbunden, vielleicht auch ein Erlebnis, bei dem ein Kaninchen vorkam. Es besteht also eine Verbindung mit angstauslösenden, lebensgeschichtlichen Ereignissen, und jetzt muß herausgefunden werden, warum dieses Kaninchen so gefährlich ist. Es ist also sehr schwierig, sogenannte berechtigte von sogenannten unberechtigten Ängsten zu unterscheiden. Sprechen wir unserem Innenleben Berechtigung zu, dann ist im Grunde genommen jede Angst berechtigt. Dennoch müssen wir mit ihr umgehen.
Ein Angstzustand muß aber nicht nur aus einer äußeren Bedrohung oder aus einer Angstfantasie oder aus einem Angsttraum erwachsen. Es gibt auch Veränderungen im Körper, die Angst erzeugen. Wir können zum Beispiel Angstzustände bekommen, weil wir eine organische Krankheit haben. Nicht die organische Krankheit als solche löst Angst aus, aber die Tatsache, daß wir eine solche Krankheit haben, daß möglicherweise mit Folgen zu rechnen ist, oder einfach die Tatsache, daß wir körperlich nicht mehr „unversehrt“ sind. In Situationen, in denen wir krank sind, zum Beispiel unter einem langwierigen Infekt leiden, sind wir in unserer Identität verunsichert, wir fühlen uns nicht so kompetent im Umgang mit dem Leben, reagieren also ängstlicher, als wir es normalerweise tun. Gerade bei der Angst wird deutlich, wie sehr beim Menschen eine bio-psycho-soziale Verflechtung des Erlebens und des Verarbeitens festzustellen ist, und wie sehr die verschiedenen Sphären des Menschen aufeinander einwirken. Sogenannte psychisch verursachte Ängste wirken auf den Körper, dieser wiederum auf die Psyche, das Ganze teilt sich der Mitwelt mit. Es gibt allerdings auch Ängste, deren Ursprung körperlich ist: Verschiedene Krankheitsprozesse des Gehirns lösen Ängste aus, die sich von psychisch verursachten Panikattacken nicht unterscheiden lassen. Und auch Hormon- und Stoffwechselstörungen können zur Angstentwicklung führen2.
Alle diese Ängste zeigen uns, daß in irgendeiner Form unserer Identität und damit unserem Ich, unserem Weiterleben, Gefahr droht. Es gilt auch das Umgekehrte: in Lebenssituationen, in denen sich unsere Identität differenziert und verändert, also zum Beispiel bei Lebensübergängen, ist grundsätzlich mit mehr Angst, aber auch mit mehr Abwehr von Angst zu rechnen.
Angstausdruck – wie Ängste sich zeigen
Angst wird auch ausgedrückt. Jede Person weiß, wie sich die Angst bei ihr zeigt. Es gibt Menschen, die werden blaß, wenn sie sich ängstigen, andere werden rot. Die Angst des Redners oder der Rednerin hört man normalerweise in der Stimme. Es gibt Menschen, die bekommen dann eine gespannte hohe Stimme, andere drücken die Stimme künstlich in eine große Tiefe hinunter, daß der Eindruck entsteht, sie hätten keine Angst, sie seien im Gegenteil die Ruhe selber. Wenn ein Redner oder eine Rednerin einige Zeit gesprochen hat, dann entspannt er oder sie sich normalerweise, dann pendelt sich wieder die normale Stimmlage ein, die je nach Persönlichkeit breiter oder schmaler ist. Viele Menschen sprechen im Zusammenhang mit Angst vom Kloß im Hals oder einer Kröte im Hals, andere zittern am ganzen Körper, wenn sie Angst haben, ein Ausdruck der Anspannung, manche spüren es im Magen, andere in den Knien. Meistens erschließen wir am körperlichen Ausdruck von Angst, den wir bei uns wahrnehmen, wieviel Angst wir haben und treffen eine Grobentscheidung, ob wir damit noch umgehen können oder ob wir fliehen müssen.
Unser Körper gibt nicht nur Auskunft über aktuelle Angstzustände. Es gibt Menschen, die habituell sehr häufig unter Angst leiden. Man kann sie zum Beispiel daran erkennen, daß sie einen verhältnismäßig flachen Atem haben oder auch daran, daß sie sich beim Gehen wenig Freiheiten erlauben, daß ihr Körper wie eingeschnürt wirkt. Man kann die Gestalt gewordene Angst in einem Menschen sehen. Angst, die sich über eine längere Zeit hin erstreckt, sieht man im Leib, und Angst spürt man natürlich auch im Leib, man kann geradezu sagen, unser Leib habe Angst. Bei aktuellen Angstanlässen nun versuchen wir schnell Abhilfe zu schaffen, weil das ja eine unangenehme Situation ist: eine Situation, in der wir, allgemein gesagt, die Kontrolle über uns selbst zu verlieren drohen, in der wir nicht mehr wissen, wie wir reagieren, in der das gewohnte Reagieren zunächst zumindest ausfällt. Die Angst macht sich dann sozusagen selbständig. Unser Leib bekommt ein Eigenleben, das wir nicht mehr kontrollieren können und das wir nicht haben wollen. Es tauchen unangenehme Fantasien auf, die wir ebenfalls nicht mehr zu kontrollieren wissen. Wir spüren also in unserem Ich einen Identitätsverlust, und deshalb muß rasch Abhilfe geschaffen werden.
Angstbewältigung – wie wir mit der Angst umgehen
Angst ist ein leiblicher Zustand: Unser Leib hat Angst, und an unserem Leib merken wir, daß wir Angst haben. Wir erleben einen unangenehmen Erregungsanstieg, den wir eben Angst nennen. Angst ist also eine Form der Erregung, und zwar der unangenehmen Erregung. Wir ängstigen uns dann, wenn wir eine Gefahrensituation wahrnehmen, mit der wir nicht umgehen können, wie wir es gewohnt sind und die wir nicht einschätzen können. Sie ist vielleicht zu komplexhaft, zu mehrdeutig, oder wir sind für diese Gefahrensituation einfach nicht gerüstet. Die größten Ängste ranken sich meistens um befürchtete Verluste, um Mißerfolge, um Dinge, die für uns persönlich bedeutsam sind und die wir möglicherweise verlieren werden. Angst hat oft etwas zu tun mit der Sorge um die Zukunft, mit der Sorge darum, daß die Zukunft schlechter sein könnte als die Gegenwart, daß wir verlieren könnten, was wir haben und was uns im Moment das Leben lebenswert macht. Angst ist meistens eine Angst vor Verlust, dazu gehört auch Trennung und Mißerfolg – vor Verlust, auf den wir keine adäquate Antwort haben, keine adäquate Reaktion. Ein drohender oder ein eingetretener Verlust, verbunden mit dem Bewußtsein, nicht reagieren zu können, löst Angst aus. In diesem Moment suchen wir sofort eine Möglichkeit, diese Angst zu bewältigen. Wenn Angst auftritt, entwickeln wir oft eine Bewältigungsstrategie oder Bewältigungsmechanismen, die fast gleichursprünglich mit dem Angstgefühl einsetzen.
Die bekanntesten Bewältigungsmechanismen, die man auch Abwehrmechanismen nennt, sind zum Beispiel das Distanzieren und das Rationalisieren. Distanzieren: Sind wir von einer panischen Angst ergriffen, dann sagen wir uns: Jetzt ganz ruhig, halte mal den Atem an, zähl bis zehn. Das sind gute Tricks, denn die Angst ist ja leiblich, der Erregungsanstieg bewirkt, daß wir schneller atmen, und das erregt uns noch mehr. Das Atemanhalten beruhigt uns körperlich. Wir können uns dadurch von dem, was ängstigt, distanzieren und es in der Folge aus einer gewissen Distanz betrachten. Dieser Abwehrmechanismus der Distanzierung wird oft mit dem des Rationalisierens kombiniert: Wir sagen uns ganz schnell, daß man „davor“ eigentlich keine Angst haben müsse, daß man das irgendwie schon wieder hinkriegt, wenn nicht wir selber, dann gibt es bestimmt irgend jemanden, der das schon wieder „in den Griff bekommt“. Oder wir analysieren das Problem lang und breit und distanzieren uns damit etwas von unserer Angst. In sehr bedrohlichen Situationen kann man das aktuelle Erleben von der Angst abspalten. Es gibt Menschen, die behaupten, nie Angst zu haben, sie sprechen aber davon, daß in gewissen Situationen sich ihnen der Magen zusammenziehe oder die Kehle zusammenschnüre. Da hat dann nur noch der Leib Angst, das bewußte Ich weiß nicht mehr um die Angst oder will sie nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Menschen, die schweren traumatischen Situationen ausgesetzt waren (z. B. Folter), können manchmal von sich sagen, sie hätten jetzt keine Angst mehr. Man gewinnt dadurch den Eindruck, sie seien einfach nicht mehr ganz bei sich. Es ist, als ob diese verdrängte Angst sie aus dem Kern ihrer Persönlichkeit schöbe.
Eine weitere Form der Bewältigung ist die Projektion. Haben wir zum Beispiel eine diffuse Angst und wissen gar nicht so recht, warum wir Angst haben, dann finden wir das bald heraus. Wir beziehen die Angst dann etwa darauf, daß ein Mensch so autoritär mit uns umgeht, uns verletzen will. Wir zeigen damit, daß unsere Angst berechtigt ist. Das kann noch in viel pauschalerer Weise auftreten: Frauen haben etwa Angst, weil die Männer ihnen immer etwas Böses tun wollen, Männer haben Angst, weil die Frauen ihnen immer etwas Böses tun wollen. In einem ersten Schritt ist dies eine angstlindernde Projektion. In diesen Projektionen schwingen immer auch gewisse Realitäten mit, doch die Realitäten allein rechtfertigen noch nicht die Projektion, es muß noch die Abwehr einer persönlichen Angst damit verbunden sein. Der Vorteil der Projektion ist, daß die Ängste nicht mehr diffus sind. Wir wissen jetzt, wovor wir jetzt Angst haben, und mit einer gerichteten Angst läßt es sich besser umgehen. Die Problematik der Projektion besteht darin, daß man nicht mit der eigenen Angst umgeht, das Problem nicht auch bei sich, sondern nur beim anderen Menschen sucht und letztlich also nicht herausfindet, was die Angst von einem will.
Ein weiterer Abwehrmechanismus, mit dem wir die Angst zu bewältigen versuchen, ist das Entwerten. Wir haben zum Beispiel Angst vor einer Kritik. Wir haben den Eindruck, diese Kritik könnte uns vernichten, wir befürchten, als wenig kompetent dazustehen, wissen, daß das bei uns große Scham auslösen würde. In so einer Situation entwertet man den potentiellen Kritiker, die potentielle Kritikerin, indem man ihm oder ihr die Kompetenz oder die Differenziertheit abspricht, unser Werk überhaupt kritisieren zu können. Was soll mir also diese Kritik anhaben? Das Entwerten ist eine sehr oft verwendete Angstabwehr; es ist heilsam, einmal den eigenen Entwertungsstrategien nachzugehen und herauszufinden, wie oft wir etwas aus Angst entwerten. Nicht etwa, weil man ein so boshafter Mensch wäre, sondern ein ängstlicher Mensch, der Schwierigkeiten hat, zur Angst zu stehen.
Hiermit sind nur einige der gängigen Abwehrmechanismen genannt, die sofort einsetzen, sobald Angst auftritt, und die zunächst helfen, die Angstsituation zu bewältigen. Deshalb können sie auch Bewältigungsmechanismen genannt werden.3 Diese Mechanismen brauchen wir. Ohne diese Bewältigungsmechanismen können wir nicht leben. Die Bewältigungsmechanismen, die wir anwenden, zeigen uns, wie sehr wir eigentlich bedroht sind. Und gerade diese selben Bewältigungsmechanismen, werden sie nicht richtig eingesetzt, sind letztlich Ursache für alle Angststörungen. Das was uns also hilft, im Alltag mit der Angst umzugehen, kann, wenn dies immer wieder und einseitig eingesetzt wird, Grund werden für Angststörungen, für Phobien, Zwangsstörungen, Organphobien und in einem gewissen Sinne auch für Depression. Die psychologische Frage ist also: Wie kann man die Abwehrmechanismen und die Bewältigungsmechanismen nützen und mit ihnen so umgehen, daß sie uns helfen, mit der Angst sinnvoll umzugehen, so daß sie letzlich nicht zusätzlich Angst verursachen, sondern weniger.
Es gibt aber nicht nur einzelne Abwehrmechanismen oder Bewältigungsmechanismen, es gibt ganze Abwehrstrategien, und zwar auch sehr viele kollektive Abwehrstrategien. Wir alle wenden sie an und empfinden sie deshalb auch nicht als Abwehrstrategien. In den letzten Jahren wird immer wieder darüber berichtet, wieviel angstlösende Medikamente in der Schweiz und in Deutschland geschluckt werden. Es wird behauptet, daß das Drogenproblem ein kleines Problem sei, verglichen mit diesen Medikamenten, die gegen die Angst geschluckt werden. Man gewinnt den Eindruck, daß die Menschen heute sehr viel Angst haben, aber auch der Ansicht sind, diese Angst nicht haben zu dürfen. Daher gehen sie diese Angst offenbar auf der Medikamentenebene an. Das kann man durchaus tun, denn der Leib, der Körper hat Angst. Diese Form der Angstbewältigung hat aber auch ausgeprochen problematische Aspekte, auf die ich zurückkommen werde.
Es geht nicht einfach darum, die Angst zu vermeiden, es geht darum, ihren Sinn zu erfahren, um sie nutzen zu können.
Beim Ausdruck Angstbewältigung denkt man oft an Angstfreiheit. Das ist eine Utopie. Angstfreiheit gibt es nicht. Die Angst gehört zum Menschen. Angstbewältigung meint „nur“ das Umgehen mit der Angst, im idealsten Fall ist es so, daß nicht ständig mehr Angst daraus entsteht. Nun ist die Angst eine Emotion, die man gut beschreiben kann. Schon bei der Beschreibung der Angst wird deutlich, daß in dieser Emotion selber viele Schlüssel liegen, wie man mit ihr umgehen kann, wo man ansetzen kann, auch jenseits der Abwehrmechanismen. Kurz gesagt, überall dort, wo uns die Angst angreift, uns beeinträchtigt, da ist auch ein Ansatzpunkt, um mit ihr umzugehen. Einerseits tun wir das im Alltag ganz unbewußt andauernd, aber wir leisten das natürlich auch in der Therapie, denn therapeutische Arbeit ist unter anderem auch ein Umgehen mit Angst. Wir haben es in der therapeutischen Arbeit immer auch mit Angst zu tun. Die ganze psychische Krankheitslehre kann aufgeschlüsselt werden anhand des Umgangs oder des Nichtumgangs mit der Angst.
Das Emotionsfeld Angst – und der Gegenpol der Hoffnung
Auch bei der Angst gilt, was für die anderen Emotionen gilt: Wir haben selten nur Angst. Wir haben es fast immer mit ganzen Emotionsfeldern zu tun. Emotionsfelder meint natürlich auch Sprachfelder, denn Emotionen benennen wir mit mehr oder weniger farbigen Ausdrücken. Zum Emotionsfeld der Angst gehört die Spannung, die Beklemmung, die Panik, die Furcht. Dieses Emotionsfeld Angst geht aber noch wesentlich weiter. Zum Emotionsfeld Angst gehört dann auch Kummer, Zorn, Wut, Aggression. Angst und daraus resultierender Ärger, mit dem Feindseligkeit verbunden ist, sind zwei Emotionen, die sehr eng verschwistert sind. Wenn wir Angst haben, dann wollen wir bekanntlich entweder fliehen oder angreifen. Angreifen aber ist Aggression. Es gibt Menschen, die sehr selten Angst spüren, dafür wesentlich leichter die Aggression. Man hat dann das Gefühl, daß diese Leute immer zornig sind. Sie geben einem den Eindruck von sehr kraftvollen Menschen, und dennoch kann man plötzlich auch dahinter kommen, daß hinter ihren so leicht erregbaren Zorn Angst steckt; eine Angst, die durch den Zorn abgewehrt wird. Der Zorn ist ja eine Emotion, die vorwärts treibt, die verändert.
Zur Angst gehört dann auch das Emotionsfeld Angst – Scham – Schuld. Das ist ein sehr wichtiges und ein recht breites Emotionsfeld. Auf der anderen Seite haben wir dann das Emotionsfeld Angst – Mut – Hoffnung. Angst kann geradezu als Gegenpol der Hoffnung gesehen werden, überhaupt als Gegenpol zu all den gehobenen Emotionen, die uns weit machen.4 Angst macht uns eng, Angst läßt uns nicht atmen, Angst gibt uns das Gefühl, eingeschnürt zu sein, ganz im Gegensatz eben zu Freude, zu Inspiration, zu Hoffnung. Diese Emotionen erscheinen im ersten Moment fast unvereinbar mit der Angst, doch es sind ihre Gegenpole. Beide sind auf die Zukunft bezogen. In der Angst haben wir im äußersten Fall den Eindruck, überhaupt keine Zukunft mehr zu haben. Wir fühlen uns nicht mehr getragen, fühlen uns unsicher in diesem Leben, existentiell bedroht. Bei der Hoffnung, da hoffen wir auf eine bessere Zukunft, sogar wider besseres Wissen. Wir entwerfen uns vertrauensvoll auf eine Zukunft hin, die uns noch als verdeckte Vision erscheint und an die wir dennoch zu glauben vermögen. Dabei erfahren wir das Lebensgefühl des Getragenseins.
Die Antriebskraft der Angst – existenzphilosophische Zugänge
Der Anruf zum Unendlichen – Kierkegaard
Für die Existenzphilosophie seit Kierkegaard ist es die Angst, die das Leben des Menschen vorantreiben kann, ihn in sein eigenstes Seinkönnen zwingt.
Wenden wir uns zunächst Kierkegaard zu. Für Kierkegaard ist Angst ein großes Thema, 1844 erschien sein Buch über die Angst. Angst will er strikt unterschieden wissen von der Furcht. Angst ist für ihn nicht Furcht, die sich auf ein bestimmtes Objekt richtet, sondern die „Angst vor dem Nichts“.5 Für ihn muß die Angst im Zusammenhang mit der menschlichen Existenz gesehen werden, und diese hat die Aufgabe, das Endliche und das Unendliche zusammenzubringen. Existieren heißt also, immer werdend zu sein im Irdischen und dennoch auf das Ewige, Unendliche bezogen zu sein. Das heißt aber, daß der Mensch immer im Ungesicherten lebt, die Angst ist eine ständige Begleiterin. Die Angst ist aber auch der Anruf der Unendlichkeit an den endlichen Menschen, also der Anruf des Transzendenten an den immanenten Menschen, und dieser Anruf erinnert ihn daran, daß er ein Geistwesen ist. Die Angst, und Kierkegaard spricht dabei von der bodenlosen Angst, löse die Menschen aus den Täuschungen der Endlichkeit, aus den vermeintlichen Sicherheiten, und daher ist durch sie die Möglichkeit zur Freiheit – aber auch zum Erleben der „namenlosen Freude“, eines Erlebens von Geborgenheit im Dasein gegeben. Kierkegaard bringt Angst wesentlich in Verbindung mit der Erbsünde. In der Sündenangst kann der Mensch sich als Geist erleben, und das heißt, er hat eine Verbindung zu Gott. Der Sündenfall ist für Kierkegaard eine verantwortliche Form der Selbstwerdung. Damit ist auch die Vereinzelung angesprochen, in der Sünde wird der Mensch ein Einzelner – im Gegensatz zu einem Massenwesen.6 Er kann eine Synthese zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen leisten durch den Geist und ist daher ein ganzer Mensch. Ein ganzer Mensch kann für Kierkegaard nichts anderes sein als ein auf Gott bezogener Mensch.
Durch die Angst entdeckt der Mensch auch, welche Sünde er gerade begehen will oder begangen hat. Sünde ist nach Kierkegaard eine Form der Selbstwahl. Die Angst entsteht durch die vielen Möglichkeiten der Sünde, aber auch durch die vielen Möglichkeiten überhaupt. In der Angst hat das Individuum die Möglichkeit der Freiheit (den Schwindel der Freiheit) entdeckt, und das heißt für ihn, die Freiheit, sich für Gott zu entscheiden. Das nennt Kierkegaard den Glaubenssprung.7 Und dieser Glaubenssprung ist verbunden mit der „namenlosen Freude des Gnadenerlebnisses“8. Das ist für ihn Grundlage des menschlichen Lebens, und von daher bekommt seine Analyse der Angst ihren Sinn.
Kierkegaards Abhandlung über die Angst sollte eine Schrift der Warnung sein: Eine Warnung dagegen, daß, verliert man den wirklichen Bezug zur Angst, man auch den Bezug zu dieser „namenlosen Freude“ verliert, die in christlicher Terminologie beschrieben wird. Daß man sich letztlich an die Welt der Endlichkeit verliert und vergißt, daß man auch der Welt der Unendlichkeit angehört. Kierkegaard scheint allerdings zu vergessen, daß der Mensch auch der Welt der Endlichkeit angehört. Durch diesen Sprung werden viele Möglichkeiten, wie man mit der Angst auch im Diesseitigen umgehen kann, übergangen und entwertet. So spielt zum Beispiel der Halt, den Menschen einander geben können, bei ihm keine Rolle, oder auch die Ideen, in denen Mut zur Angst ensteht, in denen der Mensch eine Verbindung zum Ewigen in sich selbst findet, wie wir es etwa bei Mystikern finden, werden nicht bedacht.9
Die Existenzphilosophie hat die Analyse der Angst von Kierkegaard zwar aufgenommen, ohne aber das Thema des Glaubenssprungs wirklich mit aufzunehmen. Damit bleibt die Angst in ihrer Dämonie und Abgründigkeit stecken, nur der beunruhigende Aspekt ist dann bedacht.
Die Stimmung der Angst – Heidegger
Es war die Existenzphilosophie, die zuerst von der Bedeutsamkeit von Stimmungen und Emotionen überzeugt war. Die Psychologie ist ihr dann gefolgt.10 Heidegger behandelt in „Sein und Zeit“ Themen, die heute Gegenstand der Affektforschung sind. Er merkte an, daß besonders das Gebiet der Stimmungen als einem Aspekt des Überbegriffs der Emotion vernachlässigt sei.11 Er weist darauf hin, daß wir Menschen uns immer schon in einer Stimmung erleben, schon immer irgendwie gestimmt. Das fällt uns erst dann auf, wenn wir nicht unsere „normale“ Stimmung haben, sondern dann, wenn wir „ver-stimmt“ sind, wenn wir in einer als anders erlebten Grundbefindlichkeit uns wahrnehmen als üblich. Gerade die Stimmung zeigt uns, wie sehr wir Menschen in einem bio-psycho-sozialen Zusammenhang stehen. Unsere Stimmungen können verändert werden durch eine körperliche Störung oder durch ein besonderes körperliches Wohlbefinden. Unsere Stimmung kann sich aber auch verändern durch einen Gedanken, der uns durch den Kopf schießt, oder durch einen Traum, durch eine Auseinandersetzung mit einem Mitmenschen – oder aber durch einen Wetterumschlag.
Bedeutsam ist die Aussage von Heidegger, daß das Dasein immer schon gestimmt ist. Damit sind wichtige Verbindungen zur Tiefenpsychologie auszumachen. Die Stimmung macht unsere Befindlichkeit aus, und die Grundbefindlichkeit (Stimmung) der Angst ist für ihn besonders wesentlich für das Verständnis des Menschen.
Heidegger hat aus der Stimmung der Angst seine ganze existentiale Analytik entwickelt und alle anderen Stimmungen, die der Mensch auch haben kann, auf die Angst bezogen. Entwicklungspsychologisch ist das nicht zu halten, dennoch meine ich, daß er sehr vieles von der menschlichen Befindlichkeit über die Analytik der Angst herausgearbeitet hat. Problematisch bei dieser Sichtweise ist, daß Freude dann letzlich bloß Abwehr der Angst sein soll. Denn wenn Angst die grundlegende Emotion ist und alle anderen Emotionen von ihr bloß abgeleitet sind, dann kann Freude nur Abwehr der Angst sein. Das wäre aber eine Abwehr des Lebendigen. Ich meine, daß Freude und auch andere gehobene Emotionen eigenständige Emotionen sind.12 Man kann sie zwar auch als Reaktion auf die Angst verstehen, und sie interagieren auch mit der Angst. Dennoch sind die gehobenen Emotionen, und unter ihnen die Freude, Emotionen und Stimmungen, die ganz wesentlich anderes über die Wesensart des Menschen aussagen als die Angst. Es gibt nicht nur die Angst, es gibt auch die Freude. Wir sind nicht nur geworfen ins Dasein, wir sind auch getragen. Geradezu eine Gegenposition nimmt Ernst Bloch ein, wenn er sagt, „die Hoffnung ersäuft die Angst.“13
Trotz dieser Einschränkung ist der existentialphilosophische Umgang von Heidegger mit der Angst und die Reflexion darüber sehr wichtig.
Das Aufgehen im „Man“ (man tut, man denkt, man liebt im Moment etc.) bedeutet, daß das Dasein (der Mensch) vor seinem eigentlichen Selbst-sein-Können in so etwas wie ein „Man-Selbst“ flieht. Geflohen wird, wenn etwas Bedrohliches vorhanden ist. Das Bedrohende ist für die Angst aber nirgends. Die Angst wirft nun das Dasein zurück auf sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. In der Angst wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen. „Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens.“14 In der Angst, so Heidegger weiter, ist einem „unheimlich“15, das meint auch, „Nicht-zuhause-sein“. Davor weicht der Mensch aus in die „alltägliche Öffentlichkeit des Man“, in das, was man tut, denkt, fürchtet usw., wo man selbstverständlich zuhause ist. Damit verfällt aber das jeweilige Dasein, man verfehlt es, sich selbst zu sein. Die Angst aber holt den Menschen aus der Verfallenheit an das Man in die „Eigentlichkeit“ zurück, in das, was er wirklich ist und sein könnte.
Bezieht man weitere Existenzphilosophen wie Jaspers, aber auch die französischen Existentialisten mit ein wie Sartre und Camus, dann stellt man fest, daß die Existenzphilosophie aus einem Umgang mit der Angst erwachsen ist, die darin wurzelt, daß schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und besonders seit den beiden Weltkriegen der Glaube an die Vernunft als tragendes Prinzip des Lebens verloren gegangen ist. Die Welt wurde unheimlich und bedrohlich, die Ungeborgenheit ein Thema. Das war der Nährboden für die Existenzphilosophie, die schon in Kierkegaard ihren Vorläufer hatte. Thema dieser Philosophie ist, daß die Menschen diesem Unheimlichen nicht einfach nachgeben, sondern sich damit konfrontieren. Und in der Konfrontation, wenn jeder äußere Halt verschwindet, dann wird im Inneren jener letzte Halt gefunden, den man seit Kierkegaard „Existenz“ nennt. Wenn die tragende Welt verschwindet, wenn alles verloren geht, an das wir unser Herz hängen, Geld, Ansehen, Gesundheit, Begabungen usw. und der Mensch nur noch die Unheimlichkeit, die Ungeborgenheit erlebt, dann wird er vor das Nichts gestellt. Der Mensch, der vor das Nichts gestellt wird, wird aber nicht etwa zerstört, sondern in dieser Situation offenbart sich ihm oder ihr sein oder ihr eigenstes Selbstsein. Dieses Vor-das-Nichts-gestellt-Werden, dieses Aus-den-vertrauten-Bezügen-herausgelöst-Werden, wird verstanden in dem Sinne, daß sich der Mensch aus der Uneigentlichkeit des Lebens löst, aus dem Verfallensein an das Man, was einem Verfallensein an die Welt gleichkommt und sich selbst und zu seinem oder ihren direkten Ursprung findet. Steht der Mensch vor dem Nichts, dann erlebt er sich auch als absolut einzelnen Menschen, als Menschen, der für diesen Moment nicht in einer Beziehung steht, sondern als einen Menschen, der um seine Individuation besorgt sein muß. Indem man sich aber dieser Angst stellt, bricht Sinn auf.
Furcht aber wäre in diesem Zusammenhang eine uneigentliche Angst, eine Angst, die vor sich selbst verborgen bleibt und gerade nicht bewirkt, daß der Mensch zu sich selbst findet.
Denke ich an Angstzustände von Menschen, die wirklich bodenlose Ängste haben, wobei vielleicht weniger die Ängste bodenlos sind als daß diese Menschen eben nie einen „Boden“ in ihrer Seele internalisieren konnten, dann entsteht allerdings nicht notwendigerweise das Bewußtsein eines Kerns von einem Selbst, das trägt, auf das man sich verlassen kann. Es gibt auch Menschen, die sich durch ein Leben „hindurchzittern“. Dennoch glaube ich, daß diese existenzphilosophischen Gedanken äußerst wichtig sind im Umgang mit der Angst. Natürlich hat es die Existenzphilosopie nicht mit dem alltäglichen Ängstigenden zu tun, sondern mit dieser letzten bodenlosen Angst. Wir Psychologinnen und Psychologen haben es eher mit der Alltagsangst zu tun, die vielleicht etwas weniger großartig, dafür um so lästiger ist. Und vor allem: sie erfordert Handeln, aktuelles Handeln in einer schwierigen Situation.
Mut zur Angst – Konsequenzen
Was können wir lernen von diesem existenzphilosophischen Ansatz?
Bei diesem Ansatz wird deutlich unterschieden zwischen Angst und Furcht. Dabei ist gemeint, daß wir unsere Furcht jeweils entlarven sollen auf die ihr zugrunde liegende existentielle Angst hin. Unter Angst versteht man in der Psychologie die Emotion, die entsteht, wenn die Gefahrenquelle nicht eindeutig lokalisierbar ist, wir also auch keine gerichtete Aktivität zur Bewältigung der Angst haben. Von Furcht sprechen wir dann, wenn wir uns eindeutig vor etwas ganz Bestimmtem fürchten, wenn wir also eine Gefahrenquelle ausfindig machen können. Nun hat Furcht immer noch Angst in sich, und Angst hat Furcht in sich. Die Meinung ist, daß wir mit gerichteter Furcht, wenn wir also wissen, was uns Angst macht, auch ein Stück weit die existentielle Angst abwehren. Umgekehrt würde in jeder alltäglichen Furcht auch die große Angst sich ausdrücken. Aber: Wenn wir uns ängstigen, sind wir durchaus auch fähig, aus der Angst eine Furcht zu machen. Wir ängstigen uns diffus und finden dann heraus, wovor wir uns fürchten, finden also einen ganz plastischen Grund für das Auftreten der Angst. Wissen wir aber, wovor wir uns fürchten, ist es einfacher, damit umzugehen. Furcht hat aber auch Angst in sich, und deshalb ist es fraglich, ob diese Unterscheidung aufrecht erhalten werden soll, um so mehr, als umgangssprachlich die beiden Phänomene längst vermischt sind. So spricht man etwa von Angst vor einem Krieg, Angst vor dem Fliegen usw. Das bedeutet, daß in der Alltagssprache sich festgesetzt hat, daß Angst und Furcht einander durchmischen.
Das existenzphilosophische Anliegen wäre es allerdings, die Furcht zu entlarven und die dahinter liegende Angst bewußt auszuhalten, weil diese uns dann vor das Nichts stellen und erleben lassen könnte, daß wir nicht untergehen, sondern mit einem sichereren Lebensgefühl daraus hervorgehen. Durch die Angst ist das Selbst des Menschen angesprochen, man ist ganz selbst gemeint, denn in der Angst kann man sich nicht vertreten lassen. Wenn uns die Angst so vor das Nichts stellen kann, dann heißt das auch, daß wir im Erleben der Angst auch ganz neu werden könnten: Wenn alles nicht mehr gilt, was bisher gegolten hat, wenn all unser schmückendes Beiwerk, das wir im Leben haben, wegfällt, wenn alles versagt, was bis jetzt getragen hat oder vermeintlich getragen hat, dann, so die existenzphilosopische Überzeugung, stoßen wir unabweisbar auf das, was wirklich trägt. Das ist die existentielle Erfahrung, die wir im Umgang mit Angst machen können. Auf diese Erfahrung können wir allerdings Angstpatienten und Angstpatientinnen nicht verpflichten. Die Idee der Existenzphilosophie, daß der Mensch sich dem einfach zu stellen habe, ist nicht so einfach in die Praxis zu übertragen.
Was wir weiter aus dieser Analyse des Daseins anhand der Angst lernen können, ist die Idee, daß Angst einsam macht, daß Angst uns auf uns selbst zurückwirft, daß Angst ein Anruf ist an uns selbst, an unser wahres Selbst. Das Ergriffensein von der