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"Alexander Schmälzle", wohl das bedeutendste Werk Rüttenauers, ist ein Roman, der sehr viel Autobiographisches enthält. Wundervoll entwickelt der Autor schrittweise das Erwachen und Wachsen einer Kinderseele: Gott und das Böse, der Tod und die Phantasiewelt, die Qualen der brutalen Außenwelt und die Gemeinheit der Durchschnittsmenschen - all das ist Erlebnis für den kleinen Alexander und formt und bildet seine Persönlichkeit ....
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Seitenzahl: 438
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Alexander Schmälzle
Lehrjahre eines Hinterwinklers
Benno Rüttenauer
Inhalt:
Alexander Schmälzle
Erster Teil - Hinterwinkel
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Zweiter Teil - Weltgeschichte in Hinterwinkel
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Dritter Teil - Allerlei Winkel und Winkelzüge
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes und letztes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Alexander Schmälzle, B. Rüttenauer
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849644819
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Der Studierhelfer
»Lexel, kommst morgen früh um neun zu mir, kannst auch mitmachen, dein Vater wird's nicht verbieten, wenn's nichts kost'.«
So sprach zu mir unser Pfarrer Barthelmeyer des Morgens in der Sakristei, wo ich mich als eine Art Unterküster und Diener bei der heiligen Messe, kurz, als sogenannter Ministrant eingefunden hatte. Der Pfarrer knüpfte sich dabei das weiße Schultertuch um, ein Gewandstück, das ohne die darübergeworfene Alba ein wenig komisch aussieht, wie eine Serviette, die sich einer aus Versehen hintenherum gebunden hat. –
»Was hast denn mit der Alba wieder angestellt, Kerl, man meint, du hätt'st sie mit der Heugabel hing'schüttelt.«
Also lautete das zweite Wort seiner Hochwürden.
Nämlich als Ministrant hatte ich die sazerdotalen Gewänder auf dem heiligen sozusagen Toilettentisch für den Priester handgerecht bereitzulegen, was bei dem äußerst umfangreichen weißlinnenen Kleid, das man die Alba nennt, viel Sorgfalt, ja Kunst erforderte. Denn das Anordnen dieses Gewandes auf dem Ankleidetisch hatte nach ganz besonderen Regeln zu geschehen.
»Da mag ja der Teufel 'neinfahren und sich darin verwirren«, polterte seine Hochwürden weiter.
Aber der Teufel, wahrscheinlich weil ihm der Ort nicht geheuer dünkte, oder weil weiße Gewänder seinem Geschmack wenig entsprechen, wollte nicht erscheinen und in die Alba fahren.
Statt dessen fuhren, trotz allem Fluchen, Seine Hochwürden hinein und ich zeigte mich dabei behilflich, so gut es gehen wollte.
Es wollte aber nicht gut gehen, und der hochwürdige Herr, dessen Geduld nun bis auf den Grund ausgeschöpft war, fuhr herum, um mir eine wuchtige Ohrfeige aufzubrummen. Aber während ich durch rasches Bücken geschickt auswich, verfing sich der weite Ärmel der noch ungeordneten Alba in der spitzigen Ecke des Ankleidetisches und riß der Länge nach durch. Da schämte sich der Herr Pfarrer und nahm endlich doch in Gottesnamen seine Zuflucht zur ausgegangenen Geduld.
Er warf sich die Stola über, und ich, in demütiger Haltung und froh, der zugedachten Ohrfeige glücklich entronnen zu sein, reichte ihm das Zingulum dar wie der fromme Knecht Fridolin in der Schillerschen Ballade. Mit diesem kunstreich geflochtenen weißbaumwollenen Strick gürtete sich der Priester und band die Stola hübsch kreuzweise über den vorspringenden Vorderteil seines Körpers, indessen ich am Hinterteil die Alba in hohepriesterliche Falten und Fältchen ordnete, wie man es mich gelehrt hatte, wohlbedacht, daß der untere Spitzenrand weder den Boden schleifte, noch auch von den weltlichen Stiefeln oder den schwarzen Röhren der Unaussprechlichen allzuviel sehen ließ. Mit dem Überstülpen des steifgefütterten Meßgewandes aus großblumigem Seidenstoff, durch breite Streifen abgefummelten Goldbrokats verziert, fand die Investitur ihren Abschluß.
Über dem Ankleideschrank hing ein Kruzifix. Zu ihm erhob der Priester jetzt Augen und Hände und murmelte das Reinigungsgebet vor dem heiligen Opfer. Indessen bekleidete sich auch der Ministrant in aller Eile mit seinem Amtsornat.
Das erste Stück war eine Art Unterrock von himmelblauem Tuch, unten mit roten Litzen verziert, auch nicht ganz sauber, sondern mit Flecken von allerlei Farbe und Gestalt übersät. Ich zog das Ding an, wie man eben einen Weiberrock anzieht, ich heftete ihn mir um die Hüften. Leider reichte er nicht so weit nach unten wie das Meßhemd des Priesters und ließ nicht nur meine kotigen Schuhe, sondern auch die abgeschossenen und ausgefransten Hosenenden fürwitzig hervorschauen. Über dem blauen Unterrock trug auch der Ministrant ein weißes Linnenkleid – wenn es gerade frisch gewaschen war – ein Chorhemdlein, doch ohne Armhüllen, also daß auch hier die irdische Weltlichkeit ihre unheiligen Zipfel in Form zweier geflickter Wamsärmel rücksichtslos zur Schau stellte.
Über das Hemdlein legte ich einen scharlachroten breiten Schulterkragen mit gelben Litzen (damit keine Farbe fehlte) und auf den Kopf stülpte ich mir das scharlachfarbene Prachtstück meines Staates, eine Art Barett, ein schuhhohes vierseitiges Prisma mit aufgesetzter Pyramide, auf deren Spitze ein halb abgerissener himmelblauer Wollenball vergnügt hin und her baumelte.
Das Anlegen all dieser Herrlichkeiten machte mich sonst glücklich. Heute zum erstenmal war ich mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Die geheimnisvolle Andeutung des Pfarrers, daß ich »auch mitmachen dürfe«, ließ mich an nichts anderes mehr denken, um so mehr, als ich keine Ahnung besaß, wo und wobei ich mitmachen dürfe.
Auch draußen am Altar mußte ich weiter darüber nachgrübeln, und als der Priester die Epistel beendet hatte, überhörte ich mein Stichwort und vergaß, das Missale von der Epistelseite auf die Evangelienseite zu tragen, sondern blieb wie ein vergessener Regenschirm stehen, bis der Pfarrer mit der flachen Hand heftig aufs Meßbuch schlug. Da fuhr ich zusammen, aber in meiner Verwirrung glaubte ich, das Evangelium sei vorüber und die Opferung bevorstehend. Ich sprang deshalb mit aller Hast hinter den Altar nach den zinnernen Opferkännlein, die das Wasser und den Wein zum heiligen Sakrament enthielten.
Wenn ich auf das Klopfen des ungeduldigen Priesters nach dem Meßbuch gesprungen wäre, möchte ich leicht, mitten auf dem Altar, im Angesicht des Allerheiligsten und vor allem Volke ein paar Maulschellen abbekommen haben, denn der Pfarrer Barthelmeyer pflegte da nicht viel Federlesens zu machen; er war einer von der alten Schule und frei von jeder Art religiöser und anderer Sentimentalität.
Aber mit meinem erschrockenen Rennen nach den Meßkännlein und dem hilflos lamentablen Gesicht, als ich meinen Irrtum erkannte, wirkte ich erheiternd auf den Pfarrer, der für Humor nicht unzugänglich war. Er stellte selber das Missale von der rechten auf die linke Seite des Altars und begann ruhig: »In illo tempore dixit Jesus discipulis suis.« Er küßte dann das Missale, trat von der Evangelienseite in die Mitte des Altars, und gegen das Volk gewendet, mit ausgebreiteten Armen, sprach er: »Dominus vobiscum.«
»Et kum Schpirititu«, antwortete ich in hinterwinklerischem Latein. Die heilige Wandlung und die Kommunion dauerten nicht lange. Bei Pfarrer Barchelmeyer ging, wie die Hinterwinkler respektlos zu sagen pflegten, das Messelesen wie geschmiert. Nach den letzten Gebeten aber drehte sich der Pfarrer gegen den Altar und küßte die weiße Decke. Dann wandte er sich von neuem gegen das Volk und verkündigte:»Ite, missa est,geht, die Messe ist aus.«
Diese Worte sprach er nicht kurzweg, er sang sie feiertags sehr gedehnt, auf jede Silbe ein Dutzend Noten, wie wenn sie ein ganzer Hymnus oder langer Psalm gewesen wäre, wie wenn die harmlosen Wörtchen »geht, es ist aus« eine wunderbare Heilsverkündigung an die Menschheit enthalten hätten. Kam darauf das Schlußevangelium, das bei jeder Meßhandlung sich wiederholende:In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbumusw. Kaum eine Minute brauchte Seine Hochwürden dazu.
Aber dann war die Messe auch wirklich aus, und wir zogen uns in die Sakristei zurück, der Priester mit dem verhüllten Kelch voran, ich mit dem schweren messingbeschlagenen Meßbuch hinterdrein, erfüllt von tödlicher Angst, was nun mit mir geschehen werde.
Aber es geschah nichts, Hochwürden schienen meine Dummheiten ganz vergessen zu haben.
Doch auch über seine aufregende Anspielung vor der Messe ließ der Herr Pfarrer kein Wort weiter fallen, und ich kam vollständig unaufgeklärt nach Hause, wo auch meine Eltern keine Auskunft wußten. Doch bald sollten wir, wenn auch nicht durch den Pfarrer, erfahren, um was es sich handelte.
Des Blässenbauern oder Blässenvogts zweiter Sohn, der vierschrötige Finzer, sollte »Pfarrer studieren«, und seine Studien sollten morgen bei der höchsten Hinterwinkler Lehrautorität beginnen.
Und ich durfte »mitmachen«.
Der Pfarrer, der seinen Finzer kannte, wußte wohl, warum er mich zu diesem Studium heranzog. Der Blässenbäuerin wird er auch seine Gedanken nicht verhehlt haben; meinen Eltern gegenüber aber hielt er es nicht der Mühe wert, auch nur ein einziges erklärendes Wort zu verlieren.
Ich für meinen Teil aber meinte, daß nun die Gebete der frommen Mutter Regina erhört worden seien und daß ich nun wirklich auch Pfarrer werden solle wie der Finzer, was ich mir gern gefallen ließ, da ich den geistigen Beschäftigungen viel Geschmack abzugewinnen wußte und mir auch leiblich viel Gutes davon versprach, wenn ich das Leben unseres Pfarrers Barthelmeyer in seinem stattlichen Pfarrhof mit dem anderer Leute verglich.
Und ganz glücklich war selbstverständlich meine Mutter über diese neue Wendung der Dinge, obwohl sie sich hütete, ihre Freude laut werden zu lassen, eingedenk des Sprichworts, daß man nicht vor der Kirchweih jauchzen solle. Mit meinem Vater aber traf es sich, daß er gerade an einer alten Hose des Pfarrers herumschneiderte, als die Sache zur Rede kam. Er versprach sich nicht viel davon und sagte nur: »Meinetwegen kann er hingehen; er wird's als armer Teufel nicht weit bringen, 's müßt' ein Wunder sein; doch am End' kann man nicht wissen, wozu etwas gut ist.«
Mein Vater war nicht so dumm, er wußte, warum ich »mitmachen« durfte. Ich sollte dem Finzer ein »Studierhelfer« werden. Der Pfarrer kannte seinen Finzer. Auch mich glaubte er zu kennen. »Lexel,« hatte er mir oft bei gewissen Antworten zugerufen, »Lexel, du solltest Professor werden.«
Aber dieses Lexel, der Professor werden sollte, bemächtigte sich jetzt eine schwere Sorge. Ich hatte ein böses Gewissen. Ich wußte, daß man, um Pfarrer zu werden, Latein lernen müsse, und nun erinnerte ich mich mit Schrecken einer schweren Unterlassungssünde, die ich nie gebeichtet hatte und die nun ans Tageslicht kommen und mir eine große Beschämung, wenn nichts Schlimmeres zuziehen mußte.
Meine Sünde war in Wahrheit ein Nichts, aber nicht nur kleine, auch große Menschenkinder haben sich schon durch ähnliche Nichtse ein Leben hindurch ihre Seele mit marternden Ängsten erfüllen und Glück und Frohsinn für immer verderben lassen. Sogar könnte ich sagen, daß jene Sünde vielmehr eine Tugend war, denn sie bestand darin, daß ich absolut Sinnloses mir nicht zueignen mochte, daß wie das Wasser kein Öl, so meine Seele kein Sinnloses annahm, kurz, daß ich dem auswich, was für mich ein Unsinn war. Und folgende Bewandtnis hatte es damit.
Als Ministrant hatte man die Responsorien des in jeder Messe sich gleichbleibenden Kanons lateinisch zu rezitieren. Man gab uns diesen Kanon, das sogenannte Confiteorbuch, gedruckt in die Hand, um ihn auswendig zu lernen, die Antworten oder Responsorien ganz und von den priesterlichen Gebeten das Stichwort, wie die Schauspieler sagen.
Ich machte damals auch sofort einen Versuch, die unaussprechlichen und unverständlichen Worte meinem Gedächtnis einzuprägen. Doch sagte ich mir schnell, das sei unmöglich und gab mir keine weitere Mühe. Ich lernte gern, aber was ich lernen sollte, durfte mir keine Anstrengung verursachen und mußte mich freuen. Dies»Confiteor«erfüllte keine von beiden Bedingungen; ich ließ es auf sich beruhen und machte mir einstweilen seinetwegen keine Schmerzen.
Nichtsdestoweniger ministrierte ich flott drauflos. Amen wußte ich zu sagen, auchEt cum spiritu tuo,natürlich mit hinterwinklischer Aussprache; es klang dann etkum schpirititu. Und warum sollte auch ein Hinterwinkler Geißbub das Latein nicht ebenso seinem Schnabel anpassen und sich entsprechend zurechtquetschen, da doch die gebildeten Franzosen und Engländer und andere dasselbe tun, den deutschen Philologen zum Trotz, die allein die richtige Aussprache zu haben glauben und von denen dann wieder die Italiener behaupten, daß sie die Sprache der Römer wie rechte Barbaren herauspolterten, so hart und holperig, daß einem die Ohren schmerzten.
Den Anfang des Kanon hatte ich mir auch eingeprägt. Der Priester, vor die Stufen des Altars tretend, spricht:Introibo ad altare dei. Laut und vernehmlich wußte ich zu antworten, nicht ohne selbstgefälliges Pathos:Ad Deum qui laetificat juventutem meam.
Ich verstand nicht, was ich sagte, ich hatte keine Ahnung davon, aber der Klang der Worte gefiel meinem Ohr, und ich sprach sie immer mit großer Lust. Auch außer der Kirche, wo ich ging und stand, pflegte ich sie vor mich hinzusagen:Ad Deum qui laetificat juventutem meam– zu Gott, der meine Jugend erfreut. Ich endete damit, daß ich eine Melodie darauf machte, und sie sang, bald leise vor mich hin, bald laut in die Welt hinaus, und sicher hat die Melodie zu dem Sinn der Worte, wovon ich nichts wußte, vortrefflich gepaßt und muß rührend anzuhören gewesen sein. Sie war, ganz unbewußt, meine erste Komposition, und sie war vielleicht zugleich meine beste, was ich aber wohl nur darum anzunehmen geneigt bin, weil sie eben nicht aufgeschrieben worden ist.
Warum auch schreiben wir unsere Sachen! Sie wären alle ungeschrieben viel besser. Wir könnten an sie als an wahre Wunder glauben durch alle Ewigkeiten hindurch, wenn wir so klug gewesen wären, sie nicht mit rußigem Schwarz auf langweiliges Weiß zu fixieren.
Nach dem einen Spruch war ich aber auch mit meinem Latein zu Ende. Von dem Confiteor, dem Bekenntnisgebet und größtem Responsorium wußte ich außer dem Anfangswort nur noch die drei letzten Wörter:Dominum Deum nostrum.Den Zwischenraum füllte ich mit Gebrummel aus, und nach diesem Rezept verfuhr ich bei allem übrigen.
Diese Art zu beten erschien mir doch von Zeit zu Zeit wie eine freche Gotteslästerung, und ich empfand heftige Gewissensbisse. Ich machte auch gelegentlich einen erneuerten schwachen Anlauf, mir ein paar der schlimmen Runen mehr anzueignen, doch stand ich immer sehr schnell wieder davon ab und beruhigte mein Gewissen damit, daß ich die Sache von neuem für unmöglich erklärte.
Nun aber wollte ich Pfarrer werden, und das konnte ich doch nicht, wenn ich das Lateinlernen für unmöglich hielt. Mit den artigen Verbeugungen allein, womit ich als Ministrant die Frommen zu erbauen wußte, war's, da doch nicht getan. Ich bekam also auf die Ankündigung des Pfarrers Barthelmeyer hin eine ungeheure Angst. Die Sünde wurde zur Sorge.
Ganz verzweifelte ich indessen nicht. Es war Herbst, ich mußte am Nachmittag die Dorfziegen auf die Stoppelfelder treiben – die Gänse hatten um diese Zeit Ferien und durften frei umherlaufen.
Also steckte ich mein Confiteorbüchlein zu mir und suchte eine einsame Gegend aus jenseits des Kahlenbuckels, am Rand des sogenannten Salmschen Gehölzes, und indem ich die guten Geißen sich selbst überließ, begann ich:Quia tu, quia tu, es, es: quia tu es; Deus, Deus: quia tu es Deus.Das ging ja ganz gut:Quia tu es Deus.Jetzt weiter:for, for – ti, ti: forti.Noch einmal:forti.Und weiter:tu, tu, fortitu,langsam:for – ti – tu.Waren das Wörter! Aber weiter:tu,tu, do, do, tudo,zusammen:forti ... tudo.Und also das Ganze.Quia tu es Deus, forti ...Immer wieder blieb ich hier stecken.
Gehen wir weiter:
Qua, qua – re, re: quare.Noch einmal:Qua, qua – re, re: quare.Auch das ging.Weiter:tris, tris – tis, tis: tistris– nein:tris – tis: tristis ...Nichttristris,sonderntris – tis.Also:quare tristris ...wie heißt's?tris – tis,nämlichtis,nichttris.Noch einmal:quare tristris ...
Mutlos starrte ich die drei Zeilen an, sie bildeten kaum den zwanzigsten Teil von dem, was ich lernen sollte. Ich versuchte noch einmal, ich las silbenweise die Zeilen im Zusammenhang.Qua – re tris – tis es, ani – ma mea?Dann wollte ich den Anfang wiederholen; ich wußte keine Silbe mehr –
Nein, das würde ich niemals auswendig zusammenbringen, niemals, nicht diesen kleinen Teil, geschweige das andere dazu, niemals, wenn ich auch hundert Jahre daran lernte.
Ich konnte also kein Pfarrer werden.Quare tristis es, anima mea:Warum bist du traurig, meine Seele? Meine Frage klang wie ein Hohn auf mich selber. Ich war traurig, ich war elend, meine Seele war bis zum Tode betrübt, weil – weil ich kein Pfarrer werden konnte, nein, nicht deswegen, aber weil ich so dumm war, ich, den der Pfarrer fälschlicherweise für gescheit hielt – dümmer war, als der Finzer und all die andern, die das Latein nur so herunterschnappern konnten, und weil ich andern Tages mit Schimpf und Schande fortgejagt werden und ganz Hinterwinkel davon sprechen würde. In meiner Herzensangst und Verzweiflung hielt ich mich an das, was ich längst konnte, was mir im Ohr lag, ohne daß ich wußte, wie es hineingekommen war, und unaufhörlich murmelte ich schweren Herzens vor mich hin:Ad Deum quilaetificat juventuteam meam– zu Gott, der meine Jugend erfreut.
Die Ziegen waren zusammengelaufen und umstanden mich und hörten mir verwundert zu. Die schönste unter ihnen, kaffeebraun, mit weißer Stirn und kohlschwarzem Bart, meine Lieblingin, die heute zum ersten Mal noch kein Liebeswort von mir erhalten, meckerte mich fragend an. Ich verstand sie aber nicht, heute zum ersten Male. Vielleicht hatte sie mir's abgelernt und meckerte lateinisch. Vielleicht lautete es:Quare me repulisti?Warum hast du mich verworfen vor deinem Angesicht, o Herr?
Mit Zittern und Zagen und wahrer Höllenangst machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zum Pfarrhof. Wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm, so klammerte ich mich auf dem ganzen Weg an meinAd Deum qui laetificat. Der Nachbar Gerber mit dem gelben Schurzfell und dem krausen Vollbart von der gleichen Farbe, lehnte, seine Pfeife rauchend, unter der Haustüre. »Wo 'naus so eilig, Herr Nachbar?« Ich antwortete: »Ad Deum qui laetificat juventum meam...« Zu Gott, der meine Jugend erfreut.
Mein Herz klopfte, als ich vor der Hoftüre des Pfarrhauses im Begriff stand die Klingel zu ziehen, ich mußte gewaltsam Atem schöpfen.
Dann tat sich das Tor auf, und da fuhr mit wütendem Gebell der Pfarrhund, ein giftiger schwarzer Spitz, auf mich los und bleckte seine weißen scharfen Zähne. Ich stieß einen hellen Schrei aus.
»Bist ein rechter Sch ...kerl«, klang eine Stimme vom Himmel herunter. Sie kam aber nicht ganz so weit her, sondern sie gehörte dem Herrn Pfarrer, der im zweiten Stock breit zum Fenster herauslag und aus seiner langen Pfeife Wolken in die Luft blies.
Unten im Gang kam mir die alte Rosalia entgegen, die Häuserin des Pfarrers.
»Du bringst einem mal einen Lärm ins Haus«, waren ihre Empfangsworte, als ob ich den Lärm gemacht hätte und nicht ihr Hund. Sie zeigte mir eine Türe, dadrin sollte ich einstweilen warten.
Bald kam auch der Finzer und wurde zu mir hereingewiesen. Wir guckten uns zuerst stumm an; dann flüsterte der Finzer: »Kannst du dasConfiteorund dasSuscipiat Dominius, mein Vater sagte mir, das würden wir hersagen müssen.«
Die Tür ging weit auf, ich glaubte versinken zu müssen.
»Wollen wir in Gottes Namen anfangen,« sprach der Pfarrherr, »aber daß ihr mir die Ohren spitzt, sonst kann da gleich das Donnerwetter dreinfahren.« Er schob mir einen Zettel hin. »Lies das, Lexel.« Ich begann:
mensa, der Tisch
mensae, des Tisches
und so weiter die folgenden Kasus, dann mußte der Finzer lesen. Aber schon bei der ersten Silbe saß ihm eins am Ohr. »Mach's Maul auf, Lümmel«, sagte der Pfarrherr lachend.
Ich war Kindskopf genug, daß ich plötzlich ebenfalls laut lachen mußte; sofort bekam ich ebenfalls eine Watsche mit der Bemerkung: »Gleiche Brüder, gleiche Kappen.«
»Morgen müßt ihr's auswendig können,« verfügte unser gestrenger Lehrer darauf, »und jetzt macht, daß ihr fortkommt ...«ite, missa est, hätte es auf lateinisch geheißen.
Also nichts von all den Schrecken, die ich mir vorgestellt und wovon ich die ganze Nacht geträumt hatte.
Aber, wie es oft geschieht, daß uns plötzlich etwas geläufig ist, was wir am Tage zuvor umsonst versucht haben, so kam mir jetzt unversehens der Satz in den Mund:Quare tristis es, anima mea? Warum bist du traurig, meine Seele? Und die Worte, unverstanden von mir, hatten einen tiefen Sinn in diesem Augenblick. Mit der kindlichen Freudigkeit, die bis jetzt fast ungetrübt, einer Sonne gleich, in den Winkel meiner Armut geschienen und ihn wohlig erwärmt hatte, war's ein für allemal vorbei. Ich wußte das nicht, ich verstand auch nicht, was ich sagte; aber ich rezitierte nicht mehr:Deum qui laetificat juventutem meam. Einen Satz hatte ich von all meinen gestrigen Anstrengungen auf dem Kahlenbuckel, am salmischen Holz, im Gedächtnis zurückbehalten:Quare tristis es, anima mea?
Als ich vom Bäckensteg ab meinen alten Lieblingspfad einschlug, am Rande des Haselbaches und den Krautgärten hin, deklamierte ich noch lauter als vorher mein neues Sprüchlein und vergaß darüber, eine goldgelbe Birne aufzuheben, die mir im Wege lag. Einmal fuhr ich erschrocken zusammen. Eine Türe war hinter mir ins Schloß gefallen, die des Pfarrgartens, der auch hier lag. Wegen der hohen Bohnen hatte ich die alte Rosalia, die mit einem Korb voll Gemüse aus dem Garten trat, übersehen und darum war ich bei dem Einfallen des Gartentores so erschrocken. Ich wußte nicht, es sei die Türe zum Paradiesgärtlein meiner Kinderseligkeit, die hinter mir zuschlug, aber mechanisch wiederholte ich:Quare tristis es, anima mea?
Vater Jakob und sein Ring
Wenn einer seine eigene Geschichte erzählt, braucht er nicht erst zu sagen, wer er ist, die Geschichte wird das schon ausweisen. Aber von seinen Eltern sollte er wohl etwas zuvor sagen.
Nun, mein Vater war der Schneidermeister Jakob Schmälzle. Er arbeitete selten zu Hause auf Bestellung, für solche Arbeit gab es in seinem Revier nur wenig Kunden. Gewöhnlich war der Meister bei den Bauern herum verdungen, in kunstgewerblichem Tagelohn, mit Verköstigung, wie es alte Sitte und Herkommen mit sich brachten. Es fand sich deshalb in Hinterwinkel und den umliegenden Ortschaften, soweit sie zu meines Vaters Schneidertum gehörten, kaum eine bekanntere Persönlichkeit als die seinige. Und außer in Hinterwinkel war mein Vater überall sehr beliebt. Viele Bäuerinnen kochten das ganze Jahr keine so fetten Bissen, als wenn der Schneiderjakob auf der Tagfahrt bei ihnen eintrat und Hosen und Hemden und Westen und Wamse aus ihrem selbstgewobenen Zeug für alt und jung mit vieler Kunst zusammenschneiderte.
Seit ich laufen konnte, durfte ich den Vater auf diesen Fahrten begleiten. Und ich hatte bald die sämtlichen Bauernhäuser von einem halben Dutzend Dörfer in zwei Kategorien eingeteilt: in solche, wo man Butterbrot und Käse und freundliche Gesichter und liebe Worte dazu bekam, und solche, wo es nichts gab als trockenes Brot mit finstern Gesichtern und mürrischen Reden. Da habe ich oft darüber nachgedacht, warum denn nur der liebe Gott, der doch, wie schon sein Name sagt, lieb und gut ist, so unterschiedliche Menschen erschaffen mochte. Diese Frage war das erste philosophische Problem, auf das ich in meinem Leben stieß, und ich habe es bis heute nicht gelöst.
Im allgemeinen sprach mein Vater wenig bei seiner Arbeit. Dabei schienen mir seine großen schwermütigen Augen selten bei dem zu sein, was die Hände hantierten und die Finger fingerten, sondern weit hinaus zu blicken in eine andere Welt. Bei den Wintertagfahrten, wenn die Bauern nur so zum Zeitvertreib in der Stube herumpöstelten, hätten sie den weitgereisten Schneider gern über fremde Länder und Städte erzählen hören. Doch sie brachten ihn nicht immer dazu. Er wurde von ihrem Drängen meistens ganz melancholisch und traurig. Nur wenn sein Blick unversehens auf den goldenen Reif an seinem Finger fiel, schoß oft plötzlich ein heller Strahl aus den großen Augen, als ob das Gold des Ringes in zauberhafter Weise einen geheimnisvollen Widerschein darin erweckte.
Einmal, als ich schon in die Schule ging, fragte ich schüchtern die Mutter, was denn der Vater denke, wenn er so lange stumm bleibt und dabei traurig vor sich hinsieht.
»Das verstehst du nicht, Kind,« antwortete mir die Mutter, »dein Vater ist deshalb so still und melancholisch, weil er über ein Rätsel oder Geheimnis nachgrübelt; alle Menschen, die das tun müssen, sind schweigsam und sehen traurig aus.«
Das Rätsel, das meinen Vater beschäftigte, war seine Herkunft. Sie kam ihm nie aus den Gedanken. Und er hatte dabei, so bescheiden er aussah, einen wunderlichen Stolz in sich großgezogen. Er hielt sich für besser als alle Leute von Hinterwinkel. Je mehr ihn die Hinterwinkler seiner dunklen Herkunft wegen für geringer ansahen als den Schlechtesten unter ihnen, desto höher dachte der Schneiderjakob von sich selber. Dieser gegen die Außenwelt sorgfältig verheimlichte Stolz machte ihn glücklich und unglücklich zugleich: Glücklich in dem Gedanken, vielleicht, wie es aus alten Zeiten berichtet wird, ein verkannter Prinz oder Königssohn zu sein, und unglücklich, wenn er sich vorstellte, daß er, trotz seines Prinzentums, wohl sein ganzes Leben lang als elender Schneider und verachteter armer Teufel in Hinterwinkel leben müsse.
So erklärte mir's meine Mutter.
»Du mußt deinen Vater nur betrachten,« sagte sie, »mit welchen Augen er den Ring an seinem Finger ansieht. Von diesem Kleinodium glaubt er, daß es ihn vielleicht eines Tages entzaubern und der Welt seine Prinzenherrlichkeit kundtun werde. Aber ein Sprichwort sagt, Träume sind Schäume, und das wird auch bei deinem Vater gelten. Es ist ein unheilvolles Ding, wenn einer nicht auf dem gewöhnlichen Wege in diese gewöhnliche Welt gekommen ist. Die Welt verzeiht dies niemals. Und dein Vater bildet sich noch wunder was darauf ein.«
Die Worte meiner Mutter waren halb ernst, halb scherzhaft gemeint und nicht frei von einem Anfluge gutmütigen Spottes. Ich aber nahm diese Reden sehr ernsthaft auf und verstand sie wörtlich. Sie machten einen tiefen Eindruck auf meinen erregbaren Geist. Besonders das Wort Königssohn erweckte in mir ein geheimnisvolles Ahnen, das lang in meiner Phantasie fortkeimte.
Denn ich war das Gegenteil von altklug und im Erfassen der wirklichen und alltäglichen Lebensverhältnisse stand ich gegen andere Kinder weit zurück. Doch auch später, als ich über den Königssohn lächelte, gab ich meinem Vater innerlich recht, daß er sich etwas darauf einbildete, kein richtiger Hinterwinkler zu sein und nicht auf dem gewöhnlichen Wege, sondern auf eine außerordentliche und geheimnisvolle Art in diese Welt gekommen zu sein, oder wie ich mir sonst die Sache dachte.
Hie und da geriet mein Vater ins Erzählen, dann fand er auch nicht mehr so leicht ein Ende, und von so fremden und großen Dingen scholl es da an mein Ohr, daß ich mich mit heimlichem Grauen fragte, ob ich gar selber einmal das Glück erleben möchte, solche Wunder zu schauen. Das konnte ich aber nicht glauben und schaute mit religiöser Ehrfurcht zu meinem leiblich so kleinen und geistig so großen Vater hin, der unter den Bauern saß wie ein Apoll unter den thessalischen Rinderhirten; – obwohl Jakob Schmälzle äußerlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit jenem schönen Heidengott aufwies.
Wenn wir dann durch Nacht und Nebel nach Hause mußten, manchmal mehrere Stunden weit, da war mir's fast unheimlich zumute; es wollte mir scheinen, als ob das eigentümliche kurze Mäntelchen meines Vaters sich zu einem Zaubermantel aufbauschte, daß ich zitterte und jeden Augenblick, ich weiß nicht, fürchtete oder hoffte, plötzlich vom Erdboden hinweggehoben und nach den fremden Ländern getragen zu werden, von deren Wundern mein Vater berichtet hatte. Ich hätte mich gar nicht darüber gewundert, denn ich stand ohnedies nicht recht fest auf dem Boden der Wirklichkeit.
Es sollte aber die Gelegenheit kommen, wo ich auf diesem Boden tüchtig aufgestaucht würde.
Jakob Schmälzle betrachtete sich nicht als einen Hinterwinkler, denn nicht nur war er sieben Jahre lang als Schneidergeselle in der Fremde herumgezogen und hatte »vieler Völker Städte« gesehen; auch die Umstände, unter denen er überhaupt nach Hinterwinkel verschlagen worden, waren außergewöhnliche und geheimnisvolle. Und für Vater Jakob verstand es sich nicht von selbst, wie für die anderen Hinterwinkler, daß da, wo er in die Welt hineinfiel, just Hinterwinkel lag.
In diesem Hinterwinkel war aber einmal vor Jahren an einem Novemberabend und spät in der Nacht eine fremde Frauensperson angekommen und hatte im ersten Wirtshaus an der Straße, in den »drei Raben«, ein elendes Nachtlager gefunden. Gegen den andern Morgen hörten die Leute des Hauses in dem Verschlag der Fremden ein schmerzliches Wimmern und Stöhnen, und als sie zu ihr hineindrangen, fanden sie sie nicht allein, sondern mit einem neugeborenen Kind in den Armen, das laut schrie, indes die Mutter ganz stumm dalag auf ihrer Streu, auch nie wieder den Mund öffnete, sondern still und stumm hinüberschlummerte in den ewigen Schlaf. Außer einigem Geld, ihren sehr mitgenommenen Kleidern und einem einfachen goldenen Ring hatte die Verstorbene nichts von Wert hinterlassen, wenn man nicht annehmen will, daß ihr Knabe einen solchen beanspruchen konnte. Es erhob aber, trotz amtlicher Ausschreibungen, niemand Anspruch auf ihn, und so wurde er nebst den genannten Gegenständen nach langer Beratung und Überlegung im Gemeinderat nicht etwa an den Meistbietenden, sondern an den Wenigstfordernden versteigert und kam gegen eine jährliche Vergütung von elf Gulden und fünfzig Kreuzern aus dem Gemeindesäckel an den alten Schafmichel, den Nachtwächter und Hirten von Hinterwinkel.
Das verlassene Waisenkind erhielt vom Pfarrer in der Taufe den Namen Jakobus und vom Schafhirten außer Nahrung und Kleidung, wenn auch noch so notdürftige, dessen eigenen herrlichen Zunamen Schmälzle. Außerdem erhielt er von ihm später die schöne Regine, mit der der kleine Jakob einstweilen aufwuchs. Ja, sie war es, die den zierlichen und modisch perfekten Schneidergesellen aus den Großstädten der Welt in das Bauerndorf von Hinterwinkel zurückzog, wohin er doch, nach seiner eigenen Meinung, gar nicht gehörte. Sein Herz hatte sich stärker erwiesen als sein Verstand. Und der Sohn will ihm deswegen nicht grollen, obwohl er dadurch ebenfalls ein Hinterwinkler geworden ist, dem es dann später viel Mühe und Not gekostet, noch nachträglich etwas anderes zu werden.
Der alte Schafmichel hatte das Haus, wo wir wohnten, nicht eigentümlich besessen, sondern nur zur Miete darin gewohnt. Mein Vater aber erwarb es durch Kauf bei seiner Verheiratung und bezahlte es mit dem Sparpfennig seiner Wanderjahre. Er wurde damit Grundeigentümer, und dieser Erwerb bildete das einzige Werk seines Lebens, das den Bauern von Hinterwinkel nicht verächtlich erschienen ist.
Meine Jugend aber gestaltete sich dadurch um einen Grad weniger proletarisch, meine Armut erhielt damit sozusagen eine gewisse Würdigkeit.
Das Haus war nur ein Häuschen, der unscheinbaren Person meines Vaters angemessen, aber dafür erfreute es sich einer außerordentlich günstigen Lage.
Die Landschaft von Hinterwinkel ist ein wellenförmiges Hügelland der Muschelkalkformation, eine abgelegene, weltferne Gegend, wo in weitem Umkreis alteingesessene fürstliche und gräfliche Familien, wie die von Hohenlohe, von Löwenstein, von Berlichingen, von Zeppelin, von Salm-Gottmarsdorf und andere ausgedehnte Ländereien besitzen, zum größten Teil Wald und Wildgehege, zwischen denen die paar Bauerndörfer wie in hinterwäldlerischer Einsamkeit liegen.
Diese Landschaft hat im ganzen nichts Großes an sich, nichts Romantisches im herkömmlichen Sinne des Wortes. Aber die engen grünen Tälchen, an ihren hohen Rändern meist von lichtem Buchen- und Eichengehölz eingerahmt und von klaren Quellbächen durchflossen, mit gerade hinreichend Wasser, um sich zwischen Erlen und Weiden und den hohen Wäldern von Bachbunge und Katzenminze nicht ganz zu verlieren, sondern sogar von Zeit zu Zeit ein altes morsch gewordenes Mühlenrad in langsam gemächlichem Lauf sachte umzutreiben: diese Tälchen (worin diese Bäche fließen) sind mit ihren vielfachen Krümmungen und verlorenen Wiesengründen von einer eigenen bescheidenen Schönheit mit sehr charakteristischer lyrischer Stimmung – wie gewisse schwäbische Volkslieder, die aus dieser Gegend stammen mögen.
In einem solchen Tälchen liegt Hinterwinkel. Sein Bach heißt der Haselbach und fließt mitten durch das Dorf. Auch er treibt, und zwar gerade vor seinem Eintritt in Hinterwinkel, eine altmodische Getreidemühle, die Heckenmühle genannt, weil seit alten Zeiten eine hohe Dornhecke um sie her wuchs und sie in eine blühende Wildnis einschloß.
Das Mahlwerk ging wohl seit mehreren Jahrhunderten, es hatte aber, was auch bei einem so trägen und langsamen Gehen doch ein Widerspruch ist, bis zu meiner Zeit nicht den geringsten Fortschritt gemacht, seine Einrichtung war noch so einfach, als sie von Anfang an gewesen sein mochte, und das Rad so mürb und altersschwach und so von triefendem Moos überkleidet, daß jedes andere Wasser als der zahme Haselbach es längst mit sich fortgerissen hätte. Das ganze Anwesen befand sich in einem höchst verlotterten Zustand, und der Müller hatte mehr Schulden auf dem Rücken als an manchen Tagen Körner auf seiner Mühle. Denn die reichen Bauern ließen ihren Dinkel längst zu Schönthal auf der neuen Kunstmühle mahlen.
Eine kleine Strecke unterhalb der Heckenmühle vereinigte sich der Mühlenkanal mit dem müßig und unbekümmert zwischen seinen Erlen und Weiden sich hindurchschlängelnden Haselbach, und die beiden armen Wasser bildeten so zwischen sich eine Art Halbinsel oder Landspitze.
Darauf lag in seiner ganzen stolzen Selbstherrlichkeit mein Vaterhaus. Sein Besitzer nannte es gern sein Klein-Venedig.
Um zu unserer Schwelle zu gelangen, bedurfte es also einer Brücke. Sie bestand in einem einfachen Eichenbrett ohne Geländer.
Zum Glück floß in unseremCanal grandeund unter diesemRialtoweder ein tiefes noch ein reißendes Wasser, sonst hätte ich in meiner Kindheit hundertmal ertrinken können; so bin ich immer mit dem Schrecken und triefenden Kleidern davongekommen. Und wenn es hie und da geschah, daß nächtlich umherschweifende Bauernbuben ihren Witz und Heldensinn dadurch an den Tag oder vielmehr an die Nacht zu legen suchten, daß sie dem Dogen von Klein-Venedig seine Brücke abbrachen, indem sie das Brett wegnahmen und in irgendeinem Winkel versteckten, so wurden wir deshalb noch lange keine Gefangenen; wir schritten einfach, bis das Brett sich wieder auffand, über den Mühlgraben hinweg, ich allein mit besonderem Anlauf.
Zwischen diesem Mühlgraben und der Vorderseite unseres Hauses lag ein terrassenförmiger Raum, der links von der Haustüre als Holzplatz diente und rechts ein Gärtchen bildete, auf das die niederen Fensterchen der Wohnstube gerade hinausgingen. Das Gärtchen maß kaum drei Schritte im Geviert und doch wuchs mancherlei darin.
Ein alter Stock hundertblättriger Rosen in der Ecke, wie aus den Grundmauern des Hauses hervorgetrieben, bildete seinen Hauptschmuck. Große, schlank aufragende Feuerlilien blühten daneben und schauten uns zu den Fenstern hinein oder würden es getan haben, wenn ihnen die Mutter mit ihren Geranien und Nelken nicht die Einsicht versperrt hätte. Am Vorderrande aber, dicht über dem gemauerten Graben, wuchsen mächtige Irisstöcke, die mit den riesigen Blätterschwertern den dürren Reisigzaun durchbrachen, um draußen in der Freiheit fortzuwuchern, im alten Gemäuer des Kanals bis hinunter an den Wasserrand, wo ihre niederhängenden phantastisch gestalteten blauen Blumen sich spiegelten, in Gemeinschaft mit wildwachsendem Goldlack und Salbei und ganzen Scharen von Brennesseln.
Unser Häuschen erfreute sich noch eines zweiten Ausgangs, oder Eingangs, gemeiniglich die Hintertüre geheißen. Durch sie gelangte man zu unserem Grasstück, das die Spitze unserer Halbinsel ausfüllte und dergestalt von zwei Strömen begrenzt wurde. Ein halbes Dutzend Pflaumenbäume, drei alte Pappeln und zahlreiche Uferweiden erhöhten für mich unendlich den Wert dieses Grundbesitzes, abgesehen von den mannshohen Weidenröschen, die jeden Sommer am Bachrande blühten, zwischen Bachbunge und hoher Minze, und dem geheimnisvollen grünen Eisvogel, der scheinbar in beschaulicher Ruhe, seinem langen roten Schnabel nachguckend, jeden Tag auf dem nämlichen Weidenzweig über dem Wasser saß.
Nach oben hörte unsre Herrschaft drei Schritte von der Hauswand auf. Von da an gehörte Grund und Boden dem Heckenmüller. Und das war zunächst eine höchst merkwürdige Wildnis. Ein früherer Besitzer der Mühle hatte bei Vermehrung seiner Baulichkeiten an dieser Stelle Steine brechen lassen, Tuffsteine, wie sie in Kalkgegenden unter dem Rasen der Flußtäler gefunden werden. Die so entstandenen Steinbrüche mit ihren Unterhöhlungen, ihren Schluchten und Gängen bildeten für mich eine Welt mit tausend geheimnisvollen Wundern.
Hohe, sperrästige Kletten, mit graufilzigen, schirmförmigen Blättern und roten Blütenköpfen wuchsen hier, und seltene Riesendisteln, deren Blumen wie purpurne Samtballen über meinem Kopfe in der Sonne funkelten, und großblumige Zaunwinden, gleich tropischen Lianen von Gipfel zu Gipfel sich fortschlingend, und daneben tausendfältiges geringeres Gewächs, alles mich weit überragend: das wuchs und wucherte in üppiger Unordnung und ward vor meinen Kinderaugen und meiner Kindergröße zum unendlichen Urwald, in dem ich mich zu verirren fürchtete ...
Wahrlich, wenn ich mir unsere Halbinsel in die Erinnerung rufe und alle die Eindrücke vom ersten Erwachen meines Bewußtseins an, da empfinde ich es als Unrecht, daß ich manchmal von der Armut meiner Kindheit zu reden wage, indem ich vergesse, daß dem Kleinen einst alles groß war. Dem Kleinen, d.h. dem Kind. Und das Kind, das ist in Wahrheit etwas Großes. Groß ist seine ungeschwächte Einbildungskraft, dieses wundersame Vermögen, die Welt in vergrößerten Bildern zu schauen und zu empfinden. Dem wirklich Kleinen aber, dem geistig Kleinen, ist sogar das Große klein, wie dem Dummen nichts so dumm ist, als was hoch über aller Dummheit liegt.
Ein anderes bescheidenes Anwesen, jenseits des Mühlenkanals, hart an der Straße gelegen, gehörte dem musikalischen Korbmacher Rotermund, meinem Paten, und uns schräg gegenüber, an der hochgewölbten steinernen Haselbachbrücke, lag eine kleine Gerberei mit in den Boden eingesenkten Holzkufen, mit hohen Haufen roter Eichenlohe, wo man sich prächtig umhertreiben und an dem kräftigen Geruch der gemahlenen Eichenrinde laben konnte.
Diese Wohnungen und Anwesen hingen mit dem übrigen Hinterwinkel nicht unmittelbar zusammen, sie waren durch Obstgärten davon getrennt und bildeten in ihrer Abgeschlossenheit eine Art Vorstadt, vielmehr Vordorf; man nannte sie den Dörrhof, den dürren Hof, weil keine fetten Bauern hier wohnten.
Noch ein Haus, das nicht genannt wurde, gehörte zum Dörrhof, aber davon wird alsobald die Rede sein.
Wie ich den lieben Gott persönlich kennenlernte
Als kleines Kind saß ich oft auf der alten Mauerbrüstung der Haselbachbrücke und sah dem grünen Eisvogel zu und der weißbrüstigen Wasseramsel oder zählte zum soundsovielten Male die alten Pappeln, die das Wiesental hinauf den Lauf des Baches bezeichneten. Eines Tages aber gab ich mich einer anderen Beschäftigung hin.
In der Sandsteinplatte, die die Mauerbrüstung deckte und worauf ich saß, befand sich, wahrscheinlich auch von der Hand eines spielenden Knaben herrührend, eine kreisrunde Aushöhlung. Diese hatte ich mit Wasser ausgefüllt, das ich in einer alten Hafenscherbe vom Bache heraufgeholt hatte, und kauerte nun daneben, emsig bemüht, mit Hilfe eines Steines ein Häuflein zusammengetragener Ziegelbrocken zu feinem Mehl zu zerklopfen. Aus dem Ziegelmehl wollte ich mir rote Farbe bereiten, um, ich weiß nicht mehr was, damit zu bemalen. In dem wassergefüllten Steinbecken gedachte ich den Brei anzurühren.
Aber noch hatte ich vollauf mit Klopfen zu tun, das nur langsam vonstatten ging, weil der Klopfstein viel zu groß und schwer war für meine kleinen Kinderhändchen. Da kamen drei oder vier große Buben über die Brücke geschlurcht, und als sie mich gewahrten, sprang der größte unter ihnen auf mich zu und rief: »Seht den Bettelbuben, der die Brücke verdirbt, sein Vater bezahlt nichts daran, wenn sie neu gebaut werden muß; mach, daß du runter kommst oder wir schmeißen dich ins Wasser, daß du ersäufst wie eine räudige Katz.«
Erschrocken blickte ich die großen Kerle an, ohne etwas zu sagen oder mich von der Stelle zu rühren. Sofort ergriff mich der Längste an der Schulter. Er stieß mich zwar nicht ins Wasser, aber er riß mich von der Brücke, und ein anderer, ein großknochiger, stämmiger Kerl, den sie im Dorf den Finzer nannten (ich machte jetzt zum erstenmal seine nähere Bekanntschaft), schlug mich mit der Faust auf den Rücken, daß mir der Atem ausging und ich nur noch stöhnen und ächzen konnte.
Doch im nämlichen Augenblick erhielt der Finzer, der sich's nicht versah, eine Ohrfeige, daß er zu Boden taumelte, während die übrigen in hellem Schrecken die Flucht ergriffen.
Die Schurken! hörte ich jemand ingrimmig sagen, und vor mir stand ein Mann von hoher, mächtiger Gestalt mit einem dickbuschigen schneeweißen Schnurrbart im hochroten Gesicht, mit einem breitkrämpigen schwarzen Filzhut auf dem üppig behaarten weißen Kopf.
Im ersten Augenblick flößte mir das rote Gesicht mit dem weißen Bartgebüsch eine heimliche Furcht ein. Aber diese verschwand schnell, der Mann blickte mich aus kleinen grauen Äuglein freundlich an.
»Komm ein wenig mit«, hörte ich ihn sagen, und er nahm meine Hand.
Jenseits der Brücke, wo wir wohnten, aber nicht unten an Bach und Straße, sondern am Abhang der Kyrlihalde und in beträchtlicher Erhebung, sah zwischen einem Wald von Obstbäumen, weißleuchtend, ein vornehmes kleines Haus auf den Dörrhof und Hinterwinkel herunter.
Das Haus war einfach gebaut, und niemand hätte es eine Villa genannt, aber mit seinen weißen Wänden und grünen Fensterläden hatte es etwas Sonntägliches in seinem Aussehen.
In diesem Hause wohnte der Mann mit dem breiten roten Gesicht und dem weißen Schnauzbart – der Herr Steuerperäquator Otto Heinzelmann, ein alter Junggeselle, dem seine Schwester Sabine die Haushaltung führte. Er stammte, als Lehrerssohn, aus Hinterwinkel und hatte sich nach seiner Zurruhesetzung wieder dahin zurückgezogen.
»Komm ein wenig mit mir«, hörte ich ihn sagen, und er nahm meine Hand. Dann sah ich mich in der sauberbehaglichen sonnigen Stube des alten Herrn, und er saß auf einem Schaukelstuhl und ich auf seinen Knien und sah zu ihm auf mit einem Gefühl, wie wenn er der liebe Gott wäre, Gott Vater selber, so würdig und freundlich erschien er mir. Was er zu mir sagte und mich fragte, weiß ich nicht mehr; aber die Empfindungen, die seine Güte in mir weckte, sind mir unvergessen geblieben, wie der Ausdruck seiner lächelnden grauen Augen unter den dichten weißen Brauen.
Nur einer Rede, die ich selber hielt, erinnere ich mich noch.
Von der Haselbachbrücke aus oder an der sonnigen Kyrlihalde vor der Gartenhecke des Herrn Steuerperäquators, wo ich allein oder mit der kleinen Olga Rotermund buntgeringelte Schneckenhäuschen suchte, hatte ich oft eine schwach ausklingende ferne Musik vernommen und mit andächtigem Entzücken darauf gelauscht. Als zum allererstenmal die überraschenden Klänge an das unerfahrene Ohr des kleinen Menschenkindes anschlugen, drehten sich, wirklich seine Augen in die Höhe; das Kind glaubte die Engel im Himmel singen zu hören. Von seiner Mutter aber wurde der kleine Frager belehrt, daß der Herr Steuerperäquator die Musik mache.
Nun fiel mir mitten in der Stube meines neuen Freundes ein großer dreieckiger und an der einen Seite ausgeschweifter Kasten von gelbrotem Kirschbaumholz in die Augen, der nicht aufrecht stand, sondern liegend auf drei säulenartigen Beinen ruhte, und ich konnte mir nicht denken, wozu das seltsam gestaltete Möbel gut sei. Dann erinnerte ich mich plötzlich an die gehörten Töne und ich sagte: »Macht das Ding da die Musik?«
»So sag' ihm doch,« bat ich, »es solle mir auch ein bißchen Musik machen.«
Noch höre ich, wie Heinzelmann lachte und mir dann ein lustiges Stücklein vorspielte, daß ich meine Augen weit auf. sperrte und vor Erstaunen kein Wort mehr hervorbrachte, obwohl ich noch manche Frage in der Seele trug.
Mit einem bunten Münchener Bilderbogen wurde ich entlassen, und im Hausgange rief mich Schwester Sabine an und füllte mir meine Taschen mit Frühbirnen.
Schon hatte ich viel von dem lieben Gott reden hören, der in der Höhe wohnt, und hatte auch gelernt, kleine Gebetchen an ihn zu richten. Jetzt glaubte ich, ihn persönlich kennengelernt zu haben und konnte mir eine deutliche Vorstellung von ihm machen. Bevor ich von nun an betete, setzte ich zuerst den Steuerperäquator Otto Heinzelmann auf den himmlischen Thron, den Mann mit dem schneeweißen dicken Schnurrbart und buschigen Brauen im hochroten Gesicht, und zu diesem lieben Gott betete ich dann und wendete ich mich vertrauensvoll in allen meinen Anliegen.
Zu dem Menschen Otto Heinzelmann aber trat ich erst viel später in nähere Beziehung.
Wie auch gleich das »böse« Prinzip für mich Gestalt bekam
Es war ein tiefer Hohlweg drüben an der Kyrlihalde. Nackte Erde bildete die Abhänge zu beiden Seiten, oben an den Rändern aber erhob sich dichtes Gebüsch, Haselstauden und Blutstrauch, Weißdorn und wilde Rosen. Wie ein mächtiger Wald stand es hoch über unsern Köpfen. Vielleicht war es auch ein Wald und ging bis ans Ende der Welt. Wir wußten es nicht, wir waren nie über den Rand hinaufgeklettert. Wir waren zu klein dazu.
Darum hatte der Hohlweg für uns etwas Geheimnisvolles.
Oben unter dem buschigen Rand und zwischen dem Wurzelwerk der baumartigen Sträucher und Stauden war oft die Erde heruntergebröckelt und Höhlen waren entstanden. Durch diese Höhlen zogen sich von oben herunter dicke Wurzeln, daß es aussah wie unterirdische Säulenhallen.
Darunter war es immer trocken, auch wenn es regnete. Da hatten wir unser Spielplätzchen, Olga Rotermund und ich.
Die Erde war hier fein wie Mehl, und wir gruben Rinnen in den Rain und ließen das Erdmehl durchfließen, daß sich das feine von dem groben sonderte. Und wir nannten das unsere Mühlen.
Bei unserem Spiel sah uns oft ein schöner großer Vogel zu. Er saß immer auf demselben hochgewachsenen Weißdorn und war grau oder vielmehr bläulich hell mit schwarzen Verzierungen. Er saß oft stundenlang, wie in Trauer, reglos und stumm auf einem Fleck. Doch manchmal pfiff er wie ein Mensch, daß wir erschraken. Olgas Vater hatte uns gesagt, es sei ein Neuntöter.
Eines Tages im Mai, als wir wieder unsere Mühlen in Betrieb setzten, sah ich plötzlich, etwa zehn Schritte von uns unter einem Haselstrauch einen goldgelben Vogel aus dem Boden hervorblitzen. »Olga,« rief ich, »ein Goldammer!« Und mich durchrieselte es. Wenn dort ein Nest von Goldammern wäre!
Wir ließen unsere Mühlen im Stich und näherten uns vorsichtig dem Haselstrauch. Aus dem Gebüsch erklang das ängstliche Rufen des verscheuchten Ammers. Um so häufiger und angstvoller klang es, je näher wir der Stelle kamen.
Uns selber wurde fast bang zumute. Als ob wir eine Sünde begehen wollten. Laut und vernehmlich klopfte es in unserer Brust. Aber wir drückten uns unter die Staude und durchsuchten das Wurzelwerk mit gierigen Blicken. Da fuhr mir ein Schauer durch die Seele, aus einem goldigen Vogelköpfchen sahen mich zwei kleine schwarze Vogelaugen angstvoll an. Unbeweglich, wie vor Schreck gelähmt, ruhten auf mir die Angstblicke der Vogelmutter.
Da machte die kleine Olga eine Bewegung, und ein Husch, und weggeschossen war der Vogel.
Wir blickten in sein Nest.
Ein wundervolles rundes Nest war es, und sieben kleine Eier lagen darin, grünlich blau mit rotem Getüpfel.
Das war ein Erlebnis. Ein solches Entzücken hatten wir in unserem Leben nicht gekannt. Und eine süße Bangnis lag im Untergrund unseres Jubels – als hätte unsere Unschuld etwas von dem Geheimnis der Liebe, das in dem Nest lag, entdeckt und begriffen in dunkler Ahnung.
Auch wagten wir nicht, an unseren Fund zu rühren.
Und plötzlich hörten wir im Gebüsch auch wieder die schmerzlichen Rufe. Eine zweite Stimme hatte sich zur ersten gesellt und stieß klagende Töne aus. Das drang uns in die Seele. Unsere Bangnis wuchs. Und wir entfernten uns. Wir kehrten auch nicht zu unserem Spielplatz zurück. Wir fürchteten, die Vögel zu stören. Wir bauten uns in größerer Entfernung neue Mühlen.
Aber wir konnten die Vogeleltern sehen, wenn sie aus- und einflogen. Und damit wollten wir uns begnügen.
Wir sprachen auch zu niemand von dem Neste, sondern bewahrten unser Wissen als heiliges Geheimnis; denn wir kannten die Sage, die unter den Leuten umging, ein Vogelnest müsse unbeschrien bleiben, sonst werde es unrein und ein Raub des Geziefers. Und unsere gläubigen Kinderherzen schauderten, ein solches Unglück nur zu denken.
Aber unsere Mühlen standen nun oft still. Wir saßen und schauten nur nach dem Haselstrauch. Und nach drei oder vier Tagen hielten wir es nicht mehr aus. Wir mußten das Nest wieder einmal sehen, nur einen Augenblick lang. Es tat uns leid, den Vogeleltern damit einen Schmerz zu bereiten, aber wir hofften, sie sollten es uns nicht übelnehmen, da wir nichts Böses gegen sie im Sinne führten, sondern sie über alles liebten in ihrer goldenen Pracht.
Wir schlichen uns zur Haselstaude. Eng aneinandergedrückt duckten wir uns mit unseren Köpfchen unter das knorrige Wurzelwerk. Aber erschrocken fuhren wir zurück. Es war auch erschrecklich, was wir sahen. Und fast häßlich war es. Wie nackte Schlänglein fuhren sieben dünne Hälse in die Höhe, und am Ende eines jeden sperrte sich ein großer Rachen auf. Aber kein Laut ging davon aus. Und die Augen waren blind.
Ein Pfeifen ertönte, und wir fuhren zurück. Wir glaubten, es habe uns jemand entdeckt. Ganz verwirrt eilten wir zurück zu unseren Mühlen. Aber wir wurden keines Menschen ansichtig.
Da pfiff es von neuem.
Der Neuntöter war's.
Er saß wie immer auf dem Gipfel des schlankgewachsenen Weißdorns. Noch ein paarmal pfiff er, dann saß er, wie in Trauer, reglos und stumm auf seinem Fleck.
Nun trat Regen ein und wir kamen ein paar Tage nicht hinaus. Aber zu Haus kauerten wir in einer Ecke und sprachen heimlich von unseren Vögeln, ob sie nun wohl offene Augen haben mochten und ob sie bald goldene Flügel bekamen.
Am nächsten schönen Tag, als ich nachmittags von der Abc-Schule kam, suchte ich überall die kleine Olga, die damals noch nicht in die Schule ging. Ich fand sie aber nicht und machte mich allein aus den Weg. Ich konnte es gar nicht erwarten, bis ich zur Stelle kam, so freute ich mich. Denn heute würden sie gewiß offene Augen haben.
Nur mit Mühe gelang es mir, die Wand des Hohlwegs hinaufzuklimmen. Der Regen hatte von unten her das Erdmehl in Brei verwandelt und ein paarmal rutschte ich und beschmutzte mir die Kleider. Und über mir klang es einmal wie Lachen. Ich sah empor, es war wieder der Neuntöter.
Einen solchen Ton hatte ich vorher nie von ihm gehört.
Ich war endlich an der Stelle, ich kauerte mich nieder, ich duckte meine Stirn gegen die vorstehenden Wurzelknorren. Da gab mir's einen Stich durchs Herz.
Das Nest war leer.
Mit unsäglicher Trauer in der Seele blickte ich lange auf die verödete Brutstätte. Was war nun aus dem siebenfältigen Leben geworden? Dann begriff ich, daß das zierliche Nest zwecklos war von nun an. So durfte ich es ja nehmen.
Und sorgfältig löste ich es los aus dem Geflecht von Wurzeln und Würzelchen und wollte mich damit auf den Weg machen. Doch da hatte ich einen neuen Schreck. Vor mir in den scharfen Dornen eines wilden Rosenstrauchs sah ich drei junge Vögel aufgespießt, drei arme nackte Dinger. Der Anblick war zum Steinerbarmen. Die nackte Haut war bläulich geworden, ich mußte wegsehen, denn ein Grauen und eine Übelkeit fielen mich an.
Dennoch konnte ich die armen Kinder der Goldvögel nicht so jämmerlich in den Dornen stecken lassen. Ich wollte sie wieder in ihr Bett legen. Mehr dachte ich nicht.
Das Mitleid überwand meinen Ekel, und ich machte mich daran, den ersten loszulösen. Sorgfältig legte ich ihn im Nest zurecht. Dann griff ich nach dem zweiten.
Ein Zuruf schreckte mich zurück.
Ich blickte mich um, im Hohlweg standen zwei Bauernjungen, die ich wohl kannte, und einer war des Blessenvogts Finzer.
»So, du bist es,« rief dieser; »wart', wir sagen es dem Dekan.«
Damit gingen sie ihren Weg weiter.
Das Wort Dekan hatte mich erschreckt. Das Vogelnest fiel mir aus den Händen. Ich kam mir schon wie ein Verbrecher vor.
Mit Zittern und Zagen ging ich am andern Morgen in die Religionsstunde. Diese Stunde gab uns der alte Dekan, der Pfarrer Barthelmeyer selber. Er gab sie aus Liebhaberei. Und so rauh und unwirsch der Mann sonst war, auf die Art der ganz Kleinen ging er gern ein. Er hatte von ihnen nicht soviel Ärger als von den Größeren, die er deshalb gern dem Lehrer überließ. Furchtbar streng konnte er freilich auch mit uns Kleinen sein, sobald er eine Unbotmäßigkeit vermutete.
Als ich in die Schulstube trat, wurde ich von allen Seiten scheu angeblickt, denn viele wußten, daß ich angezeigt war.
Auf den Glockenschlag erschien der geistliche Herr mit dem glattrasierten Gesicht und dem noch glatteren Schädel darüber, der wie eine polierte Kugel glänzte. Nur ganz am Hinterkopf saß noch ein wenig silberlich graues Haar. Mit ihm trat der Lehrer Langbein ins Zimmer, der manchmal der Religionsstunde beiwohnte. Der Dekan ließ seine Augen streng über die Klasse hingehen. Und auf mir blieben sie mit einem noch strengeren Ausdruck haften. Ich konnte seinen Blick nicht ertragen. In scheuer Verlegenheit sah ich zu Boden.
»Lexel, komm heraus«, sprach er, und ich zuckte zusammen. Auf den Gesichtern vieler Mitschüler zeigte sich ein verstohlenes Grinsen. Sie ahnten, was kommen werde.
Der Pfarrer war von meinem Verbrechen zum voraus überzeugt. Zwei glaubwürdige Schüler hatten mich auf der Tat betroffen. Sie hatten ins einzelne mein Tun geschildert, wie ich das Vogelnest in den Händen hielt und wie ich daraus die nackten Vögel nahm und in die Dornen spießte. Sie glaubten, was sie sagten, das sah der Dekan, also konnte er nicht an der Wahrheit ihrer Aussage zweifeln.
Mein Benehmen muß ihn in seiner Überzeugung nur bestärkt haben, darüber weiß ich nichts Einzelnes mehr. Ich sehe nur noch den strengen Herrn vor mir, wie der Zorn ihn packte, daß er nach der Haselgerte griff.