Al-Aqsa oder Tempelberg - Joseph Croitoru - E-Book

Al-Aqsa oder Tempelberg E-Book

Joseph Croitoru

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Beschreibung

Tempelberg für die Juden, drittwichtigstes Heiligtum für die Muslime: Der K omplex aus Felsendom, Al-Aqsa-Moschee und Klagemauer ist der geheimnisvollste und umstrittenste heilige Ort der Welt. Joseph Croitoru erzählt seine 3000-jährige Geschichte und schildert, wie der Streit um Jerusalems heilige Stätten seit dem 19. Jahrhundert immer weiter eskaliert ist. Inzwischen planen jüdische Eiferer einen "dritten Tempel", der Widerstand der Muslime wird mit Polizeigewalt unterdrückt. Der uralte Ort des Gebets wird zur Zeitbombe.
Sommer 1981: Auf der Suche nach der verschollenen Bundeslade gräbt sich Rabbiner Jehuda Getz durch den heiligen Felsen und stößt auf ein altes Gewölbe. Kaum herausgeklettert, entdecken ihn Muslime im Seitenraum der Moschee. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, zum Generalstreik und beinahe zur internationalen Krise. Der Streit um den Tempelberg hat längst sein Inneres erreicht. Ein jüdischer Tunnel zur Klagemauer sorgte in den 1990er Jahren für Aufstände. Parallel dazu bauten die Muslime die unterirdischen "Ställe Salomos" unter jüdischem Protest zur Wintermoschee aus. Archäologen durften 60 Tonnen Aushub auf einer Schutthalde sichten. Grabungen sind ihnen nicht erlaubt. Joseph Croitoru erzählt auf der Grundlage zahlreicher hebräischer und arabischer Quellen die dramatische Geschichte eines Kampfes, der seit der Antike mit religiösen und politischen Heilserwartungen aufgeladen ist, mit Aufständen, Waffengewalt, Pilgerfahrten und Gebeten geführt wird und für den heute weniger denn je eine Lösung in Sicht ist.

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Joseph Croitoru

Al-Aqsa oder Tempelberg

Der ewige Kampf um Jerusalems heilige Stätten

C.H.Beck

Zum Buch

Tempelberg für die Juden, drittwichtigstes Heiligtum für die Muslime: Der Komplex aus Felsendom, Al-Aqsa-Moschee und Klagemauer ist der geheimnisvollste und umstrittenste heilige Ort der Welt. Der Journalist und Nahost-Experte Joseph Croitoru erzählt seine 3000-jährige Geschichte und schildert auf der Grundlage vieler unbekannter Quellen, wie der Streit um Jerusalems heilige Stätten immer gefährlicher eskaliert. Sein wichtiges Buch macht eindrucksvoll deutlich, warum die Weltreligionen an diesem Ort so unentwirrbar miteinander verwoben und immer unversöhnlicher verfeindet sind.

Sommer 1981: Auf der Suche nach der verschollenen Bundeslade gräbt sich Rabbiner Jehuda Getz durch den heiligen Felsen und stößt auf ein altes Gewölbe. Kaum herausgeklettert, entdecken ihn Muslime im Seitenraum der Moschee. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, zum Generalstreik und beinahe zur internationalen Krise. Der Streit um den Tempelberg hat längst sein Inneres erreicht. Ein jüdischer Tunnel zur Klagemauer sorgte in den 1990er Jahren für Aufstände. Parallel dazu bauten die Muslime die unterirdischen «Ställe Salomos» unter jüdischem Protest zur Wintermoschee aus. Archäologen durften 60 Tonnen Aushub auf einer Schutthalde sichten. Grabungen sind ihnen nicht erlaubt. Joseph Croitoru erzählt auf der Grundlage zahlreicher hebräischer und arabischer Quellen die dramatische Geschichte eines Kampfes, der seit der Antike mit religiösen und politischen Heilserwartungen aufgeladen ist, mit Aufständen, Waffengewalt, Pilgerfahrten und Gebeten geführt wird und für den heute weniger denn je eine Lösung in Sicht ist.

Über den Autor

Joseph Croitoru, geboren 1960 in Haifa, ist Historiker und Journalist. Lange Autor der Feuilletons der FAZ und NZZ mit den Schwerpunkten Nahost und Osteuropa, schreibt er nun u.a. für den SPIEGEL, die Süddeutsche Zeitung und die tageszeitung. Zuletzt erschien von ihm «Die Deutschen und der Orient» (Hanser, 2018).

Inhalt

Vorsatz

Nachsatz

Vorwort

– 1 – Der Tempelberg in den drei abrahamitischen Religionen

Die Tempel des Alten Israel

Der Neubau unter Herodes

Die Jerusalemer Tempel in der jüdischen Erinnerung

Der Tempel und der Berg im Christentum

Al-Masdschid al-Aqsa, «die fernste Kultstätte»

Kreuzfahrerzeit und muslimische Herrschaft

«Westmauer» und «Al-Buraq»

– 2 – Die spätosmanische Zeit (19. und frühes 20. Jahrhundert)

Frühzionistische Träume und die Klagemauer

Tempel-Phantasien bei Rothschild, Marmorek und Herzl

Die Klagemauer, verherrlicht und geächtet von europäischen Juden

Tempel-Motive im Jugendstil: Ephraim M. Lilien

Der hartnäckige Kampf um das Beten am Kotel

– 3 – Jerusalem unter britischer Herrschaft (1917–1948)

Briten, Zionisten, Araber

Chaim Weizmann will die Klagemauer erwerben

Die Klagemauer als nationales Symbol der Säkularen

Diskussionen über den Wiederaufbau des Tempels

Das neue Jerusalem des Bildhauers Boris Schatz

Al-Haram al-Scharif als Ausgangspunkt antizionistischer Demonstrationen

April 1920: Pilgerströme und Ausschreitungen

Jüdisches Selbstbewusstsein an der Klagemauer

Messianische Euphorie

Amin al-Husseini: Der militante Großmufti von Jerusalem

Die Legende von derjüdischen Vereinnahmung des Tempelbergs

Der Jischuw erhebt Besitzanspruch auf die Klagemauer

Jom Kippur 1928: Streit um eine Trennwand an der Klagemauer

Palästinensische Proteste und Provokationen

Militante Juden in der Offensive: Tischa be-Av im August 1929

Eine panislamische Kampagne für den Tempelberg

Der arabische Aufstand und die Kotel-Kompanie

Die Klagemauer während des Zweiten Weltkriegs: Trauer und Nationalstolz

Al-Husseinis antisemitische Propaganda aus dem deutschen Exil

– 4 – Die heiligen Stätten unter jordanischer Herrschaft (1948–1967)

Der israelisch-arabische Krieg von 1948

Eine goldene Kuppel für den Felsendom: Das haschemitische Königshaus als Hüter der Heiligtümer

Tourismus unter jordanischen Vorzeichen

– 5 – Tempelberg und Klagemauer unter israelischer Kontrolle (ab 1967)

1967: Euphorie nach der Eroberung des Tempelbergs

Die Zerstörung des Maghrebiner-Viertels

Moshe Dayan etabliert einen neuen Status quo und Militärrabbiner Goren bläst den Schofar

Messianischer Aktionismus gegen Besonnenheit

Die Polizei zwischen den Fronten

1969: Die Al-Aqsa-Moschee in Flammen

Erneute Provokationen im Moscheenareal

Die Heiligtümer im Visier jüdischer Extremisten

Eine Tunnelschlacht unter dem Felsendom

Jüdische Terroranschläge auf den heiligen Berg

Tempelberg-Aktivisten und Parlamentarier Hand in Hand

Arafat und die Kampagne zur «Befreiung» von Al-Aqsa

– 6 – Der heilige Felsen als Hindernis für den Frieden (seit 1993)

Al-Aqsa-Parolen auf palästinensischen Fahnen

Israelisch-jordanische Annäherung: Die Verwaltung des heiligen Bergs

Der Tunnel entlang der Klagemauer und die Moschee unter der Al-Aqsa-Moschee

Der gescheiterte Friedensprozess oder Warum Scharon auf den Berg stieg

Die Al-Aqsa-Intifada

2003: Ansturm der Tempel-Aktivisten

Die Tempel-Bewegung in der Knesset

Islamisten bedrängen jüdische Besucher auf dem Haram

Gegen eine «Aufteilung» des Moscheenareals

Das Recht des Stärkeren: Der Status quo von 1967 wird ausgehöhlt

Zeittafel

Anmerkungen

– 1 – Der Tempelberg in den drei abrahamitischen Religionen

– 2 – Die spätosmanische Zeit (19. und frühes 20. Jahrhundert)

– 3 – Jerusalem unter britischer Herrschaft (1917–1948)

– 4 – Die heiligen Stätten unter jordanischer Herrschaft (1948–1967)

– 5 – Tempelberg und Klagemauer unter israelischer Kontrolle (ab 1967)

– 6 – Der heilige Felsen als Hindernis für den Frieden (seit 1993)

Bildnachweis

Literatur

Personenregister

Vorsatz

Nachsatz

Vorwort

Der muslimisch-jüdische Konflikt um den Tempelberg hat sich in den letzten Jahren dramatisch zugespitzt. Immer mehr jüdische Eiferer zieht es auf das Moscheenareal, wo sie mittlerweile nicht mehr nur Rundgänge absolvieren. Mit dem Segen der rechtsorientierten israelischen Regierung und unter dem Schutz von Polizisten dürfen sie neuerdings dort auch leise vor sich hin beten – ein Verstoß gegen den seit langem herrschenden Status quo. Für den anschwellenden jüdischen Besucherstrom sorgen militante Kreise der nationalreligiösen Siedler. Sie machen auch kein Hehl daraus, dass sie auf dem Berg anstelle der islamischen Heiligtümer den jüdischen Tempel wiedererrichten und dessen Opferkult erneuern wollen, worauf sie sich bereits seit Jahren vorbereiten. Den wachsenden palästinensischen Widerstand meint Israel mit Einschüchterung und Sanktionen brechen zu können.

Es hat den Anschein, als drehe sich das Rad der Geschichte zurück an diesem Ort, der wie kaum ein anderer von Besitzansprüchen und gewalttätigen Konflikten gezeichnet ist. Deren lange Geschichte beginnt, so die biblische Überlieferung, auf dem Berg Morija in Jerusalem, wo der von König Salomo errichtete jüdische Tempel stand. Dass das Heiligtum nach seiner Zerstörung durch die Babylonier 587/86 v. Chr., dem Wiederaufbau durch Rückkehrer aus dem babylonischen Exil und dem monumentalen Ausbau durch Herodes schließlich im Jahr 70 n. Chr. von den Römern dem Erdboden gleichgemacht wurde, hat bei den Juden ein tiefes Trauma hinterlassen. Umso akribischer versuchten sie die Erinnerung an den Tempel im Schriftenkanon wie in der Liturgie wachzuhalten, verbunden mit der Erwartung, dass er eines Tages wiedererrichtet werde. Dass das Areal des zerstörten herodianischen Tempels unter den byzantinischen Christen brachlag, war wohl eine Voraussetzung dafür, dass die muslimischen Eroberer es etwa ab der Mitte des 7. Jahrhunderts als religiöse Stätte für sich beanspruchen konnten. Im Einklang mit der koranischen Überlieferung über die nächtliche Reise des Propheten Muhammad errichteten sie dort die Al-Aqsa-Moschee und den Felsendom und erhoben den Berg so zum wichtigsten islamischen Heiligtum nach Mekka und Medina. Der muslimische Besitzanspruch blieb nicht unangefochten. Als die Kreuzfahrer Palästina eroberten, wurde der Felsendom in eine Kirche umgewandelt, die Al-Aqsa-Moschee diente dem Templerorden als Hauptquartier und Gebetshaus. Die Muslime herrschten bis auf diese kurze Unterbrechung jahrhundertelang über Palästina, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Als die Briten die lange osmanische Herrschaft im Land beendeten, überließen sie die Hoheit über den Tempelberg den arabischen Muslimen.

Doch die zionistische Bewegung, deren Entfaltung in Palästina die dortige britische Mandatsherrschaft erst möglich machte, erhob Anspruch auf die Klagemauer, jenen Teil der westlichen Stützmauer des Bergplateaus, der von den Juden als Überrest der einstigen Tempelanlage und deshalb als heilig betrachtet wird. Die wachsende Verehrung der Westmauer auch als nationales Symbol, die schon in osmanischer Zeit einsetzte, und die Versuche, in ihren Besitz zu gelangen, befeuerten den sich bereits anbahnenden Konflikt mit den palästinensischen Arabern. Diese fürchteten, die Zionisten könnten bald unter dem Schutz der britischen Mandatsherren auch das Moscheenareal für sich beanspruchen – eine Sorge, die palästinensische Nationalisten geschickt für sich zu nutzen wussten. Tatsächlich spielte bei der Konsolidierung der beiden rivalisierenden Nationalbewegungen die Instrumentalisierung des langen und heftigen Streits um die Klagemauer eine zentrale Rolle. Nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1948 und knapp zwanzigjähriger jordanischer Herrschaft über Ostjerusalem übernahmen die Israelis im Sechstagekrieg 1967 die Kontrolle über die gesamte Altstadt. Noch während des Krieges entschied Israel den alten Streit um die Nutzung der Westmauer kurzerhand für sich, indem es das davorliegende arabische Maghrebiner-Viertel samt seinen beiden Moscheen abreißen ließ. Wie einst die Briten überließ Verteidigungsminister Moshe Dayan jedoch den Muslimen die Verwaltung des Moscheenareals, auf das jüdische Eiferer wiederum nicht verzichten wollten. Sie machten ihren Anspruch darauf von nun an mit verbotenen Gebetsaktionen und nationalistischen Provokationen geltend. Besonders radikale unter ihnen standen schon ein Jahrzehnt später kurz davor, den Felsendom in die Luft zu sprengen.

Die Offensive der israelischen Tempel-Aktivisten, zu denen der Staat Israel von Anfang an ein ambivalentes Verhältnis pflegte, wurde von den Muslimen lange erfolgreich abgewehrt. Allerdings lieferten die häufig auch mit Gewaltakten verbundenen Demonstrationen der Palästinenser auf dem Moscheenbezirk den israelischen Besatzern über die Jahre den Vorwand, die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen sukzessive zu verschärfen und auch immer repressiver zu gestalten. Davon profitieren heute vor allem die Tempel-Eiferer, die mächtige Verbündete unter führenden israelischen Politikern haben. Im Konflikt um den Tempelberg stehen die Zeichen heute mehr denn je auf Sturm.

– 1 –

Der Tempelberg in den drei abrahamitischen Religionen

Die Tempel des Alten Israel

Schon ein kurzer Blick auf die ausufernde Literatur zum Tempel von Jerusalem offenbart, dass für dessen Existenz bislang so gut wie keine archäologischen Beweise vorliegen. Grabungen auf dem Tempelberg-plateau mit dem Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee sind nicht möglich, und so ist man auf schriftliche Quellen angewiesen, um die Geschichte des jüdischen Heiligtums zu rekonstruieren. Neben dem Alten und dem Neuen Testament gehören dazu die Apokryphen und die nachbiblische jüdische Literatur sowie antike Chroniken, hier vor allem die Werke des römisch-jüdischen Historikers Flavius Josephus (37–100 n. Chr.). Der erste Jerusalemer Tempel – nach der biblischen Erzählung von König Salomo um 960 v. Chr. als Nachfolgebau der Stiftshütte erbaut – wurde den Schriftquellen zufolge 587/86 v. Chr. von den Babyloniern zerstört. Den von König Herodes I. umgebauten zweiten Tempel, ursprünglich von den aus dem babylonischen Exil zurückgekehrten Juden ab 520 v. Chr. errichtet (Serubbabels Tempel), setzten im Jahr 70 die Römer in Brand und plünderten den Tempelschatz.

Neben den erzählenden Quellen existieren auch einige wenige bildliche Überlieferungen aus der Antike. Der Zeit des nachexilischen Tempelneubaus sind die ältesten bekannten Darstellungen des siebenarmigen Tempelleuchters, der Menora, und des Schaubrottisches zuzuordnen, sie finden sich auf Münzen der Regierungszeit des letzten Hasmonäerkönigs Antigonos (40–37 v. Chr.). Zusammen mit den beiden Tempeltrompeten sind sie auch auf dem Titusbogen in Rom abgebildet, wo die Kultgegenstände im Triumphzug als Kriegsbeute mitgeführt werden. Und auf Münzen aus der Zeit des von Simon Bar Kochba geführten jüdischen Aufstands gegen die Römer (132–135 n. Chr.) soll die Fassade des, wie angenommen wird, herodianischen Tempels dargestellt sein.[1]

Weder vom salomonischen noch vom nachexilischen Tempel, deren Reste unter den islamischen Heiligtümern auf dem Tempelbergplateau vermutet werden, haben sich bislang archäologische Spuren gefunden. Indes sind Teile der gewaltigen herodianischen Stützmauer[2] in der heutigen Umfassungsmauer des Tempelbergs noch erhalten. Für das Judentum von besonderer Bedeutung ist der südliche Abschnitt der westlichen Tempelbergmauer, der im Hebräischen als «westliche Mauer» (ha-kotel ha-maaravi) und im Ausland häufig auch als «Klagemauer» bezeichnet wird. Der Kotel ist nicht nur seit Jahrhunderten für fromme Juden der wichtigste Gebetsort, sondern gilt vielen auch als heilige Stätte. In moderner Zeit avancierte sie zudem zu einem nationalen Symbol.

Die Idee, einen Tempel zu bauen, geht laut biblischer Überlieferung auf König David zurück, der sich im zweiten Buch Samuel darüber betrübt zeigt, dass die «Lade Gottes» nicht in einem festen Bau, sondern «unter Zeltdecken» wohne.[3] Sein Wunsch, dem Herrn ein Haus zu bauen, wird David von Gott zwar verweigert, der ihm aber durch den Propheten Nathan verheißt, dass sein Sohn Salomo ein solches errichten werde. Über den Tempelbau wird im Alten Testament hauptsächlich an zwei Stellen berichtet: im ersten Buch der Könige, Kapitel 5–8, und im zweiten Buch der Chronik, Kapitel 3–7.

Erst der jüngere chronistische Bericht nennt als Errichtungsort des Tempels den Berg Morija.[4] Damit wird der im ersten Buch Mose als Berg im «Land Morija»[5] bezeichnete bedeutungsschwere Ort, an dem Abraham als Beweis seiner Gottergebenheit seinen Sohn Isaak opfern sollte, mit der Errichtung des Heiligtums in Verbindung gebracht. Der Bau des Tempels und die Bindung Isaaks sind somit zwei miteinander verkettete Ereignisse in der langen Geschichte des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel, welcher immer wieder im Vollzug des Opferrituals erneuert und gefestigt wurde – ob in Abrahams Opferung des Widders oder dem Opferkult im Stiftszelt, der im Jerusalemer Tempel fortgeführt wurde.

So wird denn auch das Wirken Gottes bei diesen beiden Geschehnissen sichtbar. Im Falle Abrahams in dem Engel des Herrn, der den Stammvater Israels im letzten Moment daran hindert, seinen Sohn auf dem von ihm errichteten Altar als Opfer darzubringen, und ihn an Isaaks Stelle einen Widder opfern lässt.[6] Und bei der Einweihung des Tempels ist es nicht nur das Erscheinen der Wolke, Symbol für die Gegenwart Gottes (schechina), die das Allerheiligste, in das gerade die Bundeslade überführt wurde, erfüllt, so dass die Priester es nicht betreten können.[7] In der Chronik-Beschreibung fällt nach Salomos Tempelweihgebet auch noch Feuer vom Himmel, das das Brand- und die Schlachtopfer verzehrt und dessen nicht nur der König, sondern auch das Volk gewahr wird.[8] Beide Erzählungen lassen diesen Ort als irdischen Wohnort Gottes erscheinen – dies umso mehr, als im ersten Buch der Chronik der Tempelbau von König David vorbereitet wird, der, als er seinem Sohn Salomo den Entwurf übergibt, erklärt: «Das alles steht in einer Schrift, gegeben von der Hand des Herrn, der mich unterwies über alle Werke des Entwurfes.»[9]

In einer Parallelüberlieferung verknüpft auch noch ein vor der Beauftragung Salomos und der Übergabe der Tempelpläne stattfindendes Ereignis David mit dem Tempel. So wird im zweiten Buch Samuel berichtet, dass Gott Jerusalem im letzten Moment von der Pest verschont, die er als Bestrafung Davids für dessen Sünde, sein Kriegsvolk zählen zu lassen, über Israel kommen lässt.[10] Als Gott dem Engel Einhalt gebietet, der sein Strafgericht vollstreckt, steht dieser gerade bei der Tenne des Jebusiters Arawna.[11] Durch den Propheten Gad erhält David den Befehl, an diesem Ort seine Schuld mit einem Opfer zu sühnen. Er erwirbt die Tenne von Arawna und errichtet dort einen Altar, auf dem er Gott Brand- und Dankopfer darbringt. Dieser Bericht wird im ersten Buch der Chronik noch enger mit der Tempelbaugeschichte verbunden. Hier fällt nicht nur wie bei der späteren Tempeleinweihung Feuer vom Himmel auf den Altar mit dem Opfer,[12] sondern David verkündet auch, dass dies der Ort sei, an dem das Haus Gottes und der Altar für die Brandopfer Israels errichtet werden sollen.[13]

Den biblischen Tempelbauberichten zufolge handelte es sich bei dem salomonischen Bau, als dessen architektonisches Vorbild das transportable Stiftszelt galt, um einen Langraumtempel – einen Bautyp, der in der Mittel- und Spätbronzezeit in Syrien und Palästina verbreitet war. Die wichtigste Quelle für die Rekonstruktion des Heiligtums, dessen Bauzeit mit sieben Jahren angegeben wird, ist die Baubeschreibung im ersten Buch der Könige.[14] Demnach bestand das Tempelgebäude aus drei Teilen: Vorhalle, Haupthalle und Seitenräumen.[15] Der Tempeleingang, vor dem die frei stehenden Bronzesäulen Jachin und Boas aufgestellt waren, lag im Osten. Durch die als Breitraum gestaltete Vorhalle gelangte man in die rechteckige Haupthalle, deren langer Vorderraum den Schaubrottisch, zehn goldene Leuchter und einen Räucheraltar beherbergte. Das hintere Raumdrittel nahm ein als eigenständige Installation in den Raum integrierter hölzerner Kubus ein, das Allerheiligste (Dvir, Schrein), in dem sich ein gewaltiger vergoldeter Cherubenthron befand, unter dem die Bundeslade stand. In den an der Nord-, West- und Südseite umlaufenden dreistöckigen Seitenräumen wurden vermutlich die Kultgerätschaften und der Tempelschatz aufbewahrt. Der mit Zedernholz getäfelte und reichlich mit Gold verzierte Hauptraum mit dem Schrein war rund 30 Meter lang, etwa 10 Meter breit und 15 Meter hoch. Damit war der Tempel, der innerhalb des ebenfalls auf dem Tempelberg errichteten weitläufigen salomonischen Palastkomplexes lag – wie im ersten Buch der Könige berichtet, ließ Salomo auf dem Berg auch seine Residenz erbauen[16] –, damals wohl der mit Abstand größte Sakralbau in Palästina.[17]

Der salomonische Tempel in einem Modell von 2016. Der Tempel wurde der Bibel zufolge um 960 v. Chr. errichtet und im Laufe der Jahrhunderte häufig nach den biblischen Angaben dargestellt.

Den Tempel umgab ein großer Hof, der unterteilt war in einen etwas tiefer gelegenen und durch eine Mauer abgetrennten äußeren und den dem Tempelhaus direkt angeschlossenen «inneren Vorhof». Letzterer war den Priestern und vermutlich auch den Männern, die ihre Opfer darbrachten, vorbehalten. Dort standen das «eherne Meer», ein in Form einer offenen Lotosblüte gestaltetes, auf zwölf bronzenen Rinderplastiken ruhendes Wasserbecken aus Bronze, das rund 40.000 Liter fasste, sowie zehn Kesselwagen und ein Brandopferaltar.[18]

Neben den ausführlichen biblischen Beschreibungen liefert auch Flavius Josephus in seinen Jüdischen Altertümern eine an die Berichte in den Könige- und Chronikbüchern angelehnte, detaillierte Schilderung von der Errichtung und Ausstattung der salomonischen Tempelanlage.[19] Sie wurde 587/86 v. Chr. zusammen mit der Palastanlage und – der biblischen Darstellung zufolge – «allen Häusern in Jerusalem» von Nebusaradan, dem Feldherrn des neubabylonischen Königs Nebukadnezar II., zerstört.[20]

Zum Nachfolgebau findet sich im Alten Testament wie auch bei Flavius Josephus nur eine knappe Beschreibung. Nach dem gleichnamigen Statthalter von Juda wird er auch «Tempel des Serubabbel» genannt. Jener führte gemeinsam mit dem Hohepriester Jeschua die Juden, die auf Erlass des Perserkönigs Kyros II. nach Jerusalem zurückkehren durften, um den Tempel wiederaufzubauen, aus Babylonien zurück und stieß die Wiedererrichtung des nachexilischen Heiligtums an.[21] Die Bibel gibt lediglich Auskunft über Höhe und Breite des Neubaus, welche im Buch Esra mit jeweils rund 30 Metern angegeben sind, und erwähnt außerdem nur noch «drei Schichten von behauenen Steinen und eine Schicht von Holz».[22] Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus nennt in seiner Schrift Über die Ursprünglichkeit des Judentums unter Berufung auf den griechischen Historiker Hekataios von Abdera indes deutlich größere Maße.[23]

Anders als im salomonischen wurde im Tempel der Perserzeit im Allerheiligsten nun nicht mehr die Bundeslade verwahrt, denn sie war in der Zwischenzeit verloren gegangen. Und statt der ehemals zehn soll dort lediglich ein Leuchter gestanden haben – wohl an ihn erinnern die noch erhaltenen späteren Menora-Darstellungen. Auch ist in den biblischen Quellen im Zusammenhang mit dem Tempelneubau weder von der Anwesenheit Gottes noch von einem himmlischen Feuer oder Ähnlichem die Rede.[24] Allerdings lassen sie keinen Zweifel daran, dass der Wiederaufbau des Tempels der Wille Gottes war. Wie im Buch Esra berichtet, sei Kyros vom Gott Israels befohlen worden, «ihm ein Haus zu Jerusalem in Juda zu bauen», woraufhin der Perserkönig die Wiedererrichtung des Heiligtums und die Heimkehr der Juden angeordnet habe.[25] Inwieweit auch der zweite Jerusalemer Tempel als Nationalheiligtum betrachtet wurde, bleibt offen, besaß doch die kleine Gemeinde der Rückkehrer aus dem Exil nicht die volle Souveränität über das Land, sondern hatte – und dies auch erst etwa ab Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. – nur ein eigenes Verwaltungsrecht in der persischen Provinz Jehud.[26]

Auch für die Rekonstruktion der Geschichte des Jerusalemer Tempels in der hellenistischen Epoche, die mit der Eroberung des Landes im Jahr 332 durch Alexander den Großen begann, stehen nur schriftliche Quellen zur Verfügung. Neben den Werken des Flavius Josephus sind es hier für die Ära der Seleukiden (200–141 v. Chr.) und der gegen sie rebellierenden jüdischen Hasmonäer (167–37 v. Chr.) hauptsächlich die apokryphen Makkabäer-Bücher,[27] die schildern, wie die Hellenisierung der jüdischen Gesellschaft zunehmend auch auf den Tempelkult übergriff. Dieser Hellenisierungsprozess gipfelte unter dem Seleukidenkönig Antiochos IV. Epiphanes in der massiven Verfolgung gläubiger Juden sowie der Plünderung der Tempelschätze und fand im Jahr 167 v. Chr. in der Weihung des Jerusalemer Tempels vermutlich an Zeus Olympios seinen Höhepunkt, was die jüdische Revolte mit auslöste.[28] Drei Jahre später gelang es dem Rebellenführer Judas Makkabäus, Jerusalem und das jüdische Heiligtum zurückzuerobern. Nach der Reinigung und Wiedereinweihung des Tempels wurde dort der Opferkult wieder aufgenommen.[29] Nach dieser Quelle erfolgte daraufhin eine massive Befestigung seiner Umgebung.[30]

Der Neubau unter Herodes

Nach dem Untergang der Hasmonäerdynastie, deren letzten Vertreter Antigonos er entmachtet hatte, herrschte Herodes, 40 v. Chr. von den Römern zum König der Juden ernannt, vom Jahr 37 bis zu seinem Tod 4 v. Chr. als römischer Vasallenkönig über Judäa.[31] Über die von ihm veranlasste Erweiterung und Neugestaltung des Tempelareals geben hauptsächlich drei Quellen Auskunft: Flavius Josephus’ bereits erwähnte Jüdische Altertümer[32] sowie sein Geschichtswerk Der jüdische Krieg[33] und der Traktat Middot[34], ein Teil des in Palästina im 2. Jahrhundert entstandenen jüdischen Kommentarwerks Mischna, das mündlich überlieferte Lehrsätze versammelt. Die Angaben zu dem gewaltigen Um- und Ausbau der Tempelanlage stimmen in diesen Schriften nur teilweise miteinander überein und sind mitunter auch in sich widersprüchlich.[35] Gleichwohl dienen sie bis heute als Grundlage für die zahlreichen, letztlich aber – wie auch im Fall des salomonischen und des Serubabbel-Tempels – spekulativ bleibenden Versuche, die herodianische Tempelanlage zu rekonstruieren. Nicht eindeutig einordnen lassen sich auch die erhaltenen Teile jener Stützmauern der auf gewaltigen Unterbauten ruhenden Tempelplattform, die Herodes und seinen Nachfolgern allgemein zugeschrieben werden.

Konsens indes herrscht in der Forschung darüber, dass Herodes etwa um das Jahr 20 v. Chr. die Plattform des Tempelbergs nach Norden, Süden und Westen erweitern ließ und so um nahezu das Doppelte vergrößerte. Das gesamte Areal, zu dem mehrere Aufgänge und Tore führten – etwa die «Hulda-Tore» im Süden[36] –, säumten mächtige doppelreihige Säulenhallen, außer an der Südseite, an der die als dreischiffige Basilika errichtete «Königliche Halle» lag.[37] Zu dem rund 300 mal 500 Meter großen Platz, dem sogenannten Vorhof der Heiden, hatten auch Nichtjuden Zutritt, das Betreten des eigentlichen Tempelbereichs war ihnen jedoch unter Androhung der Todesstrafe verboten. Dieser Bezirk inmitten des Tempelplatzes nahm das höchstgelegene Gelände des Tempelbergs ein und war durch eine eigene Einfriedung streng abgegrenzt. Er gliederte sich in Bereiche abgestufter Heiligkeit, angezeigt durch Treppen und Erhöhungen.[38] Die auf einem Podium gelegene rechteckige Anlage, von Flavius auch als «Innenheiligtum»[39] bezeichnet, umgab eine steinerne Balustrade, an der – vermutlich an den Durchgängen[40] – Warntafeln in griechischer und römischer Sprache angebracht waren. Sie markierte die Grenze, die nichtjüdische Besucher nicht überschreiten durften. Eine weitere Abgrenzung bildete nach einem vierzehnstufigen Treppenaufgang eine 40 Ellen hohe Mauer, hinter der sich die Plattform mit dem Tempel befand, dem drei hintereinandergestaffelte Vorhöfe mit nach innen gerichteten Säulenhallen vorgelagert waren.[41]

Der herodianische Tempel entstand um 20 v. Chr. und wurde im Jahr 70 von den Römern zerstört. Rekonstruktion aus dem Jahr 1920.

Zu dem Tempelkomplex gelangte man durch neun Tore – vier im Süden, vier im Norden und eines im Osten, das «Schöne Tor».[42] Letzteres führte in den großen quadratischen Vorhof der Frauen, in dessen vier Ecken sich nochmals jeweils ein abgeteilter Bereich befand: im Südosten die «Nasiräerkammer» für die Männer, die ein besonderes Gelübde abgelegt hatten, nur Gott zu dienen; im Nordwesten die «Aussätzigenkammer» mit einem Ritualbad für die vom Aussatz Geheilten; in der Nordostecke ein Holzlagerraum für den Brandopferaltar und im Südwesten die «Ölkammer», wo das Öl für den Tempel gelagert wurde.[43] Gegenüber dem Eingangstor führte ein fünfzehnstufiger halbrunder Treppenaufgang hinauf zu einem weiteren großen Tor, dem «Nikanor-Tor»,[44] durch das man vom Frauenvorhof in den sich im Westen anschließenden schmalen Vorhof der Israeliten gelangte. Zu diesem Bereich hatten nur kultfähige jüdische Männer Zugang, die von dort aus den Opferhandlungen auf dem wieder etwas höher gelegenen Priestervorhof zusehen konnten; dieser war durch eine etwa fünfzig Zentimeter hohe steinerne Absperrung abgetrennt.[45] In diesem innersten Tempelhof befanden sich der vor dem Tempelhaus liegende große Brandopferaltar, zu dem eine Rampe hinaufführte, die Schlachtplätze und das «Eherne Meer». Nur die amtierenden Priester und die sie beim Verrichten der Opferhandlungen unterstützenden Leviten durften ihn betreten.[46] Hinter dem Altar führte noch einmal eine breite Treppe mit zwölf Stufen zur Vorhalle des Heiligtums empor, das auf der höchsten Höhe des Tempelbergs in weißem Marmor erstrahlte.

Nachdem der Außenbezirk gestaltet war, wurde das alte Tempelhaus abgerissen und in nur anderthalb Jahren im Wesentlichen nach den Maßen des salomonischen Tempels neu errichtet.[47] Das Allerheiligste und der Hauptraum des mit zahlreichen Anbauten versehenen Neubaus blieben im Grundriss gleich, wurden aber aufgestockt und erhielten ein Obergeschoss. Die Vorhalle wurde nicht nur erhöht, sondern auch in der Breite erweitert und mit einer mächtigen Schaufassade versehen.[48] Wie im Mischna-Traktat Middot zu lesen ist, glich das Heiligtum so «dem Löwen», der «schmal nach hinten und breit von vorne» sei.[49] Auf dem Dach des Tempelhauses waren «zugespitzte goldene Stangen» angebracht, um zu verhindern, dass sich dort Vögel einnisteten und es verunreinigten.[50]

Die Fassade kombinierte offenbar verschiedene Stile und war nach Flavius Josephus’ – wahrscheinlich übertriebener[51] – Beschreibung «ebenso hoch wie breit, nämlich je 100 Ellen», und ganz «mit Gold überzogen».[52] Wie er berichtet, «erblickte man» durch das flügellose erste Tor des Tempels die Vorhalle von außen in ihrer «gewaltigen Größe», «dem Auge» bot sich des Weiteren der «Anblick der goldstrotzenden Umfassung» des in das Tempelhaus führenden Innentors mit seinen «über und über mit Gold» bezogenen Türflügeln.[53] Flavius zufolge befanden sich darüber die «goldenen Weinstöcke», von denen «mannshohe Trauben herunterhingen», und vor den Türen sei ein Vorhang «von der gleichen Länge» angebracht gewesen, eine «babylonische Webarbeit», die «irgendwie das All symbolisieren» sollte.[54] Durch einen Vorhang beziehungsweise zwei hintereinanderliegende Vorhänge war auch das Allerheiligste – ein dunkler Raum, der wie im Serubbabel-Tempel leer blieb und nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag (Jom Kippur), vom Hohepriester betreten werden durfte – vom Heiligen geschieden, wo der siebenarmige Leuchter, der Räucheraltar und der Schaubrottisch standen.[55]

Die herodianische Tempelanlage galt um die Zeitenwende als eines der größten und prachtvollsten Heiligtümer der damaligen antiken Welt und scheint von Juden wie Nichtjuden gleichermaßen bewundert worden zu sein. Im Babylonischen Talmud findet sich die Aussage: «Man sagt, wer den Bau des Herodes nicht gesehen hat, hat keinen schönen Bau gesehen.»[56] Der monumentale Ausbau des jüdischen Heiligtums markierte den Höhepunkt der ausgedehnten Bautätigkeit des römischen Klientelkönigs, der dem von den Hasmonäern zum Judentum zwangskonvertierten Volk der Idumäer angehörte.[57] Herodes suchte damit nicht nur die Gunst der ihm skeptisch gegenüberstehenden Juden zu gewinnen, sondern sich auch bei den Römern Respekt und Anerkennung zu verschaffen. In der Gestaltung des erst unter Herodes’ Nachfolgern fertiggestellten Tempelkomplexes fand diese Intention in der Kombination von einheimischen Bautraditionen und Elementen aus dem architektonischen Vokabular der hellenistisch-römischen Welt ihren Ausdruck.[58]

Die Jerusalemer Tempel in der jüdischen Erinnerung

Schon die Zerstörung des ersten Tempels war als traumatisches Ereignis in das kollektive Bewusstsein der Juden eingegangen und weckte die Sehnsucht nach seinem baldigen Wiederaufbau. Diese artikuliert sich bereits im Alten Testament, insbesondere im Buch des Propheten Ezechiel, der dort in den Abschlusskapiteln 40 bis 48 schildert, wie ihn während seiner Entrückung nach Jerusalem ein bronzener Mann mit einer Messrute durch das Tempelareal führt.[59] Ezechiels Vision beschreibt nicht nur detailliert den neuen Tempel und schildert den Wiedereinzug der Herrlichkeit Gottes in das neue Heiligtum.[60] Sein Visionsbericht umfasst auch die Neuordnung des Kultus und die Neuverteilung des Landes an die zwölf Stämme Israels.[61]

Um den Verlust des salomonischen Tempels wurde auch noch bei der feierlichen Zeremonie zur Grundsteinlegung des Nachfolgebaus getrauert, wie im Buch Esra angedeutet: «Und viele von den betagten Priestern, Leviten und Sippenhäuptern, die das frühere Haus noch gesehen hatten, weinten laut, als nun dies Haus vor ihren Augen gegründet wurde.»[62] Offensichtlich war der Grund für die Trauer der Alten, dass der nachexilische Tempelneubau weit bescheidener sein würde als sein Vorgänger, dessen Größe und Pracht sie noch in Erinnerung hatten.[63]

Konnte durch die Errichtung der Nachfolgebauten der Verlust des salomonischen Tempels einigermaßen kompensiert werden, so löste die Zerstörung der herodianischen Tempelanlage im Jahr 70 n. Chr. ein noch größeres Trauma aus. Es sollte sich durch die verheerenden Folgen des gescheiterten Bar-Kochba-Aufstands gegen die römische Besatzung in den Jahren 132 bis 135, zu dessen Zielen auch die Wiedererrichtung des Tempels gehörte, im Kollektivgedächtnis der Juden fest verankern. Die Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums als zentraler Opferstätte und der Verlust des letzten Rests nationaler Souveränität waren eine einschneidende Zäsur. Der Opferkult fand ein jähes Ende, was den Wandel des Judentums von einer opferzentrierten Kultreligion zur Buchreligion bewirkte, die zusehends durch die Rabbinen geprägt wurde.

An die Stelle des Tempels und der Tempelopfer, die den Bund zwischen Gott und dem Volk Israel verkörperten, traten nun die Synagoge als Ort und der dort stattfindende Gottesdienst als Form der Anbetung Gottes. Gleichzeitig nahm jedoch die Erinnerung an den Tempel im jüdischen Selbstverständnis eine zentrale Rolle ein. Der beiden Tempelzerstörungen – entsprechend ist im Judentum die Tempelepoche in eine erste und eine zweite Phase unterteilt – wird an nicht weniger als vier Trauer- und Fastentagen in vier unterschiedlichen Monaten gedacht.[64] Und im religiösen Schriftenkanon wurde schon früh die Erinnerung an den Tempelkult, dessen alsbaldige Wiederherstellung auch die jüdische Liturgie beschwört, in aller Ausführlichkeit festgeschrieben.

Der Beschreibung des Kults widmen sich auch die elf Traktate der fünften Mischna-Ordnung Kodaschim (Heilige Dinge), die großenteils die Gesetze über das Tempelopfer behandeln – wohlgemerkt aus der Rückschau und durch die Brille der rabbinischen Autoren, die hier Überliefertes mit eigenen, auch idealen Vorstellungen vermengten. Dabei geht es nicht nur um die Vorschriften für die verschiedenen Opferarten wie Schlacht-, Brand-, Tauben-, Mehl-, Pflanzen- oder Trankopfer, die je nach Bestimmung in öffentliche und private Sünd-, Dank- und Schuldopfer unterteilt sind, sondern auch um die Vorschriften für den Tempeldienst. Auch die Tempelanlage wird hier (Traktat Middot) akribisch beschrieben. Ein eigener Traktat befasst sich mit dem namengebenden Tamid-Opfer (Beständiges Opfer), jener im Tempel fortgeführten Opferpraxis aus der Zeit Moses,[65] bei der morgens und abends ein Lamm als Brandopfer dargebracht wurde – für die Nachwelt ist hier sogar die Zerlegung des Opfertiers bis ins kleinste Detail festgehalten.[66]

Nicht nur die Mischna-Traktate im Abschnitt Kodaschim, sondern insgesamt mehr als die Hälfte beziehen sich direkt oder indirekt auf den Tempel und den dort praktizierten Kult.[67] Ein Beispiel ist etwa der in der sechsten Ordnung Toharot (Reinigungen) enthaltene Traktat Para (Kuh), der sich mit der Herstellung des mit der Asche einer roten Kuh versetzten «Reinigungswassers» befasst.[68] Das bereits während der vierzigjährigen Wüstenwanderung unter der Führung von Mose praktizierte Ritual[69] war zur kultischen Reinigung von Personen oder Gegenständen durchzuführen, die durch die Berührung mit einem Leichnam verunreinigt waren, und sollte die rituelle Reinheit der Priester im Tempeldienst gewährleisten.

Etliche der den Tempel und den Ritus betreffenden Mischna-Abschnitte sind wiederum Gegenstand der Kommentare, die der einige Jahrhunderte später entstandene Talmud versammelt. Die Mischna wie auch der sie erläuternde und reflektierende Talmud nehmen bis heute einen zentralen Platz im traditionellen Studium der heiligen Schriften des Judentums ein, dem sogenannten talmud tora. Schon in manchem Werk der frühen jüdischen Exegese wie dem babylonischen Talmud gilt das Studium der Schriften, die den Tempel und den Kult behandeln, als Ersatz für Tempel- und Opferdienst.[70]

Doch nicht nur im Schriftenkorpus wird an den Opferkult und den Tempel erinnert, sondern auch im Gottesdienst. So wird gleich im vorbereitenden Abschnitt des Morgengebets (schacharit) in Anlehnung an das vierte Buch Mose (28,1–15) an die Opfervorschriften gemahnt. Und gegen Ende des Gebets wird – wie bei allen anderen täglich verrichteten Gebeten – der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass der Tempel bald wieder aufgebaut und der Opferdienst wieder aufgenommen werde. Damit wird letztlich suggeriert, dass der Gottesdienst nur als eine vorläufige Alternative zum Opferkult gilt.

Neben der Verankerung der Erinnerung an den Jerusalemer Tempel im Schriftenkanon sowie im Gebet erfolgte später auch eine Mystifizierung des Bergs selbst. Nun erst etablierte sich die Vorstellung vom «Tempelberg» (har ha-bayit – Berg des [Gottes-]Hauses) und von Jerusalem als heiligen Orten. In deren Zentrum steht der Legende nach der sogenannte Stein der Schöpfung (even ha-schetijah), im Deutschen unter anderem auch als «Gründungsstein», «Gründungsfels» oder «Schöpfungsstein» bezeichnet, von dem aus die Welt erschaffen[71] und auf dem der Tempel erbaut worden sein soll. In dieser Heiligkeitskonstruktion wurde der Gründungsstein zu einem kosmologischen Ort überhöht, der die Weltordnung aufrechterhält und den Ausbruch des Chaos verhindert.[72] In einer anderen Überlieferung wurde er zum «Nabel der Welt», um den sich wie konzentrische Kreise die Bundeslade, der Tempel, die Stadt Jerusalem und das Land Israel legen. Parallel dazu wurde der Tempelberg jetzt nicht nur zu einem heiligen Kultort, an dem schon Noah sein Opfer dargebracht hatte,[73] sondern auch mit dem Berg Morija gleichgesetzt, den bereits das zweite Buch der Chronik mit dem salomonischen Tempel verknüpft hatte.[74] Der Blick war nun nicht mehr nur auf die Vergangenheit gerichtet, sondern auch auf die Zukunft. So wurde der Tempelberg auch zur Quelle der Paradiesströme stilisiert, die einst flossen und in der Endzeit wieder fließen werden.[75]

Ein Motiv für die nachträgliche Heiligung des Berges war ferner die Auffassung, dass die Gottesgegenwart auch nach dem Untergang des Tempels nicht von diesem Ort gewichen sei.[76] Sie ließ die Auslegung zu, dass der Fels auch ohne Tempel als heilige Stätte zu betrachten sei, was zugleich auch den Weg für die Verehrung der Tempelreste frei machte. Dass die auch nach der Zerstörung ihres Heiligtums im Jahr 70 n. Chr. in Jerusalem verbliebenen Juden das Tempelareal aufsuchten, geht aus einigen wenigen jüdischen wie auch christlichen Quellen hervor, lässt sich jedoch nicht mit Bestimmtheit nachweisen.[77] Zur Etablierung der Westmauer als Gebetsstätte sollte es erst viele Jahrhunderte später kommen, worauf an anderer Stelle noch eingegangen wird.

Der Tempel und der Berg im Christentum

Auch wenn der Tempel die Wirkungsstätte Jesu in Jerusalem und damit Teil seiner Lebensgeschichte ist, findet im Christentum ein Prozess der Vergeistigung des Heiligtums statt. Seine Zerstörung, die laut den Evangelien von Christus vorausgesagt wurde,[78] markierte eine entscheidende Zäsur und bewirkte die Abkehr der Christen von der jüdischen Tempelidee. Für sie hat das Sühneopfer Jesu am Kreuz für immer den Opferkult im Tempel ersetzt und damit überflüssig gemacht. Tendenziell wurde die Tempelzerstörung zum theologischen Beweis für die Richtigkeit des Christentums und den Irrweg des Judentums. Der Tempel selbst und auch Jerusalem wurden «vergeistigt» und dienen im Neuen Testament als Metapher für die christliche Gemeinde. Der Körper der Gläubigen wurde, so wie es Christus mit seinem Leib getan hatte,[79] mit dem Tempel symbolisch gleichgesetzt[80] und die Glaubensgemeinschaft mit dem himmlischen Jerusalem, das «droben ist»,[81] verknüpft, wo laut der Johannes-Offenbarung kein Tempel steht: «Und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, und das Lamm.»[82]

Gleichzeitig blieb die irdische Stadt als Stätte des Wirkens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ein religiöser Sehnsuchtsort, der mit dem Bau der Grabeskirche im 4. Jahrhundert unter Konstantin dem Großen zu einer der wichtigsten christlichen Kultstätten wurde. Erbaut wurde sie um die überlieferte Grabstätte Jesu und Golgatha und somit an einer völlig anderen Stelle als der des ehemaligen Areals des jüdischen Tempels, auf dem nach seiner Zerstörung von den Römern ein heidnisches Heiligtum errichtet worden sein soll.[83] Diese These wird durch jüngste Erkenntnisse der archäologischen Forschung untermauert, die belegen, dass der Tempelplatz in römischer Zeit fester Bestandteil der städtischen Landschaft war.[84]

Mit dem Bau der Grabeskirche durch Konstantin den Großen im Jahr 335 am Golgatha-Felsen verschob sich das Zentrum Jerusalems. Aufnahme vom Ende des 19. Jahrhunderts.

In der byzantinischen Ära hingegen, in der die Grabeskirche das Zentrum der Stadt bildete, lag das Tempelbergareal zwar deutlich außerhalb des Stadtkerns. Aber die West-Ost-Ausrichtung der Anlage, deren Hauptelemente – das Heilige Grab im Westen, Golgatha und die Konstantinsbasilika im Osten – im Wesentlichen auf einer Achse lagen, stellte gleichzeitig eine architektonische Situation dar, wie sie auf dem einstigen Tempelplatz bestanden hatte.[85]

Ähnlich der im Judentum nachträglich hergestellten Verbindung des Gründungssteins mit der Schöpfungsgeschichte wurde denn auch später in der christlichen Tradition die Kreuzigungsgeschichte mit Adam verknüpft, was schließlich in der Adamskapelle seinen Ausdruck fand, die im 7. Jahrhundert in der Grabeskirche eingerichtet wurde. Über Adams Grab soll auf dem Golgathafelsen nicht nur das Kreuz gestanden haben, sondern über seinen Schädel sei auch das Blut Jesu, des «neuen Adam», geflossen – Sinnbild für die Wiedergutmachung der Ursünde Adams durch Jesu Tod am Kreuz.[86] Noch weitere sich auf den Tempel beziehende jüdische Überlieferungen wurden modifiziert und gingen auf die Grabeskirche über. So etwa wurde sie mit der Stätte des Isaakopfers oder auch mit dem Ort, an dem die Paradiesströme ihren Ausgang nehmen, in Verbindung gebracht.[87] Entsprechend findet sich eine Inschrift in der Adamskapelle, die lautet: «Die Schädelstätte ist zum Paradies geworden.»[88]

Im Zuge der Vergeistigung des Jerusalemer Tempels und seiner Umdeutung etablierte sich im Christentum indes auch die Vorstellung vom salomonischen Tempel als Präfiguration der christlichen Kirche. Sie sollte, was später in der christlichen Sakralarchitektur seine Manifestation fand, «den alttestamentlichen Tempel steigern und zugleich das himmlische Jerusalem vorbilden».[89]

Al-Masdschid al-Aqsa, «die fernste Kultstätte»

Im Islam gilt der Tempelberg, von dem aus der Prophet Muhammad einst seine nächtliche Himmelfahrt angetreten haben soll, als drittheiligste Stätte. Die mit diesem Ort assoziierten islamischen Überlieferungen greifen auch auf Elemente aus der jüdischen und christlichen Tradition zurück, die allerdings eine umfassende Umdeutung, also «Islamisierung», erfahren. So gelten zentrale, mit Jerusalem und dem Felsen verknüpfte Figuren der biblischen Erzählung – vom Stammvater Adam über Abraham und die Könige David und Salomo bis hin zu Jesus Christus – als islamische Propheten.

Im Gegensatz zum Christentum, wo durch die Person Jesu von Anfang an auch eine historische Verbindung mit der Heiligen Stadt bestand, war im Islam die Verbundenheit mit Jerusalem zunächst nur ideeller Natur. Erst nach der islamischen Eroberung Jerusalems nahmen die Muslime den einstigen jüdischen Tempelplatz auch als physischen Ort in Anspruch – mit der Errichtung des Felsendoms, der Al-Aqsa-Moschee und weiterer späterer sakraler Kleinbauten. Die muslimische Hoheit über den Tempelberg wurde später nur durch die Herrschaft der Kreuzfahrer über Jerusalem (1099–1187) unterbrochen.

Die Beziehung des Islam zu Jerusalem gründet darauf, dass Muhammad die Stadt in der mekkanischen Zeit als Gebetsrichtung (qibla) vorschrieb; nach seinem Umzug nach Medina änderte er sie später auf Mekka. Bis heute wird Jerusalem von den Muslimen daher auch als ula al-qiblatain (erste der beiden Gebetsrichtungen) bezeichnet. Über die Frage, wie viele Jahre lang der Prophet und seine frühen Anhänger ihre Gebete in Richtung Jerusalem verrichteten, gehen im religiösen Schrifttum die Meinungen auseinander. Vor allem auch deshalb, weil die Version von Jerusalem als erster qibla nicht von der Autorität der koranischen Erzählung, wo lediglich von der Änderung einer geographisch nicht eindeutig festgelegten Gebetsrichtung die Rede ist,[90] sondern nur durch die Hadith-Literatur und die Prophetenbiographien gestützt wird.[91]

Jene beiden außerkoranischen Überlieferungen spielen auch bei der Heiligung des Tempelbergs eine wichtige Rolle, und zwar als Ergänzung und Erläuterung zweier zentraler koranischer Aussagen zu Jerusalem. So wird in Vers 1 der 17. Sure «Die nächtliche Reise» (al-israʾ) berichtet, dass Muhammad des Nachts von der heiligen Stätte in Mekka nach der «fernsten Kultstätte» (al-masdschid al-aqsa, häufig auch als «ferne Kultstätte» übersetzt) reiste. Auch wenn hier nicht ausdrücklich von Jerusalem die Rede ist, so lässt doch die von Uri Rubin vorgenommene etymologische Untersuchung mehrerer Begriffe dieses Verses auf ihr Vorkommen an anderen Koranstellen diesen Schluss durchaus zu. Dem Tel Aviver Islamwissenschaftler zufolge stand bereits für die frühesten muslimischen Exegeten fest, dass sich die «fernste Kultstätte» in Jerusalem befand.[92]

Der Tempelberg, Luftaufnahme von Süden, 2013.

Plan des Tempelbergs

Außerkoranischen Quellen zufolge soll die «fernste Kultstätte» bereits von dem Propheten Adam, der schon die Kaaba in Mekka errichtet hatte, erbaut und später von Ibrahim (Abraham), Daud (David) und Suleiman (Salomo) um- und ausgebaut worden sein.[93] Ein weiteres Glied in dieser Kette stellt nach muslimischer Lesart die Al-Aqsa-Moschee dar. Sie wurde vermutlich Anfang des 8. Jahrhunderts errichtet und ersetzte einen Vorgängerbau aus Holz, der kurz nach der islamischen Eroberung Jerusalems im Jahr 638 unter dem Kalifen Omar (634–644) errichtet worden war. Ihr Name ist im Arabischen gleichlautend mit der koranischen «fernsten Kultstätte»: al-masdschid al-aqsa.

Die Al-Aqsa-Moschee um 1900. Der ursprüngliche Holzbau wurde im frühen 8. Jahrhundert durch einen Steinbau ersetzt und später umgebaut. Der heute nicht mehr existierende Anbau links im Bild stammte aus der Zeit der Kreuzfahrer.

Zu der im Koran nur knapp erwähnten Nachtreise Muhammads finden sich in den Hadith-Sammlungen und den sie aufgreifenden Prophetenviten zahlreiche Erzählversionen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. In diesen Schriften wird auch der zweite Teil der nächtlichen Reise des Propheten nach Jerusalem, auf den in der koranischen Erzählung ebenfalls nur kurz angespielt wird, in vielfältiger Weise ausgeschmückt – nämlich sein Aufstieg in den Himmel (mi’radsch, wörtlich: Leiter), auch Himmelfahrt oder Himmelsreise genannt, die in den Suren 53,1–18 und 81,19–25 als eine Art Vision beschrieben wird.

Die islamische Sicht auf die Ereignisse in Jerusalem hat in erheblichem Maße der Historiker Ibn Ishaq (704–767) geprägt, aus dessen Feder die älteste Muhammad-Biographie stammt. Darin hat er verschiedene und teilweise einander ergänzende Überlieferungen der Nachtreise festgehalten. Das in seiner ursprünglichen Form verloren gegangene Werk ist durch die spätere Bearbeitung von Ibn Hischam (gest. um 830), einem ägyptischen Gelehrten, unter dem Titel Sirat rasul Allah (Lebensbeschreibung des Gesandten Gottes) weitgehend überliefert. Die Prophetenvita wurde 1864 erstmals aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt und liegt mittlerweile auch in einer gekürzten, Das Leben des Propheten betitelten Neuübersetzung vor.[94]

Ebenso wie in der jüdischen und christlichen steht auch in der islamischen Tradition die Heiligung Jerusalems als Ort der Entrückung des Propheten im Zeichen eines göttlichen Befehls. So heißt es in der Prophetenbiographie im Kapitel «Die Nachtreise»:

Es war gewiß Gottes Handeln, mit dem Er ihn, so wie Er wollte, die Nachtreise durchführen ließ, um ihm von Seinen Wundern, so viele Er wollte, zu zeigen, damit er mit eigenen Augen Seine gewaltige Macht sehe, mit der Er vollbringt, was Er will.[95]

Den Kern der von Ibn Ishaq aufgeschriebenen Überlieferungsversionen bildet Muhammads nächtliche Reise von Mekka nach Jerusalem auf dem Rücken des geflügelten Reittiers buraq in Begleitung des Erzengels Gabriel. Ibn Hischam sah sich übrigens veranlasst, die «fernste Kultstätte» geographisch zu verorten: Sie sei bayt al-maqdis min iliya (Haus des Heiligtums von Aelia) – Iliya war die damals immer noch gebräuchliche arabisierte Form der römisch-byzantinischen Bezeichnung Aelia für Jerusalem.[96] Dort traf Muhammad der Erzählung zufolge Abraham, Mose und Jesus «inmitten anderer Propheten», vor die er «als Vorbeter» hintrat und mit ihnen betete.[97] Sodann wurden ihm zwei Gefäße gereicht, das eine mit Wein gefüllt, das andere mit Milch. Er ließ den Wein stehen und trank von der Milch, wodurch Muhammad sich – und gleichzeitig auch sein Volk – als rechtgeleitet erwies.[98] Nach einigen Überlieferungen kehrte er dann wieder nach Mekka zurück.

Anderen Versionen zufolge, denen das anschließende Kapitel «Die Himmelsreise» gewidmet ist, wo Muhammad selbst als Erzähler spricht, stieg der Prophet, nachdem er in Jerusalem gebetet hatte, über eine Leiter (miʿradsch) in den siebten Himmel hinauf. Von Gabriel geführt, erblickte er auch die Hölle und das Paradies bei seinem Aufstieg durch die Himmelssphären. In der untersten sah er nicht nur, wie der Menschheitsvater Adam die schlechten an ihm vorüberziehenden Seelen der Verstorbenen von den guten trennte, sondern auch wie Männer und Frauen für die verschiedensten begangenen Sünden schlimmste Bestrafungen und Qualen erleiden mussten. Auf der zweiten Himmelsstufe begegneten ihm die «beiden Vettern» Jesus und Johannes, auf der dritten sein «Bruder» Joseph und auf den weiteren die Propheten Idris (Henoch), Aron und Mose. Im siebenten Himmel traf Muhammad den Stammvater Abraham, der am Tor zum Paradies saß, das er schließlich mit ihm betrat.[99]

In einer etwas anderen Variante wurde Muhammad in diesem letzten Himmel von Gabriel zu Gott geführt, der ihm fünfzig Gebete am Tag als Pflicht auferlegte. Als er auf dem Rückweg wieder an Mose vorbeikam, äußerte jener Bedenken hinsichtlich der Zahl der täglich zu verrichtenden Gebete:

Das Gebet ist eine schwere Last, und dein Volk ist schwach. Gehe zurück zu deinem Herrn und bitte Ihn, Er möge dir und deinem Volke diese Last erleichtern!

So konnte Muhammad dank Moses Intervention, der ihn mehrmals zurückschickte, um Gott um eine weitere Reduzierung der Anzahl zu bitten, schließlich die fünfzig auf fünf Pflichtgebete herunterhandeln. Die Episode endet damit, dass der Prophet seinen Anhängern verspricht, dass jene fünf Gebete – eine der fünf Säulen des Islam – jedem, der sie gläubig und ergeben verrichte, wie fünfzig Gebete vergolten würden.[100]

Diese mehrfachen Überlieferungen zum Ort Jerusalem – in einer habe der Engel Gabriel Muhammad auch erklärt, dass den Muslimen Wein verboten sei –, waren, als Ibn Hischams Schrift erschien, auf dem Tempelberg schon längst mehrfach architektonisch materialisiert. Noch bevor zu Beginn des 8. Jahrhunderts die Al-Aqsa-Moschee anstelle des Holzbaus errichtet wurde, war in den Jahren 687–691 unter dem Umayyaden-Kalifen Abd al-Malik bin Marwan der Felsendom erbaut worden. Seine große vergoldete Kuppel – im Arabischen heißt er «Felsenkuppel» (qubbat as-sakhra) – wölbt sich über dem heiligen Felsen, der genau in der Mitte des achteckigen Zentralbaus aus dem Boden ragt und von dem aus nach islamischer Tradition Muhammad in den Himmel aufgestiegen sein soll. Mit der darunter liegenden Höhle, die die Muslime als bir al-arwah (Seelenbrunnen) bezeichnen, verknüpft sich die Überlieferung, dass sich dort die Seelen der Gläubigen bis zum Tag der Auferstehung versammeln würden.[101]

Umayyaden-Kalif Abd al-Malik ließ den Felsendom in den Jahren 687–715 errichten. In spätosmanischer Zeit wurde der Bau vernachlässigt, wie das Bild von 1890 zeigt.

Der monumentale Sakralbau ist keine Moschee im herkömmlichen Sinn, sondern Schrein und Pilgerstätte. In der westlichen Islam- und Kunstwissenschaft ist das Heiligtum seit mehr als hundert Jahren Gegenstand zahlreicher Forschungen und wirft im Hinblick auf seine Entstehungshintergründe und die Intention seines Erbauers bis heute nicht eindeutig zu beantwortende Fragen auf. Einer These zufolge wollte der damals von Syrien aus regierende Kalif Abd al-Malik, der gegen den über Mekka herrschenden Herausforderer Abdallah bin al-Zubair kämpfte, damit einen alternativen Pilgerort zur heiligsten Stätte des Islam schaffen. Mittlerweile geht man aber eher davon aus, dass der Felsendom eine religiöse wie architektonische Antwort auf die Grabeskirche war, worauf sowohl manch bauliche Analogie als auch eine Inschrift hindeuten, welche die vom Christentum propagierte göttliche Natur Jesu leugnet.[102]

Ähnlich wie in der jüdischen und christlichen Tradition entstanden Heiligungsgeschichten über den Tempelberg in der islamischen Überlieferung erst nach der Errichtung der Al-Aqsa-Moschee und des Felsendoms. Der Berg wurde – wie in der erwähnten Muhammad-Biographie – im Islam zunächst meist als bayt al-maqdis, als Haus des Heiligtums, bezeichnet, ehe im 9. Jahrhundert auch die Bezeichnung al-quds, das Heilige, hinzukam. Diese wurde erst zweihundert Jahre später populär und um den Zusatz asch-scharif (ehrwürdige) erweitert.[103] Als al-haram asch-scharif (Al-Haram al-Scharif, ehrwürdiges Heiligtum) wurde der Ort offensichtlich erst in osmanischer Zeit und auch eher umgangssprachlich bezeichnet.[104] Diese Narrative finden sich vor allem in zwei islamischen Literaturgattungen der Epoche, nämlich den Prophetenerzählungen (qisas al-anbiya) und der Fadaʿil-Literatur, in der wichtige Personen und Städte, so auch Jerusalem, gepriesen werden. In beiden Genres war das Bestreben deutlich, den Tempelberg in eine lange Tradition einzubetten. Schon der Prophetenbiograph Ibn Ishaq führte den Tempelberg bis auf Adam zurück. Zudem wurde die Stadt wie schon in den jüdischen und christlichen Überlieferungen mit dem Paradies verknüpft.

Später wurden im Rahmen der Prophetenerzählungen noch weitere Überlieferungen über die Heiligkeit des Berges beigesteuert. Zu den ersten und berühmtesten Autoren dieser Gattung zählt Abu Ishaq at-Ta’labi (gest. 1035), dessen Islamische Erzählungen von Propheten und Gottesmännern Heribert Busse 2006 vollständig ins Deutsche übertragen hat.[105] In den Erzählungen über David und Salomo macht at-Ta’labi reichlich Gebrauch vom Alten Testament. So begegnen bei ihm sowohl das Motiv der Pest, die Gott als Strafe über die Söhne Israels kommen lässt, als auch der käufliche Erwerb des Areals für das Heiligtum durch David sowie die Geschichte seines Baus – bayt al-maqdis oder masdschid genannt – durch Salomo bis hin zu seiner Zerstörung durch den babylonischen König Nebukadnezar.[106] Zu den alttestamentlichen Stoffen gesellen sich Anspielungen auf jüdisch-christliche Legenden über den Gründungsstein, der bei at-Ta’labi als Tor zum Paradies und zum Himmel aufgefasst und auch als «Felsen» (sakhra) des bayt al-maqdis bezeichnet wird.[107] In den später, vermutlich gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen,[108] ebenfalls populären Prophetenerzählungen von Muhammad Abdallah al-Kisa’i wird der Fels noch direkter mit Muhammads Himmelsreise in Verbindung gebracht: Gott habe, heißt es dort, Salomo auferlegt, bayt al-maqdis auf dem «Felsen der Himmelsreise» (sakhrat al-mi’radsch) zu bauen.[109]

Auch das Schrifttum über die Vorzüge Jerusalems (Fada’il bayt al-maqdis) – eine islamische Literaturgattung, die im 11. Jahrhundert aufkam und offenbar als Reaktion auf die Eroberung der Stadt durch die Kreuzfahrer 1099 eine Blüte erlebte –, versammelt Heiligkeitserzählungen zum Tempelberg. Die erste bekannte und für spätere Werke richtungsweisende Schrift dieser sehr heterogenen Gattung wurde vermutlich zu Beginn des 11. Jahrhunderts von dem Al-Aqsa-Prediger Abi Bakr Muhammad bin Ahmad al-Wasiti verfasst. Er schöpfte bereits aus einer Fülle der immer zahlreicher werdenden Überlieferungen, griff jüdische wie christliche Motive auf und modifizierte sie.[110]

So enthält al-Wasitis Schrift Fada’il al-Bayt al-Muqaddas (Vorzüge des geheiligten Hauses) die Überlieferung, dass Adams Kopf rechts vom heiligen Felsen (im Felsendom) liege, sich seine Beine aber in der Abraham-Moschee befänden – wohl das Grab der Patriarchen in Hebron. Am Tag der Auferstehung würden Adams Gebeine von Gott zusammengeführt und seine sämtlichen Nachkommen um ihn auf dem Tempelberg versammelt.[111] Der Berg wird bei al-Wasiti wie auch bei den ihm folgenden Autoren als zentraler Schauplatz des Endzeitkampfes zwischen dem Daddschal – muslimische Konfiguration des Antichristen – und dem Propheten Jesus beschrieben, der den Daddschal und dessen jüdische Unterstützer besiegt und vernichtet.[112]

Auch bei al-Wasiti wird der Tempelberg mit dem Paradies verknüpft, und so heißt es an einer Stelle, Gott habe bayt al-maqdis als Sitz seines Gerichts, als «Garten Eden» und als sein irdisches Königreich bezeichnet, von dem aus er in den Himmel gestiegen sei. Auch die bereits im Judentum mit diesem Ort verknüpften Vorstellungen von den Paradiesflüssen begegnen bei al-Wasiti in mehreren Varianten. Zu den vielen Vorzügen von bayt al-maqdis zählt al-Wasiti darüber hinaus beispielsweise, dass die dort verbrachte Zeit, sei es ein Tag, ein Monat oder ein Jahr, tausendfach vergolten werde; und wer dort sterbe, befinde sich bereits im ersten Himmel und werde dort begraben liegen.[113]

In späteren Werken der Fada’il-Literatur, deren Autoren noch stärker unter dem Eindruck der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Kreuzfahrern standen, gibt es einerseits die Tendenz, sich von der Assoziation des Tempelbergs mit der jüdisch-christlichen Tradition zu distanzieren. So finden sich in der Fada’il-Schrift des Damaszener Gelehrten Diyaʾ ad-Din al-Maqdisi (gest. 1245), dessen Familie bei der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer nach Syrien geflohen war, kaum noch Spuren davon. Die Heiligkeit der Stadt wird außer mit Muhammad tendenziell nur mit islamischen Figuren begründet, die dort verweilt und gebetet haben sollen. Andererseits ist, bedingt durch die blutigen Ereignisse in der Zeit der Kreuzzüge, ein wesentlicher Teil von al-Maqdisis Schrift den bereits aus der frühen einschlägigen Fada’il-Literatur bekannten apokalyptischen Prophezeiungen gewidmet, die christliche Motive verarbeiten. So gipfelt die islamische Version der Endzeitschlacht, in der Jesus gegen den muslimischen Antichristen kämpft, nicht nur in dessen Vernichtung, sondern auch in der Verbringung der Heiligtümer von Mekka und Medina nach Jerusalem.[114]