Dietrich Bonhoeffer - "Wir hätten schreien müssen" - Christian Feldmann - E-Book

Dietrich Bonhoeffer - "Wir hätten schreien müssen" E-Book

Christian Feldmann

4,6
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein evangelischer Christ, der in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben ist und zum zeitlosen Vorbild wurde. Am 4.2.1906 in Breslau geboren. Am 9.4.1945 von den Nazis ermordet. Der Großbürger, der zum Verschwörer wurde. Ein kurzes, dramatisches Leben und eine der großen Figuren deutscher Geschichte, die heute weltweit Verehrung findet. Ein aktueller Beitrag zum Erinnern und Gedenken. Die spannende Reportage über Verantwortung und Zivilcourage. Und über Christsein im Ernstfall.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 283

Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
13
2
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christian Feldmann

Dietrich Bonhoeffer –»Wir hättenschreien müssen«

Ein Leben. Ein Zeugnis

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

6. neubearbeitete und erweiterte Auflage der ursprünglich

unter dem Titel »Wir hätten schreien müssen« bei Herder Spektrum

erschienenen Ausgabe

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © ullstein bild

E-Book-Konvertierung: le-tex services publishing GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61344-9

ISBN (E-Book) 978-3-451-80318-5

Gustl Angstmann

(1947–1998)

zum Gedenken

Inhalt

1 Berlin, Barcelona, New York:Ein Theologe beginnt zu glauben

Fast wäre er Pianist geworden

»Hurra, es gibt Krieg!«

Theologiestudium aus Rebellion?

Begnadeter Lügner, Schauspieler, Krimi-Fan

»Es gibt kein blindes Drauflossuchen nach Gott«

»Mutige Jungens« für das Heer Christi

Warum politisches Desinteresse »frivol« ist

»Die Liebe zu meinem Volk wird den Mord heiligen«

»Dem Christen ist jeglicher Kriegsdienst verboten«

»Ich war noch kein Christ geworden«

2 Berlin, London: Ein Seelsorger entdeckt die politische Brisanz des Evangeliums

Störenfriede sind nicht gefragt

Führer und Verführer

Beerdigungsstreik gegen die Nazi-Kirche?

»Es bleibt nur noch der Austritt«

Isoliert sogar unter den Freunden

»Weg von der blamablen Mittellinie!«

Der Kirchenkampf ist nur ein »Vorgeplänkel«

3 Finkenwalde: Ein Christ begreift, dass die Juden seine Brüder sind

Klosterromantik oder Oppositionskirche?

Protest gegen die »billige Gnade«

Schreibverbot wegen König David

Warnung vor einem »Pazifisten und Staatsfeind«

»Nur wer für die Juden schreit.«

»Man war ja vogelfrei«

»Gott wurde Mensch im Volke Israel«

Der Ernstfall des Glaubens

4 Geheimagent im Ausland:Ein Pastor lernt das Verschwörerhandwerk

Der Weg in den Untergrund

Botschafter des »anderen Deutschland«

Fluchtunternehmen »U 7«

Gewissenskonflikte eines Verschwörers

Eine Ethik ohne »klerikalen Hochmut«

Die Pflicht, schuldig zu werden

Wider die frommen Menschenverächter

Friedensfühler in England

5 Berlin, Buchenwald, Flossenbürg:Ein Häftling leistet sich die Freiheit des Denkens

»Selbstmord, Schlussstrich, Fazit!«

Das Leben ist zum Fragment geworden

Eine unromantische Liebesgeschichte

Lernfähiger Patriarch

Das Attentat auf Hitler und ein verwegener Fluchtplan

Angst vor der Folter

»Dies ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens!«

Freispruch für den Blutrichter

6 Berlin-Tegel, Zelle 92:Ein Todeskandidat erwartet das wahre Leben

Glaube, der die Erde liebt

Kein Hintertürchen für den »Lückenbüßer-Gott«

»Wo ist Gott?« – »Dort hängt er, am Galgen!«

»Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen«

Märtyrer für die falsche Sache? 201

Anmerkungen

Verwendete Literatur

Tipps zum Weiterlesen, -hören und -sehen

Zeittafel

Am 5. April 1943, zwei Monate nach der Katastrophe von Stalingrad, wird ein politischer Häftling in das Militärgefängnis Berlin-Tegel eingeliefert. Das Personal hat Anweisung, kein Wort mit dem Gefangenen zu sprechen. Den Grund für seine Verhaftung erfährt er erst ein halbes Jahr später. Man nimmt ihm alle persönlichen Sachen weg, sogar seine Taschenbibel, weil darin eine Säge oder Rasierklingen versteckt sein könnten.

Seife oder frische Wäsche gibt es nicht. In der ersten Nacht seiner Isolierhaft kann er kaum schlafen, weil ein Mithäftling in der Nachbarzelle stundenlang laut weint, ohne dass sich jemand um ihn kümmert. In der Zelle ist es kalt, aber die auf der Pritsche liegende Decke stinkt so bestialisch, dass er es nicht fertigbringt, sich damit zuzudecken.

Am nächsten Morgen wirft man dem Gefangenen durch die Türluke ein Stück Brot auf den Zellenboden; der Kaffee besteht zu einem Viertel aus Kaffeesatz. Von draußen ist das Brüllen der Wärter zu hören. »Im übrigen«, wird er sich später erinnern, »öffnete sich die Zelle in den nächsten zwölf Tagen nur zum Essensempfang und zum Heraussetzen des Kübels. Es wurde kein Wort mit mir gewechselt.«1

Nach einigen Tagen notiert der Häftling auf einem Zettel, wie ihm zumute ist: »Selbstmord, nicht aus Schuldbewusstsein, sondern weil ich im Grunde schon tot bin, Schlussstrich, Fazit.«2

Aber der Häftling, der Pfarrer und heimliche Verschwörer Dietrich Bonhoeffer, stirbt nicht. Er wird in einen anderen Gefängnistrakt verlegt, bekommt Hafterleichterungen, als man entdeckt, dass seine Familie mit dem Stadtkommandanten von Berlin verwandt ist, dem Herrn über alle Militärhaftanstalten der Reichshauptstadt. Nun darf der Gefangene plötzlich Bücher und Schreibpapier empfangen und alle zehn Tage einen Brief abschicken.

Anderthalb Jahre lebt Bonhoeffer in dieser winzigen Zelle, zwei mal drei Meter groß, ausgestattet mit Pritsche, Schemel, Wandbrett und Eimer. In den bröckelnden Wandputz hat irgendein Vorgänger mit Galgenhumor den tröstenden Spruch geritzt: »In hundert Jahren ist alles vorbei.«3 Licht kommt nur durch eine kleine Fensterluke hoch über seinem Kopf und abends von einer schlechten Glühbirne, die nach Lust und Laune der Wärter an- und ausgeschaltet wird.

Doch was der Häftling Bonhoeffer in diesen anderthalb Jahren auf Zettel kritzelt und entweder mit den genehmigten – und zensierten – Briefen dreimal pro Monat an seine Familie schickt oder auf verschlungenen Wegen aus der Zelle schmuggelt, geht in die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

Zwischen Hoffnung und Todesangst, ungewiss über sein Schicksal, redet Bonhoeffer mit einem Gott, der seine Menschen offenbar verlassen hat. Diese Gespräche in den einsamen Tagen und Nächten von Tegel bilden die Situation eines gottfernen Zeitalters ab und werden zur Wegweisung für die Christen, die ihren Glauben auf dem schmalen Grat zwischen Treue und Verzweiflung zu leben versuchen. Ohne anderen Halt als jenen gekreuzigten Gott, der ihnen nur in der Ohnmacht des Karfreitags nahe ist …

1Berlin, Barcelona, New York:Ein Theologe beginnt zu glauben

»Wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge,

Ernst zu machen! Hier sitzt die einzige Kraftquelle,

die den ganzen Zauber und Spuk

einmal in die Luft sprengen kann«4

»Die Gemeinde also vermag die Schuld zu tragen, die keines ihrer Glieder tragen kann, sie kann mehr tragen als alle ihre Glieder zusammen. Sie muss als solche eine geistliche Realität sein, die über alle Einzelnen hinausgreift. Nicht alle Einzelnen, sondern sie als Ganzheit ist in Christus, ist der ›Leib Christi‹; sie ist ›Christus als Gemeinde existierend‹ […], sie ist der gegenwärtige Christus selbst, und darum ist ›in Christus sein‹ und ›in der Gemeinde sein‹ dasselbe; darum trägt die Schuld der Einzelnen, die auf die Gemeinde gelegt ist, Christus selbst.«5

Sätze aus der Doktorarbeit, die Dietrich Bonhoeffer als Neunzehnjähriger begann und zwei Jahre später, 1927, mit der bestmöglichen Bewertung »summa cum laude« abschloss. Ihr Titel: Sanctorum Communio [Gemeinschaft der Heiligen], eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche.

Für Bonhoeffer, aber auch für eine ganze Theologengeneration markiert so ein Thema die Wende von eher abstrakten Fragestellungen hin zur Beschäftigung mit der konkreten Gestalt des Glaubens. Gegen alles Abschieben Gottes in höhere Sphären setzte der junge Pastorenanwärter seine Nähe unter den Menschen. Glaube hatte für ihn ganz selbstverständlich mit Welt und Geschichte zu tun, war gebunden an eine sich entwickelnde, unvollkommene Kirche, in der man stets mit Mitläufern rechnen müsse und die dennoch das Reich Christi bilde.

Der einundzwanzigjährige Doktor der Theologie passt in die Familie Bonhoeffer, die auf den ersten Blick wie eine geballte geistige Potenz anmutet: Der Vater, Karl Bonhoeffer, einer der angesehensten Professoren in der noch jungen deutschen Psychiatrie. Urgroßvater und Großvater mütterlicherseits bekannte Theologieprofessoren. Die Mutter besaß – damals eine Seltenheit – das Examen als Lehrerin und unterrichtete ihre acht Kinder so gut, dass sie etliche Schulklassen überspringen konnten; daher Dietrichs rasant frühe Universitätskarriere. Sein Bruder Karl-Friedrich wurde später als Physikprofessor durch seine Forschungen zur Chemie des Wasserstoffs international bekannt.

Am 4. Februar 1906 in Breslau geboren, kam Dietrich wenige Jahre später nach Berlin, wo sein Vater den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie und die Leitung der Universitätsklinik übernahm, der angesehenen Charité. In der für alle geistigen Strömungen der Zeit, für Politik, Kunst und Musik aufgeschlossenen Familie war der Mief des wilhelminischen Bürgertums längst durch weitherzige Toleranz abgelöst. Die Geschwister lasen den sozialdemokratischen Vorwärts, und es machte starken Eindruck auf Dietrich, als sich seine resolute Großmutter 1933 nicht am Boykott jüdischer Geschäfte beteiligte, sondern sich trotzig an den SA-Wachtposten vorbei in die Läden schob. Eine alte Dame von 91 Jahren, die aber die rebellische Tradition ihrer Familie auf sehr lebendige Weise in Ehren hielt: Etliche Vorfahren hatten den anfangs radikaldemokratischen Burschenschaften angehört und waren eingekerkert oder des Landes verwiesen worden.

Fast wäre er Pianist geworden

Auf den ersten Fotografien sieht der kleine Dietrich aus wie ein Mädchen: lange blonde Haare, weiche Gesichtszüge, verträumte große Augen. Doch in den Zeugnissen aus der Kindheit findet sich nichts, was auf ein verzärteltes Muttersöhnchengehabe schließen ließe: keine Widerstände gegen Sport und Jungenspiele, keine Vorliebe für Gedichte oder Theatermaskeraden (obwohl er so nebenher ein Märchenspiel nach Hauffs Das kalte Herz textet und mit den Geschwistern aufführt), keine Streberei in der Schule. »Er rauft sich gern und viel«6, schreibt der Vater fast erleichtert in die Familienchronik, als Dietrich acht Jahre alt ist.

Zu Weihnachten wünscht er sich »Pistole mit Pfropfen, Soldaten!«7 Und einem Freund schreibt er voll grimmiger Begeisterung von den Spielen im Garten: »Wir machen jetzt eine unterirdische Höhle und Gang. Er geht von der einen Seite der Laube bis zur Höhle. Er ist dazu, dass wenn wir wieder einmal uns mit dem Klaus [einem seiner Brüder] hauen, wir entweder der Höhle Entsatz bringen können oder den Feind vom Rücken angreifen können. Vor die Höhle machen wir einen Wall und eine Fallgrube und ein ganz tiefes Loch. Denn wenn da mal jemand reinfällt, dass wir ihn gleich in das Loch zerren.«8

Der herzensgute, aber etwas spröde Vater hätte zu deutlich geäußerte Gefühle im Kinderzimmer auch nicht geduldet. Im Hause Bonhoeffer war man aufgeklärt und großzügig, aber es herrschte Disziplin und eine fast britisch anmutende Selbstkontrolle. Der Herr Geheimrat Bonhoeffer hasste Emotionen und Klagen. Auch später als junger Pfarrer pflegte Dietrich automatisch die Stimme zu senken, wenn er wütend oder aufgeregt war: bloß keine Schwäche zeigen! Andererseits gab es in dieser Familie kein heiligeres Gebot als die Rücksichtnahme auf die anderen Geschwister.

»Er war kein Vater, dem man am Bart kraulen oder Kosenamen geben konnte«, erinnert sich Dietrichs Schwester Christine. »Aber er war ein Fels, wenn man ihn brauchte.«9 Was ihm an seelischer Wärme gefehlt haben mag, ersetzte die Mutter Paula, unermüdlich im Erfinden von Spielen und Geschichten und in ihrer resoluten Energie bisweilen etwas unbekümmert: Als ihr Sohn Klaus beim Schwimmenlernen Angst vor dem tiefen Becken zeigte, sprang sie kurzentschlossen selbst ins Wasser – obwohl sie nicht schwimmen konnte.

Die Bonhoeffers führten ein offenes Haus, wo sich ständig irgendwelche Onkel und Cousinen aufhielten, Studenten des Vaters, Kollegen aus der Charité, Mitschüler der Kinder, Verehrer der größeren Töchter. Samstags traf man sich zur Hausmusik, Dietrich spielte dabei Klavier, und zwar so gut, dass die Eltern ernsthaft eine Ausbildung zum Pianisten in Erwägung zogen. Er komponierte Lieder und eine Kantate über den Psalm 42. Und sein Abitur bestand er natürlich mit Bravour: mit einem »Sehr gut« in Turnen und Betragen, mäßigen Noten lediglich in Englisch, Geschichte und Mathematik – und einem einzigen »Nicht genügend« für seine eigenwillige Handschrift.

Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts: eine vor Tempo und Rhythmus explodierende Metropole, ein kultureller Schmelztiegel, hektisch, laut, chaotisch, unüberschaubar, alles andere als eine heile kleine Welt. Mit mehr als zwei Millionen Einwohnern platzte die Reichshauptstadt bereits aus allen Nähten, und immer neue Menschenmassen strömten von überall her in das größte Industriezentrum des Kontinents, Entwurzelte auf der Suche nach Arbeit und gutem Verdienst, nach weltstädtischem Flair und vielleicht auch ein wenig Sinnenreiz und Nervenkitzel.

Aber die erträumte Straße zum Glück entpuppte sich allzuoft als Sackgasse: schmutzige Gelegenheitsjobs statt der großen Lebenschance, elende Mietskasernen und Kellerquartiere statt eleganter Wohnkultur, am Ende nicht selten das Obdachlosenasyl oder Bordell. Aus der biedermeierlichen Residenzstadt war längst ein ineinandergeschachteltes Gewirr aus Handels- und Transportzentren, Fabrikschloten und Gasometern, vielgeschossigen Mietskasernen und wüstenartigen Schuttabladeplätzen geworden.

Die Genussgier der Reichen blähte sich in den Kaufhallen und teuren Restaurants; in den von tausend Gasflammen erhellten Nächten flanierte mondäne Eleganz über die Boulevards; die Grande mode traf sich zur Soiree in der Villa irgendeines Kommerzienrats oder Industriemagnaten, während die Boheme der Maler und Literaten laszive Feste in den Künstlerateliers feierte. In den armen Stadtbezirken aber waren sechs-, acht-, zehnköpfige Familien in winzigen Bruchbuden zusammengepfercht, in dunklen, feuchten Elendsquartieren im Keller und unter dem Dach, niedrigen Räumen ohne Licht und Luft, in denen zugleich gewohnt, geschlafen, gekocht, gewaschen und gebügelt wurde, in denen blasse Kinder aufwuchsen und manchmal noch eine Nähmaschine ratterte, weil sich die Bewohner mit Heimarbeit ein paar Pfennige verdienten.

Kindheit bedeutete hier nicht Spielen und unbeschwertes Herumtollen, sondern Hunger, Betteln, Lumpensammeln, frühe Lohnarbeit. Als Bonhoeffer geboren wurde, betrug die Säuglingssterblichkeit im feinen Tiergarten-Viertel 5,2 Prozent, im proletarischen Wedding dagegen 42 Prozent. »Mein kleiner Bruder«, erinnert sich ein literarisch begabter Arbeiter, »saß den ganzen Tag in dem dunstigen Raum. Es war wirklich kein Wunder, dass er kurze Zeit darauf diese schäbige Welt wieder verließ. Das war sehr schlau gehandelt, wie mein Vater damals sagte.«10

»Zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Tagen führe ich euch noch entgegen!«11 hatte der in Uniform und Pathos verliebte Operettenkaiser Wilhelm II. getönt. Kaiserliche Hofbälle und Manöver, kaiserliche Polizisten zu Pferde mit Pickelhaube und Säbel bildeten die entsprechende Fassade in der Hauptstadt. Doch als sich der Monarch einmal in die »schlechten« Viertel wagte, da scholl es ihm fordernd entgegen: »Brot und Arbeet!«

»Hurra, es gibt Krieg!«

Wieviel mag der junge Dietrich von der Berliner Wirklichkeit mitbekommen haben, von diesem Hexenkessel mit seinen brodelnden sozialen Spannungen? Das Professorenviertel Grunewald, wo die behäbige Villa der Bonhoeffers stand, bildete eine eigene Welt, und ins feine Grunewald-Gymnasium gingen keine Proletenkinder.

Die feuchten Kellerwohnungen am Wedding, die verzweifelten Umsturzträume in den roten Zirkeln, das war so weit weg wie die verzauberten Reiche von Tausendundeiner Nacht.

Der Gymnasiast Dietrich hatte offenbar weniger Schwierigkeiten als seine skeptischen älteren Brüder, das eherne bürgerliche Weltbild und die vorgefundenen Ordnungen anzunehmen. Den selbstverständlichen Führungsanspruch einer privilegierten Elite hat er lange nicht in Frage gestellt. Aber er war wach und lernfähig genug, sich im Lauf der Jahre seinen eigenen Reim auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu machen.

Als das Deutsche Reich Anfang August 1914 gegen Russland und Frankreich mobilisierte, stürmte eine von Dietrichs Schwestern mit dem Freudenschrei »Hurra, es gibt Krieg!« ins Haus – und bekam für ihre patriotische Begeisterung eine Ohrfeige.12 Der achtjährige Junge war natürlich ganz auf der Seite seiner Schwester. Er hängte sich eine Landkarte Europas an die Wand und protokollierte mit Stecknadeln den aktuellen Frontverlauf. Doch als dann drei seiner Vettern fielen, als 1918 der geliebte Bruder Walter – ein Jahr zuvor hatte er sich freiwillig an die Front gemeldet – ebenfalls ein Soldatengrab in Frankreich fand, da begannen die festgefügten Mauern dieser Weltsicht einzustürzen. Sie und Dietrich seien abends noch lange wachgelegen, berichtet seine Zwillingsschwester Sabine, und hätten versucht, »uns das ›Totsein‹ und das ewige Leben vorzustellen. […] Nach längerer Zeit intensiver Konzentration fühlten wir uns oft schwindlig.«13

Zunächst hatte er sich noch über die biederen Bürgersleute lustig gemacht, die in der Weimarer Republik in politische Führungsstellungen rückten und die Junker und Aristokraten des Kaiserreichs ablösten: ein Sattlermeister, Ebert, als Reichskanzler! Doch als im Juni 1922 der Außenminister Walther Rathenau – Friedenspolitiker mit ganzem Herzen und dazu auch noch Jude – in unmittelbarer Nähe des Grunewald-Gymnasiums von Rechtsextremisten erschossen wurde, da war von den Schülern keiner so empört wie der sechzehnjährige Dietrich Bonhoeffer.

»Ich erinnere mich an die Schüsse, die wir während des Unterrichts hörten«, notierte ein Mitschüler später. »Ich erinnere mich auch noch des leidenschaftlichen Entrüstungsausbruches meines Freundes Bonhoeffer […], ich erinnere mich, dass er fragte, wo es denn mit Deutschland hinkommen solle, wenn man ihm seine besten Führer ermorde. Ich erinnere mich daran, weil ich es bewunderte, dass man so genau wissen konnte, wo man stand.«14 Dietrich selbst drückte sich in einem Brief an die in Tübingen studierende Zwillingsschwester Sabine nicht so gewählt aus: »Ein Schweinevolk von Rechtsbolschewisten«15, brach es aus ihm heraus.

Die Not, die dem verlorenen Krieg folgte, den Hunger und die Massenarbeitslosigkeit hatte er genau beobachtet. Nach Auskunft des Vaters erwies er sich als hervorragender »Laufbursche und Verpflegungsrekognoszierer«16, kannte sämtliche Schwarzmarktpreise, organisierte Obst und Mehl. Doch wirklich dreckig ging es den ärmeren Familien, das wusste er sehr gut. Seiner Gemeinde in Barcelona, die er als Auslandsvikar zu betreuen hatte, erzählte er später von den Folgen der »Hungerblockade« Ende 1918 (Großbritannien hatte Deutschland von allen Importen abgeschnitten): Pro Tag habe man auf die Lebensmittelkarten höchstens sechs Scheiben Brot bekommen, mit Sägemehl drin, Saccharintabletten statt Zucker und zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot Rüben, Rüben und nochmals Rüben. An Kohle habe es gefehlt und an Kleiderstoffen. Und wenn er auf dem Schulweg eine bestimmte Brücke überquerte und dort am Fluss wieder eine Gruppe von Leuten stehen sah, sei ihm klar gewesen, da habe sich wieder jemand aus Verzweiflung umgebracht.

Nein, der junge Bonhoeffer war ein viel zu scharfer Beobachter, um dauerhaft auf Kriegsbegeisterung und Weltmachtanspruch und Judenhass und all die anderen Glaubensartikel der stockkonservativen Fraktion im deutschen Bürgertum hereinzufallen. Deshalb hielt es ihn nur etwa ein Jahr bei den Pfadfindern, denen er mit dreizehn beigetreten war; die ewigen Kriegs- und Geländespiele verloren bald ihren Reiz.

Aus demselben Grund blieb dann Dietrichs Mitgliedschaft in der liberal-konservativen Studentenverbindung »Igel« ebenso Episode wie seine Teilnahme an einer Übung der Schwarzen Reichswehr. Der »Igel«, so erläutert Bonhoeffers Freund und Biograph Eberhard Bethge, habe sich zwar mit dem grauen Igelfell von den farbenfrohe Mützen tragenden »schlagenden Verbindungen« mit ihrem militärischen Gehabe abgesetzt und bei Arbeitseinsätzen während der Ferien auch sozial betätigt. Doch die starke Reglementierung der Freizeit und das »stereotype Besuchemachen« bei den Bundesbrüdern seien gar nicht nach Bonhoeffers Geschmack gewesen.17 Formell trat er allerdings erst 1933 aus der Verbindung aus, als der »Igel« den antisemitischen »Arierparagraphen« in seine Satzung übernahm.

Paramilitärische Vereinigungen ehemaliger Freikorpskämpfer wie die Schwarze Reichswehr umgingen das im Versailler Vertrag enthaltene Verbot der allgemeinen Wehrpflicht und bildeten junge Männer für die erwarteten bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen mit den »Roten« aus. Die zweiwöchige Übung in Württemberg bei den Ulmer Jägern, wie Bonhoeffers Abteilung hieß, befriedigte zwar seine romantischen Bedürfnisse; Muskeln habe er gekriegt, schrieb er nach Hause, und als sie in der Morgendämmerung zum Manöver marschiert seien, »da hoben sich die dunklen Umrisse wunderbar durch die aufgehende Sonne vom Schnee ab, und eine halbe Stunde später waren die Alpen herrlich klar und nah zu sehen«.18

Aber die Geländeübungen mit Sturmangriffen in voller Ausrüstung gefielen ihm überhaupt nicht. »Besonders scheußlich ist das Hinwerfen auf den gefrorenen Acker mit Gewehr und Tornister.«19 Und dann seien die Mannschaften fast alle »stark reaktionär«20. Alles warte nur auf einen Putsch des Generals Ludendorff gegen die Republik, der freilich besser organisiert sein müsse als Hitlers dilettantischer Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle wenige Wochen, bevor Bonhoeffer seinen Brief schrieb.

Theologiestudium aus Rebellion?

Zur protestantischen Kirche unterhielt die Familie Bonhoeffer trotz der illustren Theologen in der Verwandtschaft ein recht kühles Verhältnis. Man ging nicht in die Kirche und schickte auch die Kinder nicht zum Gottesdienst. Zu Hause freilich wurde das Tischgebet gepflegt, und die Mutter erzählte den Kindern Geschichten aus der Bibel. »Es wurden viele Choräle gesungen und abends gebetet«, erinnert sich Dietrichs Nichte. »Weihnachten las die Mutter die Weihnachtsgeschichte, am Sylvesterabend den 90. Psalm vor, auf den sämtliche Verse von ›Nun lasst uns gehn und treten‹ folgten …«.21

Von der »Volkskirche« mit ihren frommen Predigten und Zirkeln scheint man sich mit der Arroganz des aufgeklärten Intellektuellen ferngehalten zu haben: »Wozu die fatale Unerbaulichkeit einer äußeren Versammlung, in der man Gefahr läuft, einem bornierten Prediger gegenüber und geistlosen Gesichtern zur Seite zu sitzen?« fragt Dietrich provokant in derselben Dissertationsschrift, in der er diese so wenig Glanz ausstrahlende Versammlung als »Heiligtum Gottes« entdeckt.22

Vielleicht steckt in Dietrichs früher Entscheidung, Theologie zu studieren, auch ein Stück Rebellion gegen die Familie (die seinen Entschluss freilich ohne große Auseinandersetzungen respektierte) und der Versuch, sich mit einem solchen eigenständigen Weg von den stark naturwissenschaftlich interessierten älteren Brüdern abzugrenzen. Von einer besonderen Leidenschaft für theologische Themen ist anfangs jedenfalls nichts zu spüren. Keine Andeutung in der Abiturarbeit, die Catull und Horaz als Lyriker vorstellt und auf originelle Weise vergleicht:

»Horaz ist eben der feststehende Römer, Catull der temperamentvolle Lombarde. […] Catull schwankt von einem Extrem ins andere: ›odi et amo‹. Er hasst und liebt. Alles ist Bewegung, Temperament, bei Horaz ist es Ruhe, Abgeklärtheit. Dementsprechend hat auch Catull keinen Humor, er hat nur Ironie. […] Catull steht eben immer in der Situation, Horaz setzt sich über alles mit einem gewissen Lächeln, einem Humor, hinweg. […] Der eine ist Revolutionär, der andere konservativ.«23

Jahre später vertraut der Vater ihm mit dem milden Spott des Agnostikers an, was er sich damals gedacht hat: »Ein stilles, unbewegtes Pastorendasein, wie ich es von meinen schwäbischen Onkeln kannte«, sei »fast zu schade« für seinen Sohn. »Darin habe ich ja, was das Unbewegte anlangt, mich gröblich getäuscht.«24 Denn zu diesem Zeitpunkt ist Dietrich bereits Pfarrer in London, und in seinem Leben kündigen sich dramatische Entwicklungen an.

Dass bei der Entscheidung für die Theologie Trotz und Aufmüpfigkeit mitgespielt haben mögen, der Wille, aus festgefahrenen Gleisen auszubrechen und sich den Erwartungen der Familie zu verweigern, legt ein von Bethge gefundenes Blatt mit einer späten Gewissenserforschung nahe. Es stammt vermutlich aus dem Jahr 1932; Bonhoeffer spricht von sich in der dritten Person, aus der Distanz des kritischen Beobachters: »Er wurde rot, als er eines Tages in der Prima auf die Frage seines Lehrers leise antwortete, Theologie wolle er studieren. Er war nicht einmal aufgestanden; so schnell war ihm das Wort entfahren. […] Es war etwas Außerordentliches geschehen, und er genoss dies Außerordentliche und schämte sich zugleich. Jetzt wussten sie es alle. Jetzt hatte er es ihnen allen gesagt. Jetzt musste sich ihm das Rätsel seines Lebens lösen.«25

»Erbärmliche Eitelkeit« wirft er sich im Rückblick vor: »Es hatte ihm unvergleichlichen Eindruck gemacht, als er bei Schiller las, dass der Mensch nur einigen wenigen kleinen Schwächen absterben müsse, um göttergleich zu sein. Seitdem war er auf der Lauer. Er würde hier als der Held aus dem Kampf hervorgehen, ging es ihm durch den Kopf. Er hatte es soeben feierlich gelobt. Ihm war sein Weg vorgezeichnet […]. Aber wie, wenn er versagen würde? Wenn der Kampf misslänge? Wenn er den Kampf nicht durchhalten könnte? […] Was meinten die neugierigen, misstrauischen, gelangweilten, enttäuschten, spöttischen Augen der Klassenkameraden? Trauten sie es ihm nicht zu? Glaubten sie nicht ganz der Aufrichtigkeit seines Vorhabens? Wussten sie etwas von ihm, was er selbst nicht wusste? Warum seht ihr mich denn alle so an? […] Gott, sage selbst, ob ich dich ernstlich meine. […] Wer redet denn? Mein Glaube? Meine Eitelkeit? Gott, ich will Theologie studieren. Ja, ich habe es gesagt. Sie haben es alle gehört. Es gibt kein Zurück mehr. Ich will … Aber wenn …?«26

Begnadeter Lügner, Schauspieler, Krimi-Fan

Seinen Mitstudenten in Tübingen und Berlin ist Dietrich als außerordentlich heller, kritischer Kopf in Erinnerung geblieben, aber auch als temperamentvoller, zu Späßen aufgelegter Kumpel. Von dem linkisch biederen Verhalten, das viele spätere Pfarrer auszeichnet, war bei ihm nichts zu spüren. Er schlief gern bis spät in den Vormittag hinein, vermochte fabelhaft zu lügen, wenn er jemandem damit einen Streich spielen konnte, ließ sich im Kino keinen intelligenten Krimi entgehen und rauchte bisweilen wie ein Schlot. Das tat er auch, wenn er seine über eine schöne Gesangsstimme verfügende Schwester Ursula am Klavier begleitete; als sie sich einmal beschwerte, in dem Dunst nicht singen zu können, stand er wortlos auf und stampfte beleidigt aus dem Zimmer.

»Er liebte jede Art von Spielen, besonders Kartenspiele, Rommé, Bridge«, erinnert sich ein Gefährte aus der späteren Zeit im Finkenwalder Predigerseminar. »Ich lernte von ihm eines der interessantesten Spiele meines Lebens, ein Silbenrätsel, das eine Art Scharade war. Zwei Spieler mussten gegeneinander spielen, wobei jeder eine Figur aus der Geschichte, der Literatur oder der Gegenwart darstellte. Keiner wusste aber, wen er selbst darzustellen hatte, man wusste nur, wen der Gegner spielen musste. So mussten wir unsere Phantasie bemühen, damit der andere seine Rolle spielen und herausfinden konnte, wer er sei. Einmal war mein Gegner Winston Churchill und ich selbst Adele Sandrock. […] Bonhoeffer spielte abwechselnd mit großem Talent jede Rolle. Er erfasste Situationen ungewöhnlich schnell und war in diesem Sinne ein guter Schauspieler.«

»Dem stürmischen Temperament Dietrich Bonhoeffers und seinem sicheren Auftreten war ich in keiner Weise gewachsen«, weiß ein Mitstudent zu berichten, und wenn man sich die Fotos von dem hochgewachsenen, kräftigen Zwanzigjährigen ansieht, versteht man seine Scheu. In späteren Jahren, füllig geworden, im Gesicht aufgeschwemmt und mit Halbglatze, ähnelte Dietrich schon eher dem behäbigen, nicht sehr männlichen Typus des akademischen Theologen. Beeindruckend blieb seine Art, mit Menschen umzugehen: Er sprach sie sehr direkt und klar an, blickte dabei aber in der Regel auf den Boden oder zur Seite, nach eigener Aussage deshalb, um sein Gegenüber nicht zu irritieren und selbst sachlich, unvoreingenommen zu bleiben. Bonhoeffer verband große Kontaktfreude mit einer keineswegs unsympathisch wirkenden Art von Unnahbarkeit.

Die akademische Welt muss ihn von Anfang an fasziniert haben. In den Briefen, die er den Eltern aus Tübingen schreibt, klagt er nicht über Stress, sondern erzählt mit sprudelnder Begeisterung, welche Fächer ihn besonders interessieren (Bibelwissenschaft, Religionsgeschichte, Philosophie) und auf welche Professoren er sich freut. Nach zwei Semestern wechselt er nach Rom und findet sich dort überraschend gut zurecht, der spröde Protestant in der fremden Welt einer unbefangen sinnlichen, überschäumenden Religiosität.

Bisher hat er sich sozusagen privat für Religion interessiert, mit einer distanzierten intellektuellen Neugier für die menschlichen Möglichkeiten, sich der Transzendenz zu nähern. Hier in Rom geht ihm zum ersten Mal auf, was im alltäglichen Leben und in Gemeinschaft praktizierter Glaube bedeutet. Am Palmsonntag 1924 erlebt er ein Hochamt im Petersdom, sieht Priester und Seminaristen verschiedener Hautfarbe am Altar, findet die Universalität einer im Ritus geeinten Weltkirche »fabelhaft«.

Am Spätnachmittag sieht er vierzig Internatsschülerinnen (die er mit Ordensnovizen verwechselt) zur Vesper in die Kirche Trinità dei Monti einziehen: »Die Orgel setzt ein, und mit unglaublicher Einfachheit und Anmut singen sie mit großem Ernst ihren Vespergesang.« Anders als er es bei »richtigen Nonnen« vermutet, habe jede Routine gefehlt: »Das Ganze machte einen unerhört unberührten Eindruck tiefster Frömmigkeit. Als sich nach dem halben Stündchen die Tür wieder öffnete, hatte man den herrlichsten Blick über die Kuppeln von Rom bei untergehender Sonne. Ich ging nun noch etwas auf dem Pincio spazieren. Der Tag war herrlich gewesen, der erste Tag, an dem mir etwas Wirkliches vom Katholizismus aufging, nichts von Romantik usw., sondern ich fange, glaube ich, an, den Begriff ›Kirche‹ zu verstehen.«27

»Es gibt kein blindes Drauflossuchen nach Gott«

Kann es sein, dass der Glaube nicht nur eine Sache des verborgenen Herzens und des mit tausend unterschiedlichen Erfahrungen gefüllten Hirns ist? Es fasziniert ihn, wie die Katholiken dem inneren Gefühl eine sichtbare Gestalt und der individuellen Vorstellung eine verbindliche Form geben. Seinen kritischen Blick hat er sich natürlich bewahrt. Vielleicht sei der protestantische Verzicht darauf, in Symbole zu fassen, was man verstandesmäßig nicht begreifen könne, der ehrlichere Weg, meint er auf dem Rückweg von der Karfreitagsliturgie zu einem Priesterseminaristen. Die Dogmatik bleibt ihm unheimlich, sie »verhängt alles Ideale am Katholizismus, ohne es zu wissen«28. Und der bei einer großen Audienz erlebte Papst habe einen »ziemlich gleichgültigen Eindruck« gemacht, es fehle ihm »jede Grandezza«.29 Bonhoeffers Enttäuschung ist verzeihlich; Pius XI. war von Haus aus ein trockener Wissenschaftler und Bibliothekar und nicht gerade eine charismatische Figur.

Das Thema »Kirche« lässt ihn jedenfalls nicht mehr los. Wieder nach Berlin zurückgekehrt, nimmt er leidenschaftlichen Anteil an der unter den Hochschultheologen entbrannten Kontroverse um die konkrete Gestalt des Glaubens: Genügt die frei schweifende wissenschaftliche Diskussion über die Bibel und den Sinn der Welt? Ist der bürgerliche »Kulturprotestantismus« mit seiner wachsweichen Anpassung an Kriegsgeschrei und Klassendenken nicht schuldig geworden am Evangelium und am Leid der Kleinen, an den Rand Gedrängten? Wie muss eine Kirche aussehen, die dem gekreuzigten Außenseiter treu bleiben will, auf den sie sich ständig beruft?

Bonhoeffer stellt den akademischen Halbgöttern bohrende Fragen. Und er macht den Theologenzwist zum Thema seiner Doktorarbeit, an die er sich bereits als Neunzehnjähriger wagt: Sanctorum Communio, »Gemeinschaft der Heiligen«. Wie wird Gottes Botschaft in der Welt leibhaftig? Wie nimmt die von den Christen geglaubte Wahrheit in der irdischen Realität Fleisch an?

»Die Kirche ist der neue Wille Gottes mit den Menschen«, erklärt Dietrich. »Gottes Wille ist stets gerichtet auf den konkreten geschichtlichen Menschen. Dann aber nimmt er seinen Anfang in der Geschichte. An irgendeiner Stelle der Geschichte muss er sichtbar, verständlich und […] offenbart werden.«30 Das klingt harmlos-abstrakt, ganz wie die gewohnten Worthülsen der Theologen. Ein paar Seiten weiter dann auch noch die Sentimentalität pietistischer Kanzelredner: »Der Faden, den der erste Adam zwischen Gott und Mensch zerschnitt, wird von Gott aus neu geknüpft, und zwar indem er in Christus seine Liebe offenbart, nun nicht mehr in Forderung und Anruf, als reines Du an den Menschen herantretend, sondern sich als Ich schenkend, sein Herz öffnend. In der Offenbarung des Herzens Gottes ist die Kirche begründet.«31

Doch die sanfte Sprache birgt Zündstoff: die Kampfansage eines zornigen jungen Mannes an die unverbindliche Beliebigkeit eines einsamen Individualismus einerseits und an den irrationalen Sog der Masse andererseits. In der akademischen Theologenwelt macht er – verkürzt gesagt – zwei Lager aus, deren Positionen jeweils ihre Berechtigung haben, aber in charakteristische Versuchungen führen: Die einen, historisch orientiert, streng empirisch arbeitend, zeichnen ein Bild der Kirche als rein gesellschaftliche Größe, sozusagen als gutorganisierter Verein mit einem gemeinsamen Programm. Das ist die irgendwann einmal ergangene und in der Lehre zementierte Offenbarung. Ernst Troeltsch steht für diese Fraktion. Die andere folgt Karl Barth, dem Querdenker aus der Schweiz, für den die Offenbarung jeweils den einzelnen Hörer direkt trifft. Kirche ist dann ein eher geistiges Phänomen, die Gemeinschaft aller, die dieses Wort hören und akzeptieren.

Bonhoeffer – eine erstaunliche Leistung für einen Anfänger in der Glaubenswissenschaft – verbindet die beiden Kirchenbilder zu einer zukunftsträchtigen Vision. Kirche ist zugleich soziale Körperschaft und geistige Gemeinschaft. Kirche übersteigt von der Herkunft und vom Anspruch her die Welt – aber sie hat eine ganz konkrete weltliche, soziale Gestalt. Kirche steht in Distanz zur Welt – und trägt Verantwortung für sie. Die »Einheit der neuen Menschheit in Christus« hebt die anonyme Zersplitterung auf, versöhnt Individuum und Gesellschaft.

Bonhoeffers Zauberformel, in Anlehnung an einen Satz von Hegel, heißt: Kirche ist Christus als Gemeinde existierend.32 Charakteristisch für das soziale Gebilde, das sich Kirche nennt, ist das Miteinander und Füreinander. Stellvertretung, wie die Theologen sagen.

Dieses Grundmotiv wird Bonhoeffer nie mehr loslassen. In seiner Christologie-Vorlesung, die wir nur in Form von Hörernachschriften kennen, wendet er sich 1933 gegen die traditionelle Methode, dem Geheimnis Christi durch die Klärung des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Natur beizukommen. Nicht wie Christus sei, müsse gefragt werden, sondern wer er sei und wo man ihn erfahren könne. Bonhoeffers Antwort: Als lebendiger Herr begegne Christus uns hier und heute im Wort, im Sakrament und in der Gemeinde. »Die Gemeinde zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft ist seine Gestalt, und zwar die einzige.«33

Daraus ergibt sich, für manchen Bonhoeffer-Fan vielleicht überraschend, die klare Ablehnung einer herumvagabundierenden Religiosität: Nur im Raum der Kirche könne exakt nach Christus gefragt werden, hat er in der genannten Vorlesung festgestellt. »Dort, wo nach Gott gefragt wird, weil man schon weiß, wer er ist. Es gibt kein allgemeines blindes Drauflossuchen nach Gott. Hier kann man nur suchen, was bereits gefunden ist. ›Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest‹ (Pascal).«34

Er hat die Kirche keineswegs unkritisch mystifiziert. Gerade weil die Kirche Christus gegenwärtig macht und personifiziert, muss sie sich ständig an ihm messen und von ihm kritisieren lassen. Aber er liebt sie in all ihrer Unvollkommenheit und Schwäche. In seiner Doktorarbeit listet er die »vorwitzigen Versuche« auf, die man zur Reinigung der Kirche unternommen habe, von den frühchristlichen Sekten über die Wiedertäufer bis zur sozialistischen Reich-Gottes-Erwartung von Saint-Simon; »überall der Versuch, nun endlich das Reich Gottes nicht mehr im Glauben, sondern im Schauen gegenwärtig zu haben, nicht verhüllt in den Absonderlichkeiten einer christlichen Kirche, sondern sich deutlich manifestierend in Moralität und Heiligkeit der Personen, in idealer Regelung aller geschichtlichen und gesellschaftlichen Probleme«.35

All diesen Puristen fehle freilich der Sinn dafür, »dass Gottes Offenbarung wirklich in der Geschichte, d. h. in der Verhüllung vor sich geht, dass diese Welt eine Welt der Sünde und des Todes bleibt, d. h. aber auch der Geschichte, und dass diese Geschichte selbst heilig wird dadurch, dass Gott sie machte und in sie einging […]. Die Kirche soll das Unkraut auf ihrem Acker wachsen lassen, denn woher soll sie den Maßstab der Erkenntnis nehmen für das, was Unkraut ist? So wird sie mit Liebe vielleicht manch keimendes Leben pflegen, das ihr später verderblich wird, aber sie wird nie verdammen und richten, sondern sich der Grenzen ihrer Geschichtlichkeit bewusst bleiben.«36

Bonhoeffers Erstlingswerk, erst nach etlichen Verwicklungen gedruckt, schlecht verkauft und in der Fachwelt kaum zur Kenntnis genommen, stellt eine hochinteressante – und damals völlig neuartige – Verbindung von Theologie, Sozialphilosophie und Soziologie dar. Natürlich ist er nicht bei Sanctorum Communio stehengeblieben. Hier bildet die Kirche noch den Modellfall einer künftigen konservativen Gesellschaft; in den folgenden Jahren wird er ihr zunehmend die Rolle eines kritischen Korrektivs zuweisen. Ein Christus, der zwar als »Sache der Kirche beziehungsweise der Kirchlichkeit einer Gruppe von Menschen« erscheint, aber »nicht des Lebens« (Bonhoeffer bei einem Vortrag in Barcelona 1928), wird ihm nicht mehr genügen. Wer die Religion nur das »sogenannte gute Zimmer« für die Seele spielen lasse und Christus lediglich »eine Provinz unseres geistigen Lebens« einräume, der verstehe ihn nicht.37

In Sanctorum Communio identifiziert er die Kirche mit Christus; später wird er erheblich stärker betonen, dass die Kirche von Christus gefordert, kritisiert und gerichtet wird. In dem Vortrag von 1928 lautet die Pointe: »Das Christentum birgt in sich einen kirchenfeindlichen Keim.«38 Noch deutlicher seine Vorlesung über das Wesen der Kirche vier Jahre später in Berlin: Kirche »will nicht Gemeinde der Heiligen zur Darstellung bringen […]. Verzicht auf Reinheit, zurück zur Solidarität mit der sündigen Welt!«39 […] Und: »Als Geheimnis muss die Kirche es ertragen, dass Gott über ihr sein Nein spricht.«40 Je stärker er sich in der Verteidigung der bedrohten Menschenwürde engagiert und je massiver er die Feigheit kirchlicher Repräsentanten und Institutionen kritisiert, desto weniger wird er die Gegenwart Christi auf die Kirche beschränken. Die ganze irdische Realität ist nun der Ort, wo Gott Mensch wird.

»Mutige Jungens« für das Heer Christi