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Achtsamkeit ist in aller Munde – sie hat sich als Schlüssel zu einem glücklichen, sinnerfüllten Leben bewährt, seit Jahrtausenden und inzwischen auch wissenschaftlich nachgewiesen. Der Erfolgsautor Dr. Matthias Ennenbach hat in seinem neuen Buch auf den Punkt gebracht, worauf es bei der Achtsamkeit ankommt. Ausgehend von der Frage, wie wir Achtsamkeit wirklich im Alltag verwurzeln können, hat Ennenbach daraus ein kompaktes System zur Achtsamen Selbststeuerung (ASST) entwickelt. Es lässt uns immer wieder im Körper ankommen – bis aus einer neuen Gewohnheit eine Haltung erwächst, die uns zunehmende Gelassenheit schenkt. Kommt die "innere Schneekugel" einmal zur Ruhe, können wir klarer erkennen, welche Ego-Anteile in uns momentan das Ruder übernehmen wollen – und sind in der Lage, uns neu zu justieren. Je mehr wir zu dem Menschen werden, der als Potenzial bereits in uns angelegt ist, desto weniger können Ablenkungen uns aus dem Gleichgewicht bringen.
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Seitenzahl: 292
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Matthias Ennenbach
Grundlagen undPraxis der Achtsamkeit
1. Auflage 2016© 2015 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, OberstdorfAlle Rechte vorbehalten
Buddhistische Psychotherapie BPT® und Achtsame Selbststeuerung ASST® sindeingetragene MarkenUmschlaggestaltung: Andrea Barth | Guter Punkt – Agentur für GestaltungCovermotiv: © Ekaterina Gerasimov/shutterstockZeichnungen im Innenteil: Matthias Ennenbach,Lektorat: Andreas KlatteISBN 978-3-86410-209-7www.windpferd.de
Einleitung
1. Kapitel:Erste Schritte auf dem achtsamen Pfad
Dem Weg eine Richtung geben
Bestandsaufnahme der Selbststeuerung
Das Wesen der Achtsamkeit ergründen
2. Kapitel:Eine Bedienungsanleitung für den Verstand
Ein klarer Geist als Voraussetzung
Zurechtfinden im Ego-Labyrinth
Die Königsdisziplin: Potentialentfaltung
Beharrlichkeit auf dem Weg
Erwachen aus dem Traum
Erkennen, Verinnerlichen, Verwirklichen
3. Kapitel:Reise an den Ursprung der Achtsamkeit
Die historische Lehrrede zur Achtsamkeit
I. Stufe der Achtsamkeit: Einsicht in körperliche Abläufe
II. Stufe der Achtsamkeit: Einsicht in emotionale Abläufe
Körper und Emotionen, Gradmesser unseres Befindens
III. Stufe der Achtsamkeit: Einsicht in gedankliche Abläufe
IV. Stufe der Achtsamkeit: Geistesobjekte
Wie weit ist es von hier bis zur Achtsamkeit?
4. Kapitel:Achtsame Selbststeuerung
Ein roter Faden ins achtsame Leben
1. ASST-Stufe: Der Grundkurs
2. ASST-Stufe: Die Konsolidierung
3. ASST-Stufe: Die spirituelle Ebene
Vom Achtsamkeitsverhalten zur Achtsamkeitshaltung
5. Kapitel:Die eigene Übungspraxis vertiefen
Der Nebel lichtet sich
Säulen einer achtsamen Lebenskultur
6. Kapitel:Achtsamkeit als Wegbegleiter
An die Grenzen des Beschreibbaren und darüber hinaus
Hilfreiche Übungen
Ausblick: Das Art of Life Project ALP
Literatur
Über den Autor
Seit geraumer Zeit scheint das Thema Achtsamkeit im Bewusstsein vieler Menschen angekommen zu sein. Und doch hütet dieses Phänomen stets ein paar Geheimnisse. Wir erahnen, worum es geht, aber dennoch verschließt sich das Thema in unserem Alltag immer wieder.
Bestimmt gibt es bei Ihnen bereits einige Ideen, was Achtsamkeit sein könnte. Und wahrscheinlich fragen Sie sich, wenn Sie sich damit beschäftigen, dennoch, wie Sie Ihr Wissen in Ihrem Alltag umsetzen können. Das scheint oft das größte Problem zu sein: die Umsetzung.
Dieses Buch möchte das Phänomen der Achtsamkeit vom Ursprung her verdeutlichen, auf eine neue Weise transparent machen und insbesondere effektive, konkrete, leichte Strategien vermitteln, wie Sie Achtsamkeit sicher umsetzen und nachhaltig in sich festigen können.
Meine Beobachtung als Psychotherapeut und Achtsamkeitstrainer ist, dass Achtsamkeit unser Leben wirklich auf sanfte Weise revolutionieren kann.
Natürlich gibt es mittlerweile viele Achtsamkeitskonzepte und -übungen mit unterschiedlichen Hintergründen, die beim Zugang jeweils bestimmte Schwerpunkte setzen. In diesem Buch beziehe ich mich auf das „Original“: eine Achtsamkeitstradition, die seit vielen Jahrhunderten existiert, die weitergegeben und praktiziert wurde. Diese Quelle stammt aus der buddhistischen Lehre, allerdings aus einer Zeit, in der diese Lehren noch keine Religion waren. So sind auch die hier genutzten Quellen konfessionsfrei, sie beinhalten keine religiösen Dogmen und bieten stattdessen einen unerschöpflichen Fundus an konkreten Anregungen zum Verständnis und zur Umsetzung. Das Kapitel 3 dieses Buches wird diese faszinierende Quelle für Sie offenlegen.
Da es sich hier um ein Buch handelt, das Sie dazu einladen möchte, die für Sie passenden Anregungen auch tatsächlich zu übernehmen, möchte ich Ihnen eine praxisorientierte Lesart empfehlen: Achten Sie beim Lesen darauf, wie Sie die für interessant erachteten Informationen selbst ausprobieren können, um sie bei guter Erfahrung bis hin zur alltäglichen Gewohnheit einzuüben. Die zentralen Übungen werde ich so eingängig beschreiben, dass Sie sie schon nach wenigen Wiederholungen meistern. Die große Bedeutung der eigenen Erfahrung, die im Buddhismus immer wieder eine Schlüsselrolle spielt, bildet anhand von Anregungen und kleinen Übungen den roten Faden. So kann sich Ihr Verständnis der Achtsamkeit nach der Lektüre auf vielen verschiedenen Ebenen vertiefen und zugleich konkretisieren.
Falls zwischendurch bei Ihnen Zweifel im Hinblick auf Ihre Fähigkeit aufkommen sollten, ein achtsames Leben in die Tat umzusetzen, hilft es oft, sich das Wissen um unsere vielfältigen Veranlagungen in Erinnerung zu rufen: Jeder Mensch, natürlich auch Sie selbst, verfügt über jede menschliche Veranlagung, auch die zur Achtsamkeit. Dieses Buch möchte diese Veranlagung in Ihnen weiter aktivieren. Es ist also eine direkte Einladung an Sie, Ihr eigenes, vielleicht zum Teil noch schlummerndes Potenzial zu stimulieren und dann auch zu kultivieren. Machen Sie sich selbst ein Bild, indem Sie direkt beginnen, Erfahrungen mit dem zu sammeln, was hier beschrieben wird.
Wir alle sind häufig in der aufnehmenden Position: Wir konsumieren und bleiben passiv. Wenn wir aber zu oft „schlucken“, fühlen wir uns irgendwann so schwer, dass wir selbst kaum noch aktiv werden. Allzu häufig erleben wir uns dann als hilflos, als kleine Schräubchen im großen, übermächtigen Getriebe, sodass viele von uns durch diese Gewohnheit das Empfinden für die eigene Wirksamkeit verloren zu haben scheinen. Oder wir mussten auf der persönlichen Ebene erfahren, wie jemand gegen unseren Willen Entscheidungen traf, die unser Leben veränderten. Zudem erleben wir tagtäglich, wie unser Körper scheinbar ein Eigenleben führt. Er funktioniert auch ohne unsere Kontrolle, produziert immer mal wieder Symptome oder wird krank. Unzählige Abläufe in uns scheinen sich selbst zu regulieren. Wer steuert das eigentlich? Wer steuert Ihren Körper? Sie selbst? Können Sie sich entscheiden, jetzt Ihre Cholesterinwerte zu senken? Sind Übungen der Geisteskontrolle in der Lage, auf „automatische“ körperliche Abläufe Einfluss zu nehmen? Vielleicht sind Sie der Ansicht, dass Ihr Gehirn vieles steuert. Aber wer steuert Ihr Gehirn? Steuert sich das Gehirn etwa selbst?
Je genauer wir hinschauen, desto erschreckender müssen wir uns eingestehen, dass wir anscheinend (noch) nicht der Kapitän unseres eigenen Fahrzeuges sind. Sicherlich ist es angenehm, dass wir nicht alles in uns bewusst steuern müssen. Aber gleichzeitig erfordert unser stressreiches Leben heute ein besonders achtsames Maß an Selbststeuerung, da ansonsten zu schnell Symptome von Fehlregulationen auftreten. Das Überangebot an Reizen nimmt in unserer Gesellschaft immer drastischere Ausmaße an, sodass unsere bewusste Eigensteuerung „zugunsten“ von Automatismen und Gewohnheitsmustern in vielen bedeutsamen Lebensbereichen abnimmt. Mit verheerenden Folgen, denn kaum etwas wirkt sich auf unsere Psyche so destruktiv aus wie die Erfahrung von Hilflosigkeit. Und wir erleben eindeutig zu oft und zu intensiv diese Hilflosigkeit.
Dieses Buch wird Ihnen das Phänomen der Achtsamkeit so offenlegen, dass sie im Stande sind, das „Steuer“ wieder selbst in die Hand zu nehmen. Wir werden Achtsamkeit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten: So lernen Sie Achtsamkeit, neben einigen anderen Varianten, als eine sehr alltagstaugliche Selbststeuerungstechnik kennen. Ich werde Achtsamkeit aber auch als eine Methode vorstellen, die uns dabei hilft, unser Leben bewusster wahrzunehmen, es zu genießen, uns in Ruhe und Klarheit zu verankern, Zugänge zu noch ungenutzten Ressourcen zu finden, die kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern sowie inneren und äußeren Frieden zu erfahren. Zudem ist Achtsamkeit eine Lebensphilosophie, mit der wir uns auch geistig auseinandersetzen können.
Für all diese Varianten ist die Verknüpfung von Achtsamkeit mit Selbststeuerung von zentraler Bedeutung. Denn mit der Achtsamkeit wächst unser Handlungsspielraum. Sie werden sich wundern, auf wie vielen Ebenen Selbststeuerung und Einflussnahme möglich sind! Und Sie werden sich wundern, wie einfach Übungen sein können, mit denen uns diese Steuerung gelingt.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt gerade, wie genau Selbststeuerung mit Achtsamkeit zusammenhängt. Die Lösung liegt in einem Stufen- oder Schritte-Modell: Anfangs funktioniert Achtsamkeit als eine konkrete Methode zum Erkennen und zur Selbstregulation. Bei geduldiger Anwendung wird sie sich aber zu einer Art Schlüssel entwickeln, der weitere Türen öffnet. Schritt für Schritt. Nur sollten wir nicht mit dem fünften Schritt beginnen.
Im 1. Kapitel werden wir uns der Achtsamkeit in ihren verschiedenen Facetten annähern. Dann erfolgt im 2. Kapitel eine Einordnung dieses Konzeptes in größere Zusammenhänge. Im 3. Kapitel werden wir die ursprünglichen Texte betrachten und ihre Anwendbarkeit darstellen. Dieses Fundament hilft, auf einem soliden Verständnis fußend eine leichte Übungstradition zu verinnerlichen, umzusetzen und dann immer mehr zur vollendeten Anwendung von Achtsamkeit zu kommen. Im 4. Kapitel stelle ich Ihnen eine konkrete Achtsamkeitsmethode vor, die aus den Originaltexten entwickelt wurde: das achtsame Selbststeuerungstraining (ASST).
Während sich verwandte Begriffe wie Mindfulness based Stress Reduction (MBSR) auf eine achtsame Stressreduktion konzentrieren, verfolgt ASST ein deutlich umfassenderes Konzept. Hier wird die Bedeutung der Selbstkontrolle, Selbstregulation oder Selbststeuerung in den Vordergrund gestellt. Das hat den Hintergrund, dass wir mit Achtsamkeit eben nicht nur Stress reduzieren (MBSR), also Negatives lindern, sondern auch positive Ressourcen wie u. a. die Selbststeuerung stärken können. Wir möchten Positives in uns gezielt kultivieren. So ist ASST ein Begriff, hinter dem wir einen kleinen Kosmos entdecken können. Sie kann uns zum Schlüssel werden, um in vielen verschiedenen Bereichen achtsamer zu werden:
Achtsame Selbststeuerung …
… erhöht unsere Aufmerksamkeitsfähigkeit
… erhöht unsere Konzentrations- und Gedächtnisleistung
… stärkt unsere Selbststeuerungskompetenzen
… stabilisiert unsere Gelassenheit und innere Ruhe
… hilft zu wirklicher Präsenz im Hier und Jetzt
… aktiviert unsere Einsichtsfähigkeit
… vertieft unser Verstehen für uns und andere
… unterstützt den inneren Wandel
… bietet eine Strategie zur gezielten Potenzialentwicklung
… ist ein funktionierender Schlüssel für Spiritualität
In den Kapiteln 5 und 6 wird der Rahmen der Achtsamkeit noch einmal geweitet, indem wir viele Verknüpfungen zwischen Achtsamkeit und dem Alltag herstellen.
Sie werden schon nach wenigen Seiten bemerken, dass es sich hier nicht um ein philosophisches Werk, eine schöngeistige Abhandlung oder reine Theorie handelt. Es wird keinen dialektischen Diskurs über transzendente Bewusstseinszustände oder andere hochgestochene und abstrakte Themen geben.
Selbst die umfassenderen Themen, insbesondere im Ausklang dieses Buches, die z. B. dazu einladen, zur Künstlerin oder zum Künstler ihres Lebens zu werden, basieren auf sehr konkreten, hier vorgestellten Übungswegen.
Da Lesezeit immer auch Lebenszeit ist, wünsche ich Ihnen eine inspirierende Lektüre, die nachhaltig zu Ihrer Lebensqualität beitragen möge.
Matthias Ennenbach
Berlin 2015
Schulung des Geistesläuft nicht auf Beherrschung der Dinge heraus,sondern auf Verstehen.
– AJAHN BRAHM –
Es wurde bereits in der Einleitung kurz erwähnt, dass es sich bei der Achtsamkeit um eine heilsame Veranlagung handelt, also eine Disposition, über die ausnahmslos alle Menschen verfügen. Der Same der Achtsamkeit wurde uns allen mitgegeben. Nun geht es eigentlich „nur“ noch darum, dieses Potenzial möglichst genau kennenzulernen und dann zur Entfaltung zu bringen.
Ein guter Gärtner sitzt nicht nur herum und wartet darauf, was in seinem Garten alles so blüht und gedeiht. Er nimmt Einfluss. Aber sein Handeln ist von liebevoller Ruhe geprägt, denn wie heißt es so schön: „Das Gras wächst nicht schneller, auch wenn man daran zieht.“ Zwar kommt uns dabei zugute, dass die Aktivierung von Veranlagungen einen auf natürliche Weise vorhandenen Wesenskern in uns offenlegt. Dennoch benötigen wir dafür etwas Anleitung, die uns eine zumindest grobe Idee von der Richtung unseres Weges aufzeigt. Das bedeutet, dass wir uns schon zu Beginn etwas klarer darüber werden sollten, was wir unter Achtsamkeit verstehen. Denn ohne eine Zielvision können wir nicht gut starten.
Und dann geht es an die eigenständige Übung. Dieses Üben ist wie eine Zuwendung uns selbst gegenüber. Sie gleicht einer Gratwanderung, bei der wir sowohl ruhig-betrachtend als auch aktiv-lenkend vorgehen.
Schauen Sie sich doch bitte einmal die nachfolgende Abbildung an. Dort sehen Sie zwei Menschen am Strand. Wer von den beiden ist Ihrer Meinung nach achtsam?
Abb. 1
Sicherlich halten auch Sie den Menschen rechts im Bild für achtsamer als den linken. Unsere Vision von Achtsamkeit entspricht also einem (fast) leeren, ruhigen Geist, der vollkommen auf das Hier und Jetzt fokussiert ist.
Prüfen Sie aber einmal kritisch in sich, welche Empfindungen beim Betrachten noch in Ihnen wach werden. Sie könnten sich z. B. fragen, wer von den beiden Ihnen selbst ähnlicher ist. Können Sie Ihren Geist so entleeren? Werden Sie das jemals zustande bringen? Und falls ja, für wie lange werden Sie so einen Zustand halten können? Vielleicht erleichtert es Sie ein wenig, wenn Sie erfahren, dass tatsächlich beide Personen in dem Bild achtsam sein können. Lassen Sie nun die nächste Abbildung 2 etwas auf sich wirken. Sie sehen den einsamen Grübler am Strand.
Abb. 2
Was bräuchte dieser Grübler, um seine Achtsamkeit wieder wahrzunehmen? Der aktuelle Zustand gleicht einem Trugbild. Sein Körper steht am Strand, sein Geist ist woanders. Von den vielen Eindrücken des Augenblicks bekommt dieser Mensch gegenwärtig nicht viel mit. Sein Geist ist wie eingeschlossen und gefangen, obwohl seine Füße im Sand stehen und sein Gesicht von den Strahlen der untergehenden Sonne erwärmt wird. Der Zustand der Einengung im Grübeln kann durch eine Weitung überwunden werden. Eine Blicköffnung und eine Sinnesöffnung. So kann unser Grübler sich langsam der nachfolgenden Abbildung 3 annähern.
Abb. 3
Nun kann unser Grübler realisieren, dass er grübelnd einen Sonnenuntergang wahrnimmt. Beide Bereiche, das innere Grübeln und das äußere Geschehen der Natur finden nun einen Platz. Die Einengung hat angefangen, sich zu lösen. So können auch wir einfach erst einmal nur wahrnehmen, was da ist. Wir müssen nichts in uns wegschieben oder entleeren. Eine bewusste Weitung unseres Blicks kann bereits in die richtige Richtung weisen.
Nun ist das innere und das äußere Erleben etwas bewusster. Aber dieser Prozess kann fortgeführt werden. Wenn der Blick sich aus der Einengung befreit, dann erleben wir uns auch selbst wieder.
Die nachfolgende Abbildung 4 veranschaulicht dies. Wir erfahren, was wir da tun. Die inneren und äußeren Eindrücke sind präsent. Zusätzlich beginnen wir dann vielleicht auch zu erleben, wie die Luft in uns einströmt, wie der Atem freier fließen kann. Wir spüren den Sand unter unseren Füßen.
Abb. 4
Zwischen Mind-Full und Mindful scheint es manchmal fließende Übergänge zu geben. In der Achtsamkeit (Mindfulness) kann das innere Erleben reichhaltig sein. Aber wie wir noch sehen werden, kann das Gegenteil genauso zutreffen. Dann wird Mindfulness zum leeren Mind, den man auch als Big Mind bezeichnet.
Dieser Perspektivwechsel erscheint recht leicht. Aber es gehört einiges dazu, ihn zu bewerkstelligen. Denn die Grübelstrudel haben meist eine magische Wirkung auf uns, sie können uns vollkommen vereinnahmen. Wir sind dann ganz identifiziert. Dieser Vorgang hat viel mit unbewusst ablaufenden Automatismen zu tun. Auf die werden wir später noch genauer eingehen. Aber an dieser Stelle zeichnet sich bereits ab, wie wichtig eine gute achtsame Selbststeuerung ist. Mit so einer Kompetenz werden äußere Reize und innere Ablenkungen nicht mehr so viel Macht über uns haben.
Abb. 5
Die tieferen Ebenen der Achtsamkeit führen zu einer inneren Stille und Ruhe. Aber stellen Sie bitte sicher, dass wir hier nicht durch die Hintertür alte Vorstellungen einladen und womöglich Leistungsdruck erzeugen. Den angestrebten Zielen werden wir uns hier in Etappen, Schritt für Schritt, bequem annähern. Dabei werden Sie feststellen, dass auch die Selbststeuerung und Selbstkontrolle nur Etappenziele darstellen, denn mit fortschreitender Übung lassen sich sukzessive immer weitere Möglichkeiten entdecken.
Der Übungsverlauf ist ein wenig so wie beim Bergwandern. Zuerst ist da nur der eine Hügel, aber wenn wir einen schönen Weg gefunden haben, auf dem es sich sicher und angenehm wandern lässt, erreichen wir unweigerlich immer größere Höhenlagen. Und mit jedem Höhenmeter wird die Aussicht weiter. Wir bekommen mehr Übersicht und erkennen bald, dass hinter dem Hügel noch viele weitere sind. Doch ohne eine gute Selbststeuerung können wir keinen Hügel erklimmen.
Aus der Erfahrung der eigenen Selbststeuerungsfähigkeiten erwächst das Erkennen der eigenen Selbstwirksamkeit. Kaum eine andere Erfahrung ist so heilsam wie die Selbstwirksamkeit. Das bedeutet, dass Sie sich nicht mehr nur als wahrnehmend, aufnehmend, empfangend oder konsumierend erleben, sondern als aktiv, gestaltend, kreativ, bewegend, lenkend, Einfluss nehmend, eigenverantwortlich. Sie sind selbst wirksam geworden!
Sicher, das Sofa ist oft die bequemere Wahl. Und manchmal ist es nicht leicht, den inneren Schweinehund zu besiegen. Ganz zu schweigen von Entscheidungsmühlen, die uns im ewigen Konflikt von „tu ich’s oder lass’ ich’s“ aufreiben. Aber die langfristigen Auswirkungen einer solchen Lebensweise sind so gravierend, dass uns eigentlich gar keine Alternative bleibt, als für uns selbst aktiv zu werden. Selbstwirksamkeit ist für unser Selbstwertempfinden eine der wichtigsten Quellen. Durch Hilflosigkeit wird es geschwächt, durch Selbstwirksamkeit gestärkt. Deshalb ist Ihre eigene Selbststeuerung so wichtig.
Meinen Sie, dass Sie sich selbst bereits gut steuern können? Das mag sicher auf bestimmte Situationen oder für bestimmte Verhaltensweisen zutreffen, aber für uns Menschen ist es doch eher eine Ausnahme, dass wir diesen Einfluss auf unser Leben geltend machen. Prüfen Sie jetzt einmal Ihre Körperhaltung. Wer hat Sie so positioniert? Machen Sie sich die vielen tausend täglich ablaufenden Gewohnheitsmuster bewusst, die jeder Mensch abspult. Ihre vielen Automatismen. Das beginnt, wenn Sie morgens aufwachen, mit Bewegungsautomatismen, um aus dem Bett zu kommen. Setzt sich den Tag über mit unzähligen Kommunikations-, Gewohnheits- und Leistungsautomatismen fort. Und endet abends mit den Zu-Bett-Geh-Automatismen. Sie wundern sich zwar oft, wie schnell der Tag verging, oder gar das Wochenende, der Monat, das Jahr, das Jahrzehnt, die Jugend, aber dennoch bleiben Sie treu bei Ihren automatisierten Gewohnheitsmustern. Zudem steigert sich in Krisen bei uns nochmals die Neigung, die in uns verankerten unbewussten Gewohnheitsmuster ablaufen zu lassen. Der Verstand trübt sich noch mehr ein und wir schalten unbewusst auf „Autopilot“.
Auf diese Weise funktioniert der menschliche Verstand. Wir wiederholen ein paarmal einen Ablauf und schon möchte unser Verstand daraus einen Automatismus bauen.
Diese Automatismen bilden für unseren kleinen „Keimling“, die Selbststeuerung, den direkten Gegenspieler. Hier tritt David gegen Goliath an. Leider gewinnt der kleine David, ohne gezielte Übung, nur zu selten.
Der zugrunde liegende, unumgängliche erste Schritt ist also ein „Fitnesstraining“ für unsere Selbststeuerungskompetenzen. Diese Qualität liefert dann das Fundament, auf dem sich alle anderen Themen deutlich besser lösen lassen.
Dafür lohnt ein Blick auf die Erkenntnisse über unser Selbststeuerungsorgan, das Gehirn. In den letzten Jahren gab es im Hinblick auf solche Zugänge sehr bedeutsame Entwicklungen. Die technischen Möglichkeiten durch leistungsstärkere Computertomographen konnten nutzbar gemacht werden. Die Neurowissenschaften liefern uns mit ihrer Hilfe wunderbare Einblicke in das menschliche Funktionieren. So können wir die Wirkung der verschiedenen Methoden der Selbststeuerung auf das Gehirn direkt nachprüfen. Viele alte Übungstraditionen (z. B. Meditation) haben sich dabei nachweislich als wirkungsvoll erwiesen.
Heute ist es für uns möglich, einen Roboter auf einen fernen, durch das All schießenden, relativ kleinen Gesteinsbrocken landen und dort für uns arbeiten zu lassen. Die Naturwissenschaft liefert immer wieder faszinierende neue Einblicke und verfeinert zunehmend ihre Methoden. Wieso sollten wir unser naturwissenschaftliches Wissen nicht einmal dafür nutzen, einen Blick in unseren inneren Kosmos zu werfen? Und zwar nicht, um noch mehr Fragen aufzuwerfen, sondern um uns inspirieren zu lassen. Vielleicht stimmen Sie mir zu, wenn ich behaupte, dass wir weniger denkende Kühlschränke, sprachgesteuerte Staubsauger oder vollautomatisierte Kaufhäuser ohne Personal benötigen als Bildungsmöglichkeiten für Jung und Alt, die uns wieder mit unseren menschlichen Qualitäten verbinden. Die uns natürliche Selbststeuerungskompetenzen vermitteln, sodass wir nicht erst krank werden, um dann mit den Behandlungsmöglichkeiten von Schulmedizin und Pharmaindustrie vorlieb nehmen zu müssen.
Konkret könnte sich jeder fragen, welche Errungenschaften für uns wirklich wichtig sind. Wie viel Energie wenden wir auf, um die neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaften (Handy, Computer, Auto, etc.) zu ergattern? Und wie viel Energie wenden wir auf, um die Errungenschaften der Geisteswissenschaften (Achtsamkeitsübungen, Geistestraining, Meditation, Gedächtnis- und Konzentrationstraining) für uns nutzbar zu machen? Der neueste Flachbildschirm mit der modernsten Technik, als Produkt der Naturwissenschaft, mag uns beim Schauen Spaß bereiten. Kritisch wird es, wenn uns die Technik so in ihren Bann schlägt, dass darüber die Kultur, die Qualität unseres Zusammenlebens ins Hintertreffen gerät.
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um folgende Fragen für sich zu beantworten: In welchem Verhältnis stehen Materielles und Geistiges in Ihrem Leben?
In welchem Verhältnis stehen Fernsehschauen und Literatur in Ihrem Leben?
In welchem Verhältnis stehen Shopping und Geistestraining in Ihrem Leben?
In welchem Verhältnis stehen Geisteseintrübungen (Konsum) und Geistesklarheit (Mäßigung) in Ihrem Leben?
Letztlich geht es um den mittleren Weg, die Ausgewogenheit. Das Materielle wird hier so kritisch gesehen, nicht weil es an sich kritisch ist, sondern weil in unserer Kultur sein Stellenwert zu hoch geschraubt wurde. Beides ist in ausgewogener Weise hilfreich für uns.
Das Körperlich-Materielle finden wir in den somatischen Medizindisziplinen, das Geistige finden wir in den psychologischen Disziplinen. In einer ausgewogenen Mischung liegt die größte Hilfestellung für uns: Die Psychosomatik ist sicherlich nachhaltig wirkungsvoller als nur somatische oder nur auf die Psyche abzielende Angebote. Altes, das mit Neuem zusammenfindet, Westliches mit Östlichem – stets lohnt es sich, nach Integrationsmöglichkeiten Ausschau zu halten.
Wenn es gut ist, ist es fruchtbar
Eine Botschaft, die gar nicht oft genug wiederholt werden kann: Wir müssen dabei nichts grundlegend Neues herbeizaubern. Stattdessen sollten wir endlich damit beginnen, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen. Das betrifft das verfügbare Wissen unserer und anderer Kulturen – und natürlich auch unsere inneren Qualitäten, die jeder ausnahmslos als Mensch vererbt bekommt. Leider werden sie in der Regel nicht gezielt gefördert. Das Schulfach „Die Kunst des Lebens“ oder „Die Kunst der sicheren Selbststeuerung“ ist eigentlich vollkommen unverzichtbar. Stattdessen haben wir uns eine Kultur geschaffen, in der wir die wichtigen Lektionen meist auf die harte, weil schmerzhafte Tour erfahren müssen. Um unsere inneren Veranlagungen zur Freude und zum Glücklichsein zu stimulieren, sind viele von uns auf günstige äußere Reize oder gar psychoaktive chemische Substanzen angewiesen. Das vermehrte Wissen über uns selbst und die Natur, in der wir leben, sollte zu recht konkreten Anregungen führen, wie wir uns diese Quelle auf natürliche im Alltag erschließen und so eine Unterstützung finden, die wir aus uns selbst schöpfen können.
Denn wenn wir ein System von Bausteinen als perfekt kompatibel erleben und so ein Zusammenwirken auf sehr unterschiedlichen Ebenen verstehen, dann entsteht eine Anziehungskraft, die es uns leicht macht, immer weitere Aspekte unseres Lebens in dieses System zu integrieren. So setzen wir überaus heilsame Dynamiken in Gang.
Fühlen Sie sich von mir zu einer kleinen Gedankenreise eingeladen. Eine Reise, die vielleicht dazu führen wird, dass sich Perspektiven wandeln, Blickrichtungen weiten und Sie viele sehr konkrete Anregungen zur effektiven Selbststeuerung erhalten. Für viele ist der Begriff Lebenskünstler mit der Vorstellung von jemandem verknüpft, der seinen unkonventionellen, ganz eigenen, meist ärmlichen Weg geht. Dabei ist die Lebenskunst eine der wichtigsten Kompetenzen im Leben!
Vielleicht haben Sie relativ klare Ziele für Ihr Leben? Welche wären das? Möchten Sie irgendwie möglichst gut „durchkommen“? Was sind Ihre Ziele im weiteren Leben? Möchten Sie nicht auch auf eine gute Art Lebenskünstler oder Lebenskünstlerin werden?
Sie benötigen erst einmal etwas Zeit, um darüber nachzudenken?
Ja, wahrscheinlich würden die meisten von uns auf so eine Frage eher verhalten reagieren. Die Frage ist schließlich ziemlich allgemein, sie betrifft so große Maßstäbe. Für viele ist schon die Frage danach, was sie heute Abend essen möchten, eine Herausforderung. Wohin die nächste Urlaubsreise gehen soll, ist vielleicht noch schwieriger. Und dann darauf antworten, welches Ziel das eigene Leben haben soll? Woher sollen wir denn wissen, was in zehn Jahren passiert? Und schon sitzen wir wieder als passive Empfänger da und warten darauf, was das Leben uns so zu bieten hat.
Ist das eine bequeme Passivität, weil Sie vom Leben immer verwöhnt wurden? Weil Sie sich selbst nie bemühen mussten? Haben Sie eine Restauranthaltung entwickelt, bei der Sie nur noch das haben möchten, was auf der Speisekarte steht? Oder ist es eine resignative Passivität, weil Sie im Leben meist keine Wahl hatten? Wieso ist die Frage nach dem Ziel so schwierig?
Stellen Sie sich einmal vor, dass ein Zollbeamter an einem großen Flughafen einen Passagier bei der Passkontrolle fragt, wohin denn die Reise gehe und der Reisende würde antworten: „Tja, so genau weiß ich das auch nicht. Da müsste ich erst einmal nachdenken … auf jeden Fall sollte es eine gesunde und glückliche Reise werden. Na ja, wer weiß schon, aus welcher Richtung unterwegs der Wind weht, vielleicht ändert der Flugkapitän ja auch einfach den Kurs.“
Bei den kleinen Reisen versuchen wir, unser Ziel möglichst exakt festzulegen. Wir möchten genau das Hotel, das wir ausgesucht und gebucht haben – und wehe, die Reiseleitung versucht, uns in ein anderes Domizil zu schicken! Aber bei unserer großen Lebensreise, deren Tragweite und Bedeutung um so vieles größer ist, da werden wir zu orientierungslosen Passivisten.
Es geht hier um eine möglichst gute Transparenz bezüglich unseres Weges. Wohin soll die Reise gehen? Auf wen möchten Sie treffen, wenn Sie in zehn Jahren in den Spiegel schauen? Und was meinen Sie, wie Sie das erreichen? Es geht schließlich um Sie, Ihr Leben und die Zeit, die Sie noch haben.
Das, was Sie heute sind, ist zum größten Teil ein Zufallsprodukt, das von vielen meist externen Einflüssen geprägt wurde. Sicherlich existieren innere Lenkungsmuster, aber leider sind auch die für Sie weitgehend unklar (Genetik) und unbewusst (Psyche).
Es gibt für Sie absolut keine Chance, so zu bleiben, wie Sie jetzt sind. Ihr Körper wird sich unweigerlich mit der Zeit verändern und Ihre Psyche verändert sich durch die vielen täglichen Eindrücke ebenso unwillkürlich. Die Veränderung ist unaufhaltsam. Wir verändern uns kontinuierlich, konsumieren aber die meiste Zeit ziemlich unbewusst alle möglichen Reize, mit denen uns unsere Kultur bombardiert.
Sicherlich meldet sich in Ihnen eine bestimmte Egostimme, ein Persönlichkeitsanteil, der Ihre Gedanken lenkt. Vielleicht lässt Sie dieser Anteil zweifeln: „Wir können uns doch nicht neu erfinden!“ „Wie soll das denn funktionieren?“
Damit sind wir bei einer zweiten Herausforderung: Dass wir nämlich zu oft glauben, was wir denken. Der gerade im Vordergrund stehende Persönlichkeitsanteil in uns produziert eine Meinung, an die er selbst natürlich glaubt. Dabei übersehen wir, dass es sich eben allzu oft nur um einen Glauben handelt. Und dass wir in den überzivilisierten Gesellschaften womöglich ebenso blindgehorsam in Strukturen eingebunden sind, die wir im Hinblick auf nicht so zivilisierte Kulturen gerne abschätzig als „göttergläubig“ abtun. Dieses Empfinden, ein Rädchen im Getriebe zu sein, „schützt“ uns davor, aktiv zu werden für uns selbst. Anscheinend glauben wir, dass wir uns selbst nicht ändern können, weil wir auch sonst nichts in unserer Gesellschaft ändern können. Wir wissen zwar, dass wir nicht mehr das Kind sind, das vor Jahrzehnten eingeschult wurde. Aber etwas ist geblieben von der kindlichen Welt, in der die Dinge nun einmal waren, wie sie waren.
Unser Denken und Handeln bekäme eine ganz andere Qualität, wenn wir uns permanent bewusst wären, dass unser gegenwärtiges Tun eine strukturbildende Wirkung hat und dass wir uns mit unseren Gedanken, die eben alles andere als frei sind, und mit unseren Handlungen selbst jeden Tag aufs Neue bilden. So geschieht Bildung. Jede Minute – egal, wo wir sind.
Die Notwendigkeit, diesen Vorgang bewusster, also achtsamer, zu gestalten, erscheint in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug angesetzt werden zu können.
Achtsamkeit ist somit absolut kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Heute gibt es so differenzierte Methoden, sich selbst detailliert kennenzulernen und Einblicke in die eigenen Strukturen und damit auch die Potenziale zu erhalten, dass wir unser Leben nicht mehr nur von äußeren Anforderungen abhängig machen müssen.
Die Fähigkeit zur Selbststeuerung eröffnet uns vollkommen andere Handlungsspielräume. Sie erzeugt in uns eine Art von Kraftfeld, in dem wir gut bei uns selbst sein können. Indem wir den Fokus in Kombination mit ein paar wirkungsvollen kleinen Selbstregulationsübungen auf uns richten lernen, werden äußere Einflüsse spürbar weniger Macht auf uns ausüben können.
Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie jemand fragen würde: „Was genau ist denn nun Achtsamkeit?“ Und: „Kann Achtsamkeit wirklich dabei helfen, die eigene Selbststeuerung zu verbessern?“ Was würden Sie spontan antworten?
Vielleicht müssten Sie zuerst etwas innehalten und nachdenken. Manchmal entsteht in uns der Eindruck, dass wir etwas gut verstanden haben, aber erst, wenn wir danach gefragt werden und es erklären sollen, klärt sich unser Verstehen. Wie könnten Sie nun diesen Achtsamkeitsbegriff möglichst kurz und präzise auf den Punkt bringen? Intuitiv werden Sie vielleicht ahnen, was sich hinter dem Begriff Achtsamkeit verbirgt, aber wie füllen Sie Ihre Definition mit Leben? Wie verhalten Sie sich, wenn Ihnen jemand rät, jetzt besonders achtsam zu sein? „Räum bitte mal achtsam die Geschirrspülmaschine aus.“ Was bedeutet das? „Seien Sie in Ihrer Partnerschaft achtsamer!“ Was verstehen Sie darunter? Viele von uns verbinden mit Achtsamkeit wahrscheinlich eine Reduzierung von Stress und, damit einhergehend, eine besondere Art der Entschleunigung.
Achtsam sein bedeutet also, langsamer zu werden? Oder geht es um eine bewusste Langsamkeit? Wenn wir uns etwas langsamer bewegen, können wir dann jedes einzelne Detail bewusster wahrnehmen und so die Achtsamkeit fördern? Und ist es auch möglich, mit hoher Geschwindigkeit zu agieren und trotzdem achtsam zu bleiben? Müssen Rennfahrer nicht sehr achtsam sein?
Vor einem moralischen Hintergrund stellt sich die Frage: Ist Achtsamkeit immer gut? Bewirkt es immer Gutes? Beinhaltet Achtsamkeit immer eine positive Intention dessen, was wir tun, oder könnten wir auch in achtsamer Weise für uns und andere problematische Dinge tun? Auf die Spitze getrieben: Kann es achtsam-kriminelles Verhalten geben? Manche Gewaltverbrechen scheinen sehr sorgsam geplant. Sind sie nun sorgsam oder achtsam? Wo liegt der Unterschied?
Müssen wir, wenn wir achtsam sind, alles, wirklich alles, zur Kenntnis nehmen, was uns umgibt? Wenn nicht – was können wir getrost ignorieren? Und sind wir dann immer noch wirklich achtsam?
Besonders wichtig sind wohl die Fragen nach einem achtsamen Verhalten in Krisenzeiten. Wir möchten uns gerne selbst besser steuern, wir möchten Achtsamkeit wie einen Rettungsring nutzen. Das ist sehr naheliegend, aber für diesen sinnvollen Einsatz benötigen wir zuerst ein klares Bild der Methoden. Und dann ein regelmäßiges Üben in Ruhezeiten, damit wir in schwierigeren Phasen eine Chance haben. Uns müsste also sehr klar sein, wie Achtsamkeit genau zu üben ist, damit wir sie in uns stabilisieren. Aber ist denn Achtsamkeit genauso zu erlernen wie zum Beispiel eine Fremdsprache, Klavierspielen oder der aufrechte Gang? Benötigen wir für das Erlernen so heilsamer Eigenschaften besondere äußere Umstände – oder taugt jede alltägliche Situation, sodass wir Achtsamkeit quasi parallel zum Alltagsgeschäft erlernen können? Anders gefragt: Gibt es grundlegende Unterschiede zwischen klösterlichen und weltlichen Achtsamkeitsübungen?
Manchmal verunsichern solche Fragen ein vorher scheinbar stabiles, intuitives Verständnis. Manche Fragen erzeugen oft noch mehr Fragen. Dieses Buch möchte in Ihnen ein tieferes inneres Verständnis entwickeln, aus dem heraus Sie Ihre ureigene Antwort auf derartige Fragen finden können. Wenn Sie etwas zum Thema Achtsamkeit gelesen haben und sich überlegen, wie Sie Achtsamkeit verstehen und umsetzen können, entstehen häufig Probleme. Denn oft finden wir Erklärungen vor, die mittels verschiedener Beispiele achtsamen Verhaltens und vielfältiger Übungen zur Erkenntnis führen sollen. Ein solcher Zugang lässt wichtige Fragen offen, die darüber entscheiden, ob die Integration in den Alltag letztlich gelingt.
Finden Sie auf den folgenden Seiten heraus, was Achtsamkeit für Sie persönlich bedeutet: Ist es ein Verhalten, eine Haltung, eine Übung, eine Methode, eine Technik, ein Bewusstseinszustand oder eine Kombinationen daraus? Oder doch etwas ganz anderes? Was meinen Sie? Ist es eher realistisch, „immer mal wieder“ achtsam zu sein? Oder möglichst oft? Oder können wir generell, also dauerhaft achtsam werden und bleiben? Wie wird die Theorie gelebte Praxis? Wie gelangen wir selbst von den einzelnen Praxisübungen zu einer nachhaltigen Achtsamkeit?
Vielleicht haben Sie schon einmal etwas vom MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) gehört, der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion. Dort finden wir Achtsamkeitsübungen wie zum Beispiel die Methode der Meditation und der Körperwahrnehmung (Body-Scan) als zentrale Zugänge zur Achtsamkeit (Mindfulness). Eine weitere, im MBSR oft durchgeführte achtsamkeitsbasierte Übung ist die sogenannte Rosinen-Übung: Zunächst werden Rosinen verteilt. Dann wird daran gerochen, sie werden betrachtet, sie werden gedrückt und belauscht und dann mit Bedacht langsam gekaut und geschmeckt. Diese Neuentdeckung der bewussten Langsamkeit wird Ihnen garantiert neue Eindrücke und Erfahrungen vermitteln. Aber können Sie von solchen Übungen Rückschlüsse auf das Prinzip Achtsamkeit ziehen? Sollen wir nun an alles, wie eben schon vermutet, besonders langsam herangehen und in jeder Situation prüfen, was wir jetzt gerade hören, sehen, riechen, schmecken, denken und fühlen? Wie sollen wir dann noch alle notwendigen Verrichtungen des Alltags bewältigen? Schließlich liefert uns ein kurzer Spaziergang bereits tausende von Eindrücken – und jeder dieser Sinneseindrücke ist mittels Achtsamkeit intensivierbar. Helfen da vielleicht Prioritäten? Und wenn ja: Was gibt es da zu beachten? Kein leichtes Rätsel, das uns dieser auf den ersten Blick so offensichtliche Begriff aufträgt.
Ein entsprechendes Buch oder der Besuch eines Seminares ist inspirierend und erzeugt oft die Motivation, demnächst achtsam oder zumindest achtsamer zu werden. Der scheinbar tolle Seminarleiter schildert es so anschaulich und scheint es mit seiner Ruhe selbst schon „geschafft“ zu haben. Eine Weile bleiben wir zuversichtlich. Dann macht sich allmählich ein Anflug von Resignation bemerkbar: Nur wir selbst hinken mal wieder hinterher und werden „es“ wohl nie erreichen. Und das, obwohl Achtsamkeit auf einer intuitiven Ebene so eingängig scheint und wir schnell eine gute innere Resonanz dazu finden.
Es ist schon ein recht spannendes menschliches Phänomen, dass wir unser Wissen um heilsame Chancen, selbst ohne klare Hindernisse, einfach nicht umsetzen. Dieser traurige Tatbestand belegt leider wieder die Vermutung, dass wir kaum wirkliche Entscheidungen treffen, sondern einfach nur inneren Mustern folgen. Das geschieht zumindest, wenn wir kein Geistestraining absolvieren konnten, wie es die in diesem Buch vorgestellte achtsame Selbststeuerung ASST ist.
Wir verstehen manchmal einen Sachverhalt, wie die Thematik der Achtsamkeit, aber das Verstehen führt leider meist nicht zu den gewünschten Effekten. Die Tatsache, dass wir eine Thematik wie die Achtsamkeit schnell verstehen, verdanken wir wie bereits ausgeführt dem Umstand, dass wir die innere Veranlagung zur Achtsamkeit mitbringen. Es wird also etwas, das bereits da ist, angeregt. Aber für die gewünschte Nachhaltigkeit ist es wichtig, dass das, was in uns angeregt wurde, den Raum bekommt, sich von einem zunächst kleinen Bereich auszubreiten. Erst durch ein stetig wiederholtes Üben wird das innere Areal regelmäßig aktiviert, erst dadurch kann es sich entfalten. Wie ein Samenkorn, das regelmäßig bewässert und gedüngt wird.
Dieses Buch erhebt den Anspruch, das Prinzip Achtsamkeit so transparent zu machen, dass Sie es nach der Lektüre sowohl in nur einem Satz auf den Punkt bringen als auch zur effektiven Selbststeuerung leicht nutzen können. Dafür gehen wir schrittweise vor. Zuerst ist ein fundiertes Kennenlernen wichtig. Erst danach folgen die Übungsschritte zur Verinnerlichung. Und erst danach steigen unsere Chancen zur Verwirklichung, also von der Theorie in die Praxis zu kommen.
Sie werden Achtsamkeit als eine eigene innere Qualität erfahren, die sich in jeder Situation gut und schnell zur Selbstregulation einsetzen lässt. So bilden sich allmählich innere Strukturen. Um Sie für eine wahrhaftige Kunst des Lebens zu sensibilisieren, werden natürlich keine vorgefertigten Lösungen auf den Tisch gelegt. Schließlich funktioniert Kunst auch nicht auf der Basis von Malen nach Zahlen. Klingt logisch, oder? Ist aber dennoch nur die halbe Wahrheit: Jeder Künstler bedarf einer Schulung, um zu seinem eigenen Ausdruck zu finden. Analog laufen viele heilsame Strategien Schritt für Schritt ab. Es gibt zwar nicht die eine Patentlösung, aber transparente, hilfreiche Einzelschritte, aus denen sich dieser ureigene Weg zusammensetzt.
Wer hat Achtsamkeit erfunden?
Die ersten konkreten Beschreibungen des Phänomens Achtsamkeit gehen weit in die Geschichte der Geisteswissenschaften zurück. Eine zentrale Quelle ist ein 2.500 Jahre alter buddhistischer Text über Achtsamkeit, den ich ausgewählt habe, weil er eine Vielzahl an konkreten Anhaltspunkten für die Umsetzung von Achtsamkeit zu bieten hat. Nur selten finden wir in Beschreibungen klare Verweise auf diesen Urtext. Die buddhistischen Lehren als Quelle zu nennen, scheint viele Menschen abzuschrecken. Vielleicht liegt es daran, dass Buddhismus von vielen Menschen als eine Religion wahrgenommen wird, die vor dem Hintergrund kultureller Prägungen in vielerlei Hinsicht fremd anmutet. Dabei steht geschichtlich zunächst das reine Geistestraining, aus dem die Religion später entstanden ist. Es gab damals keine Buddhisten und auch keinen Buddhismus. Es gab nur eine schnell wachsende Gruppe von Menschen, die nicht mehr passiv Leiden erdulden, sondern die Methoden erfahren wollten, die sie von den immer wiederkehrenden Problemen befreien konnten. Am Anfang des Buddhismus stand also eine zutiefst menschliche Frage: Was können wir tun, damit wir nicht immer wieder leiden müssen?
Diese Frage hat an Aktualität über die Jahre nichts eingebüßt. Alle Menschen aller Zeiten und Kulturen haben sich diese Frage gestellt. Wahrscheinlich ist diese Frage auch das entscheidende Motiv für das Aufblühen der Wissenschaften: Wir möchten die beängstigende Natur in uns und um uns verstehen und dann natürlich kontrollieren lernen. So wurde aus Natur Kultur. Dieses Bemühen um Verstehen und Einflussnahme hat die ursprüngliche buddhistische Lehre mit unseren westlichen Wissenschaften gemein.