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Ein Gegenwartsroman im besten Sinn des Wortes: kunstvoll verflochtene Geschichten über Revolten, biografische Brüche, Migration und die Liebe um die Jahrtausendwende. Das Jahr 1980. Eine Gruppe von jungen Leuten besetzt eine Villa und erfindet die Gesellschaft neu. Ihre Aktionen werden immer gewagter und gipfeln in der Forderung nach freier Sicht aufs Mittelmeer. Inmitten dieses Aufbruchs verliebt sich Astèr in Claude. Das Jahr 2002. Astèr sitzt in ihrer New Yorker Wohnung und sucht in ihrem leeren Gedächtnis nach Antworten. Warum ist sie nach Djerba gereist, um auf Claude zu warten? Was ist passiert nach der Explosion in der Synagoge von Houmt Souk, die eine Lücke in ihr Hirn gerissen hat? Was ist dem Fahrer zugestoßen, der ihr stundenlang von seiner Insel erzählte? Wohin sind Claude und sein Segelboot von dem Sturm getrieben worden, der in diesen Tagen über dem Meer wütete? Und was wollte Claude eigentlich damals, vor zweiundzwanzig Jahren, in der Villa? Geschickt kreuzt Christoph Keller in seinem Roman die Geschichte von Claude und Astèr mit den Bekenntnissen eines tunesischen Taxifahrers, der seinem Umfeld entkommen will, und dem Schicksal eines Flüchtlings aus Mali, der in einem verwüsteten Segelboot auf Lampedusa strandet. Dabei entsteht ein vielschichtiges erzählerisches Mosaik des Mittelmeers als Raum von Such- und Fluchtbewegungen, als Schmelztiegel afrikanisch-europäischer Geschichte und Geschichten.
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Seitenzahl: 364
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Christoph Keller
Übers Meer
Christoph Keller
Roman
Der Verlag dankt dem Fachausschuss Literatur BS/BL und dem Migros-Kulturprozent für die finanzielle Unterstützung.
© 2013 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlagbild: derProjektor / photocase.com
ISBN 978-3-85869-530-7
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Hopelessness freezes Time
Edgar Arceneaux
Die historischen Ereignisse in dieser Geschichte haben sich tatsächlich zugetragen — deren Darstellung jedoch ist durch die subjektive Sichtweise der Protagonisten geprägt und erhebt keinen Anspruch auf Richtigkeit oder Vollständigkeit.
LAMPEDUSA, IM JULI Das silbergraue Gerät liegt vor mir, ein Sonnenstrahl sprüht Funken aufs metallene Gehäuse. Ich drücke auf »Rev« und spule ein klein wenig zurück, um mir den Schluss nochmals anzuhören.
Seine Stimme, die sagt:
Ich bin ein elendes kleines Opfer der Geschichte dieses Meers, für das ich gearbeitet habe, ein hellorange leuchtendes Missverständnis, das auf den Wellen tanzt, unschuldiges Zeichen auf dem Meer, eine Havarie mit Todesfolge, ein Untoter mit schlechter Prognose LÄNGERE PAUSE, LEISES FLUCHEN ach, jetzt verabschiedet sich die Batterie DAS GERÄT WIRD GESCHÜTTELT das darf doch nicht wahr sein, Scheiße, verdammte, UNVERSTÄNDLICHES SCHREIEN also gut, vielleicht noch einen Satz, mein letzter vielleicht, nehmt das Meer als eine Möglichkeit BRICHT AB
Ich stehe auf.
Vor mir die weite Terrasse und das Meer, und Paco auf dem Liegestuhl. Leichte, kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn, sie liegt da im Halbschlaf, eine Hand auf dem Bauch, die andere ist ihr weggerutscht.
– Was jetzt, frage ich sie.
– Was willst du wissen, gibt sie zurück, halb murmelnd.
– Was soll ich mit diesem Ende.
– Alles aufschreiben, Astèr.
– Alles?
– Alles.
BROOKLYN, ANFANG MAI Ein halber Mond in meinem Hirn, vorderer rechter Frontallappen.
Ich habe ihn gesehen, mehrfach gedreht und gespiegelt, auf Röntgenbildern und auf den Bildschirmen der Computertomografen, ein kleiner, geriffelter Splitter. Ein gezackter, hälftiger Mond ist in meinem Hirn zu Gast, sage ich im Scherz, aber das kommt selten vor, weil ich in diesen Tagen kaum jemanden sehe, der mich fragen würde, was mir widerfahren ist. Dennoch habe ich mir das vorgenommen, wie für den Fall, dass man mich trotzdem fragt, und da werde ich unverbindlich bleiben und sagen, auf unbeholfene Art witzig, mir sei ein Mond zugestürzt, hälftig und gezackt, wie ein Meteorit aus heiterem Himmel.
Er hat ein Loch gerissen, einen Krater.
Im New York Presbyterian Hospital, im Metropolitan Hospital Center, im Mount Sinai Hospital, in all diesen Krankenhäusern haben sie meinen Splitter betrachtet, die Ärzte der neurologischen Abteilungen, während ich im Koma lag, im künstlichen zuletzt. Meinen halben Zackenmond, rechter Frontallappen, ein mittlerer Radius von fünfkommazweidrei Zentimeter, exakt zweikommaviereins Millimeter dick, vierkommadreivier Zentimeter lang, an der breitesten Seite einskommaneunzwei Zentimeter. Seine leicht gerundete Rückseite eher glatt, so zeigen es die geschichteten Bildfolgen der Tomografen, vielleicht mit Farbe beschichtet, sie wissen es nicht genau, meine Ärzte.
Sie standen an meinem Bett, als ich endlich das Bewusstsein wiedererlangte, schemenhafte Figuren, zu viert, zu sechst, die auf meine Fragen wortreiche, aber nichtssagende Antworten gaben, erleichtert erst einmal, dass ihre Patientin sprechen konnte, dass sie orientiert war, wie man sagt, dass sie ihren Namen wusste. Noch sei man nicht in der Lage, die Materialbeschaffenheit von Gegenständen, die ins Hirn gedrungen sind, genauer zu bestimmen, sagten mir die Ärzte, aber immerhin könne man mir sagen, dass der Splitter eine Dicke von exakt zweikommaviereins Millimeter habe. Diese Zahl erfuhr ich, nachdem ich wieder mal, auf einer Bahre festgezurrt, in eine Röhre geschoben wurde, eingespannt in Apparaturen, die meinen Schädel starr und mit spitzem Gestänge in einer Position hielten, während ein schwarzes, glänzendes Ding an meiner Seite gefährlich brummende Töne abgab. Und bald darauf bemerkte jemand, eine Krankenschwester, die in einem Rapport blätterte, diese zweikommaviereins Millimeter entsprächen genau der Normdicke einer herkömmlichen Gasflasche.
Ich notiere:
Doktor Karl Lackner, Mount Sinai Hospital, sechste Etage.
Letzte Konsultation am dritten Mai, morgens um neun.
Das Wetter an jenem Tag windig und kühl.
Das Taxi nahm ich Ecke Prospect Place und Washington Avenue.
Karl Lackner hat blaue Augen und ein Muttermal über der Augenbraue rechts.
Seine Sekretärin, mit der ich die Termine vereinbare, heißt Loana.
Ich sitze heute am Fenster, sitze in diesem Sessel, der mich ein halbes Leben schon begleitet, mein Fenster geht zum Innenhof, unter dem Himmel fliegen die Flugzeuge an, die Flügel schwankend, sie schleppen ein Fauchen hinter sich her. In meinem Sessel sitze ich, die Hände auf den Oberschenkeln, blicke hinaus und klopfe die Bruchstücke meiner Erinnerung ab, halte sie fest, prüfe ihre Festigkeit, reihe Teil an Teil, kontrolliere, ob sich daraus ein Sinn ergibt. Seit Tagen sitze ich schon hier, stelle mir zwischendurch überraschende Aufgaben, teste mein Kurzzeitgedächtnis, frage, welche Schlagzeile stand heute früh auf der Frontseite der New York Times, BUSH INTENDING TO GO TO WAR IN IRAQ, und wer hat den Kommentar geschrieben auf Seite dreiundzwanzig, Nicholas D. Kristof. Frage mich auch, wie hat mein Lehrer geheißen in der Primarschule, und wie hießen die anderen in meiner Klasse. Oder ich prüfe meine sprachlichen Fähigkeiten, übersetze simultan die Nachrichten auf CNN: Evidence of weapons of mass destruction found to be proof … und ich übersetze: El presidente George Bush, en su mensaje emitido desde la Casa Blanca, ha repetido su determinación de perseguir cualquier sujeto susceptible de tener contactos con terroristas. Im schlimmsten Fall, es kann irgendwann im Laufe des Tages sein oder mitten in der Nacht, überfallen mich Angstzustände, Anflüge von Panik, ich spüre kalten Schweiß auf meiner Stirn, nachgebende Knie, und dann muss ich Paco anrufen.
– Paco, flüstere ich ins Telefon, Paco, frag mich irgendwas.
Und Paco, bei ihrer Arbeit tief unten, in den Eingeweiden der Stadt, vielleicht auf der Höhe der Chambers Street oder der Haltestelle City Hall auf der Linie J drüben in Manhattan, oder ist sie heute bei der Clark Street, die Linien 2 und 3 auf unserer Seite, in Brooklyn. Paco, aus ihrer Arbeit herausgerissen, noch die Schutzmaske auf, in jeder Hand eine verklebte Spraydose, ihr Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, sie fragt mich:
– Who was the first president of the United States? How many kilometers is one nautical mile?
Meine Antworten sind immer richtig, aber das beruhigt mich nicht.
– Paco, ask me please, frage mich, wie meine Mutter heißt.
– Wie heißt deine Mutter, Astèr?
– Ingrid.
– Geboren am?
– Geboren am 23. März 1937.
– Gut.
Ich nehme meinen Mut zusammen und stelle die Frage, immer dieselbe, selbst in Pacos wachsenden Unmut hinein, der rauschenden, immer wieder abbrechenden Verbindung zum Trotz. Meine Frage, in den tosenden Lärm einer vorbeibrausenden Bahn hineingebrüllt, ins Gekreische von Rädern in einer Kurve, oder auch ganz leise gestellt, wenn es für einmal still ist in Pacos Tunnel:
– Paco, frag mich, was geschehen ist in Djerba.
– What happened in Djerba, Astèr?
– Ich habe keine Erinnerung daran, keine.
– Warum bist du nach Djerba gefahren?
Niemals versuche ich zu schummeln bei diesem ernsten Spiel von Frage und Antwort, und ich lote, den Hörer ans Ohr gepresst, die Grenzregionen meiner Erinnerung aus.
Wie eine Blinde im Dunkeln, die Hände vorgestreckt, taste ich nach den Restbrocken von Bildern und Geschichten, sitze in meinem Sessel im hinteren Zimmer am Fenster, den Blick über die Häuser von Brooklyn, über die verwilderten Gärten der Nachbarschaft, über die geschichteten Dächer der St. Marks Avenue, dahinter der erste Pfeiler der Brooklyn Bridge, und irgendwo diese Lücke in der Skyline von Manhattan. Zu meinen Füßen Berge von Papier, viele Kartenausschnitte, die Insel Djerba in allen Windrichtungen, die Ferienbilder vieler Familien aus Ferienkatalogen. Aber mein Blick an diesem Tag, heute, geht einzig auf die Flugzeuge, die auf ihrem Landeanflug im Takt von Minuten über die Dächer hinwegschweben, zitternde Vögel, und ich geleite jeden einzelnen zu Boden, wie ein stiller Lotse.
Ich lüge nicht, wenn ich zu Paco sage: »Ich weiß, was sich ereignet hat, I know exactly what happened, aber ich kann es nicht erzählen.«
Ich habe aufgehört, mich im Spiegel zu betrachten, die schmale Wunde an meinem Schädel rechts ist unter dem nachwachsenden Haar verschwunden, ich spüre sie nicht mehr. Aber ich kann schildern, was in dieser Region meines Hirns, in der jetzt ein Splitter, eine schmale Sichel steckt, als Text niedergeschrieben werden muss. Die Bilder habe ich mir notdürftig zusammengesetzt, wie ein Puzzle anhand von Zeitungsausschnitten, mit Zeitreisen durch das World Wide Web, wäre sogar in der Lage zu erzählen, Stunde für Stunde, Minute für Minute, was den Menschen an jenem Tag widerfahren ist auf der Insel Djerba, alles nachvollziehbar.
Aber ich komme darin nicht vor.
Als würde ich ein Zimmer ohne Wände mit zugetragenen Satzfetzen tapezieren, sage ich zu Paco und schäme mich für das erbärmliche Bild, oder als ob ich eingesperrt wäre in einer Kapsel und durch die Zeit rauschte, und draußen ist irgendwas, aber ich ahne es nur.
Solche Dinge sage ich Paco, wenn sie nach Hause kommt mit ihrer Tasche voller Spraydosen, ihr blauer Overall über und über bekleckert mit den Farben des Mural, an dem sie gerade arbeitet, am Hosenbein die Reste einer schnell abgestreiften Dose, im Haar hat sie den feinen Hauch der vernebelten Farben, und den Ruß und den Schmutz aus den Tiefen der Stadt im Gesicht. Paco, die hereinkommt, einen kurzen Blick wirft auf das Meer der Papiere rund um meinen Sessel. Es soll kein prüfender Blick sein, wenn sie in der Türe steht, die Tasche zu Boden gleiten lässt, ihre Turnschlappen abstreift und wortlos zu mir ans Fenster tritt, es geht auch nicht um Tadel. Eher um Rücksicht, glaube ich, denn sie tritt von hinten an mich heran, raschelnde Schritte, hält ihre rauen Hände beide an meine Wangen, ihre harten Kuppen und die weichen, schmiegsamen Vertiefungen, und ich atme den Geruch von Ruß und Farbe und Staub.
Einen Augenblick lang verharrt sie so, dann legt sie ihr Kinn auf meinen Kopf, und ich versinke in einer Kaskade von wildem, gekraustem Haar:
– An welchem Punkt bist du angelangt?
Wie immer kann ich diese Frage mit äußerster Präzision beantworten, mit geografischer und zeitlicher Akkuratesse, ich sage:
– An einem ganz bestimmten Ort.
Ich bin in meiner Ersatzerinnerung, bei der Rekonstruktion von dem, was sich ereignet haben muss, an jener Ampel angelangt, an der das Taxi auf der Avenue Habib Bourguiba gewartet haben muss, ich schätze, das war ungefähr sieben oder acht Minuten, bevor alles geschah, und ich weiß, dass das Taxi, in dem ich fuhr, gelb war, ein gelbes Taxi wie alle Taxis auf Djerba, ein Peugeot vermutlich.
– Nicht noch mal, sagt Paco und umfasst mich an den Schultern.
– Doch, Liebe, lass mich erklären, meine imaginierte Zeit steht auf elf Uhr dreiundvierzig, ich bin auf Djerba, und ich kann schildern, wie es aussah an dieser roten Ampel, die Cafés und die bunten Auslagen der Töpfer, die weißen Häuser, die Avenue Habib Bourguiba eine Allee, und alles in diesem scharfen Licht, das sich durch die Palmen bricht, in diesem unglaublich hellen Licht auf Djerba. Da standen wir an dieser roten Ampel, und vielleicht war ich auch in Gedanken bereits bei El Ghriba, der Synagoge, die wir uns anschauen wollten, mein Fahrer Tahar und ich, vielleicht habe ich nichts von meiner Umgebung wahrgenommen, an diesem Morgen, um elf Uhr dreiundvierzig, oder habe ich darüber nachgedacht, ob die Häuserzeilen der Place Mongi Bali, an der wir standen, auf den Fundamenten einer römischen Siedlung erstellt wurden oder gar auf den Überresten phönikischer Bauten, Zeugen der allerfrühesten Besiedelung dieser Insel, lag ich in einer meiner mediterranen Träumereien, in denen Zeiten und Völker, Epochen und Eroberungen wild durcheinandergeraten.
Aber da unterbricht sie mich, Paco.
– Nicht zu weit gehen, Astèr.
Sie sagt es nicht befehlend, eher wie eine Feststellung.
– Zu weit?
– Du wirst zur Mythomanin, dear, wenn du nicht aufhörst mit deinem Versuch, dir Minute für Minute zu imaginieren, wie es gewesen sein könnte. You better accept, that it’s gone, sie ist weg, deine Erinnerung.
Sie zieht ihre rauen, warmen Hände zurück.
Nicht ruckartig, nicht mit einem Ausdruck der Missbilligung, sondern sanft, als wollte sie mich trotz allem meinen ausschweifenden Nachforschungen überlassen. Ich weiß, was sie über mein tagfüllendes Sinnieren mit Blick aus dem Fenster denkt, also drehe ich mich um zu Paco, die in der Tür steht, der Overall farbig gesprenkelt, Schlieren und Staub im Gesicht:
– Paco, manchmal überlege ich mir, was ich geben möchte im Tausch für das, was er mir genommen hat, dieser Splitter in meinem Gehirn.
– Und?
– Vielleicht eine Kindergartenerinnerung, die frühen Bilder von meinem Kindergarten, neu erstellter Flachdachbau, ein Kletterturm davor, oder den Geruch im Korridor unserer Primarschule, die mitgebrachten Gerüche von zu Hause, Ovomaltine und Brot und Konfitüre in der Luft. I’m asking, ich frage, was angemessen wäre als Tausch für die Erinnerung an Djerba, ich würde alles Mögliche in die Waagschale werfen, um mich erinnern zu können an jene Tage vor dem Ereignis, das die Zeitungen immerhin als the most tragic and cynical attack since 9/11 bezeichnen.
– Oh dear, Paco setzt ein Lächeln auf.
– Wie viele Kindheitserinnerungen, frage ich dich, zum Tausch gegen die fehlenden Tage auf Djerba, wie viele Erinnerungen an uns zwei, Paco?
– Zum Beispiel?
– Die Erinnerung an jenen Samstagabend im Februar, oben klirrende Kälte, und ich in der Subway noch immer tief eingehüllt in meinen Schal, als könnte mich die frostige Luft verfolgen bis hier unten, während du eine dicke, aber offene Jacke trugst, als du einstiegst an der Wall Street in die 2 Richtung Brooklyn. Du hast dich mir gegenüber hingesetzt, und ich habe den Ruß und den Schmutz und die Farbflecken auf deinen Hosen gesehen, und noch während ich mich fragte, was ist das für eine Frau, da nahm mich schon dein Blick gefangen, deine Augen, die mich groß und aufmerksam und auffordernd ansahen, und dann nahmst du unverhofft meine Hand, das war die Hand einer Fremden, how come, und ich ließ es zu, und du zeigtest stumm auf das Fenster im Abteil gegenüber. Now, look, und du drücktest meine Hand, als kurz nach der Ausfahrt aus der Station Wall Street am Fenster gegenüber unvermittelt ein riesiger Fisch mit flacher Schnauze und steiler Rückenflosse auftauchte, heute weiß ich, ein Acipenser oxyrinchus oxyrinchus, der atlantische Stör, der früher einmal in Schwärmen den East River hinaufgeschwommen kam auf der Suche nach Laichplätzen und mittlerweile im verschmutzten Fluss fast ausgestorben ist. Ein Stör, der mit uns schwamm, im Fenster des Zugs, immer auf gleicher Höhe, in langen, regelmäßigen Bewegungen hielt er mit, begleitete uns, die wir auf dem Nachhauseweg waren auf der Linie 2 unter dem East River hindurch, ein Auf und Ab seines lang gezogenen Körpers, sein regelmäßiger Flossenschlag. Wir schauten ihm zu, erinnerst du dich, und er schwamm neben uns her, eine Ewigkeit schien es mir, und bevor er abtauchte unter die Fensterkante, tat er einen langen Blick ins Wageninnere, als wollte er sich einprägen, wie wir aussehen, wir, die überraschten Passagiere in der Linie 2. Noch immer drücktest du meine Hand, Paco, schmerzhaft nun fast, und als ich aufblickte und in deine Augen sah und darin das Leuchten, da wusste ich, dass dieser Stör dein Stör war, dieser Acipenser oxyrinchus oxyrinchus, und noch bevor ich etwas sagen konnte, hieltest du den Finger an deine geschwungenen Lippen, und flüsternd, beinahe ohne den Mund zu bewegen, sagtest du, das seien Einzelbilder, wie im Film, man müsse die genaue Geschwindigkeit der Züge in diesem Abschnitt kennen, dazu fluoreszierende Farbe verwenden, und man müsse wissen, sagtest du, wie ein Stör sich bewegt, nächtelanges Arbeiten, das sei schon alles.
– Das ist die Erinnerung, Astèr, wie wir ausstiegen an der Borough Hall, und dann sind wir über altes, knirschendes Eis und über Schneereste die Joralemon Street entlanggegangen, bis zur Nummer dreiundzwanzig, mein Apartment, und ich stand genau so in der Tür, die Hand auf der Klinke, wie jetzt.
– Genau so, Paco.
– Und du fragst dich, ob du diese Erinnerung tauschen würdest gegen das Bild der Sonne über Djerba wenige Minuten vor dem Ereignis, gegen ein präzises Bild dieses Taxifahrers, der dich da hinfuhr und der Tahar heißt, gegen ein Bild von dir, in diesem Hotel, in dem du abgestiegen bist, das Arisha.
– Hey, sage ich.
Sie stößt sich ab vom Türrahmen, und ich höre, wie sie im Badezimmer hantiert, dann das Geplätscher der Dusche. Ich mag es zu wissen, dass sie dasteht und sich alles abseift: die ständige Angst, von einer Überwachungskamera erfasst zu werden, den geduckten Gang immer, manchmal auch das Kriechen entlang eines Tunnels, die schwere Tasche mit den Dosen auf dem Rücken, im Licht der Stirnlampe vorwärts bis zu der Stelle, an der sie tags zuvor aufgehört hat. In diesen Tagen gerade ein stroboskopischer Schriftzug bei der Metrostation West Broadway, an die Wand gesprayt der Satz NEVER GIVE UP UNVEILING LIES, über hundert Meter lang, Paco mit den unhandlichen Schablonen an der Tunnelwand, immer die Angst im Nacken. Die Furcht vor der heranbrausenden Bahn, es nicht rechtzeitig in die rettende Nische zu schaffen, MY BUSH IS THE ONLY ONE I TRUST hat sie kürzlich gesprayt, ein stechender, leuchtender Satz vor den Fenstern der Subway unter der Lafayette.
Gleich wird sie dastehen, im Bademantel, einen Apfel in der Hand, ihr Haar wie perlend über die Schultern, bereit für meine letzte gesicherte Erinnerung an Djerba:
Ich erinnere mich, wie das Flugzeug einen weiten Bogen über das Meer zog, das zur Küste hin blau leuchtete in verschiedenen Abstufungen, weiter draußen hohe Wellenberge, aufgepeitschte Schaumkronen, und die Farben geschichtet wie Striemen gegen den Horizont, keine Tanker mehr und keine Frachter, wie ich sie beim Überflug gesehen hatte.
In dieser weiten Kurve über dem Golf von Gabès suchte ich das Meer ab nach einem weißen Segel, nach einer lang gestreckten, hellweißen Yacht. Ich hatte die Vorstellung, dass er unten auf dem gepeitschten Wasser sein Schiff zum Hafen lenkte, während ich da oben in der Luft hing, und drückte meine Nase ans Fenster. Da streifte mich der Nachhall seiner Stimme, eine Berührung von vor langer Zeit, und ich fragte mich, ob ich seinen Geruch noch kennen und ob ich ihm den Zorn nachtragen würde, wenn wir uns sehen. Ein kleiner Sprung meines Herzens, als ich tatsächlich ein Segel sah inmitten der Wellen, aber viel zu klein für das Schiff, das mir Claude geschildert hatte in den Mails vor meiner Abreise, und unmöglich, dass ich von dieser Höhe aus den Namen lesen könnte am Bug oder am Heck, den Schriftzug Cassiopeia. Je weiter das Flugzeug sank, im heftigen Wind schlingernd, jetzt schon über Land und über den weißen Häusern der Insel, die Salzsümpfe an der Küste, die staubigen, trockenen Felder, desto angestrengter blickte ich hinaus auf den Horizont des Meers, der flacher wurde, immer flacher, bis wir mit einem heftigen Ruck landeten. Und als die Bremsklappen ausgefahren wurden, als das Flugzeug zitternd abbremste und sich auf der Rollbahn festklebte, sah ich, zur Küste hin, einen Schwarm weißer Vögel, die aufflatterten, wie aufgescheucht durch unsere Landung.
Auch später, im Fond eines Taxis unterwegs zum Hauptort, nach Houmt Souk, ging mein Blick immer nur aufs Meer hinaus, hinter windgebeutelten Palmen und Gebüsch sah ich allein das aufgewühlte Meer. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ob er es auch schaffen würde, bei diesem Wetter, Claude, mein Freund aus früheren Zeiten, vielmehr habe ich mir vorgestellt, wie er sein Schiff da draußen auf Kurs hält, beide Hände am Steuerrad, und sein langer Körper fängt geschmeidig die harten Schläge der Wellen auf, er unterwegs mit demselben Ziel wie ich, nach Houmt Souk, dem Hauptort dieser Insel.
Meine letzte Erinnerung, dass mich der Taxifahrer aus meinen Gedanken riss, dieser Mann namens Tahar, dessen Name und Telefonnummer ich später in meiner Brieftasche fand, sie lag bei meinen Utensilien im Krankenhaus, ein handgekritzelter Zettel. Mein Taxifahrer, Tahar, sein Blick im Rückspiegel, ich erinnere seine olivfarbene Haut, das scharfe Profil seiner Nase im Sonnenlicht, ein leichter Bartansatz und über seinen dunklen Augen ein Anflug von Melancholie.
Seine Frage, ob ich zum ersten Mal auf Djerba sei, auf dieser Insel, auf der das Land so sanft ins Meer übergeht wie nirgendwo sonst. »Ja«, gab ich zurück, »mein erstes Mal, my first trip here«, und ich fragte ihn sofort und ohne Umschweife, wo einer landen würde, der mit einem Segelschiff übers Meer kommt. Ob er bei diesem Wind direkt den alten Hafen von Houmt Souk ansteuern würde oder ob es noch andere Hafen gäbe, eine Bucht, die Schutz bietet. Und ob es anhaltend Sturm gegeben habe die letzten Tage, fragte ich ihn.
– Well, in this period of the year, es ist die Zeit der Frühlingsstürme.
– Welche Windstärke, sechs, sieben, acht, wie viel, fragte ich schnell.
Aber Tahar, mein Fahrer, ein Lächeln in seinem Gesicht, sagte nur: »Strong this time, very strong«, und da waren wir schon bei den ersten Häusern von Houmt Souk angelangt. Linker Hand tauchte der Hafen auf, ich sah in der Ferne hohe Masten, die im Wind hin und her schwankten, und ich versuchte zu erkennen, ob da ein Zweimaster dabei war.
Mein Taxifahrer, dieser Mann namens Tahar, er ließ mich im Rückspiegel nicht aus den Augen, daran kann ich mich erinnern. Als ich den Namen meines Hotels wiederholte, Arisha, fragte er, ob ich eine Vorliebe hätte für Karawansereien, denn das Arisha sei früher eine Karawanserei gewesen, »da also wollen Sie übernachten, im alten Hafen der Wüstenschiffe«. Geschickt lenkte er den Wagen in eine Seitengasse, hielt an, ließ mich aussteigen, hob meine Tasche aus dem Kofferraum, lächelte breit und sagte:
– Da werden Sie aber in Ihren Träumen weite Reisen tun, vom Hoggargebirge bis zu den Zedernwäldern im Libanon, von den Piratennestern auf Menorca zur auflauernden Kriegsflotte der Ottomanen vor Siracusa.
– Oh yes, gab ich zerstreut zur Antwort.
Und folgte ihm die immer schmaler werdende Gasse entlang. Unter dem Torbogen, vor der Rezeption, stellte Tahar meine Tasche ab und sagte: »I’ll be here tomorrow«, und ich sehe ihn, wie er sich umdreht, wie er im Schatten der weiß verputzten Fassaden des Platzes nochmals winkt.
Nach diesem Bild setzt meine Erinnerung aus. Sie wird auch so bald nicht wiederkommen, sagten mir die Ärzte im Metropolitan und im Mount Sinai mit Blick auf meinen Splitter, meinen halben Zackenmond, wenn überhaupt.
Ich weiß heute nicht mehr, ob die Astèr Littman, die ich vor ein paar Wochen gewesen war, die unversehrte Astèr, ob sie im letzten Licht des Tages tatsächlich unter den großen Bögen im ersten Stock des Hotels stand, die Hände auf die raue Brüstung gestützt, ob sie in den Hof des Hotels hinunterblickte, altes Gemäuer und dunkle, kühle Gewölbe. Habe keine Ahnung, ob ich nach dem Bezug meines Zimmers quer durch den Innenhof hinaus auf die Gasse gegangen bin, hinein in die frühe Dämmerung des letzten Märztags, hinein in den Fluss der Touristen, schlendernd zuerst, aber dann schneller, als wäre mir gerade erst eingefallen, dass ich noch etwas zu erledigen hatte. Bin ich tatsächlich zum Hafen gegangen, auf der anderen Seite der Hauptstraße, links und rechts einige Läden, und die Bäume warfen lange Schatten, und bin ich schnell, bin ich schneller gegangen, je näher ich dem Hafen kam, ich weiß es nicht. Nicht einmal Fotos gibt es, die mir weiterhelfen könnten, denn kein einziges Bild konnte auf dem Film in meiner Kamera gerettet werden.
Aber was taugt selbst eine Fotografie, wenn ich nicht erinnern kann, ob ich bis ganz nach vorne gegangen bin, zum grünen Leuchtturm, vorbei an den Fischerbooten und an den Fischern, die um diese Zeit vielleicht still ihre Netze flickten, so schweigsam, als teilten sie ein undurchdringliches Geheimnis. Bin ich am Leuchtturm vorne auf die Mole gestiegen, die aufgeschütteten Steinbrocken hinauf, habe ich von dort aufs Meer hinausgeschaut, lange, und so, wie man aufs Meer hinausschaut, wenn man jemanden sehnsüchtig erwartet. Oder bin ich bald zurückgegangen, in der einbrechenden Dunkelheit, leicht verärgert vielleicht über seine Verspätung, und habe ich mich erinnern wollen, dass er auch früher schon, in jenem verrückten Sommer, den wir teilten, immer zu spät gekommen war. Und ging ich dann denselben Weg zurück, oder nahm ich den Umweg über den Marché Libyen, und als ich die ersten Sterne am Himmel betrachtete, tat ich es gegen die Angst oder weil ich mir leichten Herzens vorstellte, dass auch Claude an diesem Abend in diesen Sternenhimmel schaute.
AUF DER RETTUNGSINSEL, ERSTER TAG WINDGE-RÄUSCHE, RUMPELND, EIN HUSTEN womit, Astèr, fülle ich die Lücke in meiner Zeit auf diesem Meer, das jetzt flach und so glatt ist, als könnte man darauf spazieren gehen, von Gibralter nach Malta oder von Marseille nach Tunis, auf einer Oberfläche wie tragend, wie die weiten, ausgedehnten Landschaften des Sahel, erinnerst du dich KNARZENDES PLASTIK, PAUSE ich frage mich, wo die Reste des Sturms geblieben sind und wie es kommt, dass unser Meer mit einem Mal wie ein gespannter Bogen zwischen den Kontinenten und Ländern daliegt, kein Wind und keine Wolken am Himmel, das deutet auf ein Hochdruckgebiet mit Zentrum im Südwesten von Sizilien hin, ich kann die Isobaren spüren, wie feine Linien umspinnen sie meinen Horizont, und ich denke, dass sich das Hoch noch verstärken wird in den nächsten Stunden, bevor es langsam Richtung Nordosten wandert und endlich wieder Wind aufkommt RUTSCHGERÄUSCHE AUF PLASTIK ich wäre gerne ironisch, wie früher, aber das ist gerade schwer hinzukriegen, Astèr, ich bin nicht gekommen zu unserer Verabredung, es hat nicht gereicht, weil ich hier auf einer Rettungsinsel sitze, du kannst dir das nicht vorstellen, ich sitze auf einem orangen Ding mit Namen PLASTICO SEASAFE, eine Rettungsinsel allerneuester Generation, nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich sie benötigen würde, ich habe alle Erzählungen von Seglern, die berichteten, sie hätten umsteigen müssen in die Rettungsinsel, als Beweis schlechter Segelkunst abgetan, und jetzt finde ich mich in dieser Lage wieder, ich kann dir sagen, ich habe an Bord meiner Insel Wasser für etwa vier Tage, Schiffsbiskuits, noch sieben Notraketen und dieses Aufnahmegerät, das sich in meiner Nottasche befand, und bin jetzt fürs Erste hier, wie geparkt mitten auf diesem Meer, wie herausgeworfen auf dieses Meer, das ich kreuz und quer durchsegelt habe, von der äußersten Spitze des Peloponnes, vom Kap Maléas an der Ostspitze der Insel Kithira vorbei nach Kissámos auf Kreta, und weiter bis an die libysche Küste, von Gaza aus habe ich mich auf den großen Meeresströmen treiben lassen, die ganze algerische Küste entlang, ich bin auf den Wellen des Mistrals in einer Nacht von Marseille nach Ajaccio geritten, habe den wilden Sommerstürmen vor Menorca getrotzt, und ich lag in den Kalmen vor der ägyptischen Küste und hätte nie gedacht, dass es dieses Ende nehmen würde, aber da bin ich nun, und in mir kämpft meine Verzweiflung und meine Wut und meine Angst mit einem unendlichen Gefühl von Raum, das mich überwältigt, wie eine Halluzination und doch real, weil ich ja wirklich verloren bin, aber jetzt gerade, während ich spreche, fühle ich mich über dieses spiegelglatte Meer hinweg dennoch verbunden mit den Menschen, mit den Menschen auf der Promenade des Anglais in Nizza oder auf der Terrasse des Hotel Negresco, den Menschen in Algier, die jetzt die Gassen ihrer Stadt verlassen, die schattigen, engen Straßen, um ein paar Schritte am Meer entlangzugehen, wie auch den anderen, auf der Rambla de Mar von Barcelona und auf den Piers von Valencia und am Hafen von Alicante, ich fühle mich verbunden mit den Menschen auf der Strandpromenade von Igoumenitsa, auf der Corniche von Alexandria und mit denen an den Stränden von Tel Aviv, den Spaziergängern am Bosporus in Istanbul, mit den jungen Männern vor den Stadtmauern von Dubrovnik und den Touristen in Alghero auf den Zinnen der Zitadelle, alle unterwegs rund um dieses Meer, die Mädchen mit Kopftuch am Hafen von Beirut, lachend oder zornig oder ernst, genauso gut drauf wie die Mädchen, die bei Nervi am Geländer stehen und aufs Meer hinausschauen LANGES SEUFZEN, EINE PAUSE aber du wirst mich auslachen, falls du diese Tonbänder zu hören kriegst, du lachst mich aus wie damals, an einem Nachmittag, als wir auf dem Bett lagen, an der Wand diese verrückte Karte, die Karte des Mittelmeers der Zukunft, und ich legte meine Hand auf deinen Bauch, ließ sie da liegen, federleicht, und erzählte von meinem Respekt vor dem Meer und vor dem Wasser überhaupt, ich schilderte die hohen, rollenden Wasserwände an den Stränden, wo ich aufgewachsen bin, die Wellen des Pazifischen Ozeans, ich malte Wellenberge in unser Zimmer an jenem Nachmittag, Wellen, deren Schichtungen und Strömungen nach dir greifen wie saugende Tentakel, sie zerren an deinen Armen und reißen dich empor, in rasender Geschwindigkeit, und in der Krümmung des Wassers kannst du quer durchtauchen und auf der anderen Seite der Welle, auf ihrem Buckel, wieder ans Licht kommen, prustend, nach Luft ringend, das habe ich dir erzählt, erinnerst du dich, und du hast gelacht und gesagt, das klingt wie Sex, und dann hast du gefragt, warum ich diesen Kitzel immer wieder suche, und ich erzählte vom Surfen an den Stränden von Tarifa, vom Spiel mit der Strömung vor Santa Monica, vom wilden Tanz in der Gischt vor Montauk, und wie es ist, wenn man im aufgepeitschten Atlantik mit einer Yacht eine Welle hinunterrauscht, in ein Wellental ohne Ende, um dann, langsamer werdend, den nächsten Wellenberg zu erklimmen, immer auf der Hut, dass der Kamm nicht bricht über dem Deck und alles überflutet RUTSCHENDES GERÄUSCH, EIN KNACKEN, LÄNGERE PAUSE weißt du, ein Strömungsabriss bei einem Segelschiff ist physikalisch gesehen der Augenblick, bei dem die Auftriebswirkung des Ruders infolge zu starker Krängung oder Geschwindigkeit abreißt, meist bedingt durch starken, plötzlichen Windeinfall, also wird das Schiff sich zunächst stark zur Seite legen, um dann, im Moment des Strömungsabrisses, unkontrolliert in den Wind zu schießen, genau in dem Augenblick, in dem der maximale Antriebswert bei maximalem Anstellwinkel des Ruders überschritten wird, was man in der Aeronautik als Bruch des Flügels mit der umgebenden Luft bezeichnet, oder der Verlust des reibenden, also produktiven, auftreibenden Kontakts mit dem Medium Luft, und aufs Segeln übertragen ist das der Augenblick, in dem das prekäre Spannungsverhältnis zwischen Wasser, Rumpf und Ruder aufgelöst und gebrochen wird, und genau diese Abfolge relativ komplexer physikalischer Gesetzmäßigkeiten schoss mir letzte Nacht durch den Kopf, genau um zweiundzwanzig Uhr dreiundvierzig, als meine Cassiopeia von dieser Welle erfasst wurde WIEDER RÄUSPERN, TROCKENES HUSTEN nicht, dass ich nicht alle Vorbereitungen für den herannahenden Sturm getroffen hätte, Astèr, denn als der Luftdruck aus heiterem Himmel zu fallen begann, kurz vor Sonnenuntergang und so schnell, dass ich geradewegs zusehen konnte, wie die Nadel des Barometers sich nach links bewegte, da habe ich all die sensiblen Messinstrumente ausgeschaltet, ich verstaute sie in wasserdichte Boxen, wie vorgeschrieben, das Echolot, den Tiefenwassersonar, den Strömungsmesser, die Satellitenverbindung, den Wellenhöhenmesser, die beiden Laptops, ich montierte die Satellitenschüssel ab, versorgte auch das ganze elektronische Kleinzeugs, und dann machte ich die Cassiopeia sturmklar, wie viele Male zuvor, zwölf Meter Schiffslänge, die schon viele Stürme überstanden hatten, fliegendes Wasser im Golf von Biskaya drei Tage und drei Nächte lang, einmal ein fürchterlicher Sturm nördlich des Fastnet Rock in der irischen See, und immer wieder, seit unsere Firma im Mittelmeer arbeitet, seit wir die Messreihen machen, um unsere Unterwasserturbinen aufstellen zu können, immer wieder der Meltemi mit Windgeschwindigkeiten von acht Beaufort und mehr, also die Luken alle geschlossen, die Seeventile auch, an Deck alles festgezurrt, auch die Positionslichter überprüft, die Lenzpumpe, drei Reffs ins Großsegel eingebunden und die Sturmfock bereitgelegt, dann den Proviant unter Deck verstaut, alles, was herumfliegen könnte, gesichert, zuletzt nochmals meine Position im Logbuch notiert, auf der Karte nachgetragen, auf dem Kartenplotter markiert, alles Routine KURZES AUFSEUFZEN, WIE LACHEN hättest mich sehen sollen, Astèr, wie ich mir im aufheulenden Wind, der schlagartig einsetzte, noch eine Suppe kochte, so wird es in jedem Skipperhandbuch empfohlen, damit man etwas im Magen hat, und sei es auch nur, um es herauszukotzen, meine Gewissenhaftigkeit, eine Pedanterie zuweilen, du hast dich darüber lustig gemacht, erinnerst du dich, an dem Tag, als wir im Hagel der Tränengasgranaten rannten in jenem verrückten Sommer, dir war der Geldbeutel aus der Tasche gefallen, das ganze Kleingeld auf dem Gehsteig, und ich hielt an, bückte mich und las das Geld auf, jede einzelne Münze, mit brennenden Augen, nur Rotz und Wasser, ich legte alles sorgfältig zurück, schloss den Beutel und gab ihn dir, und du, auch alles Rotz und Tränen, du schütteltest in diesem Augenblick den Kopf, hast mir das Haar zerzaust, mit einem Lächeln LÄNGERE PAUSE, STILLE also nicht, dass ich nicht vorbereitet gewesen wäre auf das, was nun auf die Cassiopeia und mich zukommen würde, aber vielleicht war in dieser anbrechenden Nacht eine Spur Ungeduld da, eine leichte Verstimmung darüber, dass mich der aufziehende Sturm von meinem Kurs nach Djerba abbringen würde, mag sein, dass ich deshalb die bereits gereffte Fock etwas zu lange oben ließ und nicht gleich die Sturmfock setzte, als der Wind die Cassiopeia wie mit Hammerschlägen traf, die kurzen steilen Wellen sprangen jetzt heran, standen im Schein der Positionslichter vor meinem Bug wie gefährliche Tiere aus dem Nichts, mit einem Mal war Gischt in der Luft, den Windanzeiger konnte ich schon nicht mehr lesen, beim letzten Mal zeigte er achtundvierzig Knoten, das sind gute neun Windstärken, und während ich darüber sinnierte, welcher Unterschied besteht zwischen »grobem« und »hohem« Seegang auf der Petersenskala und ob diese Skala derjenigen der World Meteorological Association entspricht mit ihrer Unterteilung in »rau« und »sehr rau«, während ich am Steuer stand und darüber nachdachte, die Hände klamm am Rad, legte sich die Cassiopeia erstmals heftig zur Seite und lief mir um ein Haar aus dem Ruder, Strömungsabriss, sie bohrte sich mit dem Bug in die nächste Welle, ich luvte an und wartete, bis sie sich wieder aufgerichtet hatte, meine Cassiopeia, und in diesem Augenblick, kaum eine halbe Stunde nachdem der Sturm eingesetzt hatte, krallte sich die Frage in meinem Kopf fest, ob ich mein Schiff in dieser Lage der Selbststeuerungsanlage, dem Autopiloten, würde überlassen können, um das zu tun, was jetzt dringend anstand, nämlich das gereffte Großsegel ganz zu bergen, die Fock durch die Sturmfock zu ersetzen, aber da lief mir die Cassiopeia schon wieder aus dem Ruder KNARZENDES PLASTIK, TRINKGERÄUSCHE sie war über einen kurzen Wellenkamm hinausgeschossen, zu schnell und mit zu viel Krängung, und oben auf der Wellenkante der Schlag des Winds, und so legte sich die Cassiopeia wieder auf die Seite, gurgelndes Wasser lief ins Cockpit, aber sie richtete sich wieder auf, taumelte kurz und stand still mit flatternden, schlagenden Segeln, und jeder Segler weiß, das ist die gefährlichste Lage, in die ein Schiff geraten kann, unstabiler Stillstand im Sturm, ein Zustand ohne Auftrieb, unsteuerbar, und als mir diese Situation bewusst, als mir klar wurde, dass mein Schiff nur noch ein Spiel der Wellen war, griff ich nach dem Schalter für den Motor, aber da traf uns ein erster mächtiger Brecher seitwärts und warf die Cassiopeia um, ich hielt mich am Steuerrad fest, schon halb im schäumenden Wasser, fürchtete, dass wir jetzt durchkentern würden, aber dann stellte sich mein Schiff abermals auf, und ich hoffte, wir kämen davon, dreimal flachgelegt, das kommt vor, dachte ich, aber da sah ich, dass der Niedergang zur Kabine offen stand, die Welle hatte ihn aufgedrückt, und da rollte schon der nächste Brecher heran, eine Wand von Wasser in der Dunkelheit, »Durchkentern ist ein Vorgang, den nur wenige Yachten unbeschadet überstehen«, dieser seltsam geschraubte Satz aus einem Handbuch für Schwerwettersegeln schoss mir durch den Kopf, als ich mein Schiff plötzlich über mir fühlte und ich mich im gurgelnden Wasser wiederfand, minutenlang, so kam es mir vor, unter Wasser gedrückt, aber dann riss es mich wieder heraus am Gurt, mit dem ich mich angepiekt hatte, ich japste nach Luft, hing an der Reling, einen Fuß im Gurt verheddert, hievte mich im tosenden Wasser wieder an Bord, lag für einen Augenblick benommen auf dem Boden der Plicht, den Kopf beim Niedergang, der halb offen stand, und über mich hinweg gingen die Wellen, eine um die andere, bis ich endlich aufstand und in der Dunkelheit die ganze Zerstörung an Deck sah, der Mast anscheinend noch intakt, aber das Großsegel hing zerfetzt über Bord, auch die Fock am Vorstag nur noch ein flatternder Lappen, mir war sofort klar, dass es uns schwer erwischt hatte. »Nie die Yacht verlassen, solange sie noch schwimmt«, auch dieser Merksatz schoss mir durch den Kopf, und im Schein der Stirnlampe, während die Brecher von hinten einstiegen, mich immer wieder überfluteten, schäumendes Wasser überall, und das Schiff schlingerte hin und her, und endlich beschloss ich, mir ein Bild von den Schäden zu machen, wollte nach vorn kraxeln und wusste bereits, als ich stand und das Schiff und seine Bewegungen unter mir spürte, dass wir ein ernsthaftes Problem hatten, denn die Yacht lag träger in den Wellen, als sie sollte, sie krängte stark nach vorn, tauchte seltsam tief ein mit dem Bug, den ich im Licht meiner Stirnlampe kaum sah, also schob ich das Luk ganz weg, und da sah ich das ganze Wasser in der Kabine, es reichte bereits bis zum oberen Rand der Schlafbänke, es schwappte über den Kartentisch, und überall schwammen Papiere, Kleider, Karten, die Kisten mit den Apparaten, mein Bordcomputer schimmerte weiß unter Wasser, und von irgendwoher drang unaufhaltsam mehr ein, ich weiß nicht, mir fehlte der Mut, hinabzusteigen, um zu überprüfen, ob da ein Leck war irgendwo LÄNGERE PAUSE, STILLE und heute, sechzehn Stunden später, in meiner Rettungsinsel auf der stillen See, »spiegelglatt« nach der Definition der Petersenskala, »glasig« nach der Bezeichnung der World Meteorological Association, versuche ich mich zu vergewissern, dass ich das einzig Richtige getan habe. »Man sollte sich erst dann zu einem Verlassen der Yacht durchringen, wenn klar zu erkennen ist, dass sie in Kürze sinken wird«, ich gehe alles noch mal durch, was ich tat, ob ich vernünftig gehandelt habe, als ich die Rettungsinsel an einer Klampe sicherte und über Bord warf, vom schlingernden Schiff aus beobachtete, wie sich dieses Ding, das so viele Jahre unbenutzt auf meiner Cassiopeia festgezurrt gewesen war, wie sich dieses PLASTICO SEASAFE nun von selber aufblies, seine Form annahm, eine runde, orangefarbene Plastikinsel, und dann, bis zu den Knien im Wasser und im Licht meiner Stirnlampe der Griff in die Backskiste, ich packte die Tasche mit der Aufschrift »Notration« und die andere mit »Notvorrat Wasser«, schließlich den Seesack mit dem Notmaterial, ich habe eins ums andere an einer Leine festgepiekt und in die Rettungsinsel gelassen, zweimal glaubte ich, einer dieser Brecher würde mir die Insel vom Schiff reißen, aber dann stand ich an der Reling und wollte nur noch eins, dass der Augenblick käme, an dem eine Welle die Rettungsinsel nahe ans Schiff drücken würde, damit ich springen konnte KURZE PAUSE, AUFSEUFZEN ich landete halb im Wasser, klammerte mich an den Griffen der Insel fest, und als ich endlich drin war, versuchte ich mit klammen Fingern die Leine zu meinem Schiff zu lösen, es gelang mir wieder und wieder nicht, bis ich in die Tasche mit dem Notmaterial griff, das Messer fand und die Leine kappte, und noch immer verfolgt mich dieses Bild, wie die Rettungsinsel, auf einen Schlag, als würden zwei Welten auseinandergerissen, mit mir auf einem Wellenkamm davonflog, weggerissen von meinem Schiff, das im Schein der Stirnlampe wegtauchte, der Schriftzug am Heck Cassiopeia, und in dieser Sekunde wurde mir bewusst, dass ich vergessen hatte, einen Notruf abzusetzen, und dass sich meine Notrufboje noch genau dort befand, wo ich sie für alle Notfälle befestigt hatte, am Heckkorb, in einer roten, gut markierten Halterung, was habe ich mich dafür verflucht in den letzten Tagen, immer wieder, aber jetzt sehe ich meine Lage nüchtern, es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich diesem Meer zu überlassen, seinen Strömungen und seinen Winden TRINKGERÄUSCHE, KNARZENDES PLASTIK, DANN LACHEN ich kann ja jetzt, weil ich ohnehin nichts Besseres zu tun habe, etwas Meereskunde betreiben für dich, die du mich erwartest am Hafen von Houmt Souk LEISES KICHERN also ich befinde mich wohl in der südöstlichen Oberflächenströmung, sozusagen im fernen Ausläufer des Atlantikwassers, das ins Mittelmeer durch die Straße von Gibraltar einfließt, in meiner Rettungsinsel hänge ich ganz und gar ab vom Pulsieren dieses Binnenmeers, das auf den ständigen Zustrom von frischem Wasser aus dem Atlantik angewiesen ist, auf salzarmes, kälteres Wasser, der Antrieb einer großen, einer alles umfassenden Pumpe, angetrieben durch die Verwandlung von salzarmem, kühlerem Wasser zu salzreicherem, wärmerem, ein Aufsteigen und Absinken von enormen Wassermassen, und so ist das Mittelmeer ein Meer der Strömungen, die sich die Phönizier bereits zunutze gemacht haben, sie, die das Mittelmeer mit ihren pfeilschnellen Schiffen befuhren, sie sollen vor der Straße von Gibraltar tiefe Treibanker gesetzt haben, um sich von den ausströmenden Wassern gegen das einströmende, kalte Oberflächenwasser des Atlantiks in den Atlantik hinausziehen zu lassen, aber es gibt auch die gefürchteten Mahlströme in diesem Meer, die sich wie ein Strudel drehen, einer davon liegt nicht weit von hier, vor Garofalo in der Straße von Messina, in der Odyssee die Charybdis genannt, ein Strom von riesigen Ausmaßen, der sich mit einer Geschwindigkeit von achtzehn Kilometern pro Stunde dreht, ein gewaltiges Naturphänomen DUMPFE, RUMPELNDE GERÄUSCHE und ich nun, Astèr, wenn alles nach meinen Berechnungen geht, bewege mich mit dem hier vorherrschenden Strom unendlich langsam ostwärts, gleite sehr bedächtig wohl gerade über den sogenannten Pantelleriagraben, drifte dann in Richtung Maltagraben, bewege mich, sachte von Wind und Strömung getrieben, über diese Täler und Hügel, die Gräben und weiten Plateaus da unten im Wasser hinweg, über Landschaften, deren Eigenschaften mir von meinen Forschungen her so sehr vertraut sind, versehen mit Fantasienamen, gedacht zur Verständigung unter Ozeanografen, Geologen, Kartografen, die am Internationalen Geografischen Kongress in Berlin achtzehnhundertneunundneunzig den Beschluss fassten, eine umfassende Tiefenkarte der Ozeane anzufertigen, um den Landschaften da unten Namen zu geben, so wollte es auch Fürst Albert der Erste von Monaco, der neunzehnhundertdrei die Richtlinien für die Gestaltung der ersten Bathymetric Chart of the Oceans festlegte BEWEGUNGEN, LEICHTES RASCHELN bereits neunzehnhundertvier lagen für das Mittelmeer achtzehntausendvierhundert Lotungen vor, achtzehntausendvierhundert Mal wurde ein Faden in die Tiefe gelassen, die Länge gemessen, achtzehntausendvierhundert Mal ein Punkt auf der Karte eingetragen, bis sich ein Bild ergab von einer Landschaft unter der Oberfläche, eine Arbeit von unendlicher Mühe bis zum Einsatz des Echolots zu Beginn der neunzehnzwanziger Jahre, als es einfacher wurde, Gegenden wie die Al Haouraria Bank und die Talbot Bank zu erkunden, wo der Unterwasserstrom, der sich in den weiten Wasserflächen zwischen Zypern und Rhodos bildet, mit hoher Geschwindigkeit durch das flache Wasser am Scheidepunkt des Ionischen und des Tyrrhenischen Meers durchgepresst wird ERNEUTES RASCHELN also da unten, Astèr, haben wir unsere Messinstrumente verankert, zwischen die Felsen gespannt, sie sollen ein Jahr lang die Kraft der Strömung messen, ihre Geschwindigkeit und ihre Richtung, und wenn sich alles gut entwickelt, wenn es gut läuft, dann ist an mehreren Standorten die Installation von mindestens zwanzig gewaltigen Propellern beschlossene Sache, ein gigantisches Unterwasserströmungskraftwerk, unerschöpfliche Energie, gewonnen aus der jahrtausendealten Bewegung des Meeres, aus den uralten Gesetzmäßigkeiten der Strömungen LANGE PAUSE, STILLE aber jetzt ist alles verloren, die ganzen Messdaten der vergangenen Monate liegen mit der Cassiopeia irgendwo auf dem Meeresgrund, auf dem Pantelleria Trough, das Forschungsschiff meiner Firma, mein zweites Zuhause in den letzten Jahren, wie viele Monate lang habe ich mich geplagt für die Entwicklung der besten Halterungen für unsere Messstationen, wie viele Wochen bin mit der Cassiopeia auf Drift gewesen auf diesem Teil des Meers, um die reale Geschwindigkeit der Strömungen zu messen, wie oft habe ich die Zeit vergessen im Dunkel der Kabine, über meine Instrumente gebeugt, und wie oft habe ich mir die Hände blutig geschunden an irgendwelchen Trossen, die es zu befestigen galt, an plötzlich davonrauschenden Kabeln, die von einem tauchenden Wal oder einem spielfreudigen Delfin in die Tiefe gezogen wurden, die ganze Messreihe verloren, ich kann es kaum glauben KÜRZERE PAUSE