Afrika fluten - Christoph Keller - E-Book

Afrika fluten E-Book

Keller Christoph

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Beschreibung

Lovis macht sich auf den Weg, auf eine Reise rund ums westliche Mittelmeer: Marseille, Gibraltar, Sizilien. Und, auf den Spuren von Bruno Siegwart, zurück in die dreißiger Jahre. Siegwart, ein unverdrossener Schweizer Ingenieur, hat sich mit Haut und Haar und Rechenschieber dem gigantischen Projekt Atlantropa verschrieben. Der Erfinder dieser Utopie, der deutsche Architekt Herman Sörgel, wollte das Mittelmeer absenken, um Strom zu gewinnen. Siegwart lieferte ihm die Berechnungen, unaufgefordert, aus reiner Begeisterung – und die Idee, die Flüsse Afrikas zu stauen, um noch mehr Elektrizität zu produzieren, für Europa. Als Lovis ihn aufstöbert, ihn mit Fragen bedrängt, versteckt sich Siegwart hinter seinem Glauben an die Technik. Diesen Glauben kennt Lovis vom eigenen Vater, auch er war Ingenieur und Lovis oft mit ihm unterwegs zwischen Betonmischern, Tiefladern, Baukränen und hohen Staumauern. Christoph Keller beschäftigt sich seit Jahren journalistisch und literarisch mit dem Mittelmeer und mit kolonialen Praktiken der Schweiz. Deshalb stach ihm das gut tausendseitige Manuskript von Bruno Siegwart, das er im Deutschen Museum in München aufstöberte, sofort ins Auge. Doch der Roman, den er aus diesem Fund destilliert hat, erzählt weit mehr als die Geschichte einer größenwahnsinnigen Utopie.

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Lovis macht sich auf den Weg, auf eine Reise rund ums westliche Mittelmeer: Marseille, Gibraltar, Sizilien. Und, auf den Spuren von Bruno Siegwart, zurück in die Dreißigerjahre. Siegwart, ein unverdrossener Schweizer Ingenieur, hat sich mit Haut und Haar und Rechenschieber dem gigantischen Projekt Atlantropa verschrieben. Der Erfinder dieser Utopie, der deutsche Architekt Herman Sörgel, wollte das Mittelmeer absenken, um Strom zu gewinnen. Siegwart lieferte ihm die Berechnungen, unaufgefordert, aus reiner Begeisterung – und die Idee, die Flüsse Afrikas zu stauen, um noch mehr Elektrizität zu produzieren, für Europa.

Als Lovis ihn aufstöbert, ihn mit Fragen bedrängt, versteckt sich Siegwart hinter seinem Glauben an die Technik. Diesen Glauben kennt Lovis vom eigenen Vater, auch er war Ingenieur und Lovis oft mit ihm unterwegs zwischen Betonmischern, Tiefladern, Baukränen und hohen Staumauern.

Christoph Keller beschäftigt sich seit Jahren journalistisch und literarisch mit dem Mittelmeer und mit kolonialen Praktiken der Schweiz. Deshalb stach ihm das gut tausendseitige Manuskript von Bruno Siegwart, das er im Deutschen Museum in München aufstöberte, sofort ins Auge. Doch der Roman, den er aus diesem Fund destilliert hat, erzählt weit mehr als die Geschichte einer größenwahnsinnigen Utopie.

Christoph Keller

Afrika fluten

Roman

Edition Blau im Rotpunktverlag

Der Autor und der Verlag danken dem Fachausschuss Literatur BS/BL für die finanzielle Unterstützung.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

© 2023 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

www.editionblau.ch

Umschlagbild: Thomas Hart Benton (1889–1975), »America Today« (Ausschnitt), Alamy Stock Foto

Lektorat: Anina Barandun

Korrektorat: Lydia Zeller

eISBN 978-3-03973-007-0

1. Auflage 2023

Wenn ein Ingenieur zu träumen beginnt, sticht er jeden Dichter aus.

L’Allier socialiste, 1929

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Quellen

Dank

Autor

1

Aber dann machte ich mich auf, Siegwart zu finden.

Die anderen riefen, »Lovis, aber doch nicht zu Fuß, bei dieser Hitze«, und »Lovis, nimm wenigstens eine Flasche Wasser mit«, aber ich winkte nur zurück, stakste über den sonnengrellen Platz, im Rucksack diesen Packen Papier, Handschriften, über tausend Seiten. Und Briefe, nochmals Hunderte, Pläne und Skizzen.

Jemand rief noch, »Es fährt sicher ein Bus dorthin«, ich ging einfach weiter.

Und ließ zurück:

Die Stadt, zum Meer gewandt wie kaum eine, mit dem weiten Hafen, vom Fort bewacht, dahinter das Museum, den mediterranen Zivilisationen gewidmet. Die mich eingeladen hatte, in ihr aufzugehen, mich eins zu machen mit Sandstein oder Klinker, aufzugehen in einem Portal. So, wie mich andere Städte aufsaugen, wie ich mich in jeder Stadt auflöse, nahm mich auch die Stadt am Meer auf in barock geschnitztes Holz, in ihre Bruchsteinmauern oder ihr spiegelndes Glas.

Die anderen kannten das.

Für sie war ich Backstein-Lovis, Granitplatten-Lovis, Beton-Lovis, sie stöberten mich auf, wenn ich verloren ging zwischen den Fugen einer Stadt, wenn ich sekundenschnell verschwand aus der Gruppe, als hätte mich die Fassade verschluckt. Sie fanden mich in einem Hinterhof, in einem Patio, in der Passage des Gebäudes, niederkauernd und eine Kante im Gemäuer nachzeichnend, mein feiner Stift flog über das Notizbuch, ein schwarzes. Und ich erzählte ihnen von den Bruchlinien, die ich entdeckt hatte, den Zusammenfügungen der Zeit, den feinen Grenzen zwischen dem, was wir Epochen nennen. In der Stadt am Meer etwa, an der östlichen Seite des Vieux Port, wo sich ein touristisch aufgemöbeltes Restaurant ans andere reiht, ein billiges Hotel sich die Fassade mit Luxusboutiquen teilt und eine Tiefgarage Autos im Sekundentakt ausspuckt, wurden bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein Galeeren, auch mittelgroße Schaluppen für den küstennahen Transport hergestellt. Nichts erinnert im Stadtbild mehr an den Arsenal des Galères und damit an Zehntausende Zwangsarbeiter, die hier sägten, kalfaterten, drechselten, hämmerten, sich zu Tode schufteten, nichts verweist darauf, dass hier vor vielen Jahren Kriegsgefangene, Sklaven als Ruderer auf die Galeeren gepeitscht wurden. Ihre Spuren verschwanden, als Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Stadtverwaltung entschied, den Arsenal aufzuschütten, und nun gibt es nur noch unsichtbare Schichtungen im Untergrund, wie versiegelte Zeichen der Zeit.

Ich notierte:

Schichtungen finden.

Dem Salzwasser folgen.

Auch dem Brackwasser.

Die anderen erzählten das als eine Anekdote in unserer Wohngemeinschaft, wie ich einmal in Neapel, kurz nach dem Eintritt in die Città Sotterranea, im Schatten der Gänge und Galerien einen Zwischengang erwischte. Ihm folgte, den Rest dieses Nachmittags und zwei Stunden in den Abend hinein, über Umwege und verbotene Passagen, vorbei an Kavernen aus griechischen Zeiten, vorbei an stillgelegten Zisternen, vorbei an Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich kletterte über rostige Leitern und gelangte, im letzten Licht des Tages, zu einem Felsvorsprung hoch über dem Meer. Ein Notausgang, ganz offensichtlich, vor Jahrhunderten angelegt, nur jetzt ohne Treppe oder Leiter, also musste ich die anderen anrufen, und die riefen dann die Feuerwehr.

An diese kleine Geschichte dachte ich auf dem Weg Richtung Hafenbecken, fragte mich, ob ich nicht wieder eine zu komplizierte Abzweigung genommen hatte.

Vor mir lag, gleißend hell, dieses Kreuzfahrtschiff am Pier, neun Stockwerke hoch, eine dünne Rauchfahne zeigte die Stärke des Mistrals an. Nur eine Sekunde schaute ich hinauf zum Kamin, mein Blick blieb hängen an einem Matrosen, der an der Reling stand und rauchte.

Dann nahm ich den Weg zwischen einem Container und der Abschrankung zum Fährhafen.

3

Dieser Sommer versprach leicht zu werden.

Die Tage begannen mit einer Bootsfahrt hinaus zu den Buchten. Die Segel eingeholt, der Anker fiel, und wir glitten ins Wasser wie ölige Fische. Die Abende auf dem großen Platz in der oberen Stadt, die Häuser dort voller Graffiti, bunt bis unters Dach, und zwischen den Stühlen, den spielenden Kindern, den fliegenden Musikantinnen und Musikanten kein Durchkommen mehr. Manchmal ein Konzert oben beim Fort, das ganze Meer vor uns und die schaurigen Inseln, wir fläzten uns auf den Steinstufen vor dem Museum, das von der Kultur des Mittelmeers erzählt.

Aber nun bin ich hier, vergrabe mich in diesem Manuskript, halte meine Stellung in Vichy, notiere:

Schichten abtragen.

Unzusammenhängende Zusammenhänge.

Kontingenz.

Was mir immer wieder geschieht, auch unerwartet: Herausfinden wollen zum Beispiel, und das erzählen die anderen noch heute, als eine weitere Anekdote, herausfinden wollen, was eine rostige Kabelrolle, die wir auf einer Wanderung im hügeligen Mittelland antrafen, mitten im Wald zu suchen hatte. Wozu der Kabeldraht, der einige Meter ins Unterholz reichte, ob eine Seilbahn oben durchführte oder sich eine Baustelle in der Nähe befand. Die anderen sagten, »Lovis, lass uns weitergehen«, aber ich kratzte mit dem Taschenmesser fein säuberlich die Plakette mit der Marke frei, gab die Markenbezeichnung in mein kleines schwarzes Gerät ein, fand heraus, dass es sich um ein Produkt aus der nahen Kleinstadt handelte, ich überschlug den Zeitraum für die Rostbildung. Konsultierte die detaillierte Karte der Region, erfuhr, dass in der Nähe tatsächlich eine kleine Seilbahn mitten durch den Wald führte, die Seildicke könnte passen. Und kam so zu einer möglichen Geschichte, dass die Kabelrolle von einem Lastwagen gefallen war, auf dem Transport, und der Fahrer in Eile, auf der letzten Fahrt vom Montageort zurück, sonst hätte er die Kabelrolle am nächsten Morgen wieder aufgeladen, aber zu wenig Kabel noch drauf, als dass es sich gelohnt hätte umzukehren, und so weiter, und die anderen sagten, »Was spinnst du dir zusammen, Lovis?«

Und dann die Flohmärkte, für mich so etwas wie eine Gefahrenzone.

Weil auf Flohmärkten Tausende, Zehntausende, geschichtete und ungeschichtete Objekte eine eigene Geschichte in sich bergen. Weil darüber hinaus auf Flohmärkten nicht nur einzelne Gegenstände ins Auge springen, sondern ganze Auslagen, in sich und untereinander verflochten, und möglicherweise eine gemeinsame, vielleicht eine unentdeckte Geschichte haben. Die Uhr, in der Zeit stehen geblieben, hat sich vielleicht am Handgelenk von dem befunden, der auf den Werkzeugen am Stand gegenüber die Abdrücke seiner Hände hinterlassen hat, und das abgegriffene Gehäuse einer Kamera ist vielleicht irgendwann mal im selben Gepäck gereist wie der bronzene Sextant in seinem Holzgehäuse, und eine dieser Reisen ist notiert in einem Taschenkalender, mit hundert anderen Heften in eine abgewetzte Schachtel geworfen, am hintersten Ende des Flohmarkts. Alles verstreut, aber auch miteinander verwoben, ich sah verschlungene Tage unbekannter Menschen, ein Gewitter an möglichen Geschichten, fast so anstrengend wie Müllhalden, weil Müllhalden geschichtete Geschichten von Dingen und Menschen sind. Unzählige Stunden habe ich verbracht auf Mülldeponien, manchmal auch mehrere Tage, auf den Müllkippen mitten in Bamako oder in Bougouni, ich bin kilometerlang die Straßenränder von Lima entlanggelaufen und habe mir Geschichten ausgedacht zu den weggeworfenen Dingen, und es gibt Tage, da könnte ich in Mülleimern wühlen.

Ich schreibe mir auf:

So etwas wie Zuwendung.

Zuwendung ist Versenkung.

Und erinnere mich an die Tage, vor vielen Jahren, im Straßengraben an einer Kreuzung in Abidjan, Côte d’Ivoire, genauer an der Ecke von Avenue Laplène und Boulevard du Général de Gaulle, am Ufer der Lagune. Saß dort tagaus, tagein bei einem Handwerker, der aus den metallenen Bändern, mit denen die Stoffballen in der benachbarten Lagerhalle zusammengehalten werden, größere und kleinere Tierfallen baute, Fallen für Buschratten, für Stachelschweine, für Mäuse. Habe bei ihm gelernt, dass es einen Umgang mit Material gibt, bei dem kein Stückchen Draht, kein Zentimeter Metallband