Das Steinauge & Galápagos - Christoph Keller - E-Book

Das Steinauge & Galápagos E-Book

Keller Christoph

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Beschreibung

Ein kombiniertes Roman- und Erzählungsprojekt von hoher Ambition zum Thema der Erinnerung bzw. der falschen Erinnerung.

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Der Autor bedankt sich bei der Pro Helvetia für die grosszügige Unterstützung dieser Arbeit.

für meinen Bruder Andreas

Das Steinauge

Roman

»Ich bin der andere«, sagte Rimbaud.

Er log. Niemand ist ein anderer.

Max Aub, Gespräche mit Buñuel

»Es gibt keine tote Materie«, lehrte er, »der Zustand des Todes ist nur der Schein, hinter dem sich unbekannte Lebensformen verbergen.«

Bruno Schulz, »Traktat über die Schneiderpuppen oder Das Zweite Buch Genesis«

I.

»Ich bin der andere«

– wir ketteten unsere Fahrräder an den Lattenzaun, öffneten die Haustür, die unseretwegen nicht verriegelt war, stürmten durch den Korridor, das Wohnzimmer – ob die Winters da waren oder nicht, für uns stand Kuchen bereit – wir rannten über den von Wiesenblumen durchsetzten Rasen, preschten salutierend an der stockwerkhohen Skulptur vorbei, deren erhobener Zeigefinger aus buntem Kirchenglas und rossschneckenbraunem Eternit uns zur Vorsicht mahnte – wir scheuchten in den Haselsträuchern Grünlinge und Amseln und Spatzen auf und schürften uns an Ästen und Wurzeln – Blätter, Käfer und Würmer schlüpften uns in die Kleider – wir stolperten, rutschten, glitten, abwärts, abwärts, bis sich unter uns unversehens wie ein Wunder die Fossilienwand der Tivolischlucht auftat – die Versteinerungen liessen sich leicht aus dem sandigen Kambriumschiefer, dem mergeligen Silursandstein, dem tonigen Devonkalk herausklauben, doch wuchs da nichts, an dem wir uns hätten festhalten können – die Fossilienwand endete vielleicht fünfzehn Meter unter uns und formierte sich zur Felsbank, die zugleich das steinerne Ufer des an dieser Stelle wild werdenden Tivolibaches war, dessen Rauschen man an stillen Tagen im Garten der Winters hörte – nie waren wir dort unten gewesen, hatten nur davon fantasiert, uns über die Wand abseilen zu lassen, doch jedesmal hatte uns der Mut gefehlt, der letzte Kick, das Seil – nach einem winzigen, jedoch heftigen Wassersturz verbreiterte sich die Schlucht, der Bach beruhigte sich und tauchte in einem Tunnel unter der Stadt weg – uns schien, er komme nie wieder an die Oberfläche, fliesse tiefer und tiefer in die Erde – hatten wir genug Versteinerungen erlegt, kämpften wir uns mit der Beute durch die Sträucher zurück in den Garten, wo stets die alte Winter irgendwo lauerte und seit Ewigkeiten auf das bessere Leben wartete, das sie sich doch so verdient hatte – ständig zupfte sie welke Blüten von den Rhododendren, als werde ihr so das späte Glück gewährt – sie wusch mit Pressluft die vermoosten Steinplatten, rechte Laub oder staubsaugte vor lauter Bewegungsdrang den Rasen – wir aber sprinteten an ihr vorbei, über den Sitzplatz, durch das Haus, der Tivolistrasse entlang, wo weiter unten der beruhigte Bach umstandslos durch ein Törchen und einen bequemen Weg zu erreichen war, und wuschen, was wir erlegt hatten – versteinerte Sporen, Schwämme, Medusen, Muscheln, Stachelhäuter, Ringelwürmer, Ammonshörner, Donnerkeile, einen Seeigel, Kopffüsser, einmal sogar ein intaktes Fischskelett! – wie liebte ich diese Stunden am Wasser! – ich wog diese alterslosen Gegenstände in der Hand, als würde mir ihr Gewicht ihr Geheimnis preisgeben, betastete und drückte sie und versuchte, mir vorzustellen, was sie einst und wie die menschlose Welt, in der sie gelebt hatten, gewesen sein mochte, bevor ich sie zu Hause mit meinen Büchern identifizierte, akribisch beschriftete, zeichnete, katalogisierte und schliesslich in meinen polierten Vitrinen ausstellte – anders als Stieglitz, der sie in Kartonkisten lagerte, von denen er bald nicht mehr wusste, wo er sie in seinem riesigen Elternhaus untergebracht hatte – bestimmt hat Evelina, seine unsensible Schwester, sein grösster Schaden, sie mittlerweile entsorgt – so erweckten wir damals die Tiere zu ihrem Nachleben, indem wir sie wuschen, sie sorgfältig mit winzigen Meisseln wie Bildhauer aus ihrer steinernen Schale lösten – Stieglitz aber war die Wascherei nicht mehr Abenteuer genug, er wollte weitere Versteinerungen erlegen – oder versank in Gedanken bereits wieder in seiner geliebten verfluchten Dachkammer, so wie ich es heute tue – weil ich sorgfältig und bedächtig vorging, hielt er mich für das Weib, welches das Erjagte zubereitete – mit jedem Muskel seines zähen Körpers machte er klar, dass er der Fleischbeschaffer, der Krieger, der Beschützer war – ich aber liebte es, unseren Fundstücken beim Trocknen auf einem Felsen oder meinen nackten Schenkeln zuzusehen und in mir den Wunsch heranwachsen zu lassen, eine der fernen Inseln wie Australien oder Neuguinea oder Tasmanien oder Galápagos oder Madagaskar zu besuchen, auf denen es noch lebende Fossilien gab – riesige, in ihrer Entwicklung im Vergleich zu ihren längst existierenden Nachfolgern zurückgebliebene Beuteltiere, Schildkröten, Leguane, Ameisenigel oder Blaufische, deren Skelette noch Knochen und Muskeln aufwiesen – dann aber gesellte sich in seinem letzten Jahr ein Mädchen zu uns, dem Stieglitz den Waschplatz weiter unten zuwies, nachdem er eingesehen hatte, dass es sich nicht abwimmeln liess und wir das letztlich auch nicht wollten – die unabweisbare Marita war in der Schule auf uns aufmerksam geworden, sie hatte wiederholt angedeutet, uns auf unseren Stadtexpeditionen oder in den Wald oder in die Schlucht begleiten zu wollen – wie jung oder was für ein Idiot muss man sein, um sich bei einem solchen Angebot zu zieren! – sie war, wenn ich mich richtig erinnere, die einzige Tochter eines Kaufhausbesitzers, die für niemanden zu habende Pausenhoftrophäe – die alle schnitt und allen, die sich zu offensichtlich für sie interessierten, die auch bei schlechtem Wetter oft entblösste kalte Schulter zeigte – stets hingen unsere Blicke an ihrem schwarzen Schopf, den sie zusammen mit ihrem Stolz, ihren klaren, fordernden und abweisenden Augen von ihrer südländischen Mutter geerbt hatte – flink und feingliedrig wie sie war, zäh und reaktionsschnell, hätte sie eine gute Jägerin abgegeben – das machte Stieglitz Eindruck – ihre Entschlusskraft überraschte und beschämte ihn, wir beide versuchten, unsere Unruhe in ihrer Gegenwart zu verdecken – ich, indem ich in ihrer Gegenwart beim Fossilienwaschen männliche Barschheit vortäuschte, er, indem er ins Schnellsprechen und Stottern verfiel, etwas, das seinen hochschiessenden Körper noch länger erscheinen liess und ihm etwas Tragisches verlieh, als künde sein Sprachverstümmeln schon seinen verstümmelten Körper an – wir schielten zu der hübschen Marita am Waschplatz hinüber und hofften, der andere merke es nicht – sie liess ihre in ausgefransten Jeansshorts steckenden Beine von einem Felsen baumeln, ihr Haar floss über die Steine – so döste oder las sie, immer las sie etwas, Bubensachen wie Verne und May und Bradbury – sie wusch sich die Füsse, spritzte, Spiele andeutend, in unsere Richtung, seufzte gelangweilt auf, wenn sie glaubte, unsere Aufmerksamkeit an die toten Tiere zu verlieren, und wedelte mit dem bunten Tuch, das sie immer dabei hatte, über die Schultern geworfen oder um die Hüfte gewickelt – am Bach dann nahmen wir sie in unsere Mitte, sie war unser Mädchen geworden, die Klassenkameraden hatten sie an uns verspielt – unter Wasser drückte sie ihren Fuss gegen meinen, doch ich regte mich nicht, wusste ich doch nicht, ob es Absicht war oder ob sie nicht auch Stieglitz lockte, der versteinert wie ich neben ihr sass – ich war der erste, der ihr etwas schenkte – sie werde den Muschelsteinkern ewig bei sich tragen, versprach sie nachlässig, mit spitzem Spott in der Stimme, hielt dann aber doch meine Hand etwas zu lang – Stieglitz machte sich sogleich über mich lustig und doppelte bald mit einem besseren Fund nach, einer schön gewundenen Schneckenschale, die ich selber gern gehabt hätte – der Wettstreit um Marita war im Gang, ohne dass wir es selber merkten – wir, die wir stolz mit unseren erlegten Steinen am Waschplatz erschienen, begriffen nicht, dass wir ihre Beute aus Fleisch und Blut waren, dass sie uns so freilegte, wie wir die Fossilien aus dem Stein kratzten – denn noch hatte sie nicht klar gemacht, an wem oder was sie interessiert war, an mir, an ihm, an der zwillingshaften Einheit, die wir bildeten und die sie vielleicht einfach deshalb zerstören wollte, weil sie es konnte – sie, reif, entspannt, überlegen, liess sich Zeit – dass sie nicht viel hatte, wusste sie nicht – lange hätte es nicht mehr gedauert, und wir hätten sie in der Schlucht als eine von uns aufgenommen, hätten sie nicht mehr durch das Törchen gehen lassen, hinter dem keine Gefahr lauerte, sondern sie mit durch das Haus der Winters genommen – bald hätte sie ihre Wahl getroffen, uns als hoffnungslos fallen lassen oder unsere Freundschaft gesprengt, Stieglitz’ Leben verlängert und meins womöglich verkürzt – doch noch aber waren für uns die Formen der Fossilien sexier, ihr Versprechen verführerischer als jede junge Liebe, noch war es uns wichtiger, uns oben an der Fossilienwand bäuchlings hinzulegen, uns prahlerisch weit vorzurobben – der eine hielt den anderen an den Beinen, damit sich dieser noch weiter über den Abgrund strecken und die Felswand nach Versteinertem abtasten konnte – keine Ritze, die unseren Fingern verborgen blieb, genauso gut hätten wir einen Mädchenkörper erkunden können – Jugend forscht, das ist nie ohne Risiko – zwei Möglichkeiten gab es, zur Fossilienwand zu gelangen, einen steilen, mit glitschigem Blätterwerk verwachsenen Abhang hinunter oder einem halbwegs ausgetretenen, ausholenden sicheren Pfad entlang, den ich, der Schnellere, schon eingeschlagen hatte – doch Stieglitz folgte mir nicht, er folgte mir nie, er ging voran oder, war ich ihm voraus, wählte er den Weg, den ich nicht eingeschlagen hatte und zwang mich so, umzukehren – ich hatte ihm zu folgen, darauf fusste unsere Freundschaft, dass er mir nie nachgab, wurde ihm allerdings zum Verhängnis – ich würde impulsiv handeln, während er sich auf seinen Instinkt verlasse, erklärte er mir, wenn er sich die Mühe nahm, mir überhaupt etwas zu erklären – als wäre es nicht auch impulsiv, stets das Gegenteil von dem zu tun, dem man vorwirft, nur seinen Impulsen zu folgen! – ein paar Schritte, ein bisschen Geduld, und er könnte heute noch leben, wäre dreiundvierzig, ein Dreivierteljahr jünger als ich es bin – ich riss ihn an der Schulter herum, impulsiv, zugegeben, selber überrascht von der Heftigkeit meiner Reaktion – hatte ich etwas geahnt? – er machte sich los – ich packte ihn erneut – er schlug mir so hart auf den Brustkasten, dass ich hustend und entsetzt darüber, dass er mich geschlagen hatte, stehen blieb – »Stiklit, stiklit!«, rief ich unseren Lockruf – er rief etwas zurück, das die Schlucht verschluckte – dann sah ich ihn den Steilhang der Fossilienwand entgegenrutschen, straucheln, schliesslich gleiten – abwärts, abwärts – ich rannte ihm auf dem sicheren Weg nach, sah, wie er nicht mehr abbremsen konnte, dann sah ich ihn fallen – fallen, doch nicht aufschlagen – er fiel stumm – der Schrei, den ich hörte, war jener Maritas, die am Wasser auf uns wartete – , sie sah nur, wie er auf der Felsbank aufschlug – auf diese Weise ergänzten sich die letzten Augenblicke seines Lebens in ihrem und meinem Gedächtnis zu einem Ganzen – sie hatte flussaufwärts geschaut – da war der Bach, die Fossilienwand, die Felsbank, nah und doch unerreichbar – aus meinem Blickfeld fiel plötzlich unser Freund in ihren – sie sah, wie sein Kopf noch einmal hochschnellte, als wolle er seinem Schicksal in letzter Sekunde entwischen, als wolle er sich in den rotgesichtigen, buntgefiederten Vogel, nach dem ich ihn benannt hatte, verwandeln und davonfliegen – und Marita sah, wie er noch einmal auf den Felsen knallte und liegenblieb – wie ihm das Blut in sein ohnehin stets auffällig rotes Gesicht schoss – und sie sah, wie er sie aus leeren Augen verblüfft anschaute – lebte er da noch? – der Notarzt sagte wenig später, es könne keinen Zweifel geben, dass er gleich tot gewesen sei – sie sah, wie er noch einige Male zuckte – das sei nur der Todeskampf post mortem, winkte der Arzt ab, die Toten kämpften lange über den Tod hinaus ums Leben, manche sichtbarer als andere – schliesslich sah Marita, wie sich sein Körper aus der Verkrampfung löste – wie er nur noch dalag – steif – erstarrt – den zerbrochenen Oberkörper, der ihm schon nicht mehr gehörte, im Trockenen, die unversehrten Beine im Wasser, wo sie der Bach umspülte und liebevoll wusch, als habe er nur auf Stieglitz gewartet –

Philip drückt die Aus-Taste des Intercomgeräts, in das er gesprochen hat, und nimmt einen Schluck Wasser. Von draussen dringt mit der milden Luft Kindergeschrei herein. Er schnellt hoch, duckt sich intuitiv, obwohl sein Kopf noch weit von der Decke entfernt ist, und lacht Stieglitz’ spitzes Vogellachen.

Die Forderung seines Freundes, einzig er dürfe Zugang zur Dachkammer der Villa Berlanga haben, war damals leicht durchzusetzen. Wer wollte schon nach hier oben kommen: Das abgeschrägte Zimmer zuoberst im Dachboden, über Treppen und Stiegen und eine Luke nur schwer zu erreichen, war im Winter eiskalt, im Sommer unerträglich heiss und das ganze Jahr hindurch stickig. Die vier in die Dachschräge eingelassenen Fensterchen, eins für jede Himmelsrichtung, liessen sich nicht öffnen. In der Mitte stand ein kleiner Tisch, darauf die Schaltzentrale des Intercoms, das ihn mit jedem Zimmer des Hauses verband – wie minimalistische Skulpturen hängen die Lautsprecher noch immer überall – , darunter eine Matte, auf der Stieglitz selten und er, Philip, nie geschlafen hatte.

Philip schliesst die Augen, um sich besser auf die Vergangenheit, die er loswerden will, zu konzentrieren. So aber hört er auch das lästige Kindergeschrei besser, das es doch hier gar nicht geben dürfte. Er räuspert sich und drückt die Sprechtaste.

– nur wenig später traf ich bei der Absturzstelle ein, warf mich auf den Boden und kroch so weit vor, wie ich es für sicher hielt – wie wir es immer gemacht hatten, ich, der Grössere, rutschte weiter über den Abgrund hinaus, näher an die Beute heran – ich sicherte mir so die bessere Sammlung – und robbte an den dürftiger werdenden Sträuchern vorbei, unseren Lockruf jedoch stiess ich aus Angst, keine Antwort zu erhalten, nicht mehr aus – Bilder von Blutspuren, Kleiderfetzen, einem im Gestrüpp hängenden Finger wellten durch mein Hirn – vielleicht aber hatte er ja Glück gehabt und den Sturz überlebt – war er nicht in allem ein Glückspilz gewesen, weshalb also nicht auch im Überleben? – nervös griff ich nach den spröden Wurzeln, die sich selber kaum in der ausgemergelten Sanderde zu halten vermochten – siegesbewusst zogen die ersten Ameisen über mich hinweg – worauf die Erde lehmig wurde und mir etwas Halt gab, worauf sie sich wieder blank und schiefrig anfühlte – träge kullerten Kiesel in den Abgrund, schlugen dumpf auf der Felsplatte auf – panisch streifte ich die Sandalen ab – Kiesel, die auf Stieglitz’ erschlafften Körper prasselten – wie nur hatten wir uns in Sandalen hierher wagen können! – ich stellte mir vor, wie er schon tagelang unten lag, wie Maden wie faulige Ideen aus seinem verwesenden Körper krochen, das oberste Gesetz eines Notfalls aber war, es habe sich erst einmal der Retter zu retten – also schlug ich meine Füsse hart in den Lehm, wie Krallen hakten mich die Zehen fest – ich presste die Arme an meinen Oberkörper und krallte mich mit den Fingern ein, doch kaum hatte ich Halt gefunden, setzten zum ersten Mal die Muskelkrämpfe ein – mein Hirn formte sich zur Hand und verkrallte sich aus mir heraus in mein Gesicht und riss es ein und zerknüllte es und warf es weg – die Krämpfe lähmten mich, gleichzeitig zuckte ich, ein seines Willens beraubter Riesenwurm, auf den Abgrund zu – wäre ich nicht auf etwas Hartes zu liegen gekommen, wäre ich ihm nachgefallen – so aber vermochte ich mich loszureissen – sprang auf – starrte, nicht einmal erstaunt, das an, was ich unter mir hervorgezogen hatte und jetzt in der Hand hielt – es war Stieglitz’ Lieblingsfund, ein schöner, aber gewöhnlicher Stein, von dem er erst lustvoll, bald aber nur noch stur behauptete, es sei ein Auge – »Ein fossiliertes Auge!«, rief er jedesmal, wenn er es mir zeigte – immer hatte er es dabei – »Es ist das versteinerte Auge eines Alligatoren!«, schrie damals Stieglitz beleidigt – »Gab es nie welche in unserer Gegend!«, schlug ich mit meinem Fachwissen zurück – »Dann eben jenes einer Riesenschildkröte!« – »Nicht einmal eine fossilierte halbgeöffnete Rosskastanie ist es, du dämlicher Hund!« – da warf er mir das Steinauge mit voller Wucht gegen die Brust – das er mir jetzt, bevor er starb, wieder zugeworfen hatte – oder war es ihm lediglich aus der Tasche gefallen? – oder hatte er es für Marita hingeworfen, mich, wie so oft, als Laufbursche benutzend? – »Stieglitz! Stieglitz?«, hörte ich sie rufen, verängstigt und hoffnungsvoll zugleich – »Philip! Philip!!«, rief sie verzweifelt – von der Waschstelle konnte sie ihn auf der Felsbank sehen, aber nicht erreichen – dennoch antwortete ich ihr nicht, liess nur trotzig das Steinauge in die Tasche gleiten und schwor mir, es ihr nicht zu geben – mit der Entschlossenheit des Diebes zog ich mich an den schon dichter stehenden Büschen hoch, stand schon wieder fest auf dem sicheren Pfad – stand im Garten, von wo ich Mutter Winter als eine durch die sonnenbestrahlten Scheiben wie flüssig erkennbare Gestalt im Wohnzimmer sitzen sah, in dem wir uns erst vor wenigen Tagen mit Kuchen bedient hatten – ihr war es recht, dass wir ihr Grundstück als Zugang zur Fossilienschlucht nutzten, Stieglitz und ich erinnerten sie an ihre Söhne – Andri hatte sich an der Zürcher Bahnhofstrasse einen Namen als Börsenastrologe gemacht, vom jüngeren fehlte seit Jahren jede Spur – Mathis hiess er, glaube ich – weil sie ihn zuletzt in einem Känguruh-Buch hatte blättern sehen, vermutete sie ihn ohne die Möglichkeit, sie zu benachrichtigen, in Australien, hätte er ihr doch sonst sein komplettes Verschwinden nicht angetan – seither beschäftigte sie sich pausenlos mit Büchern und Karten über Down Under, sie wusste von den unendlichen Weiten, in denen es keine Elektrizität gab – nichts als Sonne und Skorpione und Serienmörder! – sie hatte ihren Sohn stets für einen Überlebenskünstler gehalten, vielleicht hatte er verschwinden müssen, um diese Annahme zu rechtfertigen – sie kannte jeden Quadratkilometer Australiens, den kein Handynetzwerk überzog – Salzwasserwüsten, Sandprärien, den mysteriösen Ayers Rock, der sich so aus der Erde gepresst hatte, wie sich einst Mathis aus ihr befreien musste – städtegrosse Meteoritenkrater gab es da, ausserirdische Entführer – da konnte es doch sein, dass Mathis im Ufo durch das Weltall zischte? – dass sie ihn, wenn sie schlaflos im Bett lag, am Nachthimmel sah? – dass sie ihn da oben sah, ohne ihn wirklich zu sehen, weil von hier unten alles so winzig klein war! – der alte Winter, damals schon pensioniert und auch stets im Haus, aber wollte mit Hoffnung nichts zu tun haben – er verfluchte Mathis dafür, dass er einfach weg war, und verbannte ihn auch aus seinem Gedächtnis – doch auch der übrig gebliebene Börsenastrologensohn konnte es ihm nicht recht machen – jeder Anruf dieses bald schon in einer Zürcher Villa baronierenden Scharlatans, der mit den Planetenkonstellationen hervorzusagen vorgab, ob die Novartis-Blue-Chips rauf, die GM-Stocks runter gehen würden, erinnerte ihn daran, wie sauer er sein Häuschen als Versicherungsvertreter verdient hatte – und jetzt stromerten wir auf seinem Grundstück herum, dahergelaufene Rotzlöffel, schlimmer als streunende Hunde – und weil wir so alt waren wie Mathis, als er verschwand, hatte uns seine naive Frau Herz und Haus geöffnet – wir hatten die Türfalle der Tivolistrasse 112 erstmals auf einem unserer Stadtstreifzüge gedrückt, schon waren wir im Winterschen Haus gestanden – Stieglitz einer Eingebung, ich wie immer Stieglitz folgend, drang weiter vor – ich schaute mich noch scheu um, er aber sass schon auf dem Sofa im Wohnzimmer – erst als Mutter Winter die Szene betrat und theatralisch die Hände über dem Kopf zusammenschlug, flüchtete ich zu ihm – Stieglitz benahm sich so schnoddrig selbstbewusst, so besitzbeanspruchend natürlich, dass ihre Empörung gleich verflog und ihr Misstrauen in mütterliche Fürsorge umschlug – ob sie uns etwas anbieten könne?, fragte sie schüchtern, ein Stück Schokoladenkuchen vielleicht? – Stieglitz genügte dieser rasche Triumph nicht, er verlangte Schlagsahne dazu – »Nein, danke«, sagte ich artig – als sie in die Küche davonschlurfte, rief er ihr nach, ob es denn auch Eis dazu gebe – »Nicht für mich, danke«, sagte ich – als sie aus der Küche rief, ob Vanille in Ordnung sein, brüllte er durch das fremde Haus, ob sie denn kein Stracciatella habe, das damals gerade aufkam, oder wenigstens Melone oder saure Kirsche? – »Das wärs natürlich!«, platzte ich heraus – , sie kam mit zwei vollgeladenen Tellern zurück und entschuldigte sich, dass sie in der Schnelle nur das hier habe auftreiben können, ob Mineralwasser in Ordnung sei? – »Stilles oder mit Kohlensäure?«, improvisierte ich – Stieglitz schaute mich zufrieden an – sie habe beides, sagte die alte Winter erlöst – er nehme lieber eine Cola, maulte Stieglitz – das schien sie zu haben, ergeben stapfte sie wieder davon – ich verdrückte mich vor Scham ins harte Sofa, mein Kopf war noch sauerkirschenrot, als die arme Winter mit einem russischen Blümchentablett wiederkam – sie hatte es von einer geführten Reise ins Sowjetreich mit nach Hause gebracht – darauf das Gewünschte, das sie unaufgefordert mit Eis und Zitrone aufgebessert hatte – Stieglitz nickte ihr – und ich ihm – anerkennend zu – , dankbar stellte sie es vor uns hin, sich wundernd, ob sie sich zu uns gesellen sollte – bevor es dazu kommen konnte, entliess er sie mit einer saloppen Handbewegung, die er einem Film über die Mafia oder die englische Aristokratie abgeschaut hatte, worauf sie sich zurückzog – keine überrumpelte Vorstadthäuschenbesitzerin würde zwei so gut gelaunten Halbwüchsigen, eigentlich noch Kindern, so harmlose Bitten abschlagen, dozierte er später, es sei alles eine Frage des Timings, der sanften Steigerung ins Unverschämte – nach diesem ersten Erfolg zogen wir weiter, von Haus zu Haus, systematisch – ein Kinderspiel – bald schon hatten wir die unfreiwilligen Gastgeber so weit, dass sie für uns grillten, während wir sie mit erschwindelten Geschichten unterhielten – manch erstaunte Hausfrau fand uns damals in ihrem Wohnzimmer, wo wir bald aus ihrem Mitgiftporzellan Tee schlürften – mochten wir auch den einen oder anderen Flecken auf den Sofas hinterlassen oder uns allzu freigiebig in den Kühlschränken bedient haben, zerstört oder gestohlen haben wir nie etwas – einmal legten wir uns in ein Elternbett, Stieglitz auf die Seite der Gattin mit ihren Reader’s-Digest-Romanen und der als Gesichtscreme getarnten Vaseline für lustlose Nächte, ich auf die des Gatten mit den Zeitungen und Zigarren und der Pistole unter den Sexpostillen in der Schublade – bald schliefen wir engelsgleich – geweckt wurden wir von einem zornigen, mit seiner Knarre herumfuchtelnden Vater, den aber Stieglitz’ märchenhaftes Gestammel, wir hätten uns vor den sadistischen Nonnen eines entlegenen Waisenhauses retten müssen, noch vor dem Eintreffen seiner Frau milde stimmte – man liess uns weiterschlafen, das abgekämpfte Ehepaar zog sich ins Gästezimmer zurück – eine Weile noch wehten die heiseren Zeugnisse des Ehekraches, den wir entzündet hatten, zu uns herüber – als es ihm zu bunt wurde, schrie Stieglitz durch das fremde Haus, man wolle gefälligst seine Nachtruhe respektieren, worauf es tatsächlich still wurde – zögernd trat ich vor die alte Winter, die sich im Wohnzimmer hoffnungsfroh einer australischen Vorabendserie hingab – »Mathis!«, rief sie, wie sie es oft tat, wenn sich einer von uns blicken liess – »Da bist du ja wieder, mein Junge!« – verdreckt und verschwitzt erstand ihr Sohn vor ihr, fünfzehnjährig, so alt wie wir damals waren, als sei seit seinem Verschwinden keine Zeit vergangen – genauso hatte sie ihn sich bei seiner Heimkehr vorgestellt, die Schürfungen und Verletzungen am Körper und die Verzweiflung im Gesicht waren Grund genug, ihm zu verzeihen – »Was hast du bloss getan, Junge?«, murmelte sie und verwickelte sich in die mühsame Prozedur, sich aus dem tiefen Sessel zu hieven – sie zwang die Schultern hoch, stemmte die Arme in die weichen Lehnen und fing an, sich hochzuschaukeln, am Schwierigsten war, es den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, um Höhe zu gewinnen – »Er ist mausetot«, sagte ich – hätte Stieglitz an meiner Stelle Kuchen gefordert? – »Tot!«, rief sie erstaunt, »Aber wie kannst du mausetot sein und vor mir stehen, Mathis?« – ich trat ein Stück beiseite, um ihrem durchdringenden Blick zu entgehen – das Sprechen saugte ihr die Energie ab, die sie zum Aufstehen brauchte – schwer plumpste sie in den Sessel und in die Vorabendserie zurück, in der jetzt Schüsse fielen – getroffen krachte jemand vom Pferd, blieb hängen und wurde mitgeschleift – Schnitt – der Marlboro-Mann hockte auf der Umzäunung seiner Ranch und zündete sie sich eine an – die Winter seufzte und bekreuzigte sich – ich drehte mich um, da stand ihr Mann – »Er ist tot«, sagte ich wieder, doch schon weniger überzeugt, »Stieglitz, mein Freund, ist tot.« – Ich weiss nicht mehr, was Winter sagte – »So musste es ja kommen!« – »Wer ist Stieglitz?« – »Junge, Junge, was sollen wir mit dir nur anfangen?« – oder »Scher dich zum Teufel!« – schon mit der ersten Ohrfeige, fing er zu schluchzen an – »Weisst du eigentlich, was du Jolanda antust, du und dein nichtsnutziger Freund?«, sagte er, schlurfte zum Telefon, das er halb draussen stehend, sich ins Wohnzimmer neigend, zu fassen bekam und dröhnte mit Grabesstimme, »Hier Winter, Tivolistrasse 112, es ist etwas geschehen, sofort kommen!« – die Sanitäter tauchten so schnell auf, als hätten sie in den Haselsträuchern auf ihren Auftritt gelauert – »Der da!«, keifte Winter, »Nehmt ihn mit! Sorgt dafür, dass er nie wieder einen Fuss auf mein Grundstück setzt! Ich will ihn nie wieder sehen!« – die Sanitäter kümmerten sich ohne zu fragen um seine Frau – Winter aber ereiferte sich so sehr, dass sich der Sanitäter, der schon die Beruhigungsspritze gezückt hatte, ihm zuwandte, dann aber mich wahrnahm, meine Krämpfe, die meine Beine ausschlagen, meine Arme hochfahren, meinen Kopf aus den Schultern fahren liessen – der Mann zögerte, drehte sich mit der Spritze doch noch einmal Jolanda Winter zu, drehte sich dann – ich schwör es, Lili! – einmal im Kreis – der alte Winter, seine Frau, ich! – fast schien es, wir tanzten Walzer – , dann hatte der Helfer seine Wahl getroffen, die Nadel senkte sich in mich – schlagartig wurde ich ruhiger – gelassener – , aber auch unbeteiligter, war es doch mit einem Mal egal, ob Stieglitz lebte, ob sie glaubte, ihr blöder Mathis krieche in Australien herum oder die Maden längst in ihm – mechanisch erzählte ich, was geschehen war, schon habe dieses Zittern angefangen, das sie weggespritzt hätten, wie Flut und Ebbe sei es über mich hereingebrochen – »Da, seht«, sagte ich und ging auf die Fingerskulptur zu, »da geht es in die Fossilienschlucht! Da! Da! Da!«, rief ich, als mir keiner folgte – ich berührte die Skulptur – ja, da stand sie, unverrückbar real – ich beklopfte sie – sie war hohl – , ich betrommelte sie im Rhythmus von I Can’t Stand the Rain, tanzte ekstatisch den Regentanz, was die Aufmerksamkeit jenes Sanitäters erregte, der mich ruhiggespritzt hatte – verwundert scharrte er im Gras, als liege darunter die Wahrheit, als wolle er ein Häufchen drauf scheissen, gern hätte ich das Stieglitz erzählt – »und will ein Häufchen drauf scheissen, der blöde Kerl!«, rief ich und lachte unbeherrscht darauflos – der blöde Kerl hörte zu scharren auf und musterte mich misstrauisch, beäugte dann das Tiefgrün der Haselsträucher, in das einzutauchen er ohne Zweifel keine Lust hatte – kam es ihm da nicht gelegen, dass sich das Ganze als ein übler Scherz dieser Rotznasen zu entpuppen begann? – die ihr Spiel schon lange mit den hilflosen Winters trieben? – »Natürlich!«, rief ich begeistert – natürlich, irgendwo hinter den Sträuchern lauerte Stieglitz, keine drei Meter von uns entfernt, gleich würde er sich durch sein unverschämtes Lachen verraten, seine übermütige Ungeduld hat ihm schon manchen Plan durchkreuzt, gleich wird alles wieder gut werden, die Schelte der Sanitäter würde das Salz der Anekdote werden – »Stiklit, stiklit«, machte ich, doch es blieb still, ich dachte, warum nur hatte er mich nicht eingeweiht, warum mich so übel verraten? – dennoch spürte ich die Woge der Erleichterung, die durch mich fuhr – »Er lebt, er lebt, Stieglitz wird immer leben«, flüsterte ich – nickend gesellte sich Mutter Winter zu uns – »Ruft die Polizei!«, rief ihr Gatte, »Schafft mir diesen undankbaren Kerl aus den Augen!« – sogleich bildeten die Sanitäter einen Halbkreis um mich, sodass mein einziger Fluchtweg in die Schlucht führte – jetzt musste er sich doch zu erkennen geben, hatte er denn nie genug Unterlegenheit von mir? – doch nichts regte sich, selbst die Vögel verstummten, und der Wind hatte zu wehen aufgehört – »Das war seine Idee!«, brüllte ich und wusste gleichzeitig, dass ich damit an ihm den Verrat begangen hatte, von dem ich eben noch gedacht hatte, er habe ihn an mir begangen – deshalb hatte er zugewartet, um mir in meiner Unterlegenheit auch noch meine Feigheit vorzuführen! – Vögel zwitscherten wieder, der Wind fuhr nervös durch das Gebüsch, doch er zeigte sich noch immer nicht – ich hielt meinen Arm, der wieder heftiger zuckte, trotz der Medikamente, vielleicht wegen der Medikamente, die erst zu verschlimmern hatten, was sie darauf heilten, mich aber auch hatten tanzen und lachen lassen – »Er hat mich doch auch verraten!«, setzte ich nach – schon winselte ich für ihn – »Ruhig, Junge«, sagte einer, »Sag erst einmal nichts. Wie heisst du überhaupt?« – »Ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben!«, rief Winter – »Mathis«, flüsterte hinter ihm seine Frau – »Philip«, sagte Marita, die in diesem Augenblick eintraf, durchnässt und gehetzt und ausser Atem und wunderschön – und erzählte dennoch mit der Gelassenheit der Jägerin, die nicht zum ersten Mal von einer übel ausgegangenen Expedition zurückkehrt, was geschehen war – sie habe versucht, die Felsbank zu erreichen, auch wenn sie geahnt habe, dass dies schlimm ausgehen würde, könnte sie vielleicht noch etwas für ihn tun, und sei es nur, ihn in seinem letzten Augenblick festzuhalten – doch sei der Bach an dieser Stelle zu wild, der kleine Wasserfall überwindbar – das war es, was sie getan hatte, das Menschliche, das Weibliche, das Tapfere, sie war die Heldin, ich der Feigling, der weggerannt war und nicht glauben wollte, was geschehen war – dann sah sie mich, wie ich leise zitterte, und nahm mich mitleidig in die Arme, unter die Wolldecke, in die sie die Sanitäter schon eingewickelt hatten, drückte mich an ihren feuchten Körper und küsste und küsste und küsste – mich – denn Stieglitz war tot – da endlich setzten sich die Sanitäter in Bewegung und schleppten Seile, Decken, ein Tragtuch, den Erste-Hilfe-Koffer durch die Haselsträucher – Äste brachen, Vögel stoben aus dem Gestrüpp – und schon bald öffneten sich die Sträucher wieder – mit dem Rücken voran warf sich einer der Helfer aus dem Dickicht – dem folgte ein in das Tragtuch gewickelter Körper, darauf ein weiterer Sanitäter – vorsichtig legten sie ihre Last in die Wiese – einem rutschte das Hemd hoch, entblösste einen käsigen Streifen Haut – durch die metallenen Ringe des khakifarbenen Tragtuches züngelten Seile wie angriffige Schlangen – »Da ist nichts mehr zu machen«, sagte einer, riss den Reissverschluss zu und trat zur Seite, um eine Zigarette zu rauchen – Marita hatte man ins Haus gebracht, ich war ganz nass und heiss von ihrem Körper – »Es ist doch ein Unfall gewesen, Junge, nicht wahr!«, sagte der Polizist, der plötzlich vor mir stand, »Man vergisst sich ja gern im Spiel, auch in deinem Alter noch. Oder ist da etwas geschehen, das du mir sagen solltest?« – ich schüttelte den Kopf – er nickte erleichtert, hatte das einfach fragen müssen, meine Antwort machte es für alle am Einfachsten, vielleicht hatte er ja einen Sohn in Stieglitz’ Alter – »Es tut mir leid um deinen Freund«, schwatzte er weiter, »Das wird schwer für dich sein. Der Verlust und das Alleinsein. Weshalb schlägt das Unglück immer zweifach zu? Paul Berlanga – Stieglitz – ist das dein Name, Junge?« – ich nickte und sagte: »Ich heisse Philip.« – »Warum heisst du Philip?«, der Beamte glotzte mich blöd an. – Froschaugen, Schneckenhirn. – »Das müssen Sie meine Eltern fragen.« – »Wer ist dann Paul?«, fragte er froschäugig, »Und wer ist dieser Mathis? Da soll einer den Überblick behalten!« – und schaute mich an, als könne er mir meinen Namen irgendwo ablesen – da schwebte Stieglitz, getragen von den Sanitätern, an mir vorbei – einer mit einer Zigarre im Mund, ein anderer pfiff Je ne regrette rien vor sich hin – die alte Winter, in den letzten Minuten sprunghaft weiter gealtert, zeigte auf den Toten auf der Kakhiplane – schnarrte triumphierend, »Sehen Sie? Das ist nicht Mathis. Mathis« – und zeigte erst auf mich, dann auf Stieglitz – »sitzt in einem Ufo und fährt mit Lichtgeschwindigkeit auf mich zu. Nachts kann man es beinah sehen. Bald wird er wieder da sein, mein Junge« – und wandte sich ab – das war das letzte Mal, das ich die alte Winter gesehen habe, je ne regrette rien – ich griff nach Halt in meiner Tasche und hielt schon das Steinauge, als mein in ein Wachstuch verpackter Freund wegschwebte – Marita wurde nach Hause gefahren – in meinem Fall aber entschied man, es sei das Beste, mich ins Spital einzuliefern, in das Stieglitz bereits unterwegs war, natürlich in eine andere Abteilung – die Krämpfe waren wieder stärker geworden, so stark, dass ich nicht ruhig liegen konnte – unterwegs, in der Ambulanz, lähmte man mich mit stärkeren Medikamenten, die auch mein Bewusstsein erschlaffen liessen – und ich glitt in jenen klinischen Zustand zwischen Wachsein und Schlaf, in den einen nur die Pharmachemie versetzen kann – klar und doch nur wie durch einen Schleier huschten die Häuser der Altstadt an mir vorbei – noch heute spüre ich den Schwindel, der mich erfasst hat – sanft und doch kräftig drückte die Krankenschwester meine Hand, presste den letzten Widerstand aus mir heraus – ich erlahme ganz, schliesse die Augen, sinke in mich, träume, wie ich – nicht Stieglitz – falle – nicht in die Tivolischlucht – sondern einfach falle –

Lili löst die hinter dem Kopf verschränkten Hände, setzt sich auf und atmet tief durch. Sie wirkt erschöpft – Zuhören ist anstrengend – , doch auch zufrieden. Ihre glutgelben Haare fallen über die Schultern. Ringe und eine Halskette liegen auf dem Nachttisch, wo sich auch ihre Mütze, ihr Handy, ein Heft, in das sie hie und da etwas geschrieben hat, eine kreditkartengrosse Digitalkamera und die versteinerte Schnecke befinden, die sie in der Fossilienschlucht gefunden haben will. Sie schwingt die Beine über den Bettrand und legt die Hände mit den Flächen nach oben auf ihre Oberschenkel, als wolle sie meditieren. Dann aber springt sie plötzlich auf, geht zum Schreibtisch, auf dem das mit dem Intercomsystem verbundene Tonbandgerät steht, und stellt es ab.

Draussen hört schlagartig das Kindergeschrei auf.

Philip erschrickt. Mittag. Schon? Die eine oder andere Mutter ruft noch nach ihrem Sprössling, dann ist es endlich still.

Ist es ein gutes Zeichen, dass er so aufgewühlt ist? Die Erinnerungen, so lange begraben, gehen ihm nahe. Er schwitzt. Er zittert. Er redet gehetzt, verhaspelt sich. Er denkt an Marita. Wie sie ihn geküsst hat. Die Antidepressiva, die ihm die Ärzte verschrieben haben, lähmen seinen Willen, den mentalen, den kreativen und den sexuellen, lindern aber nur unzuverlässig sein Zittern. Sie verdunkeln seine Vorstellungskraft, bis alles so dunkel geworden ist, dass Stieglitz jeden Moment durch diese wie für ihn geschaffene Finsternis fallen könnte. Dass er es nie tut, macht es nur schlimmer. Die Möglichkeit bringt ihn um den Schlaf, den ihm die Ärzte, nachdem sie ihm das Wachsein verdorben haben, empfehlen.

Er aber hat keine Zeit für Schlaf. In drei Monaten muss er wieder für die Bühne bereit sein, und er wird es. Er studiert die Theaterfassung von Buñuels Film Der Würgeengelso intensiv, als sei es sein erstes Stück. Mag man es als sein Comeback sehen. Er ist zuversichtlich: Es läuft gut. Er sieht alles immer deutlicher vor sich.

Das kleine Tonbandgerät hat genau Platz auf dem Streifen braungebrannter Haut zwischen der gurtlosen Jeans und dem weissen nabellangen Trägertop. Inzwischen hat sie das Band zurückgespult und stellt es ein – wir ketteten unsere Fahrräder an den Lattenzaun, öffneten die Haustür, die unseretwegen nicht verriegelt war, stürmten durch den Korridor, das Wohnzimmer – ob die Winters da waren oder nicht, für uns stand Kuchen bereit –

Als habe Lili sein Unbehagen durch die Decken und Wände und das viele Gerümpel, das sich in der Villa angesammelt hat, gespürt, schaltet sie das Tonband leiser.

Da Josie, die sich nicht nur um seine Angelegenheiten, sondern während seiner Abwesenheit auch um sein Genfer Apartment kümmert, um diese Zeit seinen Hund ausführt, kann Philip ihr eine Nachricht hinterlassen, ohne das Risiko einzugehen, dass sie den Anruf entgegennimmt: »Such mal bitte die Schlüsselfakten über Fray Tomàs de Berlanga heraus, ich buchstabiere TOMÀS – neues Wort – DE – neues Wort – BERLANGA, Fray … FRAY … ist Spanisch für Bruder, im religiösen Sinn. Schick mir alles per Mail, auch Bilder, keine Anrufe bitte. Lass mich entscheiden, was wichtig ist. Ich bin da etwas auf der Spur. Love, Phil.«

»Love to you too!«, ruft Josie fröhlich.

»Nicht mit Condi unterwegs?«

»Wie läufts denn so mit dem Erinnerungsprojekt, Phil? Heute war der erste Tag, nicht? Sprudelt die Quelle? Und ist sie hübsch, deine Regisseurin? Ich habe sie gegoogelt, da war nichts. Du weisst ja, dass ich Neulingen nicht über den Weg traue. Schon gar nicht solchen, die wie Lili in ihrem Produktionsdossier damit kokettieren. Lili Fontana – Regie. Geboren 1981 in St. Gallen. 1988-2003 Volksschule, Handelsdiplom, Ausbildung als Maltherapeutin (abgebrochen). 2004 Auslandsjahr (Malaysia, Neuseeland, Australien, USA). Filmstudien: keine. Keine sonstige Erfahrung in einem ›Kultursektor‹, die sie für erwähnenswert hält. Sie unternimmt nicht einmal den Versuch, das zu verschleiern. Im Gegenteil fügt sie kokett hinzu: Ich habe auf dieselbe Art und Weise gelernt, mich mit den Mitteln des Films auszudrücken, wie ein Kind zu sprechen lernt. Für diejenige, die als Künstlerin geboren wurde, ist keine Ausbildung notwendig, und selbst der Ausdruck Autodidakt ein Schwindel. Sie spricht, als habe sie bereits ein beachtliches Werk vorzuweisen. Doch da ist nichts. Sie beansprucht lediglich das Recht, das zu tun, wofür sie ihrer Meinung nach auf die Welt gekommen ist. Man gebe ihr Geld, drücke ihr eine Kamera in die Hand und bejuble sie. Ist es dieses unerschütterliche Selbstvertrauen, diese Mir-gehört-die-Welt-Arroganz, die dich verlockt hat, es mit diesem unbeschriebenen Blatt aufzunehmen?«

»Ich bin überrascht, Josie. Du kennst das Dossier auswendig.«