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Dieses Buch ist aus der Praxis heraus entstanden. Es beschreibt eine heilsame und mittlerweile gut erprobte Integration buddhistischer und psychotherapeutischer Behandlungsweisen. Hier werden sowohl Techniken aus den unterschiedlichen modernen Therapieformen als auch bekannte und darüber hinaus weitgehend unbekannte buddhistische Übungen vorgestellt. Dazu vermittelt es konkrete Erkenntnisse und Methoden zum Überwinden von vermeidbarem und zur schnelleren Bewältigung von unvermeidbarem Leiden. Dieses Buch ist sowohl für Menschen gedacht, die psychotherapeutisch oder beratend tätig sind, aber auch für alle anderen, die sich für Psychotherapie, Buddhismus oder ganz allgemein für das menschliche Funktionieren und Weiterentwickeln interessieren.
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Seitenzahl: 601
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Matthias Ennenbach
Ein Leitfaden für heilsame Veränderungen
6. Auflage 2020
© 2010 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf
Alle Rechte vorbehalten
Buddhistische Psychotherapie BPT® ist eine eingetragene Marke
Umschlaggestaltung: Kuhn Grafik Communication Design, Amden (CH)
Bildquelle Cover: iStock
Layout und Grafik: Marx Grafik und ArtWork
Lektorat: Sylvia Luetjohann
eISBN 978-3-86410-241-7
www.windpferd.de
Einleitung
1.Erkenne und vermittle die Essenz des Buddhismus
2.Die buddhistische Psychotherapie ist für jeden Menschen geeignet
3.Die buddhistischen Psychotherapeuten sind achtsam, auch sich selbst gegenüber
4.Die buddhistische Psychotherapie ist Lehre und Praxis
5.Erkenne und vermittle die Bedeutung des Körpers
6.Erkenne und vermittle die Bedeutung der Geisteszustände
7.Erkenne und vermittle die Wahrheit über unsere Gefühle
8.Erkenne und vermittle die Wahrheit vom Inneren Edlen Kern
9.Erkenne und vermittle die Weisheit des Mittleren Weges
10.Nutze die Erkenntnisse, um im Hier und Jetzt dir selbst und anderen zu helfen
11.Erkenne und vermittle die Erste Edle Wahrheit vom Leiden
12.Erkenne und vermittle die Bedeutung des Karma für unser Leiden
13.Erkenne und vermittle die Edle Wahrheit über unsere Unwissenheit
14.Erkenne und vermittle die Edle Wahrheit über unsere Anhaftung
15.Erkenne und vermittle die Edle Wahrheit über unseren Widerstand
16.Erkenne und vermittle die Edle Wahrheit über die Befreiung vom Leiden
17.Erkenne und vermittle die Edle Wahrheit über den Rechten Weg
18.Wir grenzen die Lehrinhalte für uns sinnvoll ein
19.Erkenne und vermittle die konkreten buddhistischen Techniken
20.Wir praktizieren jederzeit
21.Erkenne und vermittle den Schritt von der relativen zur absoluten Wahrheit
22.Studiere die Literatur
Über den Autor
Liebe*r Leser*in,
Sie halten ein Buch in den Händen, dass 2010 erstmals veröffentlicht wurde. Heute möchte ich Ihnen in dieser aktualisierten Einleitung in Kürze berichten, wie es zur Entwicklung der Buddhistische Psychotherapie BPT kam, was darunter verstanden werden kann, zudem möchte ich Ihnen gerne ein paar Eckpfeiler der BPT beschreiben. Damit haben Sie dann eine gute Einstimmung für dieses Buch.
Mein Name ist Matthias Ennenbach, ich hatte zwischen 1990 und 2000 mein Psychologiediplom, ein paar Psychotherapieausbildungen und meine Approbation absolviert. Später promovierte ich noch in der medizinischen Fakultät. Für viele Jahre war ich in unterschiedlichen Kliniken beschäftigt. So bestand meine berufliche Sozialisation aus einer westlich-wissenschaftlichen Herangehensweise. Ich erinnere mich zudem noch an Ausbildungskurse, in denen vermittelt wurde, dass wir es mit schwer kranken und gestörten Menschen zu tun haben und wir einen sehr belastenden Beruf ausüben. Aber seitdem S. Freud die Dynamik des Unbewussten entschlüsselt hätte, wäre unser Handwerkszeug effektiver.
Diese Erfahrungen musste ich mit anderen Informationen in Einklang bringen. Zum Beispiel interessierte mich schon früh die westliche und später, seit Ende der 1980er Jahre die östliche Philosophie. Und als ich dort las, dass Buddhisten seit 2500 Jahre wissen, dass eine signifikante Quelle für menschliches Leiden unsere starke Neigung zum Unbewussten sei, begann ich die westlichen Geisteswissenschaften mit anderen Augen zu sehen. Der historische Buddha, war ein Mann, der nicht auf der Suche nach seinen Göttern war, sondern einen Weg finden wollte, menschliches Leiden aufzulösen oder zu mindern. Also eine Herangehensweise, die stark an das erinnert, was Menschen in den sozialen Berufen auch versuchen. Die Entwicklung der BPT war immer ein Integrationsversuch und niemals der Wunsch nach einer neuen Buddhismusvariante. Die BPT ist eine Beratungs-, Coaching- und Therapiemethode, sie ist wissenschaftlich orientiert und in keiner Weise religiös gebunden.
Buddhisten wie der Dalai Lama betonen, dass der Buddhismus von seinem Ursprung her, keine Religion, sondern eine Geisteswissenschaft sei. Allerdings hat sich die buddhistische Lehre als Geisteswissenschaft durch dessen Integration in die verschiedenen Kulturen verändert. So entstand z. B. der tibetische, japanische, vietnamesische oder chinesische Buddhismus, und mittlerweile entwickeln sich auch westliche Zugänge zum Buddhismus.
Natürlich ist der Buddhismus heute eine große Weltreligion und viele Buddhisten praktizieren diese Lehre als Religion mit Gebeten, Heiligenverehrung und Feiertagen, aber der Ursprung dieser Lehr- und Praxismethode war unreligiös.
Die BPT nutzt daher die ursprünglichen, nicht-religiösen Grundideen der buddhistischen Lehre. Schon vor 2500 Jahren wurden Herangehensweisen genutzt, wie wir sie in heutigen Therapiemethoden antreffen. Wir finden in den antiken buddhistischen Schriften Persönlichkeits- und Charaktertypologien, Erklärungsmodelle für psychische, psychosomatische und physische Leiden, die Dynamik des Unbewussten wird explizit beschrieben und wir finden dort strukturierte Darstellungen menschlicher Bewusstseins-, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten. Das Meister-Schüler-Verhältnis erinnert sehr an das Therapeut-Klienten-Verhältnis. Das Weltverständnis des Buddhismus ist zutiefst systemisch und zudem auf das Hier und Jetzt konzentriert.
Auf genau diese Schwerpunkte fokussieren auch die modernen System- und Verhaltenstherapeuten. Die Verhaltenstherapie (VT), neben der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie eine der zentralen westlichen Therapieformen, verändert sich stetig. Die Verhaltenstherapeuten sprechen von „Wellen“ der Entwicklung: In der ersten Welle, zu Beginn der VT-Entwicklung, konzentrierte sich die VT noch völlig auf das Verhalten. Der Fokus lag dementsprechend auf der Verhaltensebene. Hier sollten Trainingsprogramme neues Verhalten fördern. Im weiteren Verlauf kam es zu einer zweiten Welle: Jetzt wurden die Kognitionen (Gedanken) in den Mittelpunkt gestellt. Die VT nannte sich nun Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), ihr Schwerpunkt lag bei den Bewertungen und Erwartungen eines Menschen. Danach entwickelte sich vor ein paar Jahren die dritte Welle: Die KVT entdeckte für sich die Achtsamkeit und damit einen der zentralen Eckpfeiler buddhistischer Lehr- und Praxismetoden, die nun auch in der westlichen Behandlungswelt ankommt.
Die buddhistischen Lehr- und Praxismethoden sind also kein alter versteinerter Kuchen, sondern eine Art sehr gut erprobtes und millionenfach getestetes Rezept, um jederzeit „frischen Kuchen“ backen zu können.
Es war überfällig, dass sich die westliche Herangehensweise von der negativen Psychologie wegentwickelt, die stets nur die Störungen im Blick hat. Konkret bedeutete es, dass fast sämtliche Forschungsgelder für Studien bereitgestellt wurden, die sich mit Ängsten, Schmerzen, Depressionen, Süchten, etc. befasste. Erst seit relativ kurzer Zeit befasst sich die Forschung damit, wie wir die positive Psychologie nutzen können, also die konkrete Förderung von heilsamen Eigenschaften, wie Freude, Güte, Mitgefühl oder Achtsamkeit.
Nachdem ich mich etwa bis ins Jahr 2000 sehr viel mit der östlichen Philosophie beschäftigt hatte und sehr von Meditationsausbildungen, buddhistischen Seminaren, Selbsterfahrungen, Reisen und Teilnahme an Zeremonien in Asien, inspiriert war, begann ich diese Erfahrungen und Sichtweisen immer mehr in meine tägliche Arbeit als Psychotherapeut einfließen zulassen. Für buddhistisch gebildete Menschen gibt es z. B. keine Einteilung in psychisch Kranke und Gesunde, sondern die Erkenntnis, dass kein Mensch ein Leben ohne Schwierigkeiten durchleben kann. Zumindest Alter, Krankheit und Tod sind für uns alle unvermeidbar. Und auch die vielen Probleme des Alltages sind für uns alle eine Herausforderung. Das gipfelt in dem Verständnis, dass Probleme zwar nicht gut, aber normal sind. Wenn wir Behandler uns diese Tatsache mehr verdeutlichen könnten, wäre es leichter mit den Hilfesuchenden auf Augenhöhe zu sprechen. Schließlich zählen gerade die sozialen Berufe zu den Risikoberufen, sodass wir oft nicht sicher sein können, ob die Hilfesuchenden oder die Behandler gerade in einer besseren Verfassung sind. Schließlich benötigen wir alle von Zeit zu Zeit etwas Hilfe und Unterstützung.
Der Begriff „Gesundheit“ wurde bereits 1948 in der Konstitution der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschrieben als „ein Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet“.
Mehr als 70 Jahre nach dieser Forderung der WHO können viele Therapiemethoden heute immer noch keine Konzepte vorlegen, die über eine bloße Beseitigung von Symptomen hinausgehen. Damit wird der Mensch in seinen Bedürfnissen und auch Potenzialen nicht ausreichend gewürdigt.
Die buddhistische Psychotherapie erfüllt die von der WHO aufgestellte Forderung nach einer Erweiterung des Begriffs Gesundheit, denn sie behandelt nicht nur Krankheiten, sondern fördert gleichzeitig die in allen Menschen angelegten positiven Möglichkeiten.
Es gibt eine fast verwirrende Vielzahl ganz unterschiedlicher Behandler, wie Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten der verschiedensten Schulen, Heilpraktiker, Berater jeder Art, Neurologen, Psychiater etc., und noch mehr psychotherapeutische Methoden, etwa die Psychoanalyse, die Tiefenpsychologie, die systemischen Therapien, die Verhaltens-, Gesprächs- ,Gestalt-, Hypnosetherapie und vieles mehr. Neben den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Techniken liefern die verschiedenen Schulen auch sehr unterschiedliche Erklärungsmodelle für das Entstehen von Krankheiten. Eine große Mehrheit der Behandler muss – scheinbar in Ermangelung von konkurrenzfähigen Alternativen– immer noch auf psychoanalytische Krankheitsmodelle zurückgreifen. Die Ursachen für aktuelle Konflikte und Symptome werden von ihnen vorzugsweise in der Kindheit gesucht. Andere forschen in den Stoffwechselprozessen des Gehirns, wieder andere konzentrieren sich eher auf problematische systemische Interaktionsprozesse oder auf die individuellen Aspekte der Gesellschaftsschicht oder der Geschlechtszugehörigkeit des Klienten. Wieder andere Behandler vermeiden derartige Überlegungen ganz und gehen davon aus, dass wir sozusagen als leere Wesen, also als unbeschriebenes Blatt diese Welt betreten und das gesamte Emotionsspektrum sowie auch das Verhalten an- oder abtrainierbar sind. Die Vorstellungen und die Erklärungs- beziehungsweise Krankheitsmodelle des Behandlers sind von entscheidender Bedeutung für die Behandlung. Für Hilfesuchende ist dieser Aspekt oft nicht klarerkennbar, aber trotzdem von größter Relevanz, denn alle Aspekte der bei ihnen durchgeführten therapeutischen Maßnahmen, angefangen von der Suche nach den Ursachen bis hin zu den Behandlungsmethoden, sind abhängig von dem ihnen zugrunde liegenden Verständnis der Behandler.
In der Regel sind viele Behandlungsmodelle nur auf die Beseitigung der Symptome konzentriert und übersehen leider oftmals das menschliche Potenzial. Wir Menschen wollen jedoch nicht nur nicht leiden, sondern auch glücklich sein. Wir brauchen daher dringend Arbeitsmodelle, deren Zielsetzung die aktive und konkrete Förderung von positiven Geisteszuständen wie Güte, Zufriedenheit, Mitgefühl, Freude, etc. ist.
Die BPT ist wohl auch deshalb eine so erfolgreiche Methode geworden, weil die Grundlage vollkommen integrativ ist. Es werden die buddhistischen Lehr- und Praxismethoden ebenso nutzbar gemacht, wie die verschiedenen westlichen Therapiemethoden, allen voran die verhaltenstherapeutischen, die tiefenpsychologischen, die systemischen und die hypnotherapeutischen. Zudem werden neurowissenschaftliche Fakten anschaulich gemacht und integriert.
Von vielen Menschen werden die in der Neuzeit entstandenen Aufspaltungen und Polarisierungen von wichtigen Lebensbereichen als schmerzlich empfunden: Arbeitswelt und Kreativität; Job und Familie; Work-Life-Balance; Schulbildung und Charakterbildung; Politik und gesunder Menschenverstand; Ökologie und Ökonomie; Klimaschutz und Wirtschaftswachstum; bürokratische Verwaltung und Menschlichkeit; Religion und lebensnahe Bedürfnisse; konsumorientierte Wirtschaft und eigentliche Grundbedürfnisse des Menschen, etc. Unser Wohlbefinden und wahrscheinlich sogar unser Überleben auf diesem Planten könnte davon abhängen wie gut wir es in den nächsten Jahren fertigbringen integrativ und ganzheitlich zu denken und zu handeln. Dieser Ansicht ist die BPT zutiefst verbunden.
Ein weiterer sehr zentraler Aspekt ist die Integration aus positiver Psychologie (Aufbau und Stärkung von Ressourcen) und negativer Psychologie (Linderung von Problemen und leidvollen Empfindungen).
Insbesondere die Ressourcenstärkung und die Potenzialentfaltung sind sehr spannende und konstruktive Elemente der BPT. Das dazu passende Statement lautet, dass es nicht in immer darum geht, sich selbst zu entdecken, sondern sich selbst zu kreieren.
Sowohl die buddhistische als auch die neurowissenschaftliche Sicht auf unser Selbst beschreibt eine sehr dynamische Struktur, vergleichbar mit einem stetig sich verändernden Netzwerk. Dort finden wir die Bausteine, die unsere Persönlichkeit ausmachen. Aber wir werden dort keinen festen letztendlichen Kern vorfinden. Deshalb bieten wir konkrete Methoden, die es ermöglichen, eigene Schwerpunkte zu setzen: Stellen Sie sich vor, Sie könnten in einen Zauberspiegel schauen und sich selbst betrachten, wie sie in 5 Jahren sein werden. Dabei meine ich weniger ihr Äußeres sondern die Eigenschaften der Person, die Sie in 5 Jahren sein werden. Bei der genaueren Betrachtung der Situation müssen wir leider feststellen, dass Sie in Ihren heutigen Zustand lediglich ein Zufallsprodukt sind. Sie haben sich, wie wir alle, einfach nur irgendwie entwickelt, indem Sie meist auf äußere Ego-Impulse reagiert haben. Möchten Sie in 5 Jahren auch wieder nur das Zufallsprodukt Ihrer äußeren und womöglich noch inneren Gewohnheitsmuster sein? Viele Menschen möchten sich selbst bestimmen, Einfluss darauf nehmen, wer sie in ein paar Jahren sein werden. Sie möchten mehr Gelassenheit, mehr Zufriedenheit, mehr Achtsamkeit? Kein Problem, selbst wenn Sie solche oder ähnlich heilsame Eigenschaften gar nicht zu besitzen meinen, zumindest sind sie bei Ihnen als Veranlagung vorhanden. Dieser Aspekt ist ein sehr bedeutsamer in der BPT. Er erlaubt eine enorm konstruktive Sicht auf Menschen, eröffnet Handlungsspielräume und stellt festgefahrene Muster kritisch in Frage.
Da sich immer mehr Behandlungsmethoden der Ressourcenkonsolidierung widmen, werden die Fragen lauter, wie sich spirituelle Ressourcen in westlich-wissenschaftliche Modelle integrieren lassen. Die BPT kann ein konkretes Konzept vorlegen, indem Spiritualität ein fester Bestandteil ist. Dieser Aspekt unterscheidet die BPT von vielen anderen Methoden. Zwar ist auch die BPT bemüht, Leiden zu lindern und Ressourcen zu stärken, aber wenn die Hilfesuchenden dann ein ausreichend starkes Ego stabilisieren konnten, enden herkömmliche Behandlungsmethoden. Dabei wird übersehen, dass starke Egostrukturen permanent Ego-Impulse produzieren (ich will, ich meine, ich möchte, ich denke, etc.), ebenso wie ein schwaches Ego eben schmerzliche Egoimpulse liefert (ich kann nicht, ich fühle mich schlecht, ich bin hilflos, etc). In der BPT werden also auch starke Egoimpulse als eine Quelle von Problemen identifiziert. Grübelzwänge, die Unfähigkeit ohne Konsum zu entspannen und das Denken und Bewerten zu lockern, zählen wohl mittlerweile zu den Volkskrankheiten.
Hier beginnt in der BPT ein weiteres Angebot zur Linderung von Ego und der Kultivierung von Spiritualität. Diese kann nämlich nur auf der Grundlage einer soliden Egostruktur aufgebaut werden. Buddha soll gesagt haben „Meditiere, aber binde deinen Elefanten an.“ Vielleicht können wir es übersetzten als eine Anregung sowohl auf spirituelle, als auch auf materielle Aspekte des Lebens zu achten. Nicht wenige Menschen, die ihrem Leid entgehen möchten, fliehen sich in künstliche Welten. Das können Drogenwelten, virtuelle Computerwelten, Arbeitswelten oder Konsumwelten sein, aber es können auch Fluchtimpulse sein, die Menschen zu den buddhistischen Lehren und zur Meditation führen. Es heißt doch, dass Nomaden niemals ohne Grund reisen. Ebenso suchen sich Menschen, die vor Verantwortung fliehen und verständlicher Weise nicht mehr leiden möchten irgendeine Methode, die ihnen die Flucht zu versprechen scheint. Wenn wir meditieren, nur um nicht mehr zu fühlen, dann bauen wir eine spirituelles Haus auf Sand.
Wenn in religiös-buddhistischen Seminaren davon gesprochen wird, dass wir unser Ego loslassen sollten, weil es die Hauptursache für unser Leiden darstellt, dann eröffnen sich große Gefahren, denn es gibt im Entwicklungsprozess keine Abkürzungen. Der Weg vom Leiden in die Befreiung kann nur über die Etappe der Konsolidierung funktionieren. Zuerst müssen psychische und physischen Stabilisierungen abgesichert sein, erst dann haben unsere spirituellen Übungen einen Sinn.
Also erst Stabilisieren und dann loslassen lernen. Das ist der tiefere Sinn des Praktizierens. Es geht nie darum sofort alles stehen und liegen zu lassen und seine Zeit auf dem Sitzkissen nach Erleuchtung zu suchen.
Weder Hilfesuchende noch Behandler müssen Buddhisten sein oder werden, um von der BPT zu profitieren. Wenn Sie den buddhistischen Weg vertiefen und verstehen, wohin er führen kann, dann können sie bemerken, dass es überhaupt keinen Sinn macht Buddhist zu werden. Das Ziel ist es Buddha zu sein.
Erinnern Sie sich daran, dass Buddha zwar eine historische Person war, aber kein Gott. Und realisieren Sie bitte, dass Buddha in erster Linie „ein Titel ist keine Person“.
Buddha bedeutet übersetzt soviel wie Erleuchteter, Erwachter, Ausgelöschter.
Und dieser Weg wiederum setzt voraus, dass Sie Ihre Anhaftungen an Ihre Egoidentifikationen erkennen, lockern und dann lösen lernen. Das ist ein Übungsweg für den es seit 2500 Jahren konkrete Methoden gibt. Und durch die heilsame Integration zwischen östlichen und westlichen Geisteswissenschaften konnten wir diese Methoden weiter verfeinern und in einer Weise anbieten, sodass sie nun gezielter und erfolgreicher einsetzbar sind. Ein Aspekt, der das verdeutlicht, ist die differenziertere Psychodiagnostik der westlichen Psychotherapie. Hier können Widerstände und Anhaftungen sowie auch strukturelle Probleme, wie eine Persönlichkeitsstörung, erheblich differenzierter diagnostiziert werden. Mit einem klareren Bild von der Ausgangssituation ist jeder Weg leichter. Die Erfolgswahrscheinlichkeit steigt erheblich, weil wir die Gefahren und Behinderungen klarer erkennen und Gegenmaßnahmen ergreifen können.
Viele Suchende mühen sich lange ab mit Yoga, Meditation, Tai Chi, Qigong, etc., nur um irgendwann ernüchtert feststellen zu müssen, dass sie sich nicht befreien können aus ihren inneren Gewohnheitsmustern im Denken, Reden, Fühlen und Handeln. Hier fehlt ein professioneller Zugang. Sein Lehrer oder Therapeut, der sich mit den hier dargestellten Zusammenhängen auskennt und z.B. zuerst Diagnostik, dann Konsolidierung und erst danach spirituelle Methoden individuell abgestimmt empfiehlt.
Seit etwa 2000 ließ ich immer mehr buddhistischen „Spirit“ in meine Arbeit als Therapeut einfließen. Ich musste nicht mehr nur Störungen beseitigen, sondern konnte einen Weg nutzen und anbieten, der ganzheitlicher und umfänglicher war. Diese Herangehensweise nutze ich in meiner Arbeit täglich und ich vermittle sie in den Ausbildungskursen. Ein weiteres Anliegen ist es den Menschen in den sozialen Berufen ein Werkzeug anzubieten, dass es möglich macht, die nicht immer leichte Arbeit mit Leidenden auch aus anderen, z.B. spirituellen Aspekten zu betrachten und mit den konkreten Angeboten eine spürbare Erleichterung zu erfahren. Und den Hilfesuchenden möchte ich verdeutlichen, dass sie nicht Pech hatten, schlechte Eltern oder dass sie einfach nur falsch sind, sondern dass wir alle ziemlich ähnlich funktionieren und wir alle zu lernen haben. Aber ein Lernen, dass nicht urteilt und in Schubladen einteilt, sondern ein freundvolles Lernen, dass tiefe Zufriedenheit und Gelassenheit zu erzeugen.
Es ist ungemein hilfreich, nicht bei und mit jedem Klienten das Rad neu erfinden zu müssen. Sicherlich ist jede*r von uns einzigartig, aber eben auch nicht vollständig. Oder haben Sie jemals ein Problem erlebt, das nicht vor Ihnen schon Millionen andere erlitten haben? Es gibt sehr viele Facetten unserer Verbundenheit und diese für den Alltag konkret nutzen zu lernen, liefert eine wohltuende Erleichterung. Sicherlich kommen viele Hilfesuchende mit einem spürbaren Leidensdruck, aber das muss uns heute nicht mehr in Aktionismus verfallen lassen, der z.B. auch darin bestehen kann, in möglichst kurzer Zeit alles Störende wegzumachen. Ein Leistungsanspruch an Therapeut und Klient, der destruktiv werden kann. Achtsamkeit bedeutet unter anderem auch, dass wir mit den Klienten zusammen die Situation erst einmal nur betrachten. Nur Hinschauen? werden wohl nicht wenige denken, was soll das bringen? Aber tatsächlich geschieht dabei etwas Wunderbares, es fließt Bewusstheit in eine Region, in der vorher nur unbewusstes Abspulen von gelernten Mustern geschah. Dieser Aspekt ist für den Weg in der BPT grundlegend: Das Erkennen der inneren Gewohnheitsmuster im Denken, Reden und Handeln.
Ich nutzte immer häufiger Meditationsvarianten, Atemübungen, Sitzhaltungskorrekturen und spirituelle Anregungen. Und immer häufiger wurde die Frage an mich gestellt: Wo kann ich das nachlesen? So entstand 2010 dieses Buch.
Zum Aufbau dieses Buches möchte ich Ihnen verdeutlichen, dass es sich in 22 Grundlagen aufgliedert. Die 1. Grundlage möchte die Essenz des gesamten Buddhismus und der buddhistischen Psychotherapie prägnant darstellen. Die 2. Bis 4. Grundlage beschreibt relevante Details für Hilfesuchende und Therapeuten und Aspekte des Behandlungsablaufs. Die 5. Bis 7. Grundlage vermittelt das notwendige Basiswissen über unsere körperlichen, geistigen und emotionalen Belange. Die 8. bis 18. Grundlage vermittelt die notwendigen buddhistischen Lehren und Anleitungen zur Übungspraxis. Die 19. Grundlage umfasst die konkreten buddhistisch-psychotherapeutischen Übungen, Maßnahmen, Interventionen und Techniken. Es werden Beispiele aus der Praxis beschrieben (da es in der BPT nur Menschen und keine Fälle gibt, bezeichnen wir die Beispiele auch nicht als Fallbeispiele). Einige der dargestellten Techniken sind weit über 2500 Jahre alt, andere über 1000 Jahre lang erprobt und erst seit kurzer Zeit auch westlichen Hilfesuchenden zugänglich. Die 20. Grundlage der BPT konzentriert sich auf die konkrete Umsetzung der buddhistischen Maßnahmen, unserer Erkenntnisse und Fortschritte im Alltag. Abschließend wird in der 21. Grundlage ein Ausblick sowie auch eine Relativierung angeboten. Die 22. Grundlage bietet eine Auswahl an Literatur an, deren Studium für die BPT hilfreich sein könnte.
Generell möchte ich Ihnen in diesem Buch verdeutlichen, wie die zentralsten Buddhistischen Themen heute in unserer westlichen Kultur, in Ihrem ganz normalen Alltag funktionieren, wie sie zu verstehen, wie sie anwendbar und wie sie nutzbar zu machen sind.
Wenn Buddhisten behaupten, alles Leben sei Leiden, was bedeutet es tatsächlich?
Wenn Buddhisten behaupten, alles Leiden sei aufzulösen, was bedeutet es tatsächlich? Meine sie, dass wir keine Gefühle mehr haben sollten?
Wenn Buddhisten behaupten, das es keine Ego gebe, was bedeutet es tatsächlich? Schließlich spüren Sie Ihr Ego doch tagtäglich.
Wenn Buddhisten behaupten, wir könnten uns vollkommen transformieren, was bedeutet es tatsächlich?
Was bedeutet die Erleuchtung? Ist das eine Realität oder eine esoterische Metapher?
Wenn Buddhisten behaupten, der Weg wäre immer ein mittlerer Weg, was bedeutet es tatsächlich? Sollen wir immer das Mittelmaß anstreben und damit zufrieden sein?
Wenn Buddhisten behaupten, dass Widerstand Leiden erzeugt, was bedeutet es tatsächlich? Sollen wir uns alles gefallen lassen.
Wenn Buddhisten behaupten, dass Anhaftung Leiden erzeugt, was bedeutet es tatsächlich? Sollen wir alles weggeben und in Armut leben?
Wenn Buddhisten behaupten, Meditation sei der Königsweg, was bedeutet es tatsächlich? Sollen wir den Mittelpunkt unseres Lebens mit geschlossenen Augen auf einem Sitzkissen verlegen?
Können wir wahre Gelassenheit nur im Kloster erreichen? Müssen wir uns kahlrasieren, vegetarisch leben und zum Buddhismus konvertieren?
Vielleicht haben Sie sich die eine oder andere Frage auch schon mal gestellt. In diesem Buch wird der Versuch unternommen, all diese Fragen auf eine Weise zu beantworten, die für Sie persönlich alltagstauglich sein möchte. Es werden hier also keine schöngeistigen östlichen Philosophien diskutiert. Vielmehr möchte ich Ihnen zeigen wie konkret wir die zentralsten buddhistischen Themen im Alltag umsetzen können. Dafür benötigen Sie nichts weiter, als ein bisschen Interesse und Experimentierfreude.
Ein Buch wie dieses möchte gerne persönliche Fragen aufwerfen und dazu anregen, neue Wege auszuprobieren. Dabei geht es gar nicht um Vorgaben oder Verpflichtungen, sondern natürlich entstehende Fragen: Wenn Sie lesen, wie zum Beispiel unser Denken und unsere Gefühle das Bewusstsein eintrüben können, dann kommen doch automatisch beim Lesen Fragen auf, wie zum Beispiel: Ist das bei mir auch so? Wie funktioniert das denn bei mir? Oder wenn eine Übung beschrieben wird, bekommen Sie womöglich Lust, das einmal selbst auszuprobieren. Im Buddhismus lautet ein Leitsatz: Nicht Glauben, sondern Wissen. Und das bedeutet, dass es im Rahmen der buddhistischen Lehre keine Glaubenssätze gibt, keine Dogmen, die vermitteln: „Du musst“ oder „So darfst nicht“. Stattdessen werden Erfahrungswerte weitergegeben, nach dem Motto: „Wenn Du diese Übung praktizierst, besteht die Möglichkeit, dass du diese Erfahrung machst, aber bevor du es als Wahrheit akzeptierst, prüfe es unbedingt nach.“
Das funktioniert sogar auch bezüglich aller fundamentalen Erkenntnisse des Buddhismus. Der Dalai Lama sagt dazu sinngemäß: Wenn es wissenschaftliche Ergebnisse gibt, die bestimmte Aspekte des Buddhismus widerlegen, dann wird sich der Buddhismus dementsprechend anpassen.
Interessanter Weise gibt es seit Jahrzehnten wissenschaftliche Kooperationen zwischen buddhistischen gelehrten und westlichen Wissenschaftlern. Das Mind and Life Institut ist eine recht bekannte Institution auf diesem Gebiet geworden. Zudem überprüfen Neurowissenschaftler seit etlichen Jahren geisteswissenschaftliche Konstrukte wie die Struktur unseres Egos. Und bislang musste noch kein Aspekt der 2500 Jahre alten Lehr- und Praxismethode weder relativiert, noch revidiert werden.
Bei genauerer Betrachtung ist das allerdings keine so große Überraschung, denn schließlich lädt die buddhistische Herangehensweise dazu ein, alles selbst zu hinterfragen. Und so wurden alle Details seit 2500 Jahren von einer Anzahl Praktizierender geprüft, die wohl kaum noch zu benennen ist.
Es ist für mich eine ganz besondere Ehre, eine so wirkungsvolle und heilvolle Quelle nutzen zu dürfen. Sie hat mich persönlich auf eine so heilsame Weise beeinflusst, dass es mir schwer fällt, dass in Worte zu fassen.
Seit 2010 werden Buddhistische Therapeut*innen und Achtsamkeitstrainer*innen im Zentrum für Buddhistische Psychotherapie BPT ausgebildet. Menschen, die entweder aus den sozialen Berufen kommen oder die an ihren eigenen Themen arbeiten möchten, finden zu den Ausbildungen zusammen.
Die Behandlungsmethode ist mittlerweile gut etabliert, es bestehen umfangreiche Erfahrungswerte über die große Wirkungsweise dieser Methode. Sie wurde auch wissenschaftlich überprüft und die Studie wurde 2017 peer reviewed in der Zeitschrift Spiritual Care veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigten signifikant bessere Behandlungsergebnisse der BPT im Vergleich zur Verhaltenstherapie.
Wahrscheinlich weisen ganzheitlichere Methoden meist bessere Ergebnisse auf.
Wer den detaillierten Ablaufplan vom Erstgespräch, über die weiteren Schritte bis zum Abschluss einer BPT-Behandlung nachlesen möchte, sei auf der Buch „Buddhistische Psychotherapie in der Anwendung“ verwiesen.
Alle Bücher der BPT, sowie Informationen zu den Ausbildungskursen finden Sie auf meiner Website: www.Info-BPT.de
Ich wünsche Ihnen mit diesem Buch eine inspirierende Lektüre. Sich einem Buch zu widmen ist immer kostbare Lebenszeit. Ich wünsche den Leser*innen viel Vergnügen.
Matthias Ennenbach
2020
Streng genommen gibt es überhaupt keine erleuchteten Menschen, nur erleuchtetes Handeln.
– SHUNRYU SUZUKI ROSHI –
Die Überlegungen zur Essenz des Buddhismus und der buddhistischen Psychotherapie sind als eine Art Leitfaden gedacht, der uns für die unterschiedlichsten Herangehensweisen zur Verfügung steht. Darüber hinaus kann es für viele von Interesse sein, so etwas wie eine Zusammenfassung, eine Art Destillat einer so umfassenden Lehre, wie es der Buddhismus ist, zu erhalten. Wir werden erfahren, dass diese Essenz die gesamte Lehre und auch die Praxisübungen durchdringt. Wir müssen nur den Blick schärfen, um zu erkennen, dass dieselbe Essenz in jedem Aspekt der recht umfangreichen buddhistischen Lehren enthalten ist.
Worin besteht nun diese Essenz? Streben tatsächlich alle Buddhisten die Erleuchtung an? Hat etwa auch die buddhistische Psychotherapie das Ziel, ihre Klienten auf Erleuchtung hin zu trainieren? Es ergeben sich auch noch grundsätzlichere Fragen, wie etwa: Ist Erleuchtung überhaupt realistisch? Und was genau ist eigentlich damit gemeint? Welche Auswirkungen hätte die Erleuchtung für mein Leben? Das alles sind sehr wichtige und durchaus berechtigte Fragen.
Beginnen wir vielleicht mit der Überlegung, worum es eigentlich im Buddhismus und der buddhistischen Psychotherapie geht. Wenn sich komplexe und komplizierte Sachverhalte vereinfachen lassen, ist das immer eine große Hilfe. Tatsächlich können wir ein so vielschichtiges System wie den Buddhismus und die BPT und deren Ziele sehr vereinfachen und im Grunde auf den Satz reduzieren:
Alle Bücher zum Buddhismus, jeder Lehrinhalt, jede Übung und Praxis verfolgen letztlich das eine Ziel: Befreiung. In den vielen buddhistischen Texten und deren zahllosen Übersetzungen finden sich eine Reihe von synonym verwendeten Begriffen, die alle das Gleiche meinen: Befreiung, großes Erwachen, Erleuchtung, Erlöschen oder Nirvana. Der Sanskrit-Begriff Nirvana bedeutet übersetzt so viel wie „auswehen“ oder „verwehen“. Welchen Begriff auch immer wir verwenden, wir wollen damit einen Zustand der Befreiung im Diesseits und keinen mystischen Ort im Jenseits beschreiben (wie das jüdische, christliche oder islamische Paradies).
Ein zentrales Anliegen der BPT ist es, diese grundlegenden Aspekte erfahrbar zu machen. Reine Wissensvermittlung, auch eine noch so detaillierte Beschreibung beispielsweise von einer Bergbesteigung kann die eigene Erfahrung nie ersetzen, jemals selbst oben auf einem Berg gestanden zu haben.
Fälschlicherweise wird der Buddhismus oft als eine Negativphilosophie angesehen, in der es nur um die Darlegung eines allumfassenden Leidens geht. Wir werden noch erfahren, wie dieser Sachverhalt einzuordnen ist. Grundsätzlich soll jedoch schon an dieser Stelle verdeutlicht werden, dass nach der Feststellung und Analyse des erfahrenen Leidens unbedingt die nächsten Schritte folgen müssen, die zur Befreiung von diesem Leiden führen. Das ist die zentrale Aussage Buddhas: Ja, es gibt Leiden, aber wir können uns davon befreien. Das bezieht sich auf die Befreiung vom menschlichen Leiden und damit die Befreiung vom ewigen Kreislauf der (leidvollen) Existenz, dem Samsara. Neben dieser Negativdefinition, also der Beschreibung dessen, was unterbrochen und aufgelöst werden soll, kann umgekehrt festgestellt werden, dass die angestrebten Ziele sich auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung von heilsamen Geisteszuständen beziehen: Güte, Liebe, Mitgefühl, Gelassenheit sowie die Fähigkeit zu einer erhöhten Selbststeuerung, d. h., in Ruhephasen wirklich zur Ruhe zu kommen und in aktiven Phasen über genügend Energie und Tatkraft zu verfügen, um unsere Ziele verfolgen zu können.
Unser ganzes Leben lang bewegen wir uns, wenn wir daran nichts ändern, in einem Kontinuum zwischen Glücklichsein und Unglücklichsein (wobei Glück hier stellvertretend für alles Positive und Unglück für alles Negative steht). Dabei werden wir mal mehr zu der einen, mal mehr zu der anderen Seite gezogen. An dem glücklichen Pol wollen wir festhalten, den unglücklichen möglichst vermeiden. Doch es sind einige Erfahrungen nötig, um zu erkennen, dass nicht das Unglücklichsein das Problem ist, sondern unser Leben in diesem Kontinuum zwischen Glück und Unglück. Aus diesem Verständnis heraus sind Glück und Unglück eins. Wir scheinen nur immer nach Glück zu streben und wundern uns, dass ihm das Unglück stets nachfolgt. Die Befreiung aus diesem Kreislauf bedeutet, sich jenseits von dieser zwangsläufigen Aufeinanderfolge zu bewegen. Jenseits von Glück und Unglück liegen Frieden und Befreiung.
Diesen Frieden haben wir alle – wenn auch immer nur kurzfristig – schon öfter erfahren. Es sind die Momente, die wir ganz im Hier und Jetzt erleben konnten; Momente, in denen wir nicht überlegt haben, was gestern geschehen ist oder was morgen wohl kommen wird. Friedvoll erleben wir dann den Augenblick. Viele Menschen erleben diese Augenblicke nach körperlicher Anstrengung, nach sexueller Vereinigung, bei Erfahrungen in der Natur, auf Berggipfeln oder am Meeresstrand etc. Solche Erfahrungen sind wichtig und wertvoll, aber ohne Geistesschulung immer nur von kurzer Dauer und abhängig von äußeren Bedingungen.
Tatsächlich streben alle Buddhisten nach der Befreiung von leidvollen Geisteszuständen und darüber hinaus auch von Anhaftung an positive Zustände, die zwangsläufig zu leidvollen Konsequenzen führen. Wir werden später noch genauer beschreiben, warum Buddhisten nicht grundlegend zwischen positiven und negativen Gefühlen unterscheiden. Der Wunsch nach Befreiung bezieht sich auf beide Arten, da beide uns jeweils auf ihre Weise zu binden vermögen. Zum Beispiel kann auch ein vordergründig angenehmes Gefühl wie Genuss und Begehren zu unheilsamen Geisteszuständen wie Gier, Sehn-Sucht oder Eifer-Sucht etc. führen.
Generell lässt sich aber feststellen, dass heilsame Geisteszustände angestrebt und negative oder unheilsame eliminiert werden sollen. Dafür wird eine Vielzahl von möglichen Wegen aufgezeigt, die jeweils unterschiedliche positive Wirkungen herbeiführen. Die Auflösung von Anhaftung oder Ablehnung, die Empfindungen von Isolation, Negativität etc. auslösen können, und insbesondere die ständige Verminderung unserer Unwissenheit und Verblendung können heilsame Bewusstseinsveränderungen hervorrufen. Das alles dient der Befreiung. Wir werden in den Ausführungen dieses Buches noch genauer darauf eingehen, um verstehen zu können, was gemeint ist, wenn Buddhisten von der Befreiung sprechen.
Eine sehr zentrale Differenzierung sollte in diesem Zusammenhang verstanden werden: Wir befreien uns nicht von unseren Gefühlen, sondern inmitten unserer Gefühle.
Diese Unterscheidung ist eine sehr wesentliche, da sie unseren Weg menschlich macht. Wir wollen natürlich unsere Fähigkeiten und Qualitäten bewahren, indem wir auch weiterhin alle emotionalen menschlichen Regungen spüren. Wir werden uns auch im fortgeschrittenen Zustand der buddhistischen Praxis beispielsweise nicht von unseren ärgerlichen Gefühlen, sondern inmitten unserer ärgerlichen Gefühle befreien.
Buddha sagt, dass seine gesamte Lehre, welchen Aspekt auch immer wir herausgreifen, mit dem Ozean vergleichbar sei: Egal wo wir ihn kosten, er schmeckt immer und überall gleich „salzig“ – und zwar nach Befreiung. Folglich müssen wir uns auch nicht durch die gesamten buddhistischen Lehren des Dharma arbeiten und jahrelangen Meditationsübungen hingeben, um eine Chance auf Befreiung zu erhalten. Wir werden immer wieder feststellen, dass wir alles dazu Nötige bereits jetzt besitzen. Durch die BPT lernen wir, wie wir unsere Ressourcen so kanalisieren können, dass wir unser Ziel erreichen.
Im Christentum gibt es einen ungefähr dazu passenden Vergleich. Hier wird gefragt: Müssen wir uns quälen und abmühen, um Gott irgendwo in der Ferne entdecken zu können? Nein, er ist bereits bei uns, wir müssen nur achtsam hinschauen und zuhören.
Der Prozess des spirituellen Durchbruchs bei der Befreiung, beim Erwachen, bei der Erleuchtung hat viele Namen, aber was ist eigentlich damit gemeint? Befreiung wovon? Erwachen woraus? Erleuchtung von welcher Dunkelheit?
Es gibt naturgegebene und unvermeidbare Leidenserfahrungen kleinerer und größerer Art: Krankheiten, Todesfälle, Verluste, Trennungen, negative Veränderungen etc. Wir streben nach Sicherheiten und merken oft, dass wir uns bemühen können, wie wir wollen: Wir werden nie eine absolute Sicherheit finden. Auch wenn wir Reichtümer ansammeln, wird damit keine absolute Sicherheit und schon gar kein wirklicher Frieden einkehren. Selbst wenn es gegenwärtig keine äußeren Ursachen für Unglück und Stress gibt, machen wir uns oft selbst das Leben schwer durch Selbstkritik, Ruhelosigkeit, Grübeleien, Ängste, Sorgen, ärgerliche Gereiztheit und Wut etc. Das ist der ständige Kreislauf des Lebens, Buddhisten nennen es Samsara: das Rad des Lebens und Leidens.
Aus diesem Kreislauf wollte Siddhartha Gautama sich selbst und alle anderen Wesen befreien. Damit war er einer der ersten und berühmtesten (und erfolgreichsten!) „Aussteiger“ der Geschichte. Wir werden aber noch erfahren, dass dieser Ausstieg sich nur auf den Leidenskreislauf bezieht. Der Buddhismus ist eine sehr weltliche und alltagsbezogene Lebensphilosophie und damit eigentlich eher etwas für „Einsteiger“. Nachdem er erwacht war, wurde Siddhartha zum Buddha, dem Erwachten. Er gab seine Erfahrungen, wie dieser Zustand zu erreichen ist und welche Verantwortung daraus erwächst, in seinen weiteren Jahren des Lehrens als Mönch an viele andere weiter, um auch seinen Mitmenschen den Weg zur Befreiung zu weisen.
Buddha ist und war niemals ein Gott. Er war ein (fast) gewöhnlicher Mensch, der vor etwa 2500 Jahren in Nordindien lebte. Der Legende nach soll er seine ersten Lebensjahre als Prinz Siddhartha Gautama im Luxus verbracht haben. Bevor Siddhartha zum Buddha wurde, war er nicht auf der Suche nach Gott, sondern wollte für sich und seine Mitmenschen einen Weg zur Beendigung des menschlichen Leidens finden. Nach langjähriger Suche, die er ganz nach indischer Tradition bei verschiedenen Gurus verbrachte, nach ebenso langer wie intensiver meditativer Versenkung und extremen asketischen Praktiken (die er im weiteren Verlauf als nicht hilfreich erkannte) erreichte er tatsächlich das von ihm gesuchte Ziel: den Weg, der das menschliche Leiden beenden kann und zu dauerhaftem Glück und zur Befreiung von unheilsamen Geisteszuständen führt. Er fand diesen Weg im Alter von etwa 35 Jahren durch sein Erwachen (Sanskrit Bodhi). Durch ihn erfahren wir auch, dass es bereits vor ihm „Erwachte“ oder Buddhas gegeben hat und dass es auch nach ihm Buddhas geben wird. Wir reden hier also über eine jahrtausendealte Tradition einer Wissenschaft des Geistes, die durch Generationen von Studierenden, Lehrenden, Lernenden, Praktizierenden etc. in jeder Facette immer wieder überprüft, erprobt und in den Alltag transportiert wurde und wird.
Der Legende zufolge soll Buddha nach seiner Erleuchtung zunächst 49 Tage geschwiegen haben, bevor er damit begann, seine Erfahrungen und sein Wissen weiterzugeben. Er ging zuerst zu seinen fünf Weggefährten, mit denen er vor seinem Erwachen lange meditiert hatte. Diesen erklärte er ausführlich seine Erleuchtungserfahrung und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse. Diese erste Lehrrede, die später die „Lehrrede vom Ingangsetzen des Rades der Lehre“ genannt wurde, enthält schon die zentralen Aspekte der gesamten, sich noch weiterentwickelnden buddhistischen Lehre.
Die berühmte Lehrrede vom Ingangsetzen des Rades der Lehre beinhaltet drei wesentliche Aussagen
1.Bleibe auf dem Mittleren Weg (vgl. dazu die 9. Grundlage der BPT)
2.Nutze die Erkenntnisse, um im Hier und Jetzt dir selbst und anderen zu helfen (vgl. die 10. Grundlage der BPT)
3.Erfasse die Vier Edlen Wahrheiten (vgl. die 11. und die 13. bis 17. Grundlage der BPT)
Die Lehren wurden über einen langen Zeitraum nur mündlich jeweils vom Lehrer an die Schüler weitergegeben. Erst ungefähr 500 Jahre nach dem Tod Buddhas wurden seine Lehrreden niedergeschrieben. Dabei ist anzumerken, dass Buddha ausschließlich Magadhi/Ardhamagadhi sprach, einen regionalen indischen Dialekt, doch die Sutras sind in Pali oder Sanskrit aufgezeichnet worden. Es gibt diese 152 Sutras zum Beispiel in einer mittellangen Fassung in der sogenannten Mittleren Sammlung (vgl. die Literaturliste in der 22. Grundlage der BPT). Wenn wir Buddhas Reden heute lesen, fallen uns etliche Besonderheiten auf: Die Sprache ist geprägt von tiefen Einblicken in die menschliche Psyche und auch in die sozialen Belange unseres Zusammenlebens. Die Texte und Formulierungen zeigen eine große Klarheit in ihrer Struktur. Auch in den vielen heute verfügbaren Übersetzungen sind die ursprünglichen Strategien enthalten, die bereits zu Buddhas Zeiten helfen sollten, die Lehre zu verstehen, zu verinnerlichen und umzusetzen. So haben die Lehrreden beispielsweise die Besonderheit, dass alle wichtigen Fakten numerisch aufgezählt werden, wie etwa die Vier Edlen Wahrheiten oder Achtfache Pfad, was die Erinnerung erleichtert. Dass die Lehrreden lange nur mündlich weitergegeben wurden, ist auch daran zu merken, dass die Texte wie Lieder klingen; Sie alle haben eine Art Anfangsrefrain, einen Mittelteil mit den zu übermittelnden Informationen und einen Schlussrefrain. In den Sutras werden stets mehrere Fakten vermittelt, zum Beispiel gibt es im „Sutra der sieben Faktoren des Erwachens“ siebenmal einen Anfangsrefrain, einen Mittelteil mit jeweils einer der sieben zu übermittelnden Informationen und einen Schlussrefrain, an den sich dann wieder der Anfangsrefrain anschließt.
Der buddhistische Weg setzt sich aus zwei grundlegenden, voneinander untrennbaren Aspekten zusammen:
1.die Lehre (Erkennen und Verinnerlichen)
2.die Praxis (Vermitteln und Umsetzen im Alltag)
Auf die Gleichwertigkeit und Relevanz von Lehre und Praxis werden wir noch oft zurückkommen.
Buddha sagte selbst, dass wir niemals das Ziel, also die Befreiung, aus den Augen verlieren sollten. Die Lehre darf kein Selbstzweck werden, wir dürfen uns nicht in ihren Details verfangen.
Buddha verglich die Lehre mit einem Floß, das uns an das andere Ufer des Flusses, zur Befreiung bringen soll. Sobald wir dieses Ufer aber erreichen, ist das Floß nicht mehr wichtig. Das doppelte Missverständnis, das durch dieses Bild vermittelt werden könnte, besteht darin, dass wir vielleicht meinen, wir müssten uns (erstes Missverständnis) sehr lange auf dem Fluss abmühen und, (zweites Missverständnis) wenn wir das gewünschte Ufer der Befreiung erst einmal erreicht haben, könnten wir für immer dort verweilen. Wir sollten uns jedoch weder übermäßig auf das Floß und dessen Ausschmückung konzentrieren noch großen Stolz auf seinen Besitz entwickeln, sondern mit Achtsamkeit üben, das Floß zu lenken, und immer das Ziel (das andere Ufer der Befreiung) im Auge behalten. Genau diese Schwerpunkte vermittelt die BPT.
Wie kommen wir über den Fluss und wie sieht das Ziel genau aus? Was passiert, wenn wir ankommen? Auch darum geht es in diesem Buch.
Wir werden durch den Buddhismus und die buddhistische Psychotherapie genaue Einsichten erhalten, damit wir erkennen, dass Leiden nicht unser Fehler ist (siehe 11. Grundlage der BPT) und nicht nur eine Minderzahl von Unglücklichen, sondern universell alle Menschen betrifft. Bei dieser kritischen Bilanz bleibt jedoch weder der Buddhismus noch die BPT stehen. Wir werden detailliert erfahren, wie dieses Leiden entsteht (siehe 12. bis 15. Grundlage der BPT), welche Ursachen wir dafür verantwortlich machen können, wie wir die Ursachen dauerhaft beseitigen können (vgl. 16. und 19. Grundlage der BPT) und welche Konsequenzen für unseren Alltag daraus entstehen (vgl. 17. und 20. Grundlage der BPT).
Die gute Nachricht lautet, dass jeder Mensch in der Lage ist, Befreiung zu erlangen, und alle Voraussetzungen dafür bereits in sich trägt. Wir werden erfahren, dass Befreiung ein durchaus erreichbarer Zustand ist, den wir im Hier und Jetzt jederzeit umsetzen können.
Es gibt sicherlich unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie das Ziel Erleuchtung, Befreiung oder wie auch immer wir es nennen aussehen könnte. Viele Buddhisten sprechen von absoluter Befreiung; damit gemeint ist ein Zustand, der nach äußerst intensiver Praxis erreicht werden kann. Wer einen solchen Durchbruch erlebt, gilt dann als absolut und vollkommen erleuchtet. Andere Buddhisten äußern sich dazu mit weniger hochfliegenden Zielvorstellungen. Jack Kornfield etwa, ein bekannter amerikanischer Meditationslehrer, hat zu diesem Thema das Buch Das Tor des Erwachens geschrieben. Darin werden buddhistische und andere spirituelle Meister in Bezug auf ihre Erleuchtung befragt und beschrieben. Kornfield vermittelt die Quintessenz, dass Befreiung kein Dauerzustand ist, den wir einmal erreichen und dann für immer konservieren können. Des Weiteren lässt sich Erleuchtung oder Befreiung auch nicht als ein Entweder-oder-Phänomen darstellen, sondern als eine Art Wachstumsprozess mit vielen verschiedenen Phasen des Fortschritts und auch der Rückschläge.
Es gilt auch zu berücksichtigen, dass viele spirituelle Meister ein Leben als Mönch oder Nonne leben und daher vielen Problemen und Konfrontationen des Alltags gar nicht erst ausgesetzt sind, denen sich die meisten Menschen zu stellen haben. Es sei angemerkt, dass ein Klosterleben im Buddhismus keineswegs als oberstes Ziel angesehen wird. Wir werden noch erfahren, wie deutlich Buddha seine Anweisungen für ein Leben in der Welt formulierte und damit das Gegenteil von einer sogenannten Weltflucht propagierte.
Eine Überbewertung von Erleuchteten käme einer Heiligenverehrung gleich. Auch wenn das Vorbild erleuchteter Wesen für viele Menschen ein hoher Ansporn sein kann, tut sich jedoch in der Regel auch eine meist unproduktive Distanz zwischen den Menschen und dem von ihnen verehrten Ziel auf. Das betrifft natürlich auch den Umgang mit buddhistischen Lehrern, Meistern und Heiligen.
Durch das buddhistische Verständnis der Verbundenheit erfolgt zwar eine heilsame Verknüpfung zwischen dem, was verehrt wird, und demjenigen, der verehrt, doch sollte sehr achtsam wahrgenommen werden, ob sich dadurch für einige Menschen nicht eventuell die angesprochene Distanz noch vergrößert. Menschen, die sich auf den Weg machen, brauchen dringend Ermutigung. Wenn wir die Ziele zu hochstecken, müssen wir wahrnehmen, dass Menschen sich möglicherweise aus Angst, Selbstzweifel, Unsicherheit etc. davon abwenden („Das schaffe ich bestimmt nicht, das kann nur der Dalai Lama“). Schon Buddha hob die Nähe zur Erleuchtung hervor, indem er feststellte, dass sie für jeden Menschen im Hier und Jetzt erreichbar sei.
Die 1. Grundlage der buddhistischen Psychotherapie (Erkenne und vermittle die Essenz des Buddhismus) fordert buddhistische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten dazu auf, die Essenz des Buddhismus zu erkennen, zu verinnerlichen und sie dann ihren Klienten zu vermitteln.
Wir erweitern also den für westliche Psychotherapien oftmals üblichen Fokus, der sich nicht selten auf reine Symptombeseitigung reduziert. Damit erfüllt die BPT die bereits erwähnte Forderung der WHO, wonach Gesundheit weit mehr ist als nur das Fehlen von Krankheit. Die WHO gab also schon vor über 60 Jahren den Impuls, unser Verständnis von Krankheit beziehungsweise von Gesundheit zu überdenken und tiefer zu schauen, um zu erkennen, welche Aspekte bei der Förderung von Gesundheit verwirklicht werden sollten. Das Wohlergehen, die Gesundheit darf sich nicht nur auf das Fehlen von Störungen reduzieren lassen. Wir müssen unser menschliches Potenzial ausschöpfen und in die Überlegungen zur Förderung einer umfassenden Gesundheit einbeziehen.
Was die buddhistische Psychotherapie für Klienten bedeuten kann und von diesen fordert, werden wir im Rahmen der 2. Grundlage der BPT erfahren; was sie für Therapeuten bedeuten kann und von ihnen fordert, lernen wir dann im Kontext der 3. Grundlage der BPT kennen. Die speziellen Übungen und Techniken werden in der 19. Grundlage der BPT dargestellt.
Der Buddhismus liefert schon seit vielen Jahrhunderten sehr gut erprobte Techniken zur Linderung des menschlichen Leidens und zur Förderung von heilsamen Geisteszuständen. Alle heutigen Psychotherapien haben direkt oder indirekt (meist unausgesprochen) davon profitiert. Die BPT stellt eigentlich nur explizit die Verbindung zu den Wurzeln der Psychotherapie im Buddhismus her. Sie besinnt sich auf wesentliche Quellen und führt dadurch altbewährtes Wissen und moderne Wissenschaft zusammen. Auf diese Weise entsteht ein sehr vielschichtiges Gebäude aus medizinischen, psychologischen, psychotherapeutischen, soziologischen, pädagogischen, theologischen und spirituellen Bausteinen. Das Grundverständnis ist sowohl auf das Individuum bezogen als auch zutiefst systemisch. Natürlich ist die BPT von ihren Wurzeln und ihrem Wesen her ganz klientenzentriert, was bedeutet, dass die Wünsche, Vorstellungen und die Weltsicht des Hilfesuchenden respektvoll gewürdigt und aufgenommen werden. Meist kommen die Menschen mit einem konkreten Anliegen zur BPT, zum Beispiel mit dem Wunsch, sich von aktueller Trauer, Angst oder Ärger zu befreien. Die BPT kann auf dieser Basis sowohl einen Halt gebenden und sicheren Rahmen für die folgenden therapeutischen Prozesse als auch weiterführende und umfassendere Strukturen, Hilfsangebote und Perspektiven liefern.
Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass wir hier über wichtige Aspekte der relativen Essenz gesprochen haben. Diese sollen uns als Leitfaden und Hilfe dienen. Wir sprechen von relativen Dingen, wie der Essenz, um auf konkreter Ebene eine gemeinsame Sprache und ein Verständnis zu gewinnen und diese Elemente dadurch leichter vermitteln zu können.
Der Zugang zu den absoluten Elementen ist schwieriger, da sie nicht konkret erfahrbar und leicht zugänglich sind. Wir sollten aber im weiteren Verlauf unserer Praxis darüber hinausgehen und unser Bewusstsein auch für die absolute Essenz öffnen. Für diesen Zugang brauchen wir eine gute und vertiefte Praxis (vgl. dazu die 21. Grundlage der BPT, die sich detaillierter mit den relativen und den absoluten Aspekten befasst). Die absolute steht nicht über der relativen Essenz und ist auch nicht wichtiger, sondern sie zeigt eine andere Ebene. Auf einer relativen Ebene können wir über Gefühle, Gegenstände, Grundsätze etc. sprechen, doch auf der absoluten Ebene gibt es all diese Dinge nicht wirklich. Wir klammern uns daher nicht an irgendwelche Dogmen, sondern bleiben offen für den Fluss des Lebens.
Wir können in diesem Buch nur Worte benutzen, um etwas auszudrücken, das zu einem nicht geringen Teil jenseits aller Worte liegt. Halten wir uns also nicht zu sehr an den Worten fest, sondern bleiben achtsam für den Geist, der vermittelt werden soll. Wir können uns zwar bemühen, mit Worten einen Apfel zu beschreiben, aber nichts ist so wirkungsvoll wie die direkte Erfahrung, in einen Apfel zu beißen. Es reicht nicht aus zu wissen, dass wir es mit einem runden, saftigen, süßsauren Ding zu tun haben. Wir brauchen die Information, wo wir ihn finden, um dann selbst eigene Erfahrungen damit machen zu können.
Selbst Begriffe wie Buddhismus und buddhistische Psychotherapie sind nur Etiketten, die etwas andeuten wollen, das sich dahinter befindet. Wir sollten uns nicht zu sehr mit den Namen befassen und achtsam sein, welche (falschen) Erwartungen eventuell damit assoziiert werden. Die Begriffe sollten, wenn möglich, nur als Hilfe dienen. Wir bleiben offen für die dahinterliegende Botschaft und unsere eigenen Erfahrungen damit.
Die Schilderung der Essenz soll in keiner Weise suggerieren, dass jedes individuelle Streben, Denken und Fühlen auf ein identisches Ziel hinausläuft. Der gemeinsame Nenner ist zwar die Befreiung, diese wird aber bei jedem Menschen sehr unterschiedlich aussehen.
Eine Unterweisung im August 2009, an der der Dalai Lama teilnahm, stand unter dem Motto One World, One Mind, One Heart. Der Dalai Lama sagte sinngemäß: „One World? Yes. One Mind? I don’t know, I think no. One Heart? No.” Ja, wir teilen eine Welt, aber wir sind bald sieben Milliarden Menschen, also sieben Milliarden unterschiedliche Ideen, Wünsche, Eigenarten etc. Auf einer sehr grundlegenden Ebene sind wir alle gleich, nämlich menschliche Wesen, aber ansonsten doch sehr verschieden. Selbst jeder Einzelne ist vielleicht am Morgen ein völlig anderer als am Abend.
Wenn wir uns also mit der Essenz befassen, sollten wir die wichtige Erkenntnis von unserer Gleichheit der richtigen Ebene zuordnen und den Blick für die herrliche Vielfalt aller Individuen offenhalten.
Henry B. kam in die BPT, um zu lernen, wie er in jeder Situation entspannen und meditieren und auf diesem Wege alle seine Sorgen auflösen könne. Er sagte, er habe über den Buddhismus erfahren, dass es hier Übungen gebe, die die Befreiung von allen Problemen bewirken können. Vor allem die Meditation sollte ihm dabei helfen, seine belastenden Gefühle loszuwerden. Sein Studium der Grundlagen der BPT, sein Besuch der Dharma-Vorträge und die Gespräche mit den anderen Teilnehmern ließen ihn erkennen, wie ein für ihn realistischer Weg aussehen könnte. Insbesondere die Formulierung: „Wir befreien uns nicht von, sondern inmitten all unserer Belange“ war für Henry ein Aha-Erlebnis.
Auch in den Meditationen erfuhr er selbst, wie wenig Meditation mit Abschalten und wie viel sie mit „Einschalten“ zu tun hat.
Das Ziel der 1. Grundlage der buddhistischen Psychotherapie ist es, sowohl den möglichen Kurs und das Ziel (= die Befreiung) zu beschreiben als auch eine als dringend notwendig erachtete Entmystifizierung des Begriffs Erleuchtung (Erwachen, Befreiung etc.) nahezulegen.
Die glaubhafte Vermittlung kann allerdings nicht über eine auch noch so überzeugende schriftliche Beschreibung erfolgen, sie muss direkt von den buddhistischen Psychotherapeuten vermittelt werden und für die Hilfesuchenden ebenso deutlich spürbar sein.
Die unheilsamen Aspekte unserer Persönlichkeit können erkannt und umgewandelt werden, sodass unser natürliches Temperament heilsamen Ausdruck findet.
– JACK KORNFIELD –
Wenn wir zum ersten Mal von buddhistischer Psychotherapie hören, werden wir uns vielleicht fragen: Könnte das etwas für mich sein? Es hört sich interessant an, aber ich kenne mich mit Buddhismus doch gar nicht oder nur wenig aus. Ist diese Therapieform vielleicht nur etwas für Buddhisten?
Wie der Wortlaut der 2. Grundlage schon verrät: Die BPT ist für jeden Menschen, jeden Alters und mit jedem kulturellen und intellektuellen Hintergrund gleich gut geeignet. Auch wenn wahrscheinlich die individuellen Ziele der hilfesuchenden Menschen und ebenso die mit ihnen umzusetzenden Übungen und Maßnahmen der BPT sehr unterschiedlich sein werden, so werden wir doch immer das übergeordnete Ziel der Befreiung im Blick behalten. Wir werden noch erfahren, dass eine buddhistische Psychotherapie stets die individuellen Ziele und Wünsche respektiert und verfolgt und darüber hinaus auch universelle Ziele wie die Befreiung oder Erleuchtung anzubieten hat und umzusetzen weiß. So können wir höchst produktiv und klientenorientiert beide Aspekte integrieren, um unter anderem eine deutlich höhere Nachhaltigkeit zu gewährleisten und außerdem zum Wachstum des Individuums, seiner Familie, seines Umfeldes und aufgrund einer umfassenden Verbundenheit aller anderer Wesen beitragen.
Für die BPT gilt es zu vermitteln, dass jeder Mensch in der Lage ist, zur Befreiung, zum Erwachen zu kommen – und zwar jederzeit. Der befreite Zustand, das Nirvana, ist nicht reserviert für alte, weise, tibetische Meditationskünstler, sondern ist ein universeller, für jeden frei zugänglicher Zustand, der im Hier und Jetzt für jeden erreichbar ist beziehungsweise sein könnte.
Die Behandlung der buddhistischen Psychotherapie erfordert vom Klienten eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber psychotherapeutischen Maßnahmen und eine aktive Mitarbeit. Im Unterschied dazu verlangt beispielsweise die Konsultation bei einem Chirurgen lediglich ein Mindestmaß an Vertrauen; ansonsten erduldet der Patient mehr oder weniger passiv die notwendigen Eingriffe. Die BPT erfordert dagegen ein recht hohes Maß an aktiver Kooperationsbereitschaft und Motivation für die Umsetzung regelmäßiger Übungen. Bei der BPT ist diese Haltung in einem besonderen Maße erwünscht, da die Behandlung nicht nur einmal pro Woche für 50 Minuten die Aufmerksamkeit der Hilfesuchenden verlangt, sondern eine fast tägliche Praxis und Umsetzung der Übungen beinhaltet. Im Gegenzug erfährt der Hilfesuchende eine spürbar rasche und nachhaltige Veränderung. Vom Hilfesuchenden wird daher mit einer gewissen Dringlichkeit eine produktive Einstellung erwartet. Diese sollten wir aber vielleicht nicht direkt Disziplin nennen, da dieser Begriff oftmals mit negativen Assoziationen verknüpft ist, sondern eher den Terminus „Geduld“ dafür nutzen. Wir alle brauchen Geduld für uns selbst und für alle anderen. Zwar ist Geduld oft das Letzte, was ein leidender Mensch aufbringen mag, doch ein zielorientiertes Voranschreiten kann die nötige Zuversicht schaffen. Jeder Hilfesuchende, der die BPT konsultieren möchte, bringe also bitte ein wenig Geduld für sich selbst und für die Übungen mit. Er sollte sich im Klaren darüber sein, dass diese Therapieform eine sehr aktive und praxisorientierte Behandlungsform ist. Der verbale Austausch steht mit den praktischen Übungseinheiten in einem ausgewogenen Verhältnis von etwa 1:1. Ansonsten ist aber keinerlei (buddhistische) Vorbildung für die Klienten erforderlich.
Ein wesentlicher Baustein der BPT ist neben der Übungspraxis die Vermittlung der Grundideen des Buddhismus. Buddha gab seine Lehren an alle weiter, die Interesse dafür zeigten. Der persönliche, materielle oder intellektuelle Hintergrund seiner Schüler war dabei unwesentlich; sowohl einfache Bauern und Kuhhirten als auch Beamte und Adlige hatten Zugang dazu. Damit widersetzte sich Buddha bewusst dem tradierten Kastendenken der altindischen Gesellschaft. Insbesondere durch die Aufnahme von sogenannten Unberührbaren, die noch unterhalb der tiefsten Kaste lebten, machte er klar, dass jeder Mensch Aufnahme in die buddhistische Gemeinschaft, den Sangha, findet. Auch die Aufnahme von Frauen, die damals (und zum Teil bis heute) in Indien keine Gleichstellung erfuhren, zumindest als Laienpraktizierende ist bedeutungsvoll. Buddha entstammte zwar dem Adelsgeschlecht der Shakyas, aber als er seine Suche nach Befreiung begann, soll er seine reiche Kleidung gegen ärmliche eingetauscht und später ein einfaches Mönchsgewand getragen haben. Es scheint ihm leichtgefallen zu sein,
Menschen aus allen Gesellschaftsschichten anzusprechen. Auch scheint er über die Gabe verfügt zu haben, sich auf jeden Menschen sehr individuell einstellen und seine Sprache sprechen zu können. Diese durchaus als therapeutisch zu bezeichnende Kunst hat auch bis heute noch nichts von ihrer Relevanz für die Behandlung verloren. Auf diese Weise bekam jeder Schüler auch immer individuelle Übungsanleitungen. Schienen sich Unterweisungen zu widersprechen, soll Buddha darauf hingewiesen haben, dass jemand, der „zu weit links“ geht, die Anweisung erhält, sich „weiter rechts“ zu bewegen – und umgekehrt.
Ein wichtiger Aspekt bei der Behandlungskunst besteht auch darin, für jeden Hilfesuchenden den richtigen Ton, die richtige Sprache zu finden. Auch Buddha wird sich zweifellos mit den Rinderhirten anders verständigt haben als mit den Soldaten oder mit den Beamten und Adligen, die zu ihm kamen. Für unsere Arbeit bedeutet dies, dass wir ebenfalls den individuellen Hintergrund der Hilfesuchenden würdigen und diesen Gegebenheiten unsere Vermittlung anpassen. Ein Hilfesuchender, der sich eher mit geistigen, logischen, rationalen Aspekten vertraut fühlt, sollte auch über diesen Zugang die Lehren logisch erklärt bekommen. Ein Mensch mit eher praktischem Verstand, mit vielleicht weniger Zugang zu den intellektuellen Aspekten, sollte eher klare, nachvollziehbare Handlungsanweisungen erhalten. Nachdem diese Erfahrungen vermittelt und konkretisiert worden sind, können dann im zweiten Schritt auch die Lehren leichter zugänglich gemacht werden.
Die buddhistische Psychotherapie hat also eine universelle und eine individuelle Seite. Der universelle Aspekt beleuchtet die seit 2500 Jahren unverändert gültigen Prinzipien des menschlichen Verhaltens. Die östliche Wissenschaft des Geistes besitzt ein sehr umfangreiches, fundiertes und gut gesichertes Wissen über den menschlichen Geist (vgl. die 6. Grundlage der BPT).
Der individuelle Aspekt ermöglicht es jedem Einzelnen, seinen ganz persönlichen Zugang zu finden und seine speziellen Themen mittels buddhistischer Übung zu bewältigen. Egal wie das individuelle Thema auch aussehen mag, ob es sich eher um Probleme psychischer Natur (Ängste, Zwang zum Grübeln, Wut, Depression etc.) handelt oder um personenabhängige (Partnerkonflikte, Mobbing), stoffgebundene (Süchte) oder psychosomatische Themen (Schlafstörungen, Schmerzzustände, körperliche Missempfindungen), oder ob es um eine spirituelle Suche oder Sinnfindung geht, die BPT bietet durch ihre individuelle und universelle Ebene für jeden Menschen die persönlich zu ihm passende Unterstützung, Unterweisung und Übungspraxis. Der Bildungsgrad, die Intelligenz, die buddhistische Vorbildung, das Geschlecht, die sexuelle Ausrichtung, die religiöse Bindung etc. sind für die BPT nur insofern von Belang, als die buddhistischen Psychotherapeuten diese Sachverhalte wertfrei wahrzunehmen haben und für ihr Verständnis nutzen.
Der Hilfesuchende wird einen buddhistischen Psychotherapeuten vorfinden (vgl. dazu die 3. Grundlage der BPT), der mit viel Gelassenheit, Achtsamkeit, Humor und menschlichem Einfühlungsvermögen eine den Klienten spürbar annehmende Haltung vermittelt. Ein strenger Lehrer, der seine Schüler unterweist, ist er nicht. Falls nötig, werden zwar durchaus auch deutliche Worte ausgesprochen, aber stets aus einer wertschätzenden und respektvollen Grundhaltung heraus. Der Hilfesuchende wird sich als zugehörig erleben können und erfahren, dass das Prinzip der Verbundenheit und des Mitgefühls zentrale Aspekte der buddhistischen Lehre und Praxis sind.
Die therapeutische Zusammenarbeit ist in vielerlei Hinsicht ein Bündnis. Den elementar wichtigen Aspekt unserer Verbundenheit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen werden wir in diesem Buch noch genauer kennenlernen, doch an dieser Stelle sei schon einmal festgestellt, dass zum Beispiel diese Verbundenheit uns zu dem macht, was wir heute sind.
Der Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther erklärt, dass wir zwar genetische Anlagen für die unterschiedlichsten Fähigkeiten mitbringen, aber ob diese sich auch tatsächlich ausbilden, hängt voll und ganz ab von der Welt, mit der wir auf so intensive Weise verbunden sind. Beispielsweise haben alle „gesunden“ Menschen von Geburt an meist in der linken Hirnhälfte ein sogenanntes Sprachzentrum (Nervenzellen, die unsere Sprachfähigkeit steuern), doch nur wenn andere Menschen mit uns sprechen, entwickeln wir auch Sprache, sonst bleiben wir stumm. Ebenso geschieht das mit vielen anderen essenziellen Eigenarten und Wesenszügen. Wir haben die Anlagen für Liebe, Mitgefühl, Gelassenheit, Selbstdisziplin etc., doch wenn wir in einem Umfeld aufwachsen müssen, wo wir diese Qualitäten nie oder nur selten erfahren, können wir diese Wesenszüge leider nicht oder nur sehr eingeschränkt entwickeln. Was westliche Wissenschaftler hier genetische Anlagen nennen, bezeichnen Buddhisten schon seit Jahrhunderten als sogenannte Samen oder Keime in unserem Speicherbewusstsein (vgl. dazu die 6. Grundlage der BPT über den Geist), die in ihrer Qualität sowohl heilsame als auch unheilsame Wirkungen haben können. Wir selbst können durch gezieltes Training, beispielsweise im Rahmen der BPT, entscheiden, welche Samen wir fördern möchten und welche wir nicht aktivieren.
Thich Nhat Hanh, ein vietnamesischer buddhistischer Lehrer, sagt ebenfalls, dass alles Positive wie Negative bereits als Keim in uns enthalten ist. Auch wenn wir verschiedene Aspekte nicht spüren oder sogar verleugnen, sie sind da. Wir müssen achtsam werden, welche Keime wir nähren oder von anderen nähren lassen.
Alle Hilfesuchenden werden mit sehr unterschiedlichen Ressourcen, Problemen und Stärken zu uns in die BPT kommen, doch für jeden werden individuell angepasste Strategien entwickelt (vgl. dazu z. B. die 19. Grundlage), um Störungen zu lindern oder zu beseitigen und um Gesundheit zu stabilisieren, zu sichern und zu fördern. Ob auch das übergeordnete Ziel der Befreiung angestrebt wird, hängt von jedem einzelnen Hilfesuchenden selbst ab,
Die BPT bietet nicht nur eine konstruktive Hilfe in Krisen, sondern kann durchgängig ein hilfreicher Begleiter, eine Zuflucht für schlechte und gute Zeiten sein oder werden. Neben der Ausrichtung auf Buddha und seine Lehren (Dharma) bilden wir eine Gemeinschaft (Sangha) mit wöchentlichen Unterweisungen in der Gruppe und sich anschließender Meditation. Damit orientieren wir uns an den Drei Kostbarkeiten oder Juwelen, zu denen ein Buddhist formell Zuflucht nimmt.
Die Drei Kostbarkeiten sind: Buddha, Dharma und Sangha
Den Weg Buddhas zu gehen, die Lehren zu studieren und in der Gemeinschaft zu praktizieren sind die Eckpfeiler des Buddhismus. Sie können gleichsam als Werkzeuge genutzt werden, doch sie können auch als eine Art Schlüssel zur Verfügung stehen, die uns Türen öffnen und zu Bereichen Zugang gewähren, die uns vorher verschlossen oder auch einfach nicht-existent zu sein schienen.
Wir sollten uns Zeit nehmen und achtsam schauen, ob der buddhistische Psychotherapeut eine heilsame Ausstrahlung für uns hat. Entscheidend für den ganzen Verlauf und insbesondere auch für den Erfolg der Therapie ist die „Chemie“ zwischen den Menschen. Wenn ein Arbeitsbündnis zustande kommt, werden die Hilfesuchenden zwar viel Neues kennenlernen, Instruktionen erhalten und konkrete Übungen zu absolvieren haben, aber sowohl beim Behandler als auch beim Klienten sollte zudem ein Bewusstsein von Gleichwertigkeit und Verbundenheit vorhanden sein. Hilfesuchende sollten ferner darauf achten, dass der buddhistische Psychotherapeut zwar ernsthaft und fachkompetent ist, aber unbedingt auch Humor und Gelassenheit besitzt sowie eine durchgängige Wertschätzung aller Menschen (Vorbehandler, Fachkollegen anderer Disziplinen, Menschen anderer Religionszugehörigkeit etc. eingeschlossen).
Ja, auch wir Psychotherapeuten streben ebenso nach Befreiung oder Erleuchtung wie die Hilfesuchenden, die zu uns kommen. Wir werden noch viel darüber hören, wie wir das bewerkstelligen und wie es möglich sein kann, diesen Zustand der Befreiung immer öfter immer länger zu halten. Davon werden die Zusammenarbeit und das Arbeitsbündnis mit den Hilfesuchenden deutlich geprägt sein.
Wenn wir im Rahmen der BPT etwas über Verbundenheit, Arbeitsbündnis und insbesondere über die Gleichwertigkeit zwischen Behandlern und Hilfesuchenden hören, werden wir als Hilfesuchende vielleicht auch Enttäuschung darüber verspüren, dass die buddhistischen Heiler und Psychotherapeuten zumindest in der Regel nicht weit über uns stehende erleuchtete Wesen sind. Viele von uns wünschen sich doch sehnlichst den erleuchteten Guru. Wir sollten dann achtsam schauen, welche tiefer liegenden Erwartungen und Hoffnungen uns hier antreiben. Wünschen wir uns nicht vielleicht, einen Erleuchteten zu finden, der etwas ganz Besonderes mit uns macht und wir scheinbar wie von selbst das Wunder der Erleuchtung oder besser Erlösung durch ihn erfahren?
Viele von uns möchten am liebsten gleich Belehrungen direkt vom Dalai Lama erhalten. Eine recht bekannte deutsche Zeitschrift nannte 2007 die Titelstory über den Dalai Lama „Ein Gott zum Anfassen“. In dieser Aussage bündelt und verdichtet sich wohl etwas, das sich viele von uns sehnlichst wünschen. Aber ebendieser Dalai Lama nimmt solche Äußerungen sehr ernst, wenn er sagt, dass manche Menschen ihn wie einen Gott verehren und andere ihn wie einen Dämon fürchten. So wird der Dalai Lama in seinen vielen Unterweisungen weltweit nicht müde, fast jeden seiner Lehrvorträge und Diskussionsbeiträge mit den Worten zu beginnen, er sei lediglich ein einfacher buddhistischer Praktizierender oder Mönch. Darin mag vielleicht auch ein wenig vorgelebte Demut enthalten sein, aber es zeugt auch von der dahinterliegenden tiefen Einsicht, dass wir alle auf der grundlegenden Ebene gleichwertige menschliche Wesen sind, die nach sehr ähnlichen Zielen streben und sehr ähnliche geistige Hindernisse erleben.
Die „schlechte“ Botschaft lautet also: Es gibt keinen Guru, der seine Erleuchtung gleichsam wie eine Fackel direkt, ohne unser eigenes Bemühen an uns weitergeben wird. Wir müssen den Weg schon selbst gehen. Die gute Nachricht lautet: Dieser Weg ist seit über 2500 Jahren von Buddhisten begangen worden und mittlerweile gut ausgeschildert, wir können ihm folgen. Es bleibt anzumerken, dass es natürlich ein innerer und kein äußerer Weg ist, vom Retreat zur Meditationssitzung zur Therapiesitzung zum Gebet etc. Trotzdem brauchen wir manchmal für innere Wege viel länger als für äußere.
Wir alle besitzen universelle und individuelle Eigenschaften. Der Dalai Lama erklärt, dass wir grundsätzlich, d. h. universell, als menschliche Wesen ziemlich identisch sind. Darauf aufbauend, individualisieren wir uns immer weiter als Angehörige eines Kontinents, einer Rasse, einer Nation, einer Geschlechtszugehörigkeit, eines Glaubens, eines Berufs, einer politischen Richtung und weiterer Rollen, wie Sohn, Tochter, Vater, Mutter, Sportler etc. Der Dalai Lama betont, dass wir also – je nach Betrachtungsebene – sowohl unterschiedlich als auch sehr ähnlich sind. Keine der vielen möglichen Rollen darf Priorität vor der grundlegenden Ebene haben, dass wir alle menschliche Wesen sind. Unsere Rollen als Angehörige einer politischen Gruppe, einer Nation oder einer Religionsgemeinschaft