Mysterium der Drachenreiter - Birgit Waßmann - E-Book

Mysterium der Drachenreiter E-Book

Birgit Waßmann

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Beschreibung

Was hat das Verschwinden von Studenten aus einem Universitätslesesaal am helllichten Tage mit dem Auftauchen geheimnisvoller Flugdrachen zu tun? Steckt womöglich ein ominöser Geheimorden dahinter? Die junge Studentin Alicia, eine Augenzeugin der mysteriösen Vorkommnisse, wird kurz darauf von einem Mann kontaktiert, der alles andere als vertrauenswürdig erscheint. Zu spät wird Alicia klar, dass sie sich auf gefährliches Terrain begibt, wenn sie heimlich Nachforschungen anstellt, um mehr über die verdächtige Drachenbruderschaft herauszufinden. Schon bald hat sie die Aufmerksamkeit des Hohen Rates auf sich gezogen, einer Instanz des Ordens, der man besser aus dem Wege geht.

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Gut und Böse haben manchmal dasselbe Gesicht.

Inhaltsverzeichnis

Ankunft der Flugdrachen

Hinter der Tür

Verdächtige Schatten

Besuch bei Sina

Gregor, der Geisterjäger

Verschwundene Studenten

Drachenträume

Vincent

Ein Szene-Lokal

Eine denkwürdige Begegnung

Das Verhör

Der Feuerdrache

Treffen bei Vincent

Chefinspektor Jäger

Vision eines Wasserdrachen

Der Report

Begegnung

Auf dem Wikingerboot

Wiedersehen mit Maxim

Flugdrachen am Himmel

Lagebericht

Die Vorladung

Ein amouröses Abenteuer

Der Schlangentraum

Freundinnen

Roter Drache

Wer ist Maxim?

Das Geisterfahrzeug

Im Spukhaus

Die Bruderschaft des Drachen

Eine deutliche Warnung

Maxims Einladung

Verbotenes Wissen

Schockierende Entdeckungen

Im Albtraum gefangen

Zerwürfnis

Eine böse Überraschung

Entführt!

In Gefangenschaft

Das Tribunal

Portal in die Verbannung

Die Welt ohne Mauern

Rückkehr aus der Schattenwelt

Geheimnisse werden enthüllt

Maxims Abschied

Auf der Brücke

Drachenjäger

Das Mysterium der Drachenreiter

Ankunft der Flugdrachen

Geistesabwesend schaute Alicia in den trüben Herbsthimmel mit seinem bleiernen Grau. Nur das Grünrot der Bäume und Sträucher vor dem Fenster unterbrach das triste Einerlei. Die Grasflächen waren von einem Meer an Herbstblättern übersät, die als lebhafte Farbtupfer alles mit einem weichen Teppich überdeckten.

Ein lautes, schepperndes Geräusch riss die Studentin unsanft aus ihrer träumerischen Stimmung. Die Stille in dem Bibliothekssaal, in dem sie sich aufhielt, wurde jäh unterbrochen, weil sich die Rollläden vor den Fenstern wie von Geisterhand in Bewegung gesetzt hatten. Sie wurden bei Sonneneinstrahlung, durch einen eingebauten Mechanismus in Gang gesetzt, automatisch geschlossen. Doch heute fuhren die Rollläden entgegen der Norm, trotz der trüben Witterung, die draußen herrschte, herunter.

Der mangelnde Lichteinfall tauchte den Lesesaal in ein dämmriges Halbdunkel. Die Köpfe der zahlreichen Studenten an den Lesepulten fuhren hoch, teils irritiert, teils erwartungsvoll. Sie rechneten jeden Augenblick damit, dass sich die Beleuchtung über ihren Arbeitsplätzen selbständig einschaltete. Als dies nicht geschah, ging ein Raunen durch den Saal. Stühle wurden gerückt und Unruhe machte sich breit. Einzelne verließen kopfschüttelnd ihre Plätze. Sie versuchten, über ihre Handys Informationen abzurufen, doch die funktionierten offenbar nicht. Was war da los?

Alicia, die ein Platz auf der Galerie des Lesesaals besetzt hatte, von wo aus sie den gesamten Raum überblicken konnte, verfolgte die Vorgänge mit wachsender Aufmerksamkeit. Die Bibliothek war in den letzten Wochen mehr und mehr zu einer zweiten Heimat für sie geworden, denn sie hielt sich gern dort auf. Ihr gefiel die ruhige Atmosphäre, die ihr ein ungestörtes Arbeiten ermöglichte. Die angrenzende Cafeteria versorgte sie mit allem Notwendigen.

Mit seinen hohen Fenstern, dem massiven Mauerwerk und spitzen Türmen wirkte das jahrhundertealte Bibliotheksgebäude von außen sehr beeindruckend. Die Bibliothek beherbergte eine Abteilung für Grenzgebiete des Wissens, die etwas abseits des großen Lesesaals lag und zu der ein paar Treppenstufen hinaufführten. Die zahlreichen Bücherregale an den Wänden waren mindestens vier Meter hoch.

Das dämmerige Zwielicht brachte Alicia in eine sonderbare Stimmung. Nur mit Mühe konnte sie die Buchstaben in dem aufgeschlagenen Buch vor ihr erkennen. An ernstzunehmendes Arbeiten war nicht mehr zu denken. Ein leises Geräusch hinter ihr nahm sie nur beiläufig wahr. Eine düstere Ahnung beschlich sie, die sie jedoch zunächst nicht wahrhaben wollte.

Erst vor kurzem hatte die Studentin herausgefunden, dass sie Dinge sehen und spüren konnte, die anderen Leuten entgingen. Das war einer der Gründe, warum sie in letzter Zeit häufiger als sonst die Bibliotheksräume aufgesucht hatte. Sie wollte den Phänomenen, die noch neu für sie waren, auf den Grund zu gehen.

Wenn sie eingehend die Bücher über Hellsehen, Spiritismus, Zweites Gesicht, Ufos oder außerweltliche Wesen durchstöberte, fühlte sie sich hin und wieder beobachtet. Irgendjemand schien sich dafür zu interessieren, was sie da trieb, blieb aber im Hintergrund. Sie wurde anscheinend beschattet, oder bildete sie sich das nur ein? Wurde sie langsam paranoid?

Die Unruhe im Lesesaal hatte sich gelegt; es herrschte eine beinahe andächtige Stille im Raum. Die Atmosphäre wurde immer bedrückender und legte sich auf Alicias Gemüt. Von der Galerie aus beobachtete sie ungehindert den darunter liegenden Arbeitsbereich. Auf einmal übermannte sie der unbestimmte Eindruck, dass die Zeit sich verlangsamte. Die Bewegungen der anwesenden Kommilitonen wirkten seltsam abgehackt. Fast schien es so, als müssten sie über jede einzelne Geste nachdenken, bevor sie sie ausführten. Irgendetwas stimmte da gar und gar nicht.

Der jungen Studentin wurde es zunehmend unbehaglich zumute. So etwas hatte es hier noch nicht gegeben, solange sie denken konnte. Die anwesenden Studenten warfen seltsame Schatten, die irgendwie in die Länge gezogen wirkten und umher waberten. Auch wenn die Person, zu der er gehörte, sich nicht bewegte, sah es so aus, als führe ihr Schatten ein Eigenleben. Verschiedene Schattenfiguren begegneten sich, ja sie schienen sich zu berühren und für kurze Zeit miteinander zu verschmelzen, bevor sie sich wieder trennten.

Den Studenten schien das seltsame Gebaren ihrer schattenhaften Doppelgänger nicht aufzufallen. Abgehackte Wortfetzen waren zu hören, in denen immer wieder das Verlangen nach mehr Licht laut wurde. Alicia hatte Probleme, einen vollständigen Satz zu verstehen, da die einzelnen Silben unverhältnismäßig in die Länge gezogen waren.

Die ungewöhnliche Situation fing an, die junge Studentin zu faszinieren. Das war nicht mehr die vertraute Wirklichkeit, die sie kannte. Dies schien eine andere Ebene der Realität zu sein und ihr war unklar, wie sie da hineingeraten war. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Karussell. Hier war etwas nicht ganz geheuer. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus registrierte sie, wie im oberen Teil des Saales, unter der Decke, Unruhe entstand. Es war, als würden die menschlichen Schatten Ausläufer bilden und weit in die Höhe reichen. Doch dann erkannte Alicia, dass die Schattenfiguren dort oben eine andere Gestalt hatten als die der anwesenden Menschen.

Ein merkwürdiges Déjà-vu-Gefühl verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie war von Natur aus neugierig und allem Neuen und Unbekannten gegenüber aufgeschlossen. Wo andere ängstlich zurückwichen, wenn sich auch nur der Hauch des Übernatürlichen zeigte und dazu neigten, einfach alles als blanken Unsinn abzutun, fühlte sich Alicia eher angezogen. ‚Wer schon alles weiß, kann nichts dazulernen’, war ihr Wahlspruch.

Die Studentin bemerkte, wie sich nach und nach an der Decke riesige Schwingen formten. Der dazugehörige Leib wurde kurz darauf ebenfalls sichtbar, alles halb durchsichtig und grau. Die Phantome erinnerten Alicia an die Sagen von Drachen mit riesigen Klauen und Schnäbeln, welche die Menschheit in Urzeiten heimgesucht hatten. Keiner der Anwesenden schien den Spuk zu bemerken. Vielleicht hätten sie mal nach oben sehen sollen…

Dunkle Schemen schienen nun aus allen Ecken hervor zu kriechen. Alicia entdeckte einen geflügelten Schatten an der Wand. Riesige schwarze Schwingen zeichneten sich deutlich vor dem hellen Hintergrund ab. Schwingen, mit denen der geflügelte Besucher womöglich durch Nacht und Träume gleiten konnte, vielleicht auch durch Raum und Zeit. Die Studentin glaubte, eine schwarze Feder auf ihrer Jeans zu entdecken, doch es war nur eine Falte im Stoff, die sie getrogen hatte. Nur nicht die Nerven verlieren! Sie benahm sich schon fast wie eine Verrückte! Fehlte bloß noch, dass sie an Geister und übersinnliche Kräfte glaubte...

Aber seltsamerweise war sie geneigt, genau das zu tun. Alicia war zwar noch nie zuvor den schattenhaften Drachenwesen von Angesicht zu Angesicht begegnet. Doch in vielen alten Mythen wurden sie erwähnt, so dass sie ohne Mühe erkannte, worum es sich handelte. Beim Gedanken daran gefror ihr das Blut in den Adern. Fast kam es ihr so vor, als wären ihr solche Begegnungen in der Vergangenheit nicht fremd gewesen. Erinnerungen aus fernen Tagen belebten sich in ihrem Bewusstsein wieder neu. Es waren ferne Zeiten, in denen Begegnungen mit fliegenden Drachen keine Seltenheit waren.

Die Szene dort unten im Saal – sie passte nicht in diese Umgebung, in diese Zeit, in dieses Jahrhundert. Die Wesen kamen aus einer andere Epoche, aus einer Welt, in der besondere Zustände herrschten. Eine Zeit, in der die Menschen dem absoluten Wissen und dem Geheimnis des Lebens noch ganz nahe gewesen waren.

Währenddessen formten sich immer mehr Drachenwesen, die unter der Decke des Saales majestätisch ihre Kreise zogen. Die Luft war erfüllt vom Flügelschlag mächtiger Schwingen. Der Anblick wäre malerisch, wenn Alicia nicht von einem heillosen Schrecken ergriffen worden wäre. Die kreisenden Drachenvögel senkten sich auf die anwesenden Studenten herab, die noch immer nichts zu bemerken schienen. Die junge Frau war so gebannt von dem Anblick der schattenhaften Kreaturen, das sie im ersten Moment gar nicht richtig erfasste, was vor ihren Augen geschah. Ein Student nach dem anderen verschwand lautlos, so als wäre er von einem der riesigen Vögel verschluckt worden. Oder war er mit ihm verschmolzen?

In dem Maße, in dem die Anzahl der Bibliotheksbesucher schwand, wurde auch die Zahl der geflügelten Drachenwesen geringer. ‚Ich glaub es einfach nicht’, dachte Alicia. ‚Das hier passiert gar nicht wirklich, Studenten verschwinden nicht einfach so.’ Sie schloss die Augen in der Hoffnung, die optische Täuschung würde sich derweil verflüchtigen. Den Gefallen tat sie ihr aber nicht. Atemlos schaute sie dem bizarren Schauspiel zu.

Ganz ähnlich hatte sie es letzte Nacht geträumt. Was Alicia im Traum gesehen hatte, lief nun Schritt für Schritt in Wirklichkeit vor ihr ab. Die ganze Woche über hatte sie geahnt, dass etwas Schlimmes passieren würde, es aber dennoch nicht verhindern können. Längst nicht alle Träume hatten vorausschauenden Charakter, das war ihr klar. Doch nun zeigte es sich, dass sie gut daran getan hatte, diesem Traum besondere Beachtung zu schenken und sich im Geiste auf das Kommende vorzubereiten. Nur so war es zu erklären, dass sie nicht völlig panisch und kopflos reagierte in Anbetracht dessen, was sich da gerade vor ihren Augen abspielte.

Die junge Studentin hatte sich mittlerweile unauffällig in eine Nische zurückgezogen und war offenbar noch nicht entdeckt worden. Ängstlich hielt sie den Atem an, als der Lesesaal sich immer mehr leerte. Nur noch einer der eindrucksvollen Flugdrachen zog seine Kreise, suchend und witternd. Wenn er nahe an Alicias Versteck vorbeikam, konnte sie sein Gefieder aus der Nähe bestaunen. Es schillerte in allen Regenbogenfarben trotz des grauen Dämmerlichts, das alle anderen Farben verschluckte.

Der urzeitliche Riesenvogel suchte nach ihr, soviel war sicher! Dass er sie bislang noch nicht entdeckt hatte, war nur der Tatsache zu verdanken, dass sie frühzeitig auf die Gefahr aufmerksam geworden war und sich mucksmäuschenstill verhielt. Sie sah die ausgefahrenen Krallen und den scharfen Schnabel aus der Nähe, sobald die urwüchsige Kreatur dicht an ihrem Versteck vorbei flog. Es kostete sie jedes Mal enorme Überwindung, sich nicht durch hastige Bewegungen oder heftiges Atmen zu verraten.

Alicia zog sich vorsichtig immer weiter zurück, um der Gefahrenzone zu entkommen. Sie hatte vor, koste es was es wolle, in eine andere Abteilung zu gelangen, weg von der akuten Bedrohung hier Saal. Daher hastete sie blindlings durch das Labyrinth der Bücherregale. Unvermutet stand sie plötzlich vor einer Bücherwand, die ihr vorher noch nicht aufgefallen war. Sie war hinter einer Leiter auf Rollen, über die man die oberen Regalfächer erreichen konnte, verborgen gewesen. Irritiert schaute die Studentin sich um. Sie war nicht zum ersten Mal hier und sicher, diese Wand noch nie zuvor gesehen zu haben. Das massive Regal versperrte ihr den Durchgang, was in dieser Situation höchst unangenehm war. Zum Glück konnte sie dort, wo sie sich befand, von außen nicht gesehen werden

Unsicher ging sie näher an das ominöse Regal heran. Da fiel ihr ein kleines Schild ins Auge mit der Aufschrift: Hier ist der Eingang. Das wurde ja immer sonderbarer. Wo kam das Schild auf einmal her? Auch stand auf einem der Regalbretter seltsamerweise ein Stundenglas, das hier fehl völlig am Platze schien.

Die Studentin tastete an dem Bücherbord entlang, doch nichts geschah. Entmutigt lehnte sie sich gegen das massive Gestell, als sie plötzlich eine Bewegung bemerkte. Das Regal bewegte sich! Wie konnte das geschehen? Alicia rückte ein Stück davon ab und betrachtete die geheimnisvolle Wand genauer. Sie unterschied sich in keiner Weise von den anderen Regalwänden, die es hier zu Hunderten gab. Nur dass sie da, wo sie stand, nicht hingehörte!

Plötzlich war gedämpftes Donnergrollen zu hören, das nichts Gutes verhieß. Bei allen Heiligen, was wurde hier gespielt? Die Studentin fragte sich langsam, ob dies alles nur ein seltsamer Traum war? Es gab luzide Träume, die leicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden konnten. Doch hier wirkte alles so echt und real, wie es nur sein konnte.

Nein, dies war keineswegs ein Traum und auch keine Einbildung. Was war es dann? Hatte sich die Wand nicht gerade eben bewegt? Mehrmals drückte die Studentin mit aller Kraft gegen das schwere Holzregal und wieder geschah rein gar nichts. Dann nahm sie sich die andere Seite vor und verstärkte stufenweise den Druck. Da, wieder eine Bewegung! Alicia schaute sich angespannt um, ob vielleicht eines der Drachenwesen sie heimlich beobachtete und nur darauf wartete, zuzuschnappen. Doch da war nichts. Es war merkwürdig still geworden; Friedhofsruhe, wie sie fand.

Sie wandte sich wieder der Wand zu. Nach hartnäckiger Suche hatte sie die Stelle entdeckt, die das Regal in Bewegung setzte. Nun wollte sie es genau wissen. Beharrlich stemmte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das sperrige Gestell, das ihr immer noch Widerstand entgegensetzte, fast so, als wollte es sie vor derartigen Versuchen warnen. Doch sie hatte keine Wahl, sie musste hier raus! Dieser Gedanke spornte sie an und sie wandte all ihre Kraft auf – bis die Wand mitsamt den Büchern nach hinten schwang. Endlich!

Hinter der Tür

In dem Moment, als sich das Regal bewegte, durchfuhr es Alicia wie ein elektrischer Schlag. Die Umgebung begann eigenartig fluoreszierend zu leuchten und die Atmosphäre schien seltsam verdichtet, während das Licht langsam schwächer wurde. Seltsamerweise empfand die Studentin keine Angst, sondern vielmehr Neugierde, wohin sie das alles führen würde.

Da bemerkte sie etwas Eigenartiges. Für den Bruchteil einer Sekunde kam es ihr so vor, als ob die Umgebung teilweise nur aus Bühnenbildern bestand, die sich miteinander abwechselten. Das verwirrte sie und sie fragte sich, ob sie ihrer Wahrnehmung noch trauen konnte? Auch ergriff die merkwürdige Empfindung, jemand anderes zu sein, Besitz von ihr. Es fühlte sich so an, als wäre sie in einen anderen Körper versetzt worden, den sie erst nach und nach verstehen konnte. Ihr wurde schwindlig. Vor ihren Augen bewegte sich die Luft und sie nahm verschwommene, schemenhafte Gebilde wahr. Offensichtlich war sie in den Einfluss einer Sphäre geraten, von deren Existenz sie bislang nichts wusste. Warum hatte es sie hierher verschlagen? Das musste einen Grund haben, denn nichts geschah schließlich ohne Sinn.

Plötzlich wurde Alicia der Boden unter den Füßen weggezogen und sie spürte, dass sie fiel. Krampfhaft vermied sie es, nach unten zu blicken und hoffte inständig, nicht mitten im Nichts zu landen. Auf einmal war ihr Bewusstsein ausgeschaltet und ihr Unterbewusstsein schob sich in den Vordergrund. Es gab kein Oben und kein Unten mehr; alle Fixpunkte waren aufgehoben.

Ein schwarzes Loch gähnte Alicia entgegen. Sie wunderte sich, dass sie nicht ihr Leben in bunten Bildern vorbeiziehen sah. Im ersten Moment war sie fast enttäuscht. Doch was hatte sie erwartet? Zögerlich näherte sie sich dem dunklen Nichts, als sie plötzlich von einem Sog erfasst wurde. Erschrocken leistete sie im ersten Moment Widerstand, doch gegen das hartnäckige Ziehen kam sie nicht an. Der Sog erfasste sie mit immenser Kraft und sie driftete hinein in einen dunklen Raum.

Ihr war, als flöge sie durch dunkle Wolkenfelder, die sich vor ihr teilten und seitlich auswichen. Dann bewegte sie sich durch seltsame, undefinierbare Räume. Ständig durchdrangen und überschnitten sich neue Bilder und Szenen. Häuser schwebten durch die Luft, in Fragmente zergliedert. Alle Dinge befanden sich in ständiger Bewegung. Der Himmel über einem Gebirgstal erschien seltsam kulissenhaft. Es schien fast so, als würde es dahinter keinen Raum geben. Da keine erkennbare Lichtquelle vorhanden war, wurden auch keine Schatten sichtbar. Alle Dinge schienen selbst aus farbigem Licht geformt zu sein. Die anwesenden Gestalten aber waren seltsame Mischformen, so als wären sie aus mehrere Arten zusammengesetzt.

Alle Erscheinungen und Dinge dieser Landschaft wurden aus Astrallicht gebildet. Die Bewohner dort lebten im ewigen Jetzt, ohne sich an irgendwelche Einzelheiten aus der Vergangenheit zu erinnern. Alicia war nicht klar, woher dieses Wissen plötzlich kam. Sie schwebte dicht über dem Boden dahin und spürte eine gehobene und fröhliche Stimmung, die hier vorherrschte. Das sonnige Tal, durch das sie flog, schien von innen heraus zu leuchten.

Sie schwebte durch den Raum und verlor dabei nach und nach ihre äußere Form. Ihre Konturen schmolzen dahin in rhythmischer Bewegung. Vom Wind verwehte, luftige, durchsichtige Schleier umgaben sie. Obwohl sie ihre Form verloren hatte, war ihr Bewusstsein klar und hell. Hier in der unsichtbaren Welt gab es keine Verschiedenheit, keine Trennung, keine Handlung und keine Reaktion. Alicias luftiges Ich lebte allein in Gedanken.

Es schien fast so, als wäre die visionäre Schau aller Dinge und Welten ein großes Spiel. Riesige Raumwürfel tauchten von Irgendwoher auf, die sich gegenseitig durchdrangen und grandiose Bilderwelten in sich bargen. Einen genauen Standpunkt inmitten dieses kubischen Gemäldes auszumachen, war unmöglich. Die Orientierung ging verloren. Oben und Unten, Nähe und Ferne wurden unbestimmbar. Die auf sie einstürmende Bilderflut erinnerte Alicia an moderne Maler, die versucht hatten, kosmische Welten und Räume in bildhafter Form festzuhalten und anschaulich darzustellen. Worte kamen ihr in den Sinn: ‚Ein unsterblicher milliardenfacher Geist’.

Die Visionen verblassten nach und nach und es wurde finster. Alicia wusste nicht mehr, welche Ausdehnung ihre Umgebung hatte. Sie konnte nicht unterscheiden, ob sie winzig klein war und der Raum riesengroß oder ob sie selbst groß war und der Raum überdimensionale Ausmaße hatte.

Dann hatte sie das Empfinden, in einer großen Flasche zu sitzen, einem bauchigen Glasbehälter mit langem, schmalem Hals. Ihre Augen wurden immer größer, während der Körper klein blieb. Sie fühlte sich als Käfer, der über sich den Flaschenhals aufragen sah. Plötzlich schien alles durcheinander zu wirbeln und Licht und Farben ineinander zu verschmelzen. Urplötzlich befand sie sich außerhalb des engen Behältnisses und schwebte in gleitender Bewegung dahin. ‚Angst vor dem Alleinsein im Kosmos, wie auf dunklem Felde’, dachte sie. Ein tosendes Geräusch wie von einer unbekannten Brandung drang an ihre Ohren. Das Wasser, in das sie eintauchte, war erfüllt von seltsamen Gestalten, die – in andauernder Bewegung – zu zerfließenden Wasserkreisen wurden. Unvermittelt tauchte sie wieder empor.

„Du ahnst, wer du bist, aber manchmal weißt du es nicht“, sagte eine sanfte Stimme, die sie – entgegen den bekannten Naturgesetzen – verstehen konnte.

„Was geschieht hier mit mir?“ fragte Alicia verwundert.

„Es ist alles sehr kompliziert. Ich werde versuchen, es dir zu erklären. Aber nicht in diesem Moment, an diesem Ort“, antwortete die Stimme.

Alicia stellte keine weiteren Fragen, denn sie sah ein, dass es Dinge außerhalb der bekannten Naturgesetze der Welt gab, die man nicht ohne weiteres mit Worten beschreiben konnte. Die Dunkelheit um sie herum pulsierte, als würde sie atmen. Das Dunkel wurde nach und nach transparent, als ob unsichtbare, geheimnisvolle Lichtquellen zum Leuchten angeregt würden. Die junge Frau stand genau an der Grenze zwischen Licht und Dunkel. Sie nahm ganz deutlich den Übergang von der Schwärze ins Licht wahr.

Auf einmal war gleißende Helligkeit um sie. Wie eine Fontäne brach die Lichtflut aus dem Boden und umströmte sie als funkelnder Wasserfall. Was für ein Strahlen! Im nächsten Moment meinte sie, mitten in den Glutball der Sonne zu stürzen. Die Welt explodierte einer Supernova gleich in Millionen winzige leuchtende Splitter. Eine plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Schock: Erfahrungen, die sie in diesen Minuten machte, stellten alles, was sie bisher erlebt und gedacht hatte, auf den Kopf.

Der gesamte Raum war in ein goldenes Licht getaucht. Das Bewusstsein, dass sie hier in Sicherheit war, erfüllte Alicia. Große Ruhe und Zufriedenheit überkam sie. Dieser Ort war dunklen Mächten nicht zugänglich. Kurze, fragmentarische Einblicke in fremde Bereiche wechselten sich ab, bis sich eine neue Szenerie vor ihr auftat: Eine malerische Landschaft mit weiten grünen Wiesen und Gebirgsketten, deren hohe felsige Gipfeln den Horizont begrenzten. Blumen in hellen, schillernden Farben sprenkelten die Landschaft. Alles war von einem sanften Leuchten überzogen und strahlte Ruhe und Frieden aus.

Hier gab es keine Grenzen, keine Rätsel und Geheimnisse, alles lag offen zutage. Hunderte Fragen geisterten durch Alicias Kopf, und diese wurden im gleichen Moment beantwortet. In den Sekunden des mühelosen Schwebens glaubte sie, die Geheimnisse von Leben und Tod zu enträtseln und den Aufbau des Universums begriffen zu haben. Der tiefere Sinn des Daseins ging ihr auf. Die Welt, in der sie sich befand, war die grenzenlose Welt des Geistes. Dennoch gab es auch hier Regeln, die zu beachten waren: Die Gaben der Weisheit und Kraft, die jemand erhielt, mussten mit der Mitwelt geteilt werden.

Unvermittelt wurde Alicia erneut von Dunkelheit umhüllt und ihr schwanden die Sinne. Erst langsam und allmählich kehrte ihr Bewusstsein zurück. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt, so als ob sie noch immer frei schweben würde. Es war ein angenehmes Gefühl, obwohl sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Vergangenheit und Zukunft schienen nicht zu existieren und selbst die Gegenwart fühlte sich schwammig an. Nichts war mehr wirklich wichtig. Sich einfach treiben lassen im Hier und Jetzt, bis dorthin, wo Raum und Zeit sich auflösten.

Als sie endlich die Augen öffnete, starrte sie ungläubig an die Zimmerdecke. Sie war bei sich daheim!

Verdächtige Schatten

In den vergangenen Nächten hatte Alicia kaum ein Auge zugetan. Alle zwei Stunden war sie aus diffusen Alpträumen aufgeschreckt. Das Unbehagen, das dadurch hervorgerufen wurde, begleitete sie den ganzen Tag über. Sie fühlte sich eigenartig bedrückt und ahnte, dass etwas mit ihr geschehen war – und konnte doch nicht sagen, worum es sich dabei handelte. Aber zumindest war ihr nicht die Fähigkeit abhanden gekommen, eine Gefahr als solche zu erkennen und sich darauf einzustellen. Doch vielleicht entsprach alles, was sie in dem tranceähnlichen Zustand in der Bibliothek erlebt hatte, nicht der Wirklichkeit. Es konnte doch einfach nicht wahr sein, oder doch?

So nervös und unruhig wie sie war, rechnete Alicia jeden Moment damit, irgendwelchen Spukgeistern, Phantomen oder fliegenden Ungeheuern zu begegnen. Tatsächlich erblickte sie hin und wieder vor ihrem geistigen Auge die dunklen, geflügelten Kreaturen, die auf mysteriöse Weise in die Bibliothek eingedrungen waren. Erst wenige Tage lagen die beklemmenden Ereignisse zurück, bei denen Studenten spurlos verschwunden waren. Die junge Frau musste sich eingestehen: Alles, was sie bisher für unmöglich gehalten hatte, war auf einmal in den Bereich des Vorstellbaren gerückt. Sie sah plötzlich die Welt aus einem anderen Blickwinkel.

Ohne Zweifel war dies ein Wendepunkt in ihrem Leben; plötzlich war alles anders. Es war, als hätte sich eine ganz neue Wirklichkeit vor ihr aufgetan, die sie dazu einlud, unbekanntes Terrain zu erkunden. Doch die Ratlosigkeit und Verwirrung, die sie fühlte, verunsicherten sie zutiefst. Ihr war zumute, als hätten sich die Grenzen zwischen Raum und Zeit verschoben, als befände sie sich nicht mehr in der Welt, die sie kannte. Sie wusste nicht mehr genau, was Traum und was Wirklichkeit war. Vielleicht war sie in eine andere Zeit geschleudert worden? Diese Vorstellung war in hohem Maße beängstigend. Alicia hatte das Gefühl, im wahrsten Sinne des Wortes in einen Strudel gerissen worden zu sein, von dem sie nicht wusste, wohin er sie zog.

Einerseits atmete sie auf, weil scheinbar alles wieder seinen gewohnten Gang ging, andererseits fragte sie sich: Was stimmte nicht mit ihr? Ihr Ich-Bewusstsein war seltsam gelockert und aufnahmefähig für Bilder und Eindrücke, von denen sie nicht wusste, ob sie diese nur träumte. Ein inneres Gespür warnte sie vor bestimmten Dingen, die aber nicht zwangsläufig übernatürlicher Natur waren. Vielleicht sollte sie über die Ereignisse mit jemandem reden, auch wenn derjenige sie für verrückt erklären würde? Die Dinge, die sie beschrieb, waren ja beweisbar; sie hatten ihre Spuren hinterlassen. ‚Das ist alles real, ich bin nicht geisteskrank’, sagte sie zu sich selbst. Sie war lediglich verwirrt, weil ihr Gehirn in so kurzer Zeit so viele neue Informationen verarbeiten musste. Alicia versuchte, die wirren Gedanken loszuwerden, die sie bedrängten, aber sie kamen immer wieder, so als ob sie in einer Bahn um sie kreisten.

Verstohlen sah sie sich auf der Straße um. Es wurde bereits dunkel und man konnte nie wissen, wer gerade zu dieser Stunde unterwegs war. Sie war auf dem Weg zu ihrer Freundin Sina. Hin und wieder war es ihr, als hörte sie ein leises Rascheln hinter sich, das jedoch immer dann, wenn sie stehen blieb, verstummte. Zahlreiche Äste ragten auf den Weg hinaus, so als wollten sie nach ihr greifen. Alicia schob sie beiseite und war bemüht, nicht über zerbrochenen Steinplatten zu stolpern. Ein kühler Wind wehte ihr um den Kopf und wirbelte trockene Blätter auf.

Die meiste Zeit über war sie damit beschäftigt, Leute, die in ihre Nähe kamen, misstrauisch zu taxieren. Jeder von ihnen konnte ein verkappter Gewalttäter sein und sie plötzlich angreifen, sie eine Treppe hinunter stoßen oder entführen! Immer neue Methoden fielen ihr ein, wie jemand sie um die Ecke bringen könnte. Das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, ergriff Besitz von ihr. Vielleicht machten dunkle Mächte Jagd auf sie und warteten nur den geeigneten Moment ab, um sie in eine unbekannte Welt zu entführen, aus der es kein Zurück mehr gab! Unsichtbare Augen verfolgten jeden ihrer Schritte. Vermutlich wurde sie heimlich beschattet und ihre Verfolger amüsierten sich hinter ihrem Rücken darüber, wenn sie bei jeder Gelegenheit zusammen schrak und sich umsah, um nach Feinden Ausschau zu halten.

Die junge Studentin fürchtete sich vor dem, was ihr als nächstem begegnen könnte. Zweimal hielt sie inne, weil sie sich in den engen Gassen der Stadt verlaufen hatte. Auf ihren Orientierungssinn war kein Verlass. Ein kühler Luftzug streifte sie und sie hatte den Eindruck, dass etwas in der Luft lag, doch was es war, vermochte sie nicht zu sagen.

Auf einem der kahlen Bäume entdeckte sie einen schwarzen Vogel. Kurz vorher war er noch nicht dagewesen, da war sie sich ganz sicher. Unheil verkündend saß er da. ‚Eine Krähe – kein gutes Omen’, sagte sich Alicia. ‚Es bedeutet, das mein Leben auf eine gewaltige Krise zusteuert’. Sie hielt inne und holte tief Luft. Was war denn nur los mit ihr? Ein Krähenvogel auf einem Baum und schon war sie voll böser Vorahnungen! Es stimmte schon: Wenn man nach dunklen Vorzeichen Ausschau hielt, entdeckte man sie überall. Und jedes schwarze Federvieh, das des Weges flog, stand in Verdacht, ein Unglücksrabe zu sein. Höchstwahrscheinlich wäre es für ihre geistige Gesundheit besser, wenn sie nicht überall Gefahren witterte. Schließlich steckten nicht hinter jedem absonderlichen Ereignis dämonische Aktivitäten. Der Vogel schwang sich auf einmal wie eine riesige Fledermaus empor und zog über ihr mit schrillen Schreien immer enger werdende Kreise. Das war nun doch unheimlich.

Schließlich gelang es Alicia, die lästigen Gedanken, die ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit erforderten, fürs erste beiseite zu schieben. Gerade als sie sich entspannte, hörte sie erneut ein Rascheln. Es klang wie ein rhythmisches Knacken, so als ob jemand neben ihr über trockene Zweige schlich. Sekundenlang bildete sie sich ein, von einem riesigen, schlangeförmigen Ungetüm verfolgt zu werden, das sie überholte und sich ihr drohend entgegenstellte. Doch als sie sich getraute, genauer hinzusehen, war da nur der Schatten eines Fahrzeugs, das am Straßenrand abgestellt war.

Als sie weiterging, nahmen die Straßen, Plätze und Häuser für einige Augenblicke die Form und Farbe bleicher Knochen an. Alicia konnte jede Einzelheit dieser seltsamen Umgebung klar erkennen. Und was war das? Aus dem Lichtkegel einer Straßenlaterne schien sich plötzlich ein Drachenkopf zu formen, der blitzartig vorschnellte in Alicia Richtung. Dabei riss er sein Maul weit auf! Dem Mädchen blieb keine Zeit, um zu reagieren, da zerstob das reptilartige Scheusal auch schon in abertausende Funken. Sie begann zu zittern und rannte auf die andere Straßenseite, um der gefährlichen Lichtquelle zu entkommen. Litt sie etwa unter Sinnestäuschungen infolge des Traumas, das sie in der Bibliothek erlebt hatte?

‚Es gibt nichts, was nicht durch völlige Unzurechnungsfähigkeit zu erklären wäre’, dachte sie sarkastisch und überlegte, ob der Rest ihres Lebens – nachdem sie eindeutig nicht mehr bei Sinnen war – jetzt immer nach diesem Muster ablaufen würde. Oder ob Freunde irgendwann dafür sorgen würden, dass sie die notwendige Hilfe bekam, falls die Situation außer Kontrolle geriet. Früher hatte sie einmal gedacht, dass ihr Leben nicht noch absonderlicher werden konnte. Das war ein Irrtum. Sie hatte keine Ahnung, was da in der Bibliothek vorgefallen war, mal abgesehen davon, dass so etwas gemeinhin nur in abnormen Vorstellungen existierte. In den Stunden des Wahnsinns, so sagte man, zwang ein unsichtbarer, alles kontrollierender Geist sein Opfer zu den unsinnigsten Taten. So oder ähnlich hatte sie es jedenfalls gehört.

Sie wagte jetzt kaum noch, ihre Blicke nach links und rechts zu wenden, sondern schaute stur geradeaus in der Hoffnung, von weiteren Schreckensbildern verschont zu bleiben. Als die Umgebung wieder ihr gewohntes Aussehen angenommen hatte, atmete sie erleichtert auf. Die frische Luft weckte ihre Lebensgeister und ließ sie die Dinge klarer sehen.

‚Schluss mit den Grübeleien, die zu nichts führen’, rief sie sich zu. ‚Es wird Zeit, dein Leben wieder in den Griff zu kriegen.’ Sie wandte den Blick nach oben und sah in der endlosen Weite des Firmaments unzählige Sterne blinken. Angespannt schaute sie in den Himmel, so als würde sie dort Antworten auf alle ihre Fragen finden. Vor ihren Augen kreiste das ganze Sternenzelt, so zumindest schien es ihr. Das Licht verbreitete sich fächerartig. Der nächtliche Sternenmantel ließ Gedanken an die Erhabenheit des Todesengels in ihr aufkommen. Zu allen Zeiten hatten die Menschen den Gestirnen einen besonderen Einfluss auf ihr Schicksal zugeschrieben. Dafür brauchten sie keine Beweise – sie wussten es einfach.

Wenn Alicia hinaufsah, fand sie unter all’ den abertausend funkelnden Lichtpunkten auf Anhieb einen bestimmten Stern. Er schien stillzustehen und besonders hell zu strahlen. Sie war überzeugt, dass es ihr Leitstern war, der sie beschützte und dem sie vertraute. Der helle Punkt am Nachthimmel übte eine unvergleichliche Anziehung auf sie aus, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie fragte sich, ob sie diesen fernen Ort von früher her kannte; ob sie dort schon einmal in früheren Zeiten existiert hatte?

Wenn sie ihre Sinne ausschließlich auf diesen einen hellen Stern konzentrierte, dann kam es ihr manchmal so vor, als ob er immer größer würde und das Licht der anderen Sterne verschluckte. Hell leuchtend überstrahlte er die ganze Umgebung und tauchte Alicia in ein Licht, das sie gänzlich einhüllte. Das waren unwiederbringliche Momente des Glücks und der Eintracht. Manchmal wünschte sie sich weit weg, auf jenen anderen Stern, der womöglich ihr Zuhause war. Vielleicht hatte sie einen Ruf vernommen, der sie in unbekannte Fernen lockte. Wer konnte das wissen? Doch vielleicht handelte es sich auch nur um einen Wunschtraum.

Besuch bei Sina

Alicia hoffte inständig, ihre Freundin Sina anzutreffen. Sie hatte sich vorgenommen, sie ins Vertrauen zu ziehen und ihr zu berichten, was sich im Lesesaal der Bibliothek zugetragen hatte. Mehrmals blickte sie sich um, ob ihr irgendjemand folgte. Zum Kuckuck, was war los mit ihr? Wovor hatte sie eigentlich Angst? Vor der leisen Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, dass sie übergeschnappt war? Oder weil sie in der Bibliothek eine Begegnung mit Drachenwesen hatte, die Menschen verschwinden ließen? Tatsächlich hatte der Vorfall ihr eine Heidenangst eingejagt.

Der Gedanke an ihre Freundin wirkte beruhigend auf Alicias Gemüt. Sina war zwar nicht gerade ein Genie, aber wenn jemand wusste, wie man absonderliche Situationen überstand, dann war sie es. In Wirklichkeit hieß sie Selina; zog aber die Kurzform ihres Namens vor. Sina war ein ziemlich verrücktes Huhn. Sie neigte dazu, die abenteuerlichsten Geschichten zu erzählen. Von einem Moment zum nächsten hatte sie die tollsten Ideen und behauptete Dinge, die anderen nicht mal im Traum einfielen. Manchmal fragte Alicia sich, ob nicht vieles davon frei erfunden war oder der ausufernden Phantasie ihrer Freundin entsprang. Sobald sie Sina daraufhin ansprach, beteuerte diese mit ernsthafter Miene, alles habe sich genau so abgespielt.

Endlich erblickte Alicia von weitem das Haus, in dem ihre Freundin wohnte. Als sie sich näherte, blieb sie wie angewurzelt stehen. War da nicht ein Lichtschein neben dem Haus, der früher nicht dagewesen war? Sie wagte nur zögernd, weiterzugehen. Die Umgebung wurde zu einem Gewirr von Lichtern und grotesken Schattenfiguren. Sie sah ihren eigenen Schatten, der groß, bizarr und unwirklich gegen die Hauswand fiel. Zu ihrer Erleichterung erkannte sie bald, dass die Quelle des Lichtscheins eine kleine Laterne war, die Sina an der Hauswand befestigt hatte.

Die Freundinnen waren nicht miteinander verwandt, doch aufgrund ihrer jahrelangen Freundschaft war zwischen ihnen ein enges Band geknüpft worden. Sie waren am gleichen Tag, wenn auch an verschiedenen Orten, geboren worden. Im Augenblick ihrer Geburt herrschte eine ganz bestimmte Sternenkonstellation vor. Die Ähnlichkeit ihres Naturells und ihrer Interessen war unverkennbar. Wie zwei Hälften, die durch eine glückliche Fügung des Schicksals zueinander gefunden hatten, entdeckten beide in sich ähnliche Anlagen, die ihnen anfangs allerdings nicht geheuer waren.

Ihre gemeinsamen Fähigkeiten zeigten sich darin, dass ihre Wahrnehmung geschärft war. Die Bilder und Eindrücke, die ihnen zuflossen, hielten sie anfangs für Sinnestäuschungen. Erst mit der Zeit begriffen sie, dass sie größtenteils der Wirklichkeit entsprachen. Ihre Wahrnehmung wurde noch intensiver, sobald sie sich an den Händen hielten. Der energetische Strom, der sie beide erfüllte, schloss sich im Kreis und ihre Kraft wurde potenziert. Sie begannen, ungewöhnliche Dinge zu erkennen.

Durch ihren hellsichtigen Blick bekamen sie hin und wieder eine Ahnung davon, dass sich unter die menschlichen Passanten fremde Wesen mischten, die einer anderen Daseinsebene angehörten. In letzter Zeit sprach Sina unentwegt von fliegenden Untertassen und Ufonauten, die sie angeblich mit zu sich an Bord genommen hatten. Sie war nun mal ein seltsamer Vogel. Noch vor kurzem hätte Alicia die Mehrzahl ihrer Erzählungen als Hirngespinste abgetan. Doch das hatte sich nun grundlegend geändert. Sie war nun soweit, auch die absonderlichsten Spinnereien ihrer Freundin für bare Münze zu nehmen.

So behauptete Sina zum Beispiel steif und fest, ihre Mutter wäre vor ihrer Geburt von Aliens entführt worden. Zeitlebens hatte diese nämlich ihrer Tochter erzählt, sie sei zur Hälfte ein Alien, bis Sina fast selbst daran glaubte. Doch das gab sie nicht gerne zu. Alicia hingegen vertrat die Auffassung, ihre eigenen Eltern hätten zu dem Zeitpunkt, als sie gezeugt wurde, mit Peyote-Pilzen experimentiert. Ihre Mutter hatte bei einer Gelegenheit erst auf einem Baum, den sie im Rausch erklommen hatte, wieder das Bewusstsein erlangt. Ihr Vater hingegen war tagelang in der Wüste herumgewandert, bis er wieder zur Vernunft gekommen war.

Sinas Mutter, die sich Maribelle nannte, hielt sich für eine bedeutende Schriftstellerin. Sie hatte in der Tat Bücher wie: ‚Vampire, es gibt sie!’ geschrieben. Als Alicia ihre Freundin einmal auf ihre außerirdische Verwandtschaft hin ansprach, wurde sie unter Sinas anklagendem Blick unsicher.

„Du hältst mich doch hoffentlich nicht auch für ein Alien? Ich bin wie alle menschlichen Babys zur Welt gekommen, das kannst du mir glauben!“ Bei diesen Worten schniefte sie in ihr Taschentuch.

„Entspann’ dich“, beeilte Alicia ihr zu versichern. „Niemand in diesem Raum hält dich für eine Außerirdische.“ Doch ganz sicher war sie sich nicht. In Sinas Bücherregal hatte sie einige Werke mit Titeln wie: ‚Invasoren aus dem Weltall’ und ‚Aliens in deinem Vorgarten’ entdeckt, doch ein Beweis war das noch lange nicht. Aber wenn sie ihre Freundin so ansah, fragte sich Alicia, ob an den Erzählungen nicht doch etwas dran sein könnte. Ihre grünen Augen blickten von Zeit zu Zeit sehr durchdringend und die Pupillen zogen sich manchmal in die Länge, wenn Sina angespannt war. Ihre fuchsroten Haare bildeten einen auffallenden Gegensatz zu ihrem blassen Teint. Alicia dagegen hatte glattes schwarzes Haar, das ihr lose bis auf die Schultern fiel, und blaue Augen, die manchmal etwas abwesend blickten.

„Warum um alles in der Welt interessierst du dich für Aliens?“ hatte sie eines Tages ihre Freundin gefragt. „Die verpassen einem doch nur hinterrücks lästige Implantate und Sonden, um Kontrolle über den Geist auszuüben. Wer will das schon haben?“ Von Sina kam dazu kein Kommentar. Einen Großteil ihrer Anschauungen bezog sie aus Fantasy-Filmen, und Liebesromane hielt sie für große Literatur. Doch sie war neben Vincent, den Alicia von der Universität her kannte, der einzige Mensch, mit dem sie sich enger verbunden fühlte. Sina war lebenslustig, überall beliebt und fand schnell Anschluss bei anderen, auch wenn sie diese erst kurze Zeit kannte. Diese Eigenschaft bewunderte Alicia. Ihr selbst fiel es nicht so leicht, unbekümmert Kontakte zu schließen.

In jungen Jahren hatten die Freundinnen eine Geheimsprache entwickelt, einen Code, bei dem sie das genaue Gegenteil von dem meinten, was sie dem anderen mitteilen wollten. Sagten sie bspw.: „Das Wetter ist schön und mir geht es super“, war die wahrheitsgetreue Aussage: „Es regnet in Strömen und die Langeweile frisst mich auf.“ Schon als Jugendliche hatten sie den Geheimcode entwickelt, um Erwachsene, die sich in alles einmischten, in die Irre zu führen. Dieses Training kam ihnen auch später noch zugute. Allerdings wandten sie die Tarnung nur zu besonderen Anlässen an.

Alicia fragte sich, was ihre Freundin, die wie sie an der Universität studierte, wohl gerade so trieb. Sie wusste, dass Sina viel von zu Hause aus arbeitete. Zumindest tat sie so. Sie hatte Seminare gewählt mit den Themen: ‚Entfernte Verwandte aus dem Weltall’ und ‚Verheimlichte Ufo-Sichtungen’, was bei ihrer Herkunft nicht verwunderte. Darüber hinaus beschäftigte sie sich mit der Lehre vom Überleben im Hyper-Raum, was auch immer damit gemeint war. In den Universitätsräumen war sie eher selten anzutreffen. Vielleicht würde sich das von nun an ändern?

Vermutlich war es nicht gerade klug, andere an seinen ausgefallenen Problemen teilhaben zu lassen, sagte sich Alicia. Dennoch hatte sie ihre Freundin angerufen und ein Treffen mit ihr vereinbart. Sina fand, dass sie dabei ausgesprochen merkwürdig geklungen hatte. Den ganzen Vormittag über hatte sie Zeit gehabt, sich mit der Tatsache zu befassen, dass ihre Freundin Alicia entweder Drogen nahm oder unter einer Psychose litt. Doch als sie ihr nun gegenüberstand, war der Freundin keines von beidem anzumerken. Sie wirkte auch nicht übergeschnappt. Dennoch fragte Sina sofort, als sie die Tür öffnete:

„Alles in Ordnung bei dir?“ Sie musterte ihre Freundin nachdenklich, als wollte sie mit einem Blick herausfinden, was ihr gerade im Kopf herumspukte.

„Das kann ich noch nicht sagen.“ Alicias Stimme klang unsicher. Sina warf ihr einen seltsamen Blick zu.

„Aber… es geht dir doch gut?“

„Nein, mir geht es überhaupt nicht gut. Ich bin so weit davon entfernt, wie man nur sein kann, wenn man nicht schon tot ist.“ Dann erzählte Alicia ihrer Freundin in Windeseile, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte. Sina starrte sie an, als käme sie von einem anderen Stern.

„Was erzählst du da? Du weißt schon, dass Drachen in die Kategorie Ammenmärchen gehören? Manche Leute können gewisse Dinge nicht auseinander halten; auch mir passiert das manchmal. Ehrlich, ich mache mir langsam Sorgen um dich. Als erstes besorge ich dir einen guten Seelenklempner, so bald es geht.“ Im Stillen fürchtete Sina, dass sie momentan mit Vernunft und Logik nicht weit kommen würde.

„Manchmal kann ich dich nicht ausstehen!“ rief Alicia. „Ich werde vielleicht eine Freundin weniger haben, bevor der Tag zu Ende geht.“ Sie verkniff sich die Frage nach Flugreisen mit Leuten, die behaupteten, ihr Fluggerät sei ein Ufo. War ihre Freundin plötzlich in etwas anderes verwandelt worden, möglicherweise auf einer dieser seltsamen Flugreisen? Nicht einmal Sina, die selbst die haarsträubendsten Geschichten erzählte, glaubte ihr! Und diese setzte sogar noch eins drauf:

„Gab es bei dir in der Familie Fälle von Paranoia oder Ähnliches?“ fragte sie ironisch. Alicia verschränkte ihre Arme auf dem Tisch und legte ihren Kopf darauf.

„Ach, was soll’s, ich werde sowieso bald abgeholt.“

„Was meinst du damit?“ Sina klang jetzt ernsthaft besorgt.

„Von den Männern in den weißen Kitteln – willst du mitkommen?“

„Jetzt red’ keinen Blödsinn, ich habe das nicht ernst gemeint“, wies sie ihre Freundin zurecht. „Das Leben stellt einem viele Fragen. Und weil ich ein unverbesserlicher Optimist bin, glaube ich fast alles, was man mir sagt. Aber das…“

„Die Sache mit den fliegenden Drachen war nur zum Aufwärmen“, fuhr Alicia fort. Das hatte sie keineswegs als Scherz gemeint, doch Sina lachte laut auf. Hastig erzählte Alicia ihr, was sich weiter in der Bibliothek zugetragen hatte. Diese neuerliche Entwicklung wollte Sina überhaupt nicht in den Kopf. War das nicht eine hochgradig abnorme Fähigkeit, einfach so durch eine Bücherwand zu verschwinden? Ausgerechnet für jemanden, der weder an Geister noch an Ufos glaubte? Was, wenn ihre Freundin sich das alles nur eingebildet hatte und alles eine phantastische Erfindung war? Vielleicht steckte reines Wunschdenken dahinter, damit sich einmal im Leben etwas Außergewöhnliches ereignete.

Trotz ihrer Zweifel sog Sina den Bericht ihrer Freundin begierig in sich auf. Ihre blühende Fantasie war immer bereit, sich mit den verrücktesten Dingen zu beschäftigen und diese für möglich zu halten.

„Na gut, lass uns mal überlegen…“ Sie kniff ein Auge zu. „Du behauptest also allen Ernstes, fliegende Drachen gesehen zu haben?“ Alicia nickte wortlos. Sie schloss für einen Moment die Augen und wünschte sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen bis zu jenem Augenblick in der Bibliothek, als es dunkel wurde.

„Bist du nicht halb wahnsinnig vor Angst, nach alldem, was dort passiert ist?“ wollte Sina wissen.

„Sei nicht albern“, entgegnete Alicia mürrisch. „Ich bin schließlich kein Kind mehr. Ich habe nur Angst vor einem grässlichen Kater am nächsten Morgen, wenn ich abends zuviel getrunken habe.“

„Das sah vorhin aber ganz anders aus.“ Sina hatte Recht. Nicht in ihren wildesten Träumen hatte Alicia damit gerechnet, dass ausgerechnet sie Zeuge derart beängstigender Ereignisse werden würde. Da ging irgendetwas äußerst Merkwürdiges vor sich, das musste selbst sie einräumen. Sie zermarterte sich den Kopf darüber, was um alles in der Welt auf einmal los war.

„Ich werde mir eine Lanze besorgen wie seinerzeit der heilige Georg, und den Kampf mit den Drachen aufnehmen. Ich bin gerade in der richtigen Stimmung“, erklärte Alicia streitlustig. Sie fühlte sich gewappnet und bereit zum Gefecht. Jetzt musste sich der Gegner nur noch zeigen. Sina hatte währenddessen eine resignierte Miene aufgesetzt.

„Wieso passiert mir das alles?“ Alicia sah Sinas bekümmert an.

„Du stellst nicht die richtigen Fragen“, entgegnete diese kurz angebunden.

„Ich habe halt schon länger nicht mehr mit einem Alien geplaudert, deshalb bin ich nicht auf dem Laufenden“, entgegnete Alicia bissig. Sinas grüne Augen funkelten sie an. Sie schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken.

„Du brauchst mir ja nicht zu helfen, aber ab und zu ein Rat von deiner Seite würde dich nicht umbringen“, murrte Alicia griesgrämig. Deutliches Unbehagen stand Sina ins Gesicht geschrieben. Sie gab keine Antwort. Alicias Gefühle, die sie normalerweise gut unter Kontrolle hatte, flammten unvermittelt auf. Doch im Grunde hatte ihre Freundin ja Recht. Ein bisschen mehr Gelassenheit würde ihr dabei helfen, die nächsten Tage zu überstehen.

Am besten, sie verschob komplizierte Überlegungen auf den nächsten Morgen, wenn sie wieder bei Besinnung war und nicht ständig in nutzlosen Grübeleien versank. Sobald sie in aller Ruhe über die Ereignisse nachdachte, würde gleich alles viel klarer werden.

Gregor, der Geisterjäger

Die Freundinnen begaben sich ins Wohnzimmer. Dort angekommen, sank Alicia erschöpft auf den ersten besten Sessel. Ihr Kleid verschmolz optisch so perfekt mit dem Muster des Möbels, dass man sie kaum auseinander halten konnte.

Sina hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als ihrer Freundin von einer neuen Eroberung zu erzählen. Der Auserwählte kannte sich mit Spukorten aus und organisierte regelmäßig Fahrten zu allen möglichen geheimnisumwitterten Plätzen. Er kannte jede halb verfallene Ruine; keine altertümliche Burg, in der es angeblich spukte, war vor ihm sicher. Auf einer dieser Exkursionen war Sina ihm begegnet.

Sie hatte ihn erst vor kurzem kennen gelernt, ungeachtet der Tatsache, dass sie derzeit noch mit einem anderen liiert war. Sina hatte eine Schwäche für attraktive Männer und verliebte sich oft. Ihr neuer Schwarm hieß Gregor. Seitdem sie ihm begegnet war, hatte sie ihr T-Shirt mit der Aufschrift: ‚Irre sind männlich’ gegen etwas weniger Provokantes eingetauscht.

Sinas Freund ging oft auf Fährtensuche und erzählte ihr von allen möglichen ungewöhnlichen Begegnungen an ausgewählten Plätzen und in alten Gemäuern. Erst vor kurzem war er auf Geisterjagd in Schottland gewesen und Sina hatte ihn dorthin begleitet. Dort hatte sich kein einziger Geist blicken lassen, was sie außerordentlich verstimmt hatte.

„Geister können nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden“, hatte Gregor sich ereifert. „Sie treten halt nicht gern in Gegenwart von Zweiflern und Skeptikern in Erscheinung.“

„Ich verlange doch nur, dass jemand, der behauptet, es spuke irgendwo, auch einen echten Geist vorzeigen kann“, hatte Sina missgelaunt erwidert.

Gregor hatte ausgefallene Interessen, das hatte sie schnell erkannt. Was er so alles an merkwürdigen Büchern und Schriften zusammentrug, könnte ganze Bibliotheken füllen. Manchmal verbarrikadierte er sich tagelang in seiner Wohnung, nahm keine Anrufe entgegen und empfing keine Besucher. Etwas hatte ihn dann in seinen Bann gezogen, das er mit gewöhnlichen Leuten nicht erörtern wollte. Sina ging das sehr gegen den Strich und es blieb abzuwarten, in welche Richtung ihre Beziehung sich entwickeln würde.

„Gregor, was für ein hübscher Name. Ich hatte mal einen Kater, der so hieß“, lästerte Alicia.

„Ich glaube, Gregor ist etwas Besonderes, einer, der die Mühe lohnt. Aber momentan läuft es nicht so gut, musst du wissen“, entgegnete Sina. Es gab auf der Welt Dinge, die wenig Aussicht auf Erfolg hatten. Eines davon war Sinas Liebesleben.

„Ich kann dir nur raten, die Sache zwischen euch in Ordnung zu bringen“, meinte Alicia. „Sonst wirst du es bis in alle Ewigkeit bereuen.“

„Ich werde daran arbeiten“, versprach Sina. „Du mischt dich aber nicht ein, oder?“

„Natürlich werde ich das! Was wäre das Leben ohne ein bisschen Aufregung?“ scherzte Alicia. Sina kniff sie in den Arm.

„Gott steh’ dir bei, tu das bloß nicht!“ Plötzlich sprang sie auf mit den Worten: „Wie wäre es mit ein bisschen Abwechslung? Wir sollen irgendwo hingehen und Spaß haben!“

Sie war manchmal wie ein Wirbelwind, der Alicia mit sich zog. Hinter ihrer nervigen Hyperaktivität steckte eine zu allen möglichen Späßen aufgelegte Frohnatur. Das war einer der Gründe, weshalb Alicia sie mochte, auch wenn sie manchmal die absolute Nervensäge war. Insgeheim nahm sie sich vor, auf alles gefasst zu sein, ganz gleich, wie merkwürdig sich ihre Freundin auch benahm.

Auf dem Weg zur Eisdiele umarmte Sina sie plötzlich, ehe Alicia protestieren konnte.

„Womit habe ich das verdient?“ fragte Alicia, erfreut über die unerwartete Geste.

„Mir war einfach danach.“ Sina lächelte strahlend. Da begann etwas in ihrer Aura in den schillerndsten Farben zu leuchten; Wirbel von Grün und Blau vermischten sich mit Rosa. Es war ein einzigartiger Anblick. Alicia zog nun ihrerseits Sina an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sina blickte sie überrascht an.

„Was ist…?“ fragte sie verdutzt.

„Ach, nichts. Ich hatte nur gerade eine Vision“, antwortete Alicia. Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her.

Kurz darauf saßen sie in einem Eiscafé am Stadtrand. Das Wetter war unbeständig; der ständige Wechsel von Sonne und Wolken ließ nichts Gutes ahnen. Sie nahmen an einem der Tische im Innenhof Platz. Gerade, als sich über Wunder unterhielten und die Frage erörterten, woran man diese erkennen konnte, kam eine Kellnerin an ihren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Aufgeregt erzählte sie, draußen vor dem Restaurant würde es in Strömen regnen, nur hier, im Innenhof, wäre es trocken und gemütlich. Die beiden Freundinnen brachen in ein ausgelassenes Gelächter aus. War es nicht so, als hätte der Himmel ihre Frage soeben beantwortet?

Bevor sie sich trennten, fasste Sina in eine ihrer Jackentaschen und zog ein kleines Schmuckstück daraus hervor. Es war ein stilisierter silberner Drachen, dessen gebogener Schwanz um den Körper herum eine Acht formte.

„Ein Talisman“, erklärte sie und hielt ihn Alicia hin, damit sie ihn sich näher ansehen konnte. „Du kannst ihn wahrscheinlich gut gebrauchen, also überlasse ich ihn dir.“ Alicia wollte Einwände erheben, doch ihre Freundin wehrte energisch ab.

„Ich schenke dir den Drachen nicht aus einer Laune heraus“, entgegnete sie entschieden und drückte Alicia den Talisman in die Hand. „Ich habe das Gefühl, er ist genau das Richtige für dich. Ein Geschenk abzulehnen, das ehrlich gemeint ist, wird leicht als Beleidigung aufgefasst, vergiss das nicht.“ Alicia nahm den Talisman entgegen. Er vibrierte leicht in ihrer Hand, wie seltsam. Es fühlte sich irgendwie richtig an.

Verschwundene Studenten

Erst nach Ablauf einiger Tage wagte sich Alicia wieder in die Nähe der Bibliothek. Sie konnte es immer noch nicht fassen, was ihr in letzter Zeit widerfahren war. Es kam ihr so vor, als wäre sie wochenlang fort gewesen, doch in Wirklichkeit waren nur wenige Tage vergangen. Auch auf die Zeit war also kein Verlass mehr. Immerhin hatte die altvertraute Umgebung einen beruhigenden Einfluss auf ihr aufgewühltes Gemüt.

In den vergangenen Tagen war in Alicias Psyche irgendeine Änderung eingetreten, was ihr heute Morgen erst richtig zu Bewusstsein gekommen war. Ihre Sinne waren seit neuestem überaus empfindlich. Sobald sie ihr Denken auf einen Punkt richtete, wurden ihr spezielle Bedeutungen klar, die ihr früher entgangen waren. Die Bilder vor ihrem geistigen Auge nahmen präzise Formen an, so als wären es lebendig gewordene Gemälde. Da musste sie sich nicht wundern, wenn sie gelegentlich das Gras wachsen hörte. Möglicherweise hing es damit zusammen, dass sie aus einer anderen Energie-Dimension zurückgekehrt war. Soweit reichte ihr Gedächtnis immerhin noch.

Anfangs umkreiste die junge Studentin das massive Gebäude mehrmals von weitem. Sogar ein Fernglas hatte sie sich besorgt, um verdächtige Bewegungen in der Nähe der Bibliothek und in den Innenräumen auszumachen. Sie stellte es scharf und hatte im Nu den Eindruck, unmittelbar vor dem Gebäude zu stehen, obwohl sie sich in sicherer Entfernung aufhielt. In erster Linie beobachtete sie den Eingang und die Fenster.

Der Himmel war bewölkt, daher waren die Jalousien nicht heruntergelassen. Demnach schien alles soweit normal zu sein. In den Räumen bewegten sich schemenhafte Figuren, die unschwer als menschliche Umrisse zu erkennen waren. Einer der Studenten trat ans Fenster. Alicia hatte den Eindruck, sie bräuchte nur die Hand auszustrecken, um sein Gesicht zu berühren. Da blickte er ihr direkt in die Augen! Als wäre sie ertappt worden, ließ sie rasch das Fernglas sinken und holte tief Luft. Sie durfte sich nicht zu auffällig benehmen.

Als ihr weiter nichts Verdächtiges auffiel, schlenderte sie langsam und betont lässig auf das Bibliotheksgebäude zu und umrundete es. An der Westseite war eine steinerne Skulptur angebracht mit schlangenförmigem Drachenleib. Sie machte auf ihrem hohen Podest einen fast lebendigen Eindruck. Riesige Schwingen waren ausgebreitet, als wollte das Tier sich in die Lüfte erheben. Die bläulich-schwarze Oberfläche wirkte irgendwie organisch.

Der Anblick verursachte bei Alicia eine Gänsehaut. Sie kreuzte unwillkürlich die Arme von der Brust, so als könnte sie sich auf diese Weise vor der Kreatur schützen. Es dämmerte bereits. Die Statue warf dunkle Schatten, so dass es schwierig war, Einzelheiten zu erkennen. Das Licht der Straßenlampe schien von den schattigen Umrissen förmlich angesaugt zu werden. Die junge Studentin zwang sich, näher heranzugehen. Zaghaft berührte sie den kalten Stein und atmete auf. Er fühlte sich in keiner Weise ungewöhnlich an.

Der Anblick des steinernen Drachen gewann für Alicia nach ihren jüngsten Erlebnissen im Lesesaal eine besondere Bedeutung. Vielleicht war es kein Zufall, dass die Figur gerade hier aufgestellt worden war? In den Zeitungen fanden sich nur wenige Artikel über die jüngsten Geschehnisse in der Bibliothek. Und falls doch Hinweise auftauchten, waren sie in ihren Ausführungen sehr knapp gehalten und beschränkten sich auf wenige Zeugenaussagen. Hin und wieder wurde hinter vorgehaltener Hand über die Vorfälle im Lesesaal gemunkelt. Die Leute hüteten sich davor, Spekulationen anzustellen. Etliche Einwohner hörten von den sonderbaren Ereignissen, taten aber so, als nähmen sie diese nicht ernst. Die breite Öffentlichkeit erfuhr nur wenig davon und der Großteil der Presse schwieg beharrlich.

Unschlüssig näherte Alicia sich dem Eingang. Es handelte sich um eine Drehtür, durch die sie sich hindurchzwängen musste. Kurzzeitig wurde sie von der absonderlichen Phantasie geplagt, die Tür ließe die Besucher zwar hinein, doch niemand könne wieder hinaus. Dass dieser Gedanke absurd war, konnte sie sogleich feststellen, als die Drehtür auf der anderen Seite etliche Studenten entließ, die lebhaft diskutierend ihrer Wege gingen.

Auch in der ausgedehnten Eingangshalle war nichts Verdächtiges zu bemerken. Die Studenten schwatzten und lachten wie eh und je. Alicia fühlte sich wie ein Fremdkörper unter all den Leuten, die völlig normal wirkten und an Dinge wie Entführungen durch geflügelte Drachenwesen oder andere seltsame Begebenheiten keinen Gedanken verschwendeten.

Beklommen stieg die Studentin die Treppe hinauf zu dem höher gelegenen Lesesaal, in dem vor wenigen Tagen das Verhängnis seinen Lauf genommen hatte. Oben angelangt, lugte sie vorsichtig um die Ecke. Hier schien alles seinen ganz normalen Gang zu nehmen. Sie schob sich an zahlreichen Lesepulten vorbei, die dort aufgestellt waren, und musterte verstohlen die emsig arbeitenden Studenten. Anscheinend war niemandem die Abwesenheit von Kommilitonen aufgefallen.

Plötzlich blieb Alicia abrupt stehen. War hier wirklich alles in Ordnung? Der Lesesaal kam ihr leerer vor als sonst. Eine unheilvolle leise Stimme flüsterte ihr zu, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Alicia hatte die ganze Zeit über nach Studenten Ausschau gehalten, die sie von früher her kannte. Als regelmäßige Benutzerin der Universitätsbibliothek hatte sie dort mittlerweile etliche Bekanntschaften geschlossen. Und viele der Studenten waren ihr auch vom Sehen her vertraut. Doch heute entdeckte sie kein einziges bekanntes Gesicht! Ihr Verdacht erhärtete sich aufs Neue, dass die beklemmende Vision vor einigen Tagen keine Einbildung und erst recht kein Traumgebilde gewesen war.

Es war schon bedenklich, wenn man sich noch nicht einmal selbst belügen konnte. Noch keine viertel Stunde war Alicia hier und schon wurde sie das unangenehme Gefühl nicht los, dass sich langsam und stetig unsichtbare Schnüre um sie wickelten. Der Eindruck, bewegungsunfähig und unfrei zu sein, verstärkte sich immer mehr und wurde zur Bedrohung. Sie rang nach Luft und stürzte überhastet die Treppe hinunter.

Im Foyer begab sie sich geradewegs in Richtung Bibliotheksauskunft. Sie hoffte, hier an einige Informationen zu kommen, die ihren Verdacht entkräftigen könnten. Entschlossen wandte sie sich an die Bibliothekarin, die sie bereits von früher her kannte. Sie gab an, einige Kommilitonen aus einer Arbeitsgruppe zu vermissen, die sie in den vergangenen Tagen regelmäßig hier angetroffen hatte.

Die Bibliothekarin lächelte sie verständnislos an. Sie war in mittleren Jahren und hieß Mörike, wie sich Alicia jetzt erinnerte. Ihr Vorname war Pandora, was sie aber gerne verschwieg. Wie auch immer, jedenfalls schien sie nicht so unter Hochspannung zu stehen wie die meisten Leute, die Alicia kannte. Offenbar war sie auch nicht halb so melodramatisch veranlagt wie sie selbst. Sie hatte ein Ohr für die großen und kleinen Sorgen der Studenten, die hier vorbeikamen, und das sollte schon etwas heißen. Alicia mochte die Frau irgendwie.

„Ich stelle nur ungern dumme Fragen“, bemerkte Frau Mörike verwundert, „aber worüber reden Sie eigentlich?“ Alicia teilte ihr mit, sie wolle in Erfahrung bringen, wo denn all die Studenten abgeblieben waren, die sie hier sonst in großer Zahl angetroffen hatte. Geduldig wies die Bibliothekarin sie daraufhin, dass in einem so großen Gebäude wie diesem natürlich die Benutzer wechselten und man leicht den Überblick verlieren konnte. Sie setzte eine geheimnisvolle Miene auf.

„Die Lesesäle hier sind sehr weitläufig. Mich wundert, dass nicht manchmal einer der Benutzer einfach verschwindet, weil er sich verlaufen hat und den Ausgang nicht mehr findet.“ Entgeistert starrte Alicia sie an. Doch als sie das spöttische Lächeln im Gesicht der Bibliothekarin sah, wurde ihr schnell klar, dass die Frau sie zum Narren hielt. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Frau Mörike nahm ihre Schilderung offenbar nicht ernst und war zu abartigen Scherzen aufgelegt! Gut, dass wenigstens eine ihren Spaß hatte.

„Finden Sie das etwa witzig?“ fuhr Alicia sie an. Frau Mörike unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen.

„Gerade eben haben Sie so ausgesehen, als hätten Sie mir die Geschichte tatsächlich abgenommen.“ Ihre Art von Humor verfehlte bei Alicia allerdings seine Wirkung. Die Bibliothekarin fügte hinzu:

„Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass das, was hier angeblich passiert sein soll, übernatürlichen Ursprungs war?“ Alicia schwieg resigniert und eine unangenehme Pause entstand. Immerhin besaß Frau Mörike soviel Anstand, sich unbehaglich zu fühlen. Nach einer Weile fragte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme:

„Sie glauben also, hier in diesen Räumen ist etwas passiert, dass Sie sich nicht erklären können?“ Sie wirkte plötzlich distanziert und es klang so, als wäre sie nicht sehr interessiert daran, mehr zu erfahren.

„Ich möchte lieber nicht ins Detail gehen“, entgegnete Alicia reserviert. Frau Mörike war entweder nicht im Bilde und ahnungslos, oder sie war äußerst durchtrieben und in alles eingeweiht. In beiden Fällen schien es geraten, ihr die alarmierenden Einzelheiten nur in groben Zügen zu schildern. Frau Mörike schüttelte den Kopf.

„Wenn Sie meine Meinung wissen wollen: Ich halte das Ganze für ausgewachsenen Humbug. Studenten sollen ganz plötzlich verschwunden sein? Du meine Güte, wer hat denn so etwas schon gehört? Diese Behauptung steht in krassem Gegensatz zu sämtlichen Erkenntnissen, die wir haben, insbesondere den Gesetzen der Schwerkraft und der Trägheit der Materie. Menschen lösen sich nicht einfach in Luft auf!“

„Aber ich war dabei, ich habe es selbst mit angesehen!“ rief Alicia. Sie war empört über soviel Skepsis. Die Bibliothekarin ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Ach wissen Sie; die einen sehen weiße Mäuse, die anderen glauben an fliegende Drachen. Und wieder andere bilden sich ein, dass Menschen plötzlich nicht mehr unter uns weilen. Machen Sie sich nicht so viele Gedanken, ich bin sicher, früher oder später klärt sich alles auf.“ Alicia fühlte sich auf einmal miserabel. Ihr schien, als würde die Bibliothekarin langsam immer misstrauischer.

In Alicia stieg eine Art Urangst hoch, wie bei einem Kind, das sich im Dunkeln vor Monstern fürchtet. Die würden sie einsperren und den Schlüssel wegwerfen, sollte sie weiterhin auf der Wahrheit bestehen. Frau Mörike sprach von Einbildung, aber was wusste die schon? Sie hatte die Drachenwesen wahrhaftig gesehen und es war das Verrückteste, das ihr jemals zugestoßen war – und das wollte etwas heißen.

Alicia zwang sich dazu, das mitfühlende Lächeln auf dem Gesicht der Bibliothekarin zu übersehen. Blitzartig kam ihr der Gedanke in den Sinn, wie die Frau wohl reagieren würde, wenn eine solche Kreatur in diesem Moment leibhaftig vor ihr stände? Hier war etwas geschehen, wofür Alicia keine natürliche Erklärung fand, das stand für sie unumstößlich fest. Die Gegner kamen aus dem Unsichtbaren, aus einem Reich, das menschlichen Sinnen verschlossen war. Nur Wenigen war es vergönnt, einen hellseherischen Blick hinter die Kulissen zu werfen, sofern sie über besondere Fähigkeiten verfügten. Die junge Studentin ließ sich nicht so leicht entmutigen:

„Ich könnte schwören, dass in diesen Räumen merkwürdige Dinge geschehen sind…“, behauptete sie stur. Diesmal zuckte Frau Mörike leicht zusammen.

„Nein, das ist ganz unmöglich! Sie müssen sich getäuscht haben.“ Es klang nicht sehr überzeugend und Alicia wurde das Gefühl nicht los, dass die Frau ihre Verunsicherung mühsam zu verbergen suchte. Mit Mühe zwang sich Alicia zu einer entspannten Haltung. Es gelang ihr, sich zu verstellen und sich nicht anmerken zu lassen, wie verwirrt sie in Wahrheit war. Dass dieses Gespräch eine solche Richtung nehmen würde, hatte sie nicht erwartet. Frau Mörike lehnte es rundweg, ihr zu glauben! An ihrem spöttischen Gesichtsausdruck war abzulesen, dass sie allem Übernatürlichen gegenüber misstrauisch war.

„Gab es keine Meldung seitens der Verwaltung oder Direktion?“ hakte Alicia nach. Sie versuchte, halbwegs gelassen zu klingen, was ihr jedoch nicht gelang. Frau Mörike zuckte mit den Achseln.

„Tut mir leid, da bin ich leider überfragt. Die Direktion hat nicht die Angewohnheit, mich über interne Angelegenheiten zu unterrichten. Vielleicht möchten Sie eine Nachricht dalassen?“ Sie strahlte jetzt eine gewisse Unruhe aus, was Alicias feinem Gespür nicht verborgen blieb. Verschwieg sie irgendetwas?

Ein Angriff aus dem Reich des Unbekannten ließ sich nicht mit herkömmlichen Methoden aufklären, soviel war gewiss. Die Gesetze des Okkultismus und der Parapsychologie waren nicht von dieser Welt. Und übernatürliche Phänomene spielten hier eine bedeutsame Rolle, davon war Alicia überzeugt, denn die Ereignisse sprachen für sich.

Da war es nicht verwunderlich, dass Frau Mörike – und wohl auch ihre Vorgesetzten – alle diesbezüglichen Erklärungen weit von sich wiesen. Sofern sie nicht eingeweiht waren und mit den Entführern gemeinsame Sache machten. In diesem Fall hätten sie natürlich erst recht allen Grund, die Angelegenheit zu verleugnen. Soviel schauspielerisches Talent traute Alicia der Bibliothekarin allerdings nicht zu. Ihre sensitiven Antennen hatten zumindest nichts dergleichen bemerkt.

Als sie sich resigniert von der Bibliothekarin verabschiedete, wirkte diese sichtlich erleichtert.

„Am Ende gibt es doch für alles eine übernatürliche Erklärung“, scherzte sie. „Wir hatten schon verrücktere Leute hier als Sie. Im Übrigen ist es manchmal am besten, man nimmt die Dinge so, wie sie sind und versucht erst gar nicht, sie zu begreifen.“ War die arglos wirkende Bibliothekarin tatsächlich so unwissend, wie sie sich gab?