Alfred Delp - Christian Feldmann - E-Book

Alfred Delp E-Book

Christian Feldmann

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Beschreibung

"Solange der Mensch menschenunwürdig und unmenschlich leben muss, solange wird der Durchschnitt den Verhältnissen erliegen und weder beten noch denken. Er braucht die gründliche Änderung der Zustände des Lebens." Mit diesen Worten verteidigt sich der Jesuitenpater Alfred Delp (1907–1945), Mitglied des Kreisauer Kreises, vor dem Nazigericht, das ihn des Hochverrats beschuldigt – umsonst. In seiner Todeszelle lernt Delp Verlassenheit und Angst kennen, aber er entdeckt auch einen ganz nahen, den gekreuzigten Gott. Seine Aufzeichnungen sind ein faszinierendes Zeugnis für seinen kritischen Geist und für die Kraft des Glaubens in Zeiten der Bedrängnis. Christian Feldmann hat ein spannendes Lebensbild des Priesters, Ordensmannes, Journalisten und Widerstandskämpfers gezeichnet. Darüber hinaus enthält das Buch Texte von Alfred Delp sowie Fotografien aus seinem Leben.

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Christian Feldmann

Alfred Delp

Leben gegen den Strom

Verlag Friedrich Pustet

Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg

Tel. 0941/920220 | [email protected]

ISBN 978-3-7917-3382-1

Umschlaggestaltung: Heike Jörss, Regensburg

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2023

eISBN 978-3-7917-6232-6 (epub)

Unser gesamtes Programm finden Sie unter

www.verlag-pustet.de

Inhalt

Prolog

1. Entschluss

Der Querkopf Alfred will Priester werden (oder Soldat)

„Ich war ein Strick“

Konflikte mit Seminarerziehern und Eltern

Heidegger und Geländespiele

2. Gespräch

Der Student sucht den Dialog mit dem braunen Zeitgeist

Mit einem Gewaltstaat kann man nicht reden

Listiger Widerstand zwischen den Zeilen

3. Konfrontation

Der Prediger und verbotene Autor geht auf Konfliktkurs

„Der Mensch muß Geschichte machen“

Ein Autor im Untergrund

Kritik an einer „anmaßenden“ Kirche

Die Glaubensbeamten und der Heilige Geist

Im Schlosseranzug auf der Suche nach Bombenopfern

Fluchthelfer für Juden

4. Konspiration

Der Priester Delp lässt sich das eigene Denken nicht austreiben

Eine Denkfabrik des Widerstands

Rechtssicherheit, Mitbestimmung, europäischer Staatenbund

Überschätzter Erneuerungswille

Schöpferischer Anreger und Erfinder von Kompromissformeln

Statt „Christentum“ lieber „Naturrecht“ schreiben

5. Ernstfall

Der Todeskandidat erfährt die Nähe seines gekreuzigten Gottes

Gefährlicher Besuch bei Graf Stauffenberg

„Morgen früh werden wir Sie mit frischen Kräften weiterverhauen!“

Glauben lernen mit gefesselten Händen

„Alles ist so aussichtslos wie am ersten Tag“

„Eine Ratte – zertreten sollte man so was!“

„In einer halben Stunde weiß ich mehr als Sie“

6. Charisma

Was den Menschen und Christen Alfred Delp ausmachte

7. Texte von Alfred Delp

1 Ich bemühe mich, kein Kleinholz zu machen

2 Ich glaube noch nicht an den Galgen

3 Das Gewissen läßt sich nicht fremdbestimmen

4 Mit gefesselten Händen

5 Wie der Mensch zum Menschen wird

6 Den Menschen wieder gottesfähig machen

7 Den Engel in der Todesfinsternis sehen

8 Laßt uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt

9 Warum die Amtskirche nicht zur Krippe findet

10 Der Stern wird über der Wüste stehen

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Prolog

„… und man verrät den Himmel, wenn man

die Erde nicht liebt, und man verrät die Erde,

wenn man nicht an den Himmel glaubt“1

Ein Querkopf ist er immer gewesen.

Als es in der Frühzeit der Nazi-Bewegung scheinbar nur die beiden Möglichkeiten gab, die „völkischen“ Ideen begeistert zu übernehmen oder kompromisslos zu verdammen, suchte er das Gespräch: Welche Sehnsüchte trieben die Menschen in die Arme der braunen Rattenfänger? War es möglich, aus dem dumpfen Gemenge von Angst und Gewaltfantasien, Minderwertigkeitsgefühlen und Rassenhass idealistische Träume und ernsthafte Bedürfnisse herauszufiltern?

Als Delp begriff, dass dem Terrorapparat der Faschisten mit einem intellektuellen Gesprächsangebot nicht beizukommen war, ging er keineswegs zu geschmeidiger Anpassung über, sondern auf Konfliktkurs. In seinen Predigten redete er nicht selten Klartext. Anders als viele christliche Widerständler machte er den Mund aber nicht nur auf, wenn die Rechte der Kirchen bedroht waren. Weil jede Kreatur das Antlitz Gottes trage und die Christen zur Solidarität mit allen Menschen verpflichtet seien, half er verfolgten Juden beim Untertauchen.

Als sie ihm das Schreiben (zumindest das Publizieren) verboten, mottete er die Schreibmaschine mitnichten brav auf dem Dachboden ein, sondern entwickelte eine grimmige Lust daran, gegen den Strich zu denken. Im „Kreisauer Kreis“ entwickelte er zusammen mit Dissidenten unterschiedlicher Herkunft Modelle für eine neue Gesellschaft nach dem erhofften Ende der Hitler-Herrschaft.

Als sie ihn einsperrten und mit dem Tod bedrohten, beschränkte er sich nicht auf fromme Betrachtungen an der Schwelle zum Himmel, sondern arbeitete seine sozialphilosophischen Entwürfe weiter aus und schrieb seiner Kirche unbequeme Wahrheiten ins Stammbuch: Verbürgerten Glaubensbeamten, die sich um die trostlosen Lebensbedingungen der Menschen nicht kümmerten, nehme niemand mehr ihre Rede vom guten Gott ab.

Als sie ihn vor Gericht stellten, kroch er nicht zu Kreuze, um seinen Kopf zu retten, sondern widersprach dem geifernden Juristen Freisler: Ohne gründliche Änderung der gesellschaftlichen Zustände werde der Mensch weder denken noch beten lernen. Delp und seine Freunde aus dem Kreisauer Kreis wurden gehenkt, weil sie „nur gedacht“2 haben. Weil sie sich den Luxus eines eigenen Kopfes leisteten.

Den Zwang zum stromlinienförmigen Denken gibt es nicht nur in Diktaturen. Deshalb bleiben Querköpfe überlebenswichtig – damit die Vision von einer besseren, gerechten Welt nicht untergeht. Mit ihr stirbt, was den Menschen zum Menschen macht.

1. Entschluss

Der Querkopf Alfred will Priester werden (oder Soldat)

„Wir sind auf ein Seil gesetzt

und sollen über einen Abgrund laufen“3

„Gott ist gestorben in unseren Herzen.

Er ist keine Leidenschaft mehr“4

Klerikale Lebenswege verlaufen glatt und unauffällig. So war es hierzulande noch vor hundert Jahren: Priesteramtskandidaten kamen aus intakten Familien, im Idealfall aus einer Bauern- oder Handwerkersippe mit vielen Kindern, kirchentreu, bieder, wenig angefochten.

Im Vergleich dazu stammt Alfred Delp aus geradezu chaotischen Verhältnissen. Das Taufregister der Oberen Katholischen Pfarrei Mannheim dokumentiert für den 17. September 1907 die Taufe eines am 15. September geborenen „Friedrich Alfred, Sohn der Maria Bernauer, katholisch“. Das ist Alfred Delps Mutter. Auch deren Eltern werden genannt und der Taufpate: „Adam Thomas, Kaufmann, evangelisch“5. Vom Vater ist keine Rede.

Eine handschriftliche Ergänzung löst das Rätsel: „Legitimiert durch Ehe vom 15.10.1907 zu Heidelberg. Vater Johann Adam Friedrich Delp.“6 Das heißt, Delps Eltern heirateten erst einen Monat nach seiner Geburt. Ihr ältestes Kind, Justina, war zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre alt. Man muss sich Alfreds Stammbaum genau ansehen, um den kleinen Skandal zu ergründen: Die Mutter, Köchin in einem Offiziershaushalt, stammte aus einer kernkatholischen Familie von Landwirten und Schuhmachern. Die Sippe des Vaters – gelernter Kaufmann und später bei einer Krankenkasse angestellt – war dagegen seit Generationen protestantisch; sie hatte Theologen und Hofprediger hervorgebracht und auch einen „roten“ Landtagsabgeordneten, einen Sozialdemokraten, der 1945 im KZ Dachau starb. Anfang des 20. Jahrhunderts galt Ökumene noch als Fremdwort. Man kann sich gut vorstellen, wie hartnäckig Onkel und Tanten, Pfarrer und Pastoren gegen die gefährliche Verbindung einer katholischen Köchin mit einem evangelischen Kaufmann gekämpft haben mögen. Aber nicht nur die Stammbäume, auch die wenigen erhaltenen Fotos verraten so manches: Selbstbewusst, beherrscht, mit gelassenem Ernst schauen beide Eltern in die Kamera. Solche Menschen lassen sich ihren Entschluss zur Ehe von keinen furchtsamen Verwandten ausreden; sie warten allenfalls, bis sich die Aufregung gelegt hat.

Alfred Delp als Schüler im Jahr 1921

Dass sich die Eltern so wenig durch Konventionen beirren ließen, mag dazu beigetragen haben, dass der kleine Alfred schon früh seinen eigenen Kopf durchzusetzen wusste. Katholische und evangelische Buben trugen mancherorts auf dem Schulweg erbitterte Schlachten aus. Es gab keine gemeinsamen Lieder und verschiedene Bibelübersetzungen. Zwischen den Konfessionen herrschten Misstrauen, Abneigung, bisweilen blanker Hass.

Alfred jedoch ließen die Vorurteile kalt. Er besuchte die evangelische Volksschule – und freundete sich innig mit dem katholischen Pfarrer an. Als er einmal so angeregt mit ihm plauderte, dass er zu spät zum Konfirmandenunterricht kam, ließ sich der gekränkte protestantische Pastor zu einer Ohrfeige hinreißen. Alfred lief trotzig ins andere Lager über – katholisch getauft war er ohnehin –, ging zur katholischen Erstkommunion und ließ sich firmen.

Alfreds Eltern Maria und Johann Adam Friedrich Delp

In der südhessischen Kleinstadt Lampertheim, wo die Delps seit 1914 wohnten, bildeten die Katholiken die Minderheit und gehörten auch noch zur ärmeren Schicht. Viele arbeiteten in der Zigarettenfabrik, bauten daheim im kümmerlichen Gärtchen ein wenig Spargel an. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlechterte sich die Lage drastisch: Inflation, Arbeitslosigkeit, Hunger. In einem Theaterstück, das Delp später als Internatserzieher für seine Jungs schrieb, blitzt die Erinnerung an diese harten Jahre auf: „Hast du schon einmal gesehen, wie unsere Kinder aus den Arbeitergassen es machen, wenn sie mal in die Straßen kommen, in denen die großen Geschäfte sind? Da stehen sie und drücken sich die Stumpfnasen platt an den Schaufenstern und gucken sich die kleinen Kinderaugen aus nach all den schönen Dingen, nach denen ihnen das Herz so voll ist.“7

„Ich war ein Strick“

Alfred war alles andere als ein frommer kleiner Engel. Seine Geschwister, die ihn allesamt um mindestens drei Jahrzehnte überlebten, erinnern sich an einen gutherzigen, aber wilden Bengel, der immer in Bewegung war und am liebsten durch verbotenes Terrain streifte. „Laß Dir von meiner Mutter keine ‚Heiligenlegende‘ über mich erzählen“, warnte er seine Münchener Sekretärin in einem aus der Todeszelle geschmuggelten Kassiber. „Ich war ein Strick.“8

Auch in der Schule soll er kein Musterknabe gewesen sein. Am Dieburger Gymnasium übersprang er zweimal eine Klasse, tat sich aber keineswegs als Streber hervor. Seine Klassenkameraden berichten von messerscharfer Intelligenz, Hilfsbereitschaft – und einer Neigung, vor Lachen zu explodieren. Aber auch unruhig und getrieben sei er gewesen, unbändig neugierig und nicht immer bequem.

Natürlich begeisterte er sich für die Jugendbewegung: Protest gegen die langweilige bürgerliche Welt der Erwachsenen, verschworene Gemeinschaft, hinaus in die Natur, Fahrtenromantik, Nachtwanderungen, Lagerfeuer, das passte zu ihm. In ihrer eigenartigen Verbindung von konservativen Idealen und emanzipatorischem Lebensstil war die Jugendbewegung stark christlich geprägt. Alfred machte beim 1919 gegründeten Bund Neudeutschland mit, dessen Parole hieß „Christus, Herr der neuen Zeit“. Eigenverantwortung, Liebe zu Natur und Heimat, Christus als Vorbild und Führer.

1969 entdeckte man auf dem Speicher eines Vereinshauses in Lampertheim ein blaues Schulheft, in dem Alfred Delp enthusiastisch, aber auch selbstkritisch über den Werdegang der von ihm geleiteten Gruppe berichtet. Sie baut eine kleine Bibliothek auf, kümmert sich um Waisenkinder. Und dann die ernüchternde Erkenntnis: „Wieder sind mal 4 Wochen verschlafen. Der junge Führer verzweifelt. Eigentlich ist er gar kein Führer mehr. Er läßt die Dinge laufen. […] Er hat so allerhand Pläne, traut sich aber damit nicht mit ihnen heraus. Sie würden ihn ja doch nur verlachen. Er merkts, er ist morsch; er ist reif zum Gehen.“9

Lampertheim um 1930: Blick auf das Rathaus, daneben der Turm der katholischen Kirche

Einer seiner Mitschüler äußerte sich später ganz anders über Delps Fähigkeit, Menschen zu motivieren: Alfred wollte ihn dazu bringen, eine weitere Neudeutschland-Gruppe zu gründen. Am Sonntagmorgen um vier Uhr stand er mit ein paar halb ausgeschlafenen Freunden vor dem Haus des Verdutzten; „und wir marschierten die 28 km über Münster und Oberroden durch den Rodgau nach Offenbach. Während des gesamten Weges war Delp mein Gesprächspartner. Dort Gottesdienst im Freien, Geländespiele usw. und am Abend mit der Rodgaubahn wieder zurück.“10 Keine Frage: Die neue Gruppe wurde gegründet.

Keine Frage auch, dass Alfred Priester werden wollte und nichts anderes. Irgendwann einmal hatte er offenbar mit einem militärischen Beruf geliebäugelt; „ich wäre um mein Leben gern Soldat geworden“, wird er sich in einem Brief an seinen Ordensprovinzial Augustin Rösch erinnern. Sein Taufpate, nur wenig älter als er, „war schon Kadett und ich träumte davon.“11 Als dieser bewunderte Freund freilich schon im ersten Kriegsjahr mit 17 Jahren fiel, mag Delp die ganze Brutalität und Sinnlosigkeit der neuzeitlichen Kriegführung aufgegangen sein.

Kaum hatte er 1926 das Abitur als Klassenbester bestanden, ging der Dieburger Pfarrer Johannes Unger daran, ihm einen Studienplatz am römischen Germanicum zu sichern. Das Germanicum: Elitekolleg, Gelehrtenhimmel und Bischofsschmiede. Die Studenten trugen stolz ihren roten Talar und konnten darauf hoffen, bald zur kirchlichen Führungsschicht in Europa zu gehören.

Doch Alfred hatte seine eigenen Pläne. Auf dem Umweg über seine Mutter ließ er den emsig Empfehlungsbriefe sammelnden Pfarrer wissen, er werde in den Jesuitenorden eintreten. Da hatte er sein Elternhaus bereits verlassen – heimlich. Die Eltern vermuteten ihn auf einer Wanderung. Unger reagierte erwartungsgemäß empört: Alfred wolle ihn wohl blamieren! Und am Germanicum hätte etwas aus ihm werden können; „bei den Jesuiten wird er irgendwo als Studienpräfekt versauern.“12

Was keine besonders faire Einschätzung war; die Jesuiten gelten noch heute als Elitetruppe und bieten die mit Abstand gründlichste Ausbildung unter allen Orden. In Deutschland war ihr Ruf damals allerdings etwas ramponiert. Bismarck hatte sie während des „Kulturkampfes“ als Inbegriff der unkontrollierbaren römischen Macht, deren Einfluss auf die deutsche Politik er fürchtete, aus dem Reich verbannt. Erst nach der Aufhebung seines Jesuitengesetzes 1917 konnten sie sich hier wieder ansiedeln.

Der junge Alfred Delp (r.) mit einem Freund

Was hat Alfred Delp an der „Gesellschaft Jesu“ fasziniert, an der sich immer schon die Geister schieden? Über seine Motive hat er eisern geschwiegen. Vielleicht war es der seit der Ordensgründung 1534 durchgehaltene Anspruch, sich die brennenden Probleme der jeweiligen Gegenwart zu eigen zu machen, nicht auszusteigen in eine selbstgenügsame Innerlichkeit, sondern einzusteigen in eine oft unbequeme Zeitgenossenschaft mit den Menschen. Schon der Ordensstifter Ignatius von Loyola hatte den Mut, Gott nicht in einer religiösen Sonderwelt, sondern „in allen Dingen“, wie er sagte, zu suchen und im lebendigen Menschen zu finden. Er schickte seine Leute in die Zentren geistigen Lebens und kritischen Fragens, zu den Brennpunkten von Not und Verzweiflung.

Konflikte mit Seminarerziehern und Eltern

Im April 1926 trat Alfred im österreichischen Tisis (Vorarlberg) in das Noviziat der Gesellschaft Jesu ein; die deutschen Ausbildungshäuser waren noch im Aufbau. Delps intellektuelle Begabung und enorme Belesenheit stießen auf Respekt. Sein eigensinniger Dickschädel bereitete ihm allerdings auch bei den Jesuiten Schwierigkeiten: Der Novizenmeister nahm an seinen zu „protestantisch“ eingefärbten Gedankengängen Anstoß. Er empfahl ihm, doch zunächst einmal den guten alten katholischen Katechismus gründlich zu studieren.

Wenig erbaut waren die Vorgesetzten auch von Delps Angewohnheit, in den Vorlesungen Briefe zu schreiben (er sei „kein eifriger Mitschreiber, weil doch schon fast alles in den Büchern steht“13), und von seiner grässlichen Handschrift (ein Mitnovize wurde beauftragt, ihm Schönschreibunterricht zu erteilen, ohne sichtbaren Erfolg). Unter Delps Drang, Behauptungen und Lehrsätze nicht ungefragt zu akzeptieren, litt besonders ein junger Dozent namens Karl Rahner, der später zum bekanntesten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts in Deutschland werden sollte und offensichtlich damals schon sehr anspruchsvoll formulierte. Delp habe ihn mit seinen Wortmeldungen immer wieder in einen längeren Disput verwickelt, erinnert sich ein Mitstudent. „Wir suchten daraus Nutzen zu ziehen und baten ihn, wenn wir ungenügend vorbereitet waren, direkt Schwierigkeiten vorzubringen, so daß fürs Abfragen keine Zeit mehr blieb.“14

Eine fast schon unheimliche Energie bescheinigen ihm die anderen Novizen, ein breites Interessenspektrum, viel Idealismus – und, ähnlich wie die Mitschüler damals auf dem Gymnasium, eine gewisse Schroffheit. „Etwas Rastloses, oft Unbeherrschtes“ sei in ihm gewesen. „Er konnte durch sein hartes Benehmen Leute abstoßen, oft wirkte er als zu sehr von sich eingenommen, er hat sich nie leicht mitgeteilt.“15

Zu seinen Eltern hatte Alfred ein ziemlich gespanntes Verhältnis. Das geht aus den Briefen hervor, die er ihnen in die hessische Heimat schreibt und in denen er sich regelmäßig gegen Vorwürfe zu wehren hat, er lasse nichts von sich hören und komme zu selten auf Besuch. Seine Antworten wechseln zwischen salbungsvollem Pathos – „Warum habt Ihr so wenig Verständnis dafür, daß ich jetzt dem Herrgott gehöre und so erst recht Euch?“16 – und schroffer Abwehr: „Der Soldat gehört zur Armee.“17 Und wenn er schon mal auf Heimaturlaub war und wieder einmal in irgendwelche Familienstreitigkeiten hineingezogen werden sollte, resümierte er traurig, er sei dabei wohl „noch mehr, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, von Euch weggewachsen. Gebe Gott, daß wir uns wiederfinden, aber ohne all das Kleinliche und Enge, das bis jetzt immer so viel Liebe und Freude zerschlug.“18

Wie tief das Zerwürfnis ging, zeigt Jahre später sein Entschuldigungsbrief an die Mutter vom Mai 1938: Wieder einmal habe er ihren Geburtstag vergessen, „verbummelt“, obwohl er sich doch extra einen Zettel „Mutter zum Geburtstag schreiben“ auf den Tisch gelegt habe19 … Dann gibt es wieder so liebenswürdige Post wie 1941, als er eine Tabaksendung an den Vater – im Krieg eine Kostbarkeit – ankündigt: „Vater soll mit dem Tabak nicht zu sparsam umgehen, ich hab schon wieder etwas. […] Ganz gute Sachen waren nicht mehr aufzutreiben, aber eine gute Mittellage hab ich noch erwischt.“20 Doch zu unbefangener Zärtlichkeit findet er erst drei Wochen vor seinem Tod, im Abschiedsbrief aus der Gefängniszelle: „Bleib tapfer, liebe Mutter. Bete für mich. Wenn ich bei Gott bin, werde ich immer für Dich beten und bitten und viele versäumte Liebe nachholen. Wir sehen uns ja wieder. […] Behüt Dich Gott, Mutterl.“21

Heidegger und Geländespiele

1928 wechselte Alfred Delp in das Jesuitenkolleg Pullach bei München, um dort drei Jahre lang Philosophie zu studieren. Unterrichtssprache war Latein, was das Gespräch mit den jugoslawischen, tschechischen, spanischen, amerikanischen Kommilitonen erleichterte. Das Hauptinteresse des Studenten Delp scheint den sozialen Problemen und einer zeitnahen Philosophie gegolten zu haben. Er war 28 Jahre alt, als sein Buch Tragische Existenz erschien, eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger.

Ein Jahr zuvor hatte der junge Freiburger Philosoph Heidegger seinen Bestseller Sein und Zeit veröffentlicht: Der Mensch, ein „ins Dasein Geworfener“22, dem Tod ausgesetzt und der Angst, ins Nichts zu entschwinden, findet den Sinn seiner Existenz in der Meisterung seines brüchigen Lebens, in der tapferen Entschlossenheit, sich selbst zu verwirklichen.

Delp erkennt dankbar an, dass hier wieder nach dem Sinn, nach den tiefsten Wirklichkeiten gefragt werde; seit Kant hatte die Philosophie ja nicht mehr gewagt, über das subjektive Bewusstsein hinauszudenken. Aber er wirft dem allgemein bewunderten Heidegger vor, in der Horizontalen stehen zu bleiben, sich mit der Endlichkeit des Daseins zufriedenzugeben: „Ist es genug zu sagen, das Dasein sei geworfen? […] Drängt denn Geworfenheit nicht dazu, nach einem ‚Werfer‘ zu fragen?“23

Tragisch sei diese Ermunterung zu einer dem Untergang geweihten, keinen Halt findenden, im Grunde sinnlosen Existenz. Delp sieht den modernen Menschen am Verlust der Mitte und an einer gestörten Beziehung zu Gott leiden; der Verzicht auf Gott führte schließlich zum Verlust der Humanität. „Diese Zeit sucht letztlich nach dem wahren Menschen. Sie wird ihn nicht eher finden, als sie bereit ist, den Menschen zu verlassen und über ihn hinauszugehen, um dort zu suchen und zu finden. Und das ist ihre Tragik, daß sie den Menschen nicht findet, weil sie Gott nicht sucht, und daß sie Gott nicht sucht, weil sie keine Menschen hat.“24 Dem Menschen bleibe nichts anderes übrig, als sein nach dem Tod Gottes trostlos gewordenes Dasein ohne Hoffnungsperspektive, aber tapfer und entschlossen zu meistern.

Das Werk, das 1935 gedruckt und 1942 immerhin ins Spanische übersetzt wurde, ist heute vergessen – zu Recht, möchte man meinen, denn Delp hat Heideggers Gedankengänge gründlich missverstanden und ihn selbst als Prediger einer Weltanschauung bekämpft, statt ihn als philosophischen Gesprächspartner ernst zu nehmen.25 Delp liegt allerdings dort intuitiv richtig, wo er in der „düsteren Schönheit“26 der Heideggerschen Daseinsanalyse einen Niederschlag des braunen Zeitgeistes mit seinem heroischen Vernichtungspathos sieht (ohne ihn einfach als Vordenker der Nazis zu denunzieren). Delp: „Das letzte Bild des Lebens kann nicht ein Totenfeld sein, darüber Raben krächzen: auch wenn es zeugt vom tapfern Kampf der Streiter. Einmal muß die Sonne des Lebens wieder darüber stehen und die Raben verscheuchen und die Toten aufrufen zu neuem Marsch.“27

1931 ging der frischgebackene Doktor der Philosophie als Erzieher nach Österreich zurück, in das Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch (wieder in Vorarlberg). Hier entwickelte der junge Jesuit unkonventionelle Erziehungsmethoden, mit denen er natürlich wieder in Konflikt mit seinen bedächtigen älteren Kollegen geriet: Bewährung statt Bewahrung, Mut zur Eigenverantwortung statt lückenloser Aufsicht, kultivierte Diskussion statt der dauernden Vorträge. Und vor allem: Sport, Geländespiele, Fahrten. „Streng, aber weitherzig“, so erklärt er der Mutter sein Erziehungsideal. „Streng, stark, froh, energisch, aber weit, verständnisvoll.“28

Haben ihn seine Jungs geliebt für die Freiheit, die er ihnen ließ? Es gibt wenig Zeugnisse aus dieser Zeit; einen „inneren Zwiespalt“ meint ein Schüler bei ihm bemerkt zu haben, eine Kluft zwischen leidenschaftlichem Engagement und einer Fremdheit, die immer spürbar blieb. „Mir ist Pater Delp in Erinnerung, wie ihn viele Bilder zeigen: Bei der Aufsicht im Studiersaal oder bei anderen Gelegenheiten, wo ein Gespräch nicht möglich war, mit auf der Brust verschränkten Armen und vorgestrecktem Kinn vor sich hinstierend – was ihm den Spitznamen ‚Bullus‘ [Stier; CF] einbrachte – mit langen Schritten daherschreitend. Auf der anderen Seite konnte er bei gegebener Zeit sehr ausgelassen sein und herzlich lachen, über heimliche Streiche, die wir ihm anvertrauten, sich von Herzen freuen.“29