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Als die 17-jährige Adaline im Traum eine geheimnisvolle Tür entdeckt, die sich in ein unbekanntes Zimmer öffnet, ist dies der Beginn einer Reihe mysteriöser Abenteuer, in denen Kobolde, Baumgeister, Feen und Spukgestalten ihren Weg kreuzen. Eines Tages begegnet sie im Wald Celestine, einer weisen Frau, die sie mit den Rätseln der Naturmystik vertraut macht. Auch trifft sie unterwegs Marius, ihren Seelengefährten, mit dem sie fantastische Reisen in außerweltliche Sphären unternimmt. Marius und Celestine begleiten das Mädchen bei ihren Ausflügen jenseits von Raum und Zeit und lassen sie teilhaben an ihrer zeitlosen Weisheit. Zusammen mit ihrer Freundin Joana erkundet Adaline die Welt der Träume und Abenteuer. Sie trifft auf den 'Kreis der Wächter' und versteht: Das ganze Leben ist eine Prüfung, ein Türöffner in andere Welten.
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Seitenzahl: 332
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Im Universum gibt es Dinge, die bekannt sind und Dinge, die unbekannt sind. Und dazwischen existieren TORE.
Vergessene Räume
Schattenbilder an der Wand
Der dunkle Turm
Begegnung im Niemandsland
Das Haus des Wissens
Der Kreis der Wächter
Spiegelbilder
Traum und Albtraum
Im Koboldwald
Nachts am See
Spuk in der alten Burg
Die seltsame Karawane
Erweckung der Kraft
Stimmen der Natur
Im Reich der Kristalle
Auf dem Elfenhügel
Der Baum – Geist
Unheimliche Mönche
Grünes Leuchten
Der schwarze Reiter
Im Wirbelsturm
Eine goldene Sphäre
Portale in andere Welten
Der kosmische Baum
Das Labyrinth der Welt
Jenseits der Schwelle
Fall ins Grenzenlose
Sternenwanderer
Blick in die Zukunft
Die Reifeprüfung
Abschied
In Träumen wirst du erwachen.
Adalines Traum
Ein leises Knarren kam aus der Zimmerecke. Es war stockdunkel im Raum. Adaline tastete nach ihrer Nachttischlampe, doch sie war nicht da! Nach hastiger Suche stellte sie fest, dass sich der Nachttisch mitsamt der Lampe auf der falschen Seite befand. Wie war das möglich?
Sie knipste das Licht an und stand auf. Da stellte sie fest, dass sie nur einen Schlafanzug trug. Irgendetwas Seltsames ging hier vor, sie musste nur noch herausfinden, was. Das unheimliche Geräusch kam von einer Stelle in der Wand. Sie ging nahe heran und betrachtete sie genauer. Dabei entdeckte sie eine etwa zwei Meter hohe Holztür, die mit grünen Ranken verziert war. Die pflanzlichen Ornamente überzogen die gesamte Fläche und bildeten ein Muster, das von zartrosa Blüten unterbrochen wurde.
Als sie die verschlungenen Ornamente betrachtete, wurde ihr plötzlich klar, dass sie eine mystische Tür vor sich hatte, die in andere, geheimnisvolle Räume führte. Nun war sie restlos begeistert. Zu ihrer Überraschung hielt sie plötzlich einen verzierten Schlüssel in der Hand, der in das mittelalterliche Schloss passte. Neugierig öffnete sie den Eingang einen Spaltbreit und schob sich hindurch.
Die geheimnisvolle Tür öffnete sich in ein Zimmer, das sie noch nie zuvor betreten hatte. Der dahinter liegende Raum war ein wenig altmodisch, aber stilvoll eingerichtet. Ein dreibeiniger Tisch mit Adlerköpfen an den Seiten; ein Bücherbord, das bis zur Decke reichte; eine alte Kommode und ein antiker Schrank bildeten das Mobiliar. Die hölzerne Wandtäfelung war bedeckt mit mythologischen Motiven.
Hinter den Gitterstäben des einzigen Fensters gab das helle Licht des Vollmonds den Blick frei auf eine malerische Landschaft mit Bäumen, Felsen und tiefen Höhleneingängen. Adaline kam es so vor, als wäre sie irgendwann schon einmal dort gewesen.
Sie untersuchte alle Winkel und erkannte, dass der Raum achteckig war. Der Schrank zog ihre besondere Aufmerksamkeit auf sich. Ohne lange zu überlegen, ging sie darauf zu. Die Türen ließen sich nur schwer öffnen, so als wollten sie den Zugang zu seinem Inneren erschweren. In den Fächern standen Figuren und Vasen aus bunt bemaltem Porzellan.
Adaline nahm eine der Vasen in die Hand, als sie plötzlich aus den Augenwinkeln eine flüchtige Bewegung bemerkte. Aus einer dunklen Ecke hinter einer Porzellan-Ballerina lugte ein brauner Haarschopf hervor! Vor lauter Schreck hätte sie fast die Vase fallengelassen. Braune erstaunte Augen glotzten sie an. Sie schaute in ein runzliges Zwergengesicht, das sich sogleich wieder ins Dunkel zurückzog. Umgehend gewann Adaline ihre Geistesgegenwart zurück.
„Komm ans Licht, wo ich dich sehen kann“, rief sie mit fester Stimme. Tatsächlich tauchte das kleine verhutzelte Gesicht kurz darauf wieder auf.
„Wer bist du?“ wollte sie wissen.
„Das tut nichts zur Sache“, antwortete das Männchen ausweichend. Das wollte sie ihm nicht durchgehen lassen, doch – da wachte sie auf. Es war nur ein Traum gewesen! Dunkel erinnerte sie sich daran, dass der Zwerg ihr manches Geheimnis anvertraut hatte. Hin und wieder tauchten noch Bruchstücke davon in ihrem Gedächtnis auf.
Der Traum beschäftigte Adaline noch lange. Eine innere Unruhe erfasste sie, sooft sie daran dachte. Auch in den folgenden Tagen tauchten mit seltsamer Eindringlichkeit immer wieder Traumfetzen in ihren Gedanken auf. Es waren unzusammenhängende Bilder, die den Eindruck vermittelten, als ginge es um außergewöhnliche Orte und rätselhafte Begebenheiten, an die sie sich nur schemenhaft erinnern konnte.
Mit ihren Eltern, denen sie sonst alles Mögliche anvertraute, sprach sie nicht über den Traum, da er ihr zu seltsam erschien, um erzählt zu werden. Normalerweise hatte sie keine Geheimnisse vor ihnen, doch eine seltsame Scheu hielt sie davon ab, davon zu berichten. Es gab Dinge, die sagte man seinen Eltern lieber nicht.
Doch eine Person gab es, der sie uneingeschränkt vertraute, das war ihre Freundin Joana. Sie war in ihrem Alter und teilte ihre Vorliebe für alles Ungewöhnliche und Rätselhafte. Ihr konnte sie alles erzählen, selbst die merkwürdigsten Sachen. Da sie auf dieselbe Schule ging wie Adaline, sahen sie sich regelmäßig. Wenn sie keinen gemeinsamen Unterricht hatten, trafen sie sich spätestens in den Pausen auf dem Hof, der zum Schulgebäude gehörte. Oder sie gingen in die Cafeteria.
Joana führte regelmäßig Traumtagebuch und versorgte ihre Freundin fast tagtäglich mit Berichten über die aufregenden Sachen, die ihr im Traum begegneten. Ihre Träume hatten es in sich. Sie berichtete, dass ihr das Traumleben irgendwie ‚real’ vorkäme. Es fühlte sich auch nach dem Aufwachen noch so an, als wäre alles wirklich passiert. So als lebte sie zwei Leben, eines am Tag und ein anderes in der Nacht.
Adaline nahm sich immer viel Zeit, wenn Joana von ihren nächtlichen Abenteuern erzählte. Manchmal wurde sie neidisch, wenn sie ihrer Freundin zuhöre. Doch ihr jüngster Traum konnte sich immerhin sehen lassen. Was Joana wohl dazu sagen würde? Adaline freute sich schon auf ihr Gesicht, wenn sie ihr von dem geheimnisvollen Zwerg erzählte.
Vor kurzem hatte sie ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert und fühlte sich manchmal schon sehr erwachsen. Doch in ihren Tagträumen besuchte Adaline gerne phantastische Landschaften oder verbrachte ihre Zeit in abseits gelegenen Gärten und Parks, die von seltenen Pflanzen überwuchert waren und in denen Naturwesen aller Art in Verstecken hausten.
Mit ihrem Elternhaus hatte sie es recht gut getroffen. Ihre Eltern dachten in unkonventionellen Bahnen und respektierten weitgehend ihre Privatsphäre. Daher war sie in ihren eigenen vier Wänden verhältnismäßig ungestört und musste nicht zur Unzeit mit ungebetenem Besuch rechnen. Kam sie einmal spätabends nach Hause, nass bis auf die Haut und mit zerrissener Jeans, erntete sie lediglich besorgte Blicke. Aus diesem Grunde hatte sie frühzeitig gelernt, selbständig zu denken.
Früher wechselte die Familie häufig den Wohnsitz. Dies hatte zur Folge, dass die Eltern ihre Tochter selbst unterrichteten. Der Lehrplan umfasste neben den üblichen Fächern wie Mathematik, Geschichte, Grammatik und Fremdsprachen auch parapsychologische Themen. Erst in den letzten zwei Jahren waren sie sesshaft geworden, daher wurde für Adaline regelmäßiger Schulbesuch obligatorisch. Der Vorteil lag darin, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen. Auf diese Weise hatte sie Joana kennen gelernt.
Adalines Vater war Experte für Paranormales und verbrachte einen Großteil seiner Zeit damit, ungewöhnlichen Phänomenen hinterher zu jagen. Er war aufgeschlossen für alle möglichen paranormalen und ungewöhnlichen Erscheinungen, von Kugelblitzen, Kometenabstürzen, Mumienfunden, seltenen Papyri über Felsbildern oder Ufos auf der Mondoberfläche. Alles erregte sein Interesse. Die seltsamsten Behauptungen, bei denen es bspw. um Sichtungen des legendären Bigfoot, Landungen von Aliens auf der Erde oder Erzählungen über fliegende Menschen ging, zogen seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich.
„Vieles ist nur eine Vermutung“, pflegte er oft zu sagen. „Aber hinter Vermutungen stecken oft große Wahrheiten.“ Und was die Geschichten über Ufos anbetraf: Immerhin behaupteten etliche Zeitgenossen, das Innere solcher Raumschiffe selbst gesehen und sogar die Angehörigen der fremden Besatzungen kontaktiert zu haben.
Adalines Mutter teilte im Laufe der Jahre die Begeisterung ihres Mannes und bewahrte jeden Zeitungsausschnitt, der in irgendeiner Weise von phantastischen Phänomenen handelte, sorgfältig auf. Alles Ungewöhnliche ließ ihr Herz höher schlagen.
Im Grunde bewunderte die Tochter ihre Eltern für deren Aufgeschlossenheit, die sie sich den nicht alltäglichen Themen des Lebens gegenüber bewahrt hatten. Ihr ganzes Dasein hatten sie der Erforschung des Unerklärlichen gewidmet. Hin und wieder gelang ihnen eine klitzekleine Entdeckung, aber meist fanden sie absolut nichts heraus. Trotz allem ließ ihr Enthusiasmus niemals nach. Ihr Handy lag immer griffbereit in ihrer Nähe, denn sie wollten nicht das Risiko eingehen, den einen entscheidenden Tipp zu verpassen, der ihnen dabei helfen würde, dem Übernatürlichen endlich auf die Spur zu kommen.
Insgeheim amüsierte Adaline sich über den Eifer, mit dem ihre Eltern die gängigen im Umlauf befindlichen Behauptungen über alle möglichen rätselhaften Sichtungen verfolgten. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre damit zugebracht, Beweise für die Existenz von Vampiren, Engeln, Werwölfen, Ufos, Außerirdischen und sonstigen übernatürlichen Kreaturen zu sammeln. In gewisser Hinsicht teilte ihre Tochter die Träume ihrer Eltern, eines Tages etwas Unbekanntes und ganz und gar Unglaubliches zu entdecken.
Der rätselhafte Traum der vergangenen Nacht hatte ihre Neugier geweckt und in ihr eine verborgene Saite zum Klingen gebracht. ‚Wenn man zur rechten Zeit die richtige Tür öffnet, findet man vielleicht endlich den Ort, an dem man sich zuhause fühlt.’ Wo hatte sie das nur gehört? Der Traum war nicht mit einem der üblichen nächtlichen Traumabenteuer zu vergleichen, davon war sie fest überzeugt. Er hatte sich so überaus echt angefühlt. Manche Träume waren eben nicht einfach nur Träume; sie waren wirklicher als ein Traum, vielleicht sogar wirklicher als die Alltagswelt, die im grellen Tageslicht die nächtlichen Erlebnisse in das Schattenreich zurückdrängte.
Adalines bisherige Auffassung von dem, was real war und was nicht, war ins Wanken geraten, soviel stand fest. Wer konnte sagen, wohin sie das noch führte? Bisher verlief ihr Leben in eher ruhigen Bahnen. Das sollte sich ändern, und zwar schon bald.
Schatten sind wie Türen – die Türen in andere Welten.
Adalines Traum
Adaline schreckte hoch, weil sie meinte, ein leises Klopfen am Fenster gehört zu haben. Zu nächtlicher Stunde fand sie das reichlich beunruhigend. Sie ging zum Fenster und öffnete es, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken.
Im Zimmer war es stockdunkel. Sie zündete eine Kerze an, die ein trübes Licht von sich gab. Es warf geheimnisvolle Schatten an die Wände und in die Ecken. Der Luftzug vom offenen Fenster setzte die Schatten in unruhige Bewegung. Im flackernden Wechselspiel zwischen Licht und Schafften gewannen die Gegenstände ein gespenstisches Eigenleben, das im Zimmer eine unheimliche Atmosphäre erzeugte.
Die Möbel wurden zu einer Masse wogender Grautöne. Das flackernde Kerzenlicht hatte alle Gegenstände völlig verwandelt und eine Phantasiewelt geschaffen. Adaline glaubte, im Halbdunkel Tiere, Bäume, fliegende Vögel, winkende Hände und andere Phantasiegestalten zu erblicken. Die Stehlampe wand sich wie eine Schlange die Wände hoch; ein recht beängstigender Anblick.
Sie betrachtete die Schattenbilder an der Wand. Seltsam, wie sich ihre Phantasievorstellungen mit den schattigen Konturen mischten, die sie auf die Wände projizierte, ganz ähnlich wie eine Kamera Bilder auf eine weiße Leinwand bannte.
Sie war ganz in Gedanken versunken, als sie plötzlich von einem seltsamen Geräusch aufgeschreckt wurde. Die Schattenbilder an den Wänden begannen, immer heftiger zu flackern. Das Mädchen hatte den merkwürdigen Einruck, dass die Luft dicker wurde, so als wäre das Zimmer mit einer besonderen Energie aufgeladen. So etwas wie ein leises Brummen war zu hören. Dann sah sie winzige Blasen im Zimmer herumspringen, die unentwegt aufeinander prallten und ein bienenartiges Summen erzeugten. Das ganze Zimmer schien von einem feinen Energiestrom durchdrungen, der auch ihren Körper ganz erfüllte. Alles in ihrem Zimmer lief in Zeitlupe ab.
Ein kühler Luftzug, der irgendwie lebendig schien, drang durch das offene Fenster ins Zimmer. Wie ein schwarzes Viereck ragte die Öffnung in die Nacht hinaus. Schattenhafte Formen bewegten sich in der hereindrängenden Kühle. Es schien, als nähme das Viereck dreidimensionale Formen an, als weite es sich aus bis in die Nacht, die von einem bleichen Mond spärlich erhellt wurde.
Eine uralte Fichte reichte mit ihren knorrigen Ästen bis dicht an die schwarze Leere heran. Mit ihr ragte etwas Dunkles, Namenloses zur Hauswand hin, so als säße es auf einem Beobachterposten und stiere mit riesigen Augen ins Innere des Raumes. Es schien so, als wollte jeden Moment etwas Unbekanntes, Dunkles ins Zimmer eindringen. Die Kerze flackerte immer heftiger und erhellte den Raum um das Bett herum nur dürftig mit ihrem unruhigen Schein.
Adaline setzte sich auf und versuchte zu erkennen, was hinter der bedrohlichen schwarzen Öffnung vor sich ging. Mit jedem Flackern der Kerze wurden die schattenhaften Formen im Zimmer lebendiger. Bewegte, grob umrissene Gestalten schlichen über die Wände und schienen sich immer weiter anzunähern. Wurzeln wanden sich und krochen auf Adaline zu. Da, ein winkender Arm, dort ein vereinzeltes Bein, das abgehackte, rhythmische Bewegungen vollführte. Ein schwarzer Hut wippte auf und ab; darunter war ein verzerrter Mund zu erkennen, der sie breit angrinste. Dass Panoptikum der phantastischen Formen war in einem steten Wandel begriffen. Es bot der erhitzten Einbildungskraft tausende Möglichkeiten, den schwebenden, hin und her wandernden Umrissen abenteuerliche Gestalten anzudichten.
Teils ängstlich, teils fasziniert schaute das Mädchen auf die sich wandelnden Schattenformen. Das Ächzen der knorrigen alten Äste tat ein Übriges, um die Phantasie der Schülerin aufs Äußerste anzuspannen. Aus dem dunklen Viereck der Fensteröffnung starrten Augen zu Adaline herein; riesige helle Nebelkreise mit einem schwarzen Punkt in der Mitte. Im nächsten Moment waren sie verschwunden. Sie lösten sich einfach auf…
Träumte sie? Oder spielte ihr die Einbildung einen Streich? Adaline tastete nervös nach dem Schalter ihrer Nachtischlampe neben ihrem Bett – doch er war nicht da! Regungslos lag sie da und wagte es nicht, sich zu rühren. Eine plötzliche Erstarrung kam über sie, die sie daran hinderte, das Fenster zu schließen. Sie versuchte krampfhaft, ihre Aufmerksamkeit von dem bedrohlichen Anblick anzulenken, doch wie gebannt starrte sie unentwegt in die Schwärze hinaus, aus der nun ein geheimnisvolles leises Wispern zu ihr hereindrang.
Vielleicht ein Nachtvogel, der sich in der Nähe nieder gelassen hatte? Oder ein Marder, der auf Beutezug ging? Es raschelte geheimnisvoll im Gras, dann blinkte etwas in den Zweigen. War da nicht eine Bewegung in dem alten Geäst, das wie eine drohende Hand in Richtung Fenster zeigte? Weiße Nebelfetzen waberten wie Geistererscheinungen vor dem dunklen Hintergrund.
An der Wand bemerkte Adaline einen großen weißen Fleck, der sich wie ein riesiges Maul öffnete, wie um sie zu verschlingen. Ein kalter Luftzug wehte ins Zimmer. Da, ein schattenhafter Umriss, der sich langsam und unaufhaltsam über die Fensterbank ins Zimmer schob! Adaline versuchte nicht ein einziges Mal, um Hilfe zu rufen, was sie mit Stolz erfüllte.
Der Schatten vergrößerte sich mehr und mehr, bis er fast menschliche Formen annahm, die sich an den Rändern zerfransten und plötzlich in sich zusammenfielen. Sie verschmolzen mit den Wänden. Gebannt starrte das Mädchen auf den dunklen Fleck, der sich über den Großteil der Tapete hinzog und ihr plötzlich riesenhaft vorkam.
Dieser schattenhafte Umriss war vorher nicht da gewesen! Fieberhaft suchte Adaline nach irgendeinem Gegenstand, der als Ursache für das wabernde Phantom infrage kam. Doch sie fand nichts! Schon war es ihr, als vernähme sie in dem Wispern eine menschliche Stimme. Sie entströmte den schwankenden und sich stetig verändernden Schattenbildern an der Wand. Worte formten sich - leise und undeutlich - in ihrem Kopf zu Sätzen, die sie anfangs für ein Spiel ihrer angespannten Einbildungskraft hielt. Was das der Schlafmangel, der ihr zusetzte?
Je länger sie hinhörte, desto deutlicher wurden die Worte. Sie hörte ihren Namen rufen und schließlich ganze Sätze, die leise und eindringlich in ihr Bewusstsein drangen. „Adaline…! Hab keine Angst… Es ist nicht nur ein Traum…“
Fast war es ihr, als hörte sie einen besorgten Unterton heraus. Sie formte in Gedanken eine Frage, obwohl sie innerlich vor Aufregung zitterte. „Wer bist du?“
An der Wand formte sich ein Gesicht mit beweglichen Umrissen heraus, doch es war nicht möglich, die Züge deutlich zu erkennen. Sie schienen männlich zu sein. Ganz kurz blitzten Augen aus der wabernden Masse auf, die Adaline scharf fixierten.
„Du willst wissen, wer ich bin?“ Ein verhaltenes Lachen, so kam es ihr vor, begleitete die Frage. Adaline wäre am liebsten in der Matratze versunken, um den starren Augen, die sie unentwegt musterten, zu entkommen. Ein scharfer Blick funkelte sie an, dann wieder verzerrte ein breites Grinsen die beweglichen Züge. Plötzlich waren die Augen verschwunden, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen.
Es war ganz gewiss nur ein Trugbild, ein Produkt ihrer lebhaften Einbildung, beruhigte sich das Mädchen. Sobald sie die Augen schloss, würde das Phantom wie von Zauberhand verschwinden. Bleierne Müdigkeit legte sich auf ihre Lider. Als sie unter großer Mühe die Augen öffnete, war da immer noch der dunkle, schattenhafte Umriss zu ihrer Linken, der die halbe Wand bedeckte.
Wenn sie nur einschlafen könnte! Ihre Sinne waren außerordentlich angespannt und zugleich träge. Sie befand sich in einem seltsam losgelösten Zustand, so als schwebte sie zwischen Schlafen und Wachen, gefangen in einer phantastischen Traumwelt.
Täuschte sie sich, oder nahm der Schatten an der Wand feste Gestalt an? Formen bildeten sich, wo zuvor keine waren. Dort ragte ein angewinkelter Arm aus dem beweglichen Gebilde hervor, dann wieder war ein Bein erkennbar. Schultern formten sich und darüber bildete sich verschwommen ein bleiches Gesicht heraus, dessen Stirn von schwarzen Haarlocken umrahmt wurde.
Die Züge kamen Adaline seltsam bekannt vor, doch ihr Gedächtnis ließ sie im Stich. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihre Gedanken nicht greifen; die Erinnerungsfetzen waren wie weggeblasen.
Der Schattenmund flüsterte ihr etwas zu. Adaline schrie erschrocken auf, als das Phantom einen wabernden Nebelarm nach ihr ausstreckte. Das war kein Trugbild! Panik machte sich in ihr breit. Noch nie im Leben hatte sie eine so grauenhafte Angst verspürt! Kein Hirngespinst, kein bloßer Schatten suchte sie heim, sondern ein Wesen, das lebte und atmete.
Adaline überlegte, wie sie dem Grauen, das sie nun mit aller Macht überfiel, entkommen konnte, doch ihre Glieder versagten ihr den Dienst. Starr vor Schreck lag sie da, ihre langen schwarzen Haare umgaben sie wie ein Fächer, ausgebreitet auf dem Kopfkissen. Sie war unfähig, auch nur die kleinste Bewegung zu machen.
Das Schattenwesen wurde größer und kam näher, bis es ihr Bett erreichte. Es klang wie verhaltenes Donnergrollen, als es sagte: „Du kannst mir nicht entkommen, egal, wo du dich verstecken magst. Ich bin ein Schatten, den nichts aufhalten kann. Ich folge dir, wohin du auch gehst.“
„Warum bist du hier?“ brachte Adaline mit Mühe hervor.
„Da fragst du noch? Du bist diejenige, die mich gerufen hat. Und ich habe dich auserwählt. Der Grund bleibt vorerst mein Geheimnis.“
„Was - geschieht jetzt mit mir?“
„So viele Fragen. - Schließe deine Augen und entspanne dich. Wenn du mir vertraust, zeige ich dir eine Welt, wie du sie dir schon lange insgeheim erträumt hast. Es sind deine verborgenen Wünsche, die mich gerufen haben; deine Sehnsucht zog mich an. Du hast nach mir verlangt und ich bin gekommen.“
Adaline wurde plötzlich noch schläfriger und konnte die Augen nicht mehr offen halten. Das Empfinden, in einen weichen Mantel gehüllt zu werden und zu schweben, bereitete ihr ein wohliges Behagen. Ganz leicht fühlte sie sich und bewegte sich ohne eigenes Zutun. Sie schwebte bis hinauf zur Zimmerdecke. Dabei wagte sie es nicht, die Augen zu öffnen aus Angst, plötzlich unsanft in ihrem Bett zu erwachen.
Verschwommen erinnerte sie sich an die langen einsamen Nächte, in denen sie voller Sehnsucht und Abenteuerlust am offenen Fenster gesessen und sich hinaus in die Nacht geträumt hatte. Der Sternenhimmel schien ihr zum Greifen nah. Wie ein Nachtvogel wollte sie die Schwingen ausbreiten und unbekannte Welten kennen lernen. Die andere Seite des Tages war voller Rätsel und Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Dagegen erschien ihr der Alltag eintönig und grau. Doch die Nachtseite verbarg zu ihrem großen Bedauern ihre Schätze vor ihr. Nur die funkelnden Sterne zeigten ihr einen Teil des Glanzes, den sie dort, auf der anderen Seite, vermutete.
Nun fühlte sich das Mädchen fortgetragen, hinaus in die mondhelle Nacht. Sie war geborgen in einer weichen, dunklen Hülle. Das schattenhafte Wesen verbarg seinen Glanz unter einem dunklen Mantel, so schien es ihr. Je höher es hinaufging, desto klarer wurde ihr Bewusstsein. Obwohl sie weiterhin die Augen geschlossen hielt, nahm sie deutlich wahr, wie sie an dem knorrigen alten Baum, der ihr vordem so unheimlich erschienen war, vorbei glitten. Seine Äste waren von einem weißlichblauen Licht überzogen, was ihm eine geheimnisvolle Aura verlieh. Wie zum Abschied schien er ihr zuzuwinken.
Sie schwebten weiter hinaus. Das Mädchen erblickte unter sich Büsche, Bäume und Wiesen, die zu dem Park gehörten, der an ihr Elternhaus angrenzte. Dabei wunderte sie sich über das geheimnisvolle Licht, das über allem lag und die Gegenstände von innen heraus leuchten ließ. Alles war von einem zart leuchtenden Schimmer umgeben. Adaline wurde ganz feierlich zumute, alle Ängste und Zweifel waren von ihr gewichen. ‚Endlich’, dachte sie bei sich. ‚Jetzt beginnt die Reise.’
Der Flug führte Adaline über Gegenden, die ihr völlig unbekannt waren. Die runde Scheibe des Mondes erhellte die Landschaft, die unter ihr vorbeiglitt. Sie hörte den Ruf eines Uhus, dem sogleich ein zweiter antwortete und fühlte eine besondere Verbundenheit zu den majestätischen Vögeln, die auf ihren Schwingen geräuschlos die Nacht durchsteiften.
Zufrieden lehnte sie sich tiefer in die Falten des schwarzen Mantels, der sie noch immer eng umschlungen hielt. Nur nicht an Morgen denken, an den Alltag mit seinen Pflichten. Sie wachte erst auf, als die Morgensonne in ihr Zimmer schien und sie weckte. Sogleich erinnerte sie sich an den Flug in dunkler Nacht. War alles nur ein verrückter Traum gewesen? Irgendwie konnte sie sich das nicht so recht vorstellen.
Manche Mauer hat kein Tor. Man kommt hinein, aber nicht wieder hinaus.
Aus Adalines Tagebuch
Ich erinnere mich nicht, eingeschlafen zu sein. Dennoch befand ich mich plötzlich in einer völlig fremden Landschaft. Die mir vertraute Umgebung war verschwunden. Verwundert rieb ich mir die Augen und schaute mich um. Der Mond sandte sein helles Licht auf die Ebene, so dass ich keine Mühe hatte, die Konturen meiner Umgebung klar zu erkennen. Die ganze Landschaft war in ein silbriges Licht getaucht.
Der Untergrund, auf dem ich mich befand, war aus fest gefügten Pflastersteinen angelegt. Unweit vor mir entdeckte ich die Mauern einer Burgruine, deren Umrisse malerisch gen Himmel ragten. Oder war es eine Kirche mit vergitterten Fenstern? Daneben stand ein Turm, der noch gut erhalten schien und zu dem ein befestigter Weg führte.
Die Landschaft und besonders der Turm flößten mir eine unbestimmte Furcht ein. Dunkel ragte er in den schwarzen Nachthimmel. Eine Weile überlegte ich fieberhaft, was in der Situation, in die ich so unversehens geraten war, das Beste war. Hatte mich das Schattenwesen hierher gebracht? Weit und breit war allerdings niemand zu sehen. Zum Teil war ich darüber erleichtert, dass keine unheimlichen Gestalten in meiner Nähe lauerten. Doch ein wenig ärgerte es mich auch, so alleingelassen in dieser Einöde herumzuirren. Nicht ein einziges Haus weit und breit, und ich sah auch keinen Lichtschein, der auf Menschen in der Nähe schließen ließ.
Plötzlich bemerkte ich von oben her ein helles Leuchten. Es kam von dem Turm und verbreitete sich weit über die Landschaft hin. Obwohl es gleich wieder verschwand, stimmte es mich dennoch ein wenig hoffnungsvoller. Zögernd machte ich mich auf den Weg, um das Innere des Turms zu erkunden. Diese Idee erschien mir am naheliegendsten. Er ragte immer noch bedrohlich vor mir auf. Je mehr ich mich dem alten Gemäuer näherte, desto mehr schien es in die Höhe zu wachsen. Auch an Umfang nahm es zu, so dass ich mir, als ich direkt davor stand, winzig klein vorkam. Der riesige Turm, so stellte ich mir vor, reichte womöglich bis tief in das Erdreich hinab und ragte so hoch in den Himmel hinauf, dass ich wohl mein ganzes Dasein mit Hinauf- und Hinabsteigen verbringen könnte.
Ich umrundete die eindrucksvollen dicken Mauern auf einem schmalen Pfad, der von Büschen und Sträuchern gesäumt war. Der Fels schien einerseits massiv und gefestigt, doch gleichzeitig auch beweglich und durchlässig zu sein. Das irritierte mich. Als ich vorsichtig die Hand ausstreckte und die Mauern berührte, ertastete ich einen festen Widerstand. Das Gestein fasste sich ebenso massiv an wie ein ganz normales Gebäude.
Dann entdeckte ich das mächtige hölzerne Eingangstor. Dunkle Eisenbeschläge und ein gusseisernes Schloss vermittelten einen Eindruck von Beständigkeit und Dauer. Das verwitterte Holz der Tür war nach oben zu abgerundet. Mein Herz klopfte, als ich zaghaft die Klinke herunterdrückte. Die Tür saß fest in den Angeln und bewegte sich keinen Zentimeter. Ich holte tief Luft und zog kräftiger. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich das Tor tatsächlich einen Spalt breit öffnete. Mit einiger Mühe gelang es mir, einen passablen Eingang zu schaffen, durch den ich mich in das Innere hineinzwängen konnte.
Ich hatte erwartet, im Turminneren undurchdringliches Dunkel vorzufinden, doch erstaunlicherweise herrschte ein silbriges Dämmerlicht, in dem kleine Funken tanzten, die kurz aufblitzten und sogleich wieder erloschen. Und da, an der Wand, zog sich ein längliches Schattengebilde hin; ganz ähnliche demjenigen, das mich in meinem Zimmer heimgesucht hatte! Mir stockte fast der Atem und mein Herzschlag beschleunigte sich. Ein kalter Schauer überlief mich und eisiges Entsetzen wollte von mir Besitz ergreifen, doch ich ließ es nicht zu. Bloß jetzt nicht in Panik verfallen!
Wo war ich hier überhaupt? Alles erschien mir fest gefügt und massiv zu sein, auch wenn die Umgebung nichts Vertrautes hatte. Im Dämmerlicht glaubte ich, fliegende Schatten zu erkennen. Doch es waren keine Fledermäuse, auch wenn die Ähnlichkeit unverkennbar war. Sie tauchten nur kurz in meinem Blickfeld auf, um gleich wieder zu verschwinden. Geräuschlos flatterten sie im silbrigen Lichtschein hin und her. Mitunter schien es mir, als schaute ein winziges rot leuchtendes Auge auf mich herab. Es war unheimlich, keine Frage.
Energisch nahm ich all meinen Mut zusammen und spähte in das Dämmerlicht, das mich umgab. Angestrengt bemühte ich mich, den dunklen Schatten, der sich an der Innenwand entlangzog, nicht zu beachten. Erlebte ich nicht gerade eines der Abenteuer, die ich in meinen Tagträumen herbeigesehnt hatte? Niemals hätte ich geglaubt, dass sich meine phantastischen Traumbilder jemals auf so greifbare Weise verwirklichen würden! Ich hatte eine Ahnung, dass, wenn mich jetzt der Mut verließ, alles ganz schnell vorbei sein würde. Ich würde einfach in meinem Zimmer aufwachen, so als wäre nichts geschehen.
An der runden Turmwand führte eine steinerne Wendeltreppe nach oben. Zögernd setzte ich einen Fuß auf die ersten Stufen. Nach und nach wurde ich forscher und begann, vorsichtig die schmale Treppe zu erklimmen. Ein Geländer fehlte, weshalb ich, unsicher wie ich war, die Hand nach der Wand ausstreckte, die links von mir festen Halt versprach. Ich bemühte mich, nicht nach unten zu schauen, damit der Mut mich nicht verließ. Langsam und stetig näherte ich mich dem hellen Ausschnitt, der im oberen Teil des Mauerwerks einen Ausblick auf den freien Himmel bot.
Kein Laut war zu hören, außer einem leisen Flattern von Zeit zu Zeit. Aus den Augenwinkeln sah ich schattenhafte geflügelte Wesen vorüberhuschen. Unbeirrt stieg ich immer weiter die Stufen hinauf bis ans Ende. Erleichtert betrat ich eine runde Plattform, die den oberen Teil des Turmes begrenzte. Etwas außer Atem gelangte ich hinaus ins Freie, um einen weiten Blick in die Ferne zu tun. Doch wie groß war meine Enttäuschung, als ich nichts weiter sah als eine milchige weiße Fläche, die sich ausdehnte, soweit das Auge reichte! Die flauschig-weiche Beschaffenheit erinnerte mich an neblige Wolkengebilde.
Eine leichte Ernüchterung machte sich in mir breit. Mit allem Möglichen hatte sie gerechnet, nur nicht mit einem Nebelschleier, der mir die Sicht versperrte und keinerlei feste Formen erkennen ließ. Ab und zu glaubte ich, verschiedene Tiergestalten und menschenähnliche Formen auszumachen. Ein wolkiges Gesicht bildete sich aus der weichen, elastischen Masse heraus, doch kurz darauf wurden die Umrisse unscharf, verloren ihre Konturen und lösten sich schließlich auf.
Einmal sah ich ein riesenhaftes Ungeheuer, das mich an die Sagen vom Yeti, dem Schneemenschen, erinnerte, direkt auf mich zukommen. Mir stockte der Atem, doch je näher der Wolkenriese heranschwebte, desto undeutlicher wurde er. Als die weißliche Masse bis dicht vor mir angelangt war, ließ sich kaum noch die ursprüngliche Form erkennen.
Mit einigem Unbehagen schaute ich auf die wogende weiße Masse und fragte mich, was um alles in der Welt hier vorging. Gerade, als ich mich umwandte, um den Rückweg anzutreten und die Stufen wieder hinab zu steigen, hörte ich hinter mir eine leise Stimme, die meinen Namen rief: „Adaline!“ Ganz deutlich hörte ich den Ruf. Ob die Stimme von außen kam oder nur in meinem Kopf ertönte, konnte ich nicht sagen.
Verunsichert drehte ich mich um. Was war das? Ich schaute in freundlich dreinblickende Augen, die in dem hellen Nebel deutlich zu erkennen waren. Ein goldener Schimmer ging von ihnen aus. Langsam näherten sie sich und die Konturen eines Gesichts zeichneten sich ab. Anfangs erschien es mir wie ein lächelndes Kindergesicht, doch je näher es kam, desto mehr wurde es zum sympathischen Gesicht eines Jungen etwa in meinem Alter. Ich sah Augen, deren Farbe sich in ein tiefes Blau verwandelt hatte und lockiges, blondes Haar. Dann wurde eine schlanke Gestalt in heller Kleidung sichtbar.
Mir verschlug es fast den Atem, als sich der gut aussehende junge Mann näherte und mir galant die Hand reichte. Ich ließ mich, leicht widerstrebend, von ihm zurück auf die Plattform ziehen, die den oberen Teil des Turmes bildete. In seiner Nähe wurde der Nebel von kleinen goldenen Lichtfünkchen durchzogen, die kurz aufblitzen, um sogleich wieder zu verschwinden.
Aus kurzer Entfernung konnte ich erkennen, dass die Gestalt des Jungen von einem hellen Schein umgeben war. Er erinnerte mich an das Bild eines Engels. Plötzlich fühlte ich mich neben ihm klein und unbeholfen und wandte mich ab. Doch er ließ meine Hand nicht los, sondern rief plötzlich: „Komm!“ und ehe ich mich’s versah, war er mit ihr über den Rand der steinernen Turmbrüstung gesprungen!
Was für ein Schock, als ich jeden Halt verlor und in rasender Geschwindigkeit nach unten stürzte! Hektisch griff ich mit der freien Hand nach dem Arm meines Begleiters, der nur noch schemenhaft zu erkennen war, und versuchte mich panisch anzuklammern, doch der Arm entglitt mir immer wieder. Unaufhaltsam ging es nach unten, dem Boden entgegen.
Nach endlos langer Zeit - so kam es mir vor - verlangsamte sich der rasante Flug und ging über in ein Schweben. Ich atmete auf. Kurz darauf kehrte mein Wagemut zurück und ich gewann an Sicherheit, je mehr der Fall abgebremst wurde. Neugier trat an die Stelle der Furcht. Ich starrte angestrengt nach unten, um nach einem Landeplatz Ausschau zu halten. Mein tollkühner Begleiter lachte anerkennend, als er die gespannte Erwartung in meiner Miene sah. In seinen Augen blitzte etwas auf, das ich nicht zu deuten wusste.
„Ich heiße Marius!“, rief er mir zu, als er sich entfernte. „Ich wünsche dir einen guten Start.“ Der Ton seiner Stimme war Vertrauen erweckend, ich aber war beunruhigt.
„Einen Start… wohin?“
„Das wirst du schon noch merken“, war seine rätselhafte Antwort. Ich hörte noch - immer leiser werdend - die Worte:
„Wir sehen uns bald wieder!“ Dann war er verschwunden und ich hatte aufs Neue das Gefühl, nach unten zu sausen. Gerade in dem Moment, als ich wieder von Panik erfasst wurde, stellte ich erleichtert fest, dass ich nicht mehr fiel. Vielmehr war ich von weichen Kissen umgeben und die frühe Morgensonne sandte ihre ersten Strahlen ins Zimmer. In mein Zimmer, wohlgemerkt.
‚Alles nur ein Traum?’ war mein erster Gedanke, als ich wieder klar denken konnte. Doch das, was ich gerade erlebt hatte, war mit keinem der Träume zu vergleichen, die ich je gehabt hatte. Trotz aller Aufregung schlief ich ein.
Das Eingangstor ist das Interesse, das jemand für eine Sache aufbringt.
Adalines Wanderung
Adaline beobachtete aus einiger Entfernung einen Mann, der sich am Fuße einer gigantischen Felswand in ein Loch hineinzwängte und darin verschwand. Neugierig ging sie näher heran um zu sehen, welchen Weg er genommen hatte. Erst jetzt erkannte sie das wahre Ausmaß der riesigen Wand aus Gestein. Sie ragte hoch in den Himmel hinauf, während der linke und rechte Teil in einem dunstigen Nebel in der Ferne verschwand. Die massive Mauer erschien ihr wie ein unüberwindlicher Grenzwall, der diese Welt von einer anderen trennte.
Zwischen beiden Welten gab es offenbar einen engen Durchlass, den nur Wenige kannten. Nach einigem Suchen entdeckte Adaline ein Erdloch, das an den Rändern mit Moos bewachsen war. Es schien ihr groß genug, um einen Menschen hindurch zu lassen. Von sich aus wäre sie niemals auf den Eingang gestoßen, hätte sie nicht den Fremden darin verschwinden sehen.
Beim Anblick des engen, etwas sechzig Zentimeter breiten Lochs fragte sie sich, ob sie das Abenteuer an dieser Stelle beenden oder da hineinkriechen sollte? Plötzlich hörte sie eine tiefe Stimme sagen:
„Beginne, tief hinab zu steigen in einen Raum, der sich jenseits deiner Vorstellungen befindet. Er liegt in jenem Land, das du nur nach langer Suche finden kannst und in dem weder bekannte Formen noch die Zeit existieren.“ Der Klang der Stimme kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie hätte nicht sagen können, wo sie ihn schon einmal gehört hatte. Sie sah sich um, doch weit und breit war kein Mensch zu sehen.
Kurzerhand entschloss sie sich, einen Versuch zu wagen. Sie ging auf das unscheinbar aussehende Erdloch zu und zwängte sich unbeholfen hindurch. Die Öffnung setzte sich nach unten hin fort und mündete in einem Gang, der in das Erdinnere hinabführte.
Sie kroch auf allen Vieren und spürte ein Welle der Angst in sich aufsteigen. Nur mühsam kam sie vorwärts. Die kargen Felswände um sie herum, die Dunkelheit und dazu die Ungewissheit, wie das alles enden würde, waren eine schwere Belastung. Von außen hatte alles einfacher ausgesehen. Sollte sie es wagen, weiter nach unten vorzudringen? Doch zu einer Kehrtwende schien es bereits zu spät. Ein Rückzug würde sich in dem engen Loch mehr als mühsam gestalten. Also schob sich Adaline mit Händen und Füßen weiter durch den schmalen Gang.
Immer tiefer führte der enge Pfad ins Innere der Erde hinein. Mit der Zeit wurde er etwas durchgängiger. Grob in den Stein gehauene Stufen erleichterten das Gehen. Adaline konnte sich nun aufrichten und gleichmäßig und besonnen weiter hinabsteigen. Unterwegs entdeckte sie rechts und links Figuren, die kurz auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden. Ihre Hände strichen an den Felswänden des alten Gemäuers entlang.
Über einen langen Zeitraum, der dem Mädchen endlos vorkam, tasteten sich ihre Füße über den feuchten Untergrund vorwärts. Der Weg schien endlos tief nach unten zu führen. Endlich wurde der Gang allmählich breiter und sie gelangte bis zu einem geheimnisvollen Hohlraum, dessen bizarre Felsformationen sie anzublicken schienen. Doch sie beschloss, nicht lange zu verweilen. Daher ging sie zügig voran und ließ die urtümlichen alten Steinen hinter sich.
Zielstrebig schritt sie vorwärts, als sie in der Ferne einen schwachen Lichtschimmer sah. Sie atmete auf. Offenbar hatte sie sich nicht verlaufen. Je weiter sie ging, desto heller wurde es und ihr war, als dringe ein leises Rauschen an ihr Ohr. Sie beschleunigte ihre Schritte und gelangte endlich auf einen großen Platz, dessen Untergrund aus feinem Sand bestand. Dahinter breitete sich eine unüberschaubare freie Fläche vor Adaline aus. Sie hatte die Brandung eines Meeres von weitem vernommen.
Eine erdähnliche Landschaft bildete hier die Umgebung. Sie wirkte irgendwie weiter und sanfter als ihr irdisches Abbild. Die Luft war von einer spürbaren Schwingung erfüllt; alles schien mit Energie angereichert zu sein. Selbst das Sonnenlicht wirkte geheimnisvoll; es besaß Tiefe und eine unglaubliche Klarheit. Für Adaline hatte es ganz den Anschein, als wäre die Sonnenscheibe eine Wesenheit, der sie nicht fremd war.
Ihre Füße wateten auf weißgoldenem Sand. Ein Ozean lud dazu ein, an seinen Ufern zu verweilen. Adaline blickte in tiefblaues schillerndes Wasser, das fast künstlich wirkte. Tief atmete sie die salzige Luft ein und bewunderte das Glitzern der Lichtpunkte auf dem Wasser. Eine Weile stand sie nur staunend da und sah dem Spiel der Wellen zu. Das ganze Meer schien aus flüssigem Licht zu bestehen. In der Mitte erregte ein Wirbel ihre Aufmerksamkeit, der auftauchte und wieder verschwand.
Ohne Eile schlenderte sie dahin. Ihre Schritte schienen sie viel schneller voran zu tragen, als sie das gewöhnt war. Hier schien alles intensiver zu sein. Mit weniger Aufwand ließ sich wesentlich mehr erreichen. Nichts erforderte irgendwelche besonderen Anstrengungen. Sobald sie einen Entschluss fasste, ging alles ganz einfach, fast wie von selbst.
Tief atmete das Mädchen die frische Meeresluft ein und empfand eine Zufriedenheit wie schon lange Zeit nicht mehr. ‚Dies ist ein Ort der Ruhe und Geborgenheit’. Woher kam plötzlich der Gedanke? Sie fühlte sich hier unten ungestört und geschützt, allein mit sich selbst, doch das sollte sich schon bald ändern.
Sie schaute sich um. Der Eingang war verschwunden und ihr wurde klar, dass es keinen Weg hinaus gab! Die Zeit schien hier festgefroren zu sein. Auch nach geraumer Zeit hatte sich die Sonne keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Die leuchtende Scheibe wirkte nicht länger stimmungsvoll, sondern irgendwie bedrohlich. Langsam aber sicher kam Adaline zu Bewusstsein, dass sie hier gefangen war.
Voller Hast begab sie sich auf die Suche nach einem Ausgang, doch es blieb ein nutzloses Unterfangen. Als sie sich resigniert in den Sand fallen ließ und schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, erblickte sie von ferne eine Gestalt, einen jungen Mann, dessen Bewegungen sie unverkennbar an jemanden erinnerten. War das nicht der Junge von neulich, der sich Marius genannt hatte? Was mochte er hier unten suchen?
Sie sprang auf und sie gingen geradewegs aufeinander zu. Als er näher kam, stahl sich ein Lächeln auf Adalines Gesicht. Die Überraschung war gelungen! Wie Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, begrüßten sie sich. Er strahlte über das ganze Gesicht und beglückwünschte sie zu ihrem Mut, den engen Gang bewältigt zu haben und die schmale Treppe bis ganz nach unten hinabgestiegen zu sein.
„Hast du mich erwartet?“ fragte er neugierig und wirke dabei ausgesprochen jungenhaft.
„Vielleicht“, wich sie aus. Sie war unsicher, was sein neuerliches Erscheinen bedeuten konnte, obwohl sie insgeheim darauf gehofft hatte, ihn hier zutreffen.
„Neulich, der Sprung…“ begann sie. „Ich dachte zuerst, dass es kein gutes Ende nehmen würde, als wir ins Bodenlose stürzten. Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingejagt!“ Marius wirkte erheitert und gleichzeitig ernst, als er mit geheimnisvoller Miene entgegnete:
„Ein Sprung - oder ein Fall - befördert dich unversehens in eine andere Dimension, in eine Welt, die du auf andere Weise nicht erreichen könntest. Das betrifft natürlich nicht jeden Sturz. Manchmal bedeutet er einfach nur Zerstörung und Tod.“
Adaline erschrak. Doch ihre innere Zuversicht, die sie selten verließ half ihr dabei, Gedanken an Unfall und Tod beiseite zu schieben. Sie gewann mit jeder Minute an innerer Standfestigkeit und Sicherheit.
„Nun, ich lebe ja noch“, entgegnete sie gleichmütig. Es erschien ihr auf einmal wie selbstverständlich, dem rätselhaften jungen Mann, der offenbar über besondere Kräfte verfügte, an diesem abgeschiedenen Ort zu begegnen.
Die gleichmäßige Brandung, die auf dem leuchtendgelben Sand vor- und zurückflutete, wirkte beruhigend auf ihr Gemüt. Der strahlend blaue Himmel und das wie aus sich selbst leuchtende saphirblaue Meer sahen unwirklich, beinahe märchenhaft aus. Adaline freute sich über die bunten Kiesel in dem glasklaren Wasser und meinte, selten etwas Schöneres gesehen zu haben.
Von da an trafen sie sich regelmäßig von Zeit zu Zeit an dem fernen Meeresstrand, um sich auszutauschen. Marius wusste über viele Dinge Bescheid und das Mädchen wurde nicht müde, ihn immer wieder nach diesem und jenem zu fragen, um ihren Wissensdurst zu stillen. Mit unendlicher Geduld, so schien es ihr, ging er auf ihre Fragen ein.
Sie unterhielten sich angeregt über alle möglichen Themen. Als sich Adaline eines Tages tief betrübt über das Elend allenthalben in der Welt beklagte, brachte er viel Verständnis für sie auf und tröstete sie mit dem Hinweis, dass auch schwierige Zeiten ihren Sinn hätten und irgendwann zu Ende gingen.