12,99 €
Was braucht es, um ein gebrochenes Herz wieder zusammenzusetzen?
Seit Axel vor drei Jahren Leahs Herz in tausend Stücke zerbrochen hat, versucht sie, sich abzulenken. Doch der Flirt mit ihrem Kommilitonen Landon wird schnell langweilig. Nur beim Malen kann sie ihre große Liebe zeitweise wirklich vergessen. Als ihre erste Ausstellung bevorsteht, taucht Axel unerwartet auf. Sobald sie sich in die Augen sehen, ist die Anziehung zwischen ihnen unbestreitbar. Axel bietet sich als Leahs Agent an, was sie kurz entschlossen annimmt. Auf einer Geschäftsreise nach Paris kämpfen sich die lange unterdrückten Gefühle immer mehr an die Oberfläche. Doch hat ihre stürmische Liebe dieses Mal eine Zukunft?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 469
Seit Axel vor drei Jahren Leahs Herz in tausend Stücke zerbrochen hat, versucht sie, sich abzulenken. Doch der Flirt mit ihrem Kommilitonen Landon wird schnell langweilig. Nur beim Malen kann sie ihre große Liebe zeitweise wirklich vergessen. Als ihre erste Ausstellung bevorsteht, taucht Axel unerwartet auf. Sobald sie sich in die Augen sehen, ist die Anziehung zwischen ihnen unbestreitbar. Axel bietet sich als Leahs Agent an, was sie kurz entschlossen annimmt. Auf einer Geschäftsreise nach Paris kämpfen sich die lange unterdrückten Gefühle immer mehr an die Oberfläche. Doch hat ihre stürmische Liebe dieses Mal eine Zukunft?
Alice Kellen ist eine internationale Bestsellerautorin. Sie schreibt Geschichten mit universellen, übergreifenden Themen wie Liebe, Freundschaft, Unsicherheiten, Verlust und der Sehnsucht nach einer besseren Zukunft. Sie lebt mit ihrer Familie in Valencia, Spanien.
All That We Never Were
ALICE KELLEN
ROMAN
Band 2 der Let-It-Be-Reihe
Aus dem Spanischen von Sybille Martin
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe TODOLOQUESOMOSJUNTOS erschien erstmals 2019 bei Editorial Planeta, Spanien.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 06/2024
Copyright © 2019 by Alice Kellen
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Anja Rüdiger
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design nach dem Originalcoverdesign von Stephanie Gafron/Sourcebooks; Cover photo © iStockphoto/loveischiangrai
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31747-8V001
www.heyne.de
Für Elena, Dunia und Lorena, danke,dass ihr mich auf dieser Reise begleitet habt
Alle Welt weiß es:Wenn dein Herz in tausend Stücke zerbrichtund du dich bückst, um sie aufzuheben,sind es nur neunhundertneunundneunzig Teile.
Chris Pueyo
Hier drinnen regnet es immer
Spanischer Originaltitel: Aquí dentro siempre llueve
In all meinen Romanen werden die vielen Szenen, die ich zu Papier bringe, von Musik begleitet. Musik ist Inspiration. In diesem Fall ist sie jedoch mehr. Eine Hülle für gewisse Momente, ein Faden, der ein wenig an den Figuren zieht. Deshalb habe ich diesem Roman eine Liste der Songs beigefügt, die ich beim Schreiben gehört habe, und ich möchte euch empfehlen, beim Lesen zumindest in die wichtigsten hineinzuhören, und zwar genau in dem Moment, wenn sie in der Geschichte auftauchen. Too Young To Burn in Kapitel 50, Let It Be in Kapitel 48 und Twist And Shout im Epilog.
Mich erschreckte, dass die Linie, die den Hass von der Liebe trennte, so schmal war, dass man sie mit einem Satz überwinden konnte. Ich liebte ihn … Ich liebte ihn mit dem Bauch, mit dem Blick, mit dem Herzen; mein ganzer Körper reagierte, wenn er in der Nähe war. Aber ein Teil von mir hasste ihn auch. Denn in diesem Hass waren die Erinnerungen enthalten, die nie ausgesprochenen Worte, der Groll, dass ich ihm nicht verzeihen konnte, sosehr ich es mir auch wünschte. Wenn ich ihn anblickte, sah ich Schwarz, Rot, pulsierendes Violett, die Gefühle schäumten über. Und diese chaotischen Gefühle für ihn taten mir weh, denn Axel war ein Teil von mir. Er würde es immer bleiben. Trotz allem.
Ich hatte die Augen noch geschlossen, als ich spürte, wie seine Lippen über meine Schulter und dann nach unten wanderten und mich nahe dem Bauchnabel küssten, süße und zärtliche Küsse, die mich erschaudern ließen. Ich lächelte. Doch als ich seinen heißen Atem an meinen Rippen spürte, erlosch mein Lächeln. So nah an ihm. An den Worten, die Axel mit den Fingern auf meine Haut gemalt hatte, das Let-it-be-Tattoo.
Ich drehte mich weg und öffnete die Augen. Dann zog ich seinen Kopf zu mir heran, bis unsere Münder sich trafen, und umarmte ihn. Eine Welle der Ruhe erfüllte mich, als er in der Stille dieses sonnigen Samstagmorgens in mich eindrang. Langsam. Tief. Mühelos. Ich bog den Rücken durch, ich brauchte härtere, intensivere Stöße. Als sie nicht erfolgten, half ich mit den Fingern nach. Wir kamen gleichzeitig. Ich keuchte. Er stöhnte meinen Namen.
Dann rollte er zur Seite, und ich starrte an die weiße Zimmerdecke. Kurz darauf richtete ich mich auf, und er hielt mich am Handgelenk fest.
»Du gehst schon?« Er hatte eine sanfte Stimme.
»Ja, ich habe viel zu tun.«
Ich griff nach meiner Kleidung, die ich am Abend auf einen Sessel gelegt hatte. Landon verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah mir beim Anziehen zu. Ich schloss den schmalen Gürtel meines Rocks und zog das Top über. Dann hängte ich mir die Künstlertasche über die Schulter, die ich von meinem Bruder zu Weihnachten bekommen hatte, und band mir auf dem Weg zur Tür das Haar zum Pferdeschwanz.
»Hey, warte mal. Wenigstens einen Abschiedskuss, oder?«
Ich ging lächelnd zu ihm zurück und küsste ihn. Er streichelte mir zärtlich über die Wange und seufzte zufrieden.
»Sehen wir uns heute Abend?«, fragte er.
»Ich kann nicht, ich werde lange im Atelier bleiben.«
»Aber heute ist doch Samstag«, wandte er ein. »Komm schon, Leah.«
»Tut mir leid. Essen wir morgen Abend zusammen?«
»Okay.«
»Ich rufe dich an.«
Beim Verlassen des Hauses empfingen mich ein grauer Himmel und trübes Tageslicht. Auf dem Weg setzte ich die Kopfhörer auf und steckte mir einen Lutscher in den Mund. Ich überquerte die Straße und nahm eine Abkürzung durch den blühenden Park zu meinem Atelier.
Eigentlich war es kein typisches Atelier.
Aber ich hatte mich im Studium sehr angestrengt und schließlich ein Stipendium bekommen, das mir erlaubte, eine kleine Mansarde anzumieten und als Atelier zu nutzen.
Als ich eintrat, roch es intensiv nach Farbe. Ich legte meine Tasche auf den runden Sessel und nahm den Kittel vom Haken. Als ich ihn schloss, stand ich bereits vor dem Bild, das fast den ganzen Raum einnahm.
Ich erschauderte, als ich die zarten, geschwungenen Wellen, die Schaumflocken und das irisierende Sonnenlicht betrachtete, das über die Ränder der Leinwand hinauszufließen schien. Ich griff zur Palette und mischte ein paar Farben. Das Bild schien mich auf irgendeine Art herauszufordern. Der Pinsel in meiner Hand zitterte, als die Erinnerungen wieder über mich hereinbrachen. Beim Gedanken an die Nacht, in der ich ins Atelier geeilt war, weil ich unbedingt diesen vertrauten Strandabschnitt malen musste, obwohl ich drei Jahre nicht dort gewesen war, zog sich mein Magen zusammen.
Drei Jahre ohne dieses Stück Meer, das so ganz anders war.
Drei Jahre, in denen ich mich sehr verändert hatte.
Drei Jahre, ohne ihn zu sehen. Drei Jahre ohne Axel.
Im schwachen Licht des Morgengrauens glitt ich an der Welle entlang und fiel ins Wasser. Als ich unterging, schloss ich die Augen, und alle Geräusche der Welt klangen gedämpft. Beim Aufsteigen hatte ich das Gefühl zu ersticken. Mit letzter Kraft konnte ich mich am Surfboard festhalten. Ich atmete tief aus und wieder ein. Aber keiner dieser Atemzüge konnte meine Lungen füllen. Ich trieb in der Einsamkeit meines Meeres, starrte auf den Schaum und das funkelnde Licht der Wellen und fragte mich, wann ich wieder atmen könnte.
Ich hatte die ganze Woche pausenlos gearbeitet. Manchmal erschreckte mich der Gedanke, dass es eigentlich kein Arbeiten war, sondern eher eine Notwendigkeit oder eine Mischung aus beidem. Die Malerei war der Motor meines Lebens, der Grund, der mich aufrecht hielt und stark machte, mir Ideen eingab, die ich abbilden und ausdrücken wollte. Ich erinnere mich an den Tag, an dem Axel mich fragte, wie mir das gelinge, und ich antwortete, dass ich es nicht wisse, dass ich es einfach täte. Hätte er mir diese Frage später gestellt, hätte ich ihm eine andere Antwort gegeben. Ich hätte ihm gestanden, dass das Malen mein Ventil war. Dass ich das, was ich nicht mit Worten ausdrücken konnte, in Farben, Formen und Texturen übersetzte. Dass Malen meine eigene, ganz persönliche Ausdrucksweise war.
Wäre an diesem Tag nicht mein Geburtstag gewesen, hätte ich bis spät in die Nacht in meiner kleinen Mansarde gemalt, wie ich es an den Wochenenden oft tat, aber meine Kommilitoninnen hatten darauf bestanden, mit mir zu feiern, und ich hatte nicht ablehnen können. Beim Anziehen dachte ich wieder an Blairs Anruf, sie hatte mir gratuliert und erzählt, dass das Kind, das Kevin und sie erwarteten, ein Junge sein würde. Das war zweifellos das beste Geburtstagsgeschenk.
Ich trat vor den Spiegel, um mir einen Zopf zu flechten. Mein Haar war so lang, dass ich es nie offen trug. Schon oft hatte ich mit dem Gedanken gespielt, es abschneiden zu lassen, aber es erinnerte mich an die Zeit, als ich meistens barfuß ging und in einem abgelegenen Haus lebte, an eine Zeit, in der ich nicht darüber nachdachte, ob ich es gekämmt hatte oder nicht. Auch darin hatte ich mich verändert. Ich achtete auf meine Kleidung und riss mich zusammen, weil ich gelernt hatte, dass es nicht immer auf den richtigen Weg führte, wenn ich meinen Impulsen folgte. Ich bemühte mich um mehr Besonnenheit und wog die Konsequenzen ab, bevor ich mich ins Leere stürzte.
Das Telefon klingelte erneut. Wie immer, wenn ich den Namen Georgia Nguyen auf dem Display sah, setzte mein Herz für einen Schlag aus. Ich atmete tief durch und nahm ab.
»Herzlichen Glückwunsch, Liebes!«, rief sie. »Schon dreiundzwanzig Jahre. Ich fasse es nicht, wie schnell die Zeit vergeht, denn ich habe das Gefühl, dich erst gestern durch den Garten getragen zu haben, um dich zu beruhigen.«
Ich setzte mich aufs Bett und lächelte.
»Vielen Dank. Wie geht es euch?«
»Wir steigen gleich in den Flieger.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen, offensichtlich hatte ihr Mann sie gekitzelt, um ihr das Handy wegzunehmen. »Lass das, Danïel, ich gebe sie dir gleich! Wie ich schon sagte, Liebes, wir sitzen im Flughafen von San Francisco, in einer Stunde geht unser Flug nach Punta Cana.«
»Was für eine Reise. Ich beneide euch.«
»Ich rufe dich in ein paar Tagen wieder an, wenn es ruhiger ist und wir ungestört reden können.«
»Bestens, gib mir mal Danïel.«
»Herzlichen Glückwunsch, Leah!«, rief er sogleich. »Wirst du mit deinen Kollegen feiern? Viel Spaß dabei, genieß es.«
»Danke, Danïel. Das werde ich.«
Ich starrte einen Augenblick wehmütig auf das Display und dachte an all die Anrufe, die ich an diesem Tag erhalten hatte … Auch an die ausgebliebenen.
Es war albern. Das passierte mir manchmal, denn die Erinnerung bleibt an Kleinigkeiten hängen, die geringfügig erscheinen mögen, am Ende aber wichtig sind. Axel war bei all meinen Geburtstagen zugegen gewesen, der einzige Mensch, den ich an diesem Tag sehen wollte, dessen Geschenke mir am besten gefielen und derjenige, an den ich dachte, wenn ich als Kind die Kerzen ausblies und mir etwas wünschen durfte.
Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
Ich starrte wieder aufs Handy. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber es klingelte nicht.
Seufzend ging ich zurück zum Spiegel, der noch genau dort an der Wand lehnte, wo ihn Oliver vor drei Jahren abgestellt hatte, als ich ihn mir aus einem Impuls heraus beim Einzug gekauft hatte.
Ich zupfte an meinem Zopf herum und sagte wie gewohnt zu meinem Spiegelbild: »Es wird dir gut gehen. Das wird es.«
Es war schon dunkel, als ich mich auf den Weg in das Restaurant machte, in dem wir verabredet waren, als plötzlich Landon vor mir stand.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich lachend.
»Ich wollte dich begleiten.« Er überreichte mir eine Rose und gab mir einen zärtlichen Kuss.
Ich betrachtete sie, strich über ihre scharlachroten Blütenblätter und schnupperte an ihr. Dann gingen wir zusammen weiter.
»Erzähl mir, was du heute gemacht hast, bist du vorangekommen?«
»Ja, das Bild ist fast fertig.« Beim Gedanken an mein Stück Meer, unser Meer, musste ich schlucken und schüttelte den Kopf.
»Ich will dich nicht langweilen. Erzähl mir von dir.«
Landon berichtete mir, wie seine Woche verlaufen war, dass er an seiner Diplomarbeit gearbeitet hatte, um sein BWL-Studium abzuschließen, dass er in den letzten drei Tagen große Lust verspürt hatte, mich zu sehen, dass ich an diesem Abend sehr hübsch sei …
Als das Restaurant in Sichtweite kam, gingen wir langsamer.
»Ich hoffe, dass dein Geburtstagsfest dir gefällt, auch wenn es keine Überraschungsparty ist«, scherzte er und wurde gleich wieder ernst. »Es sind alle da. Weißt du, Leah, es macht mir Sorgen, dass du dich so oft in dich selbst und diese Mansarde zurückziehst. Ich möchte, dass du diesen Abend genießt.«
Ich war gerührt und umarmte ihn fest.
Und versprach ihm, genau das zu tun.
Lächelnd betrat ich das Restaurant, unsere Freunde waren aufgestanden und sangen Happy Birthday. Ich wurde umarmt und geküsst und setzte mich zu ihnen. Es waren fast alle gekommen, die zu meinem Freundeskreis in Brisbane gehörten: ein paar Kommilitoninnen sowie Morgan und Lucy, die ich beim Einzug ins Wohnheim kennengelernt hatte und die meine besten Freundinnen geworden waren. Sie überreichten mir als Erste ihr Geschenk.
Ich packte es vorsichtig aus, kein Vergleich zu meiner früheren Ungeduld, löste mit dem Fingernagel den Tesafilm und legte das Papier wieder zusammen, bevor ich mich für das Zeichenmaterial bedankte, von dem sie wussten, dass ich es brauchte.
»Ihr seid unglaublich! Das wäre aber nicht nötig gewesen …«
»Keine Tränen heute!«, befahl Morgan sofort.
»Aber ich wollte doch gar nicht …«
»Wir kennen dich gut genug«, fiel mir Lucy ins Wort.
Ich musste lachen, als ich ihre Miene sah.
»Okay, keine Tränen, nur Spaß!« Ich sah zu Landon hinüber, der mich liebevoll anlächelte und mir zuzwinkerte.
Die Geburtstagsfeier endete erst im Morgengrauen, und ich hatte zu viel getrunken, obwohl ich wusste, dass mein Bruder Oliver am nächsten Tag zu Besuch kommen würde. Das war mir aber egal. Denn als wir in einer Bar die letzten Drinks bestellten, war ich in der Gesellschaft meiner ausgelassenen Freundinnen und in Landons Armen glücklich. Kein Gedanke mehr an die Menschen, die nicht da waren, auch nicht an Axels raue Stimme, wenn er mich beglückwünschte, oder das, was er mir in einer Parallelwelt, als wir noch glaubten, uns niemals zu trennen, geschenkt hätte.
Ich hatte eine ganze Weile gebraucht, um es zu verstehen, aber das Leben ging weiter. Axel war nicht mein Schicksal, er hatte mich nur ein Stück begleitet, bis er beschlossen hatte, einen anderen Weg zu nehmen.
Betrunken fiel ich ins Bett, und das Zimmer begann, sich um mich zu drehen. Ich umarmte das Kopfkissen. Es gab Phasen, in denen ich kaum an Axel dachte, in den Seminaren, beim Malen in meiner Mansarde oder wenn ich mich mit Landon oder meinen Freundinnen traf, aber er kehrte immer zurück. Er. Und das Gefühl, dass er mir immer noch unter die Haut ging und ich ihn nicht loswurde, störte mich zusehends. Die Erinnerungen überfielen mich zumeist völlig unerwartet: Wenn ein unbekannter Mann eine Zigarette rauchte, wenn ich den Geruch von Tee wahrnahm oder einen Song hörte, bei einer albernen Geste … wobei auch immer.
Dann fiel mir wieder ein, was ich in der Nachttischschublade aufbewahrte, unterdrückte aber den Wunsch, sie zu öffnen und die Muschel herauszunehmen, die ich kurz nach meinem Eintreffen in Brisbane auf einem Flohmarkt gekauft hatte.
Ich kniff die Augen zu. Noch immer drehte sich alles.
Und ich fragte mich, was er wohl gerade machte.
Ich warf einen letzten Blick auf die Galerie, bevor ich mich zu Fuß auf den Heimweg machte, denn ich hatte es nicht eilig, niemand wartete auf mich.
Doch das war ein Irrtum.
Oliver saß vor der Haustür.
Ich war genauso überrumpelt wie beim ersten Mal, als er vor vier Monaten plötzlich wiederaufgetaucht war. Weil ich nicht damit gerechnet hatte und weil ich verdammt nach Luft schnappen musste, als ich spürte, wie sehr ich ihn in den vergangenen Jahren vermisst hatte.
So kehrte Oliver eines schönen Tages in mein Leben zurück, genauso plötzlich, wie er daraus verschwunden war.
Ich stand wie angewurzelt da und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er es wirklich war. Er sah mich nur verlegen an, und auf meine Frage, ob er reinkommen wolle, folgte er mir wortlos ins Haus. Ich bot ihm ein Bier an, wir gingen auf die Veranda und rauchten schweigend. Keine Ahnung, wie lange wir dort saßen, ob es Stunden oder nur zwanzig Minuten waren, ich war derart in Gedanken vertieft, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Ich weiß nur noch, dass er irgendwann aufstand, mich grimmig und zugleich herzlich umarmte und anschließend grußlos wieder verschwand.
Er tauchte noch zwei weitere Male überraschend bei mir auf. Ich wusste, dass er immer eine Stippvisite bei meiner Familie in Byron Bay machte, wenn er seine Schwester in Brisbane besucht hatte. Allerdings hatte er sich in den ersten drei Jahren, nachdem wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, nie bei mir blicken lassen. Erst viel später erfuhr ich, warum er seine Meinung geändert hatte. Ich hatte ihn auch nicht danach gefragt. Wir sprachen auch nicht über Leah. Es war wie ein stillschweigendes Übereinkommen, über das wir kein Wort verlieren mussten. Und wir wurden wieder Freunde. Doch diesmal war es anders, denn wenn eine Freundschaft einmal zerbrochen ist und dann wiederaufgenommen wird, ist sie nie so perfekt wie vorher, sie hat Risse und scharfe Kanten.
»Ich wusste nicht, dass du kommen würdest«, sagte ich bei seinem vierten Besuch.
»Ich auch nicht.« Er folgte mir ins Haus. »Eigentlich habe ich keine Urlaubstage mehr, konnte aber im letzten Moment den Dienst tauschen, um …«
Leahs Geburtstag. Verdammt. Ich schloss die Augen.
»Ein Bier?«, unterbrach ich ihn.
»Eiskalt bitte. Das ist vielleicht eine Hitze.«
»Kein Wunder, in den Klamotten.«
»Das gehört dazu, wenn man nicht wie ein Eremit leben will.«
Kopfschüttelnd warf ich einen Blick auf seine dunkle Hose und das langärmelige Hemd, in dem es ihm selbst mit aufgekrempelten Ärmeln viel zu warm sein musste.
»Alles okay, Oliver?« Wir gingen auf die Veranda.
»Ja, und wie läuft’s bei dir in der Galerie?«
»Ich kann mich nicht beklagen. Es ist spannend, anders.«
Vor gut einem Jahr hatte ich in dieser kleinen Galerie in Byron Bay zu arbeiten begonnen, in der ich eines fernen Tages einmal mein Werk ausstellen wollte. Mit ihr war auch ein Versprechen verknüpft. Aber deswegen hatte ich die Stelle nicht angenommen, sondern eher, weil es keinen guten Grund gab, sie abzulehnen. Ich hatte nur wenige Aufträge, mir war langweilig, und die Stille war manchmal bedrückend. Deshalb dachte ich, dass es mir guttun würde, gelegentlich auszuhelfen, aber ohne feste Arbeitszeiten.
Ich hatte mich nicht geirrt. Es war eine der wenigen richtigen Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen hatte. Zwar zeichnete ich noch, stellte bei den Aufträgen aber inzwischen höhere Ansprüche.
Damit eine Galerie gut läuft, braucht man im Wesentlichen ein klares, solides Konzept. Ich hatte die Aufgabe, eines zu entwickeln und zu überlegen, welche Künstler und welche Art von Kunst wir ausstellen und fördern wollten, was im Grunde die Basis dieses Geschäftsmodells war. Der Besitzer, Hans, war Kunsthändler und ließ sich nur selten blicken, was mir freie Hand ließ, unterstützt von der Geschäftsführerin Sam, die in Vollzeit arbeitete.
Die ersten Monate waren hart, aber schließlich hatten wir ein einheitliches und stimmiges Portfolio ausgearbeitet, in dem wir die unterschiedlichen Stilrichtungen der von uns vertretenen Künstler verknüpft hatten. Meine Aufgabe war es, sie zu finden und zu ermuntern, im Zuge unseres Projekts an einer ersten Ausstellung in Byron Bay teilzunehmen. Die Beziehungen zu ihnen pflegte Sam. Ihr lag das, was Galeristen gemeinhin die »Poesie ihrer Arbeit« nennen, vielleicht, weil sie eine herzliche Frau war und als dreifache Mutter mit grenzenloser Geduld selbst noch das Ego des hochmütigsten Künstlers ertrug, was mir nicht gelang. Ich verstand aber die Faszination, die diese Arbeit auf Sam ausübte: die jungen, vielversprechenden Talente, auf die wir setzten, wachsen zu sehen, in regelmäßigem Kontakt mit ihnen zu stehen und vor allem, die Kunstschaffenden in ihren Ateliers aufzusuchen.
Mir fiel es immer noch schwer, mich vollständig auf die Arbeit einzulassen.
Denn es gab etwas, das mich hemmte.
»Wie viele Künstler hast du jetzt unter deinen Fittichen?« Oliver sah mich neugierig an, wobei er am Etikett der Bierflasche herumzupfte.
»Ich?« Ich zog die Augenbrauen hoch. »Keinen.«
»Du weißt schon, wie ich das meine.«
»Das macht Sam. Ich finde sie nur und verpflichte sie für die Galerie.«
Wir schwiegen, und am Horizont ging die Sonne unter. Seit Oliver wieder in mein Leben getreten war, hatte ich das trügerische Gefühl von Normalität, aber natürlich war alles anders. Vielleicht lag es auch an mir, vielleicht hatte ich mich seit unseren Studienjahren, in denen wir unzertrennlich gewesen waren, stärker verändert. Er war noch immer der Mensch, den ich am meisten schätzte, doch ich hatte das Gefühl, dass wir Stein für Stein eine Wand zwischen uns errichtet hatten. Schlimmer noch, wir redeten durch diese Wand miteinander. Schon vor meiner Beziehung mit seiner Schwester. Was das Wissen mit sich bringt, dass der andere dir zuhört und nickt, dich aber nicht richtig versteht, nicht, weil er es nicht will, sondern weil er es nicht kann. Und ich hasste es, wenn ich bei unseren Gesprächen dieses Unverständnis spürte, weil es mich daran erinnerte, dass der einzige Mensch, der mich wirklich gehört und Schicht für Schicht, Stück für Stück erkannt hatte, eine junge Frau war, die nach Erdbeeren schmeckte und die ich so unendlich vermisste.
Meine Professorin Linda Martin hatte mich nach dem Seminar in ihre Sprechstunde bestellt, und ich war so nervös, dass ich beim Warten auf einem Fingernagel herumkaute. Sie betrat eine Minute zu spät, aber lächelnd ihr Arbeitszimmer, woraufhin ich mich ein bisschen entspannte. Ich hatte mich derart ins Studium gestürzt, dass mich der Gedanke, in der letzten Prüfung einen Fehler gemacht zu haben oder gar nur Mittelmaß zu sein, regelrecht ängstigte.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, und ich nahm ihr gegenüber Platz. Jetzt kaute ich auf meiner Lippe herum, aber es nutzte nichts.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«, platzte ich heraus.
Ich hasste das. Diese Impulsivität. Die mich daran hinderte, meine Gefühle zu kontrollieren und zu kanalisieren. Diese dunkle Seite von mir, die mich vor langer Zeit dazu bewogen hatte, mich vor ihm auszuziehen und ihn zu fragen, warum er mich nie beachtet hatte. Aus irgendeinem Grund musste ich ziemlich oft daran denken.
»Du hast nichts falsch gemacht, Leah. Im Gegenteil. Du hast viel und sehr gut gearbeitet.« Sie schlug eine Mappe auf und nahm ein paar Fotos von meinen Bildern heraus. »Ich habe dich für eine Ausstellung empfohlen, die in einem Monat in der Red Hill Gallery stattfinden wird. Ich glaube, du bist die perfekte Kandidatin, denn du passt ins Profil.«
»Ist das Ihr Ernst?« Ich musste die Tränen wegblinzeln.
»Das ist eine große Chance. Die hast du dir verdient.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Miss Martin.«
»Ein ›Danke‹ reicht. Es handelt sich zwar nur um drei Werke, aber die Ausstellung wird gut besucht sein. Was hältst du davon?«
»Ich könnte vor Aufregung schreien!«
Linda Martin lachte laut auf, und nachdem sie mir noch ein paar zusätzliche Informationen gegeben hatte, dankte ich ihr tausendmal und griff nach meiner Tasche. Beim Verlassen der Fakultät richtete ich meinen Blick in den Himmel und seufzte laut. Es wehte ein warmer Wind. Ich dachte an meine Eltern und wie stolz sie auf mich wären, auch daran, wie gern ich diese Erfolgsnachricht mit ihnen geteilt hätte. Dann holte ich das Handy heraus und rief Oliver an. Ich wartete ungeduldig, bis er beim fünften Klingeln endlich ranging.
»Sitzt du?«, fragte ich aufgeregt.
»Äh nein, ich liege im Bett. Reicht dir das?«
»Ach, Scheiße, sag jetzt nicht, dass Bega neben dir liegt.«
»Spuck es schon aus, was willst du mir sagen?«
»Ich bin ausgewählt worden … für eine Ausstellung.« Ich holte Luft. »Nur drei Werke, aber immerhin.«
»Verdammt, Leah.« Er verstummte, und ich wusste, dass er gerührt war. Und dass er aufgestanden war, denn ich hörte seine Schritte, bevor er wieder sprechen konnte. »Du machst dir keine Vorstellung, wie stolz ich auf dich bin. Herzlichen Glückwunsch, meine Kleine.«
»Das habe ich alles dir zu verdanken«, stammelte ich.
Und obwohl er es abstritt, wusste er, dass ich recht hatte.
Als vor drei Jahren alles zerbrach, war ich wochenlang wütend auf meinen Bruder gewesen und hatte kaum mehr ein Wort mit ihm gesprochen. Bis ich begriff, dass es nicht seine Schuld war. Oliver hatte diese Entscheidung nicht getroffen. Oliver hatte nicht alles versaut. Oliver hatte nicht den Weg bestimmt.
Aber damals wollte ich das nicht sehen. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass es Axel jedes Mal überforderte, wenn etwas kompliziert wurde, dass er bei der geringsten Schwierigkeit davonlief und alles auf den Schrank packte, was er nicht in den Griff bekam, dass er sich nie voll und ganz auf etwas oder jemanden einlassen konnte.
Vielleicht war es meine Schuld, weil ich ihn idealisiert hatte.
Axel war nicht perfekt. Er hatte auch seine hässlichen Seiten, wie er mir selbst einmal gesagt hatte, die, die wir alle gerne schleifen und polieren würden, bis sie verschwunden sind. Auch Grauzonen. Tugenden, die sich manchmal in Schwächen verwandelten. Dinge, die mit der Zeit verblassten wie Träume oder Mut.
Kopfschüttelnd bog ich um die nächste Hausecke.
Ich klingelte. Landon öffnete.
Als ich oben ankam, stand er in der Tür. Sein Haar war zerzaust, und er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Ich dachte, wie gut er aussah, und lächelte, bevor ich ihn stürmisch umarmte.
»Was für eine Begeisterung«, scherzte er.
»Ich werde drei Bilder ausstellen!«
»Verdammt, Schatz, ich freue mich sehr für dich.«
Das Gesicht an seinem Hals verborgen, musste ich schlucken, weil ich dieses Wort hasste und ihn schon mehrmals gebeten hatte, mich nicht so zu nennen.
»Schatz« … Ich hörte es noch immer mit dem Klang von Axels rauer Stimme. Voller Verlangen. Voller Liebe.
Ich umarmte Landon fest und zwang mich, nur an die gute Nachricht zu denken. Ich küsste ihn auf den Hals und wanderte dann zu seinen weichen Lippen. Als ich meine Beine um seine Hüften schlang, schloss er die Tür und trug mich durch die Wohnung zum Bett. Ich sah, wie er sein Hemd aufknöpfte.
»Bin gleich wieder da.« Kurz darauf war er mit zwei Flaschen Bier zurück. »Ich dachte, ich hätte noch eine Flasche Sekt, aber nein. Aber das tut es auch.«
»Das ist perfekt.« Ich öffnete die Flaschen.
»Auf dich.« Wir stießen klangvoll an. »Auf deine Träume.«
»Und auf uns«, fügte ich hinzu.
Landon sah mich dankbar an, trank einen Schluck und zog sein Hemd aus. Dann legte er sich aufs Bett und zog mich an sich. Er küsste mich. Er beruhigte mich. Er erfüllte mich. Ich schlang meine Beine um seine und dachte, dass es besser nicht sein konnte.
Ich hatte Landon kurz nach meinem Umzug nach Brisbane kennengelernt.
Es war an einem schrecklichen Tag, an einem von vielen in den ersten Monaten, an denen ich von den Erinnerungen heimgesucht wurde, bis Morgan und Lucy mich dazu überredeten, mit ihnen auszugehen. Ich wusch mir das Gesicht, weil meine Augen vom vielen Weinen geschwollen waren, zog ein Kleid an, das ich noch keinmal aus dem Schrank genommen hatte, und war mit ihnen in eine Bar gegangen.
Irgendwann begannen wir zu tanzen. Als ein langsames Lied erklang, ging ich unter dem Vorwand, mir noch einen Drink zu holen, an die Bar, weil ich sie allein lassen wollte. Ich setzte mich und sah sie tanzen, sich anlächeln, sich küssen und sich gegenseitig etwas ins Ohr flüstern.
»Malst du?«, fragte mich plötzlich ein junger Mann.
»Woher weißt du das?«, fragte ich stirnrunzelnd.
»Deine Fingernägel«, erwiderte er, setzte sich neben mich und suchte mit dem Blick den Kellner. Er hatte kastanienbraunes Haar, Mandelaugen und ein gewinnendes Lächeln. »Und was genau malst du?«
»Weiß nicht. Kommt drauf an.«
»Ich sehe schon, du bist geheimnisvoll.«
»Ganz sicher nicht«, sagte ich lächelnd, weil ich diese Schlussfolgerung witzig fand. Ich war eher genau das Gegenteil: viel zu durchschaubar. »Ich habe nur einen schlechten Tag.«
»Verstehe. Fangen wir noch mal von vorn an. Ich heiße Landon Harris.«
Er reichte mir die Hand, ich schüttelte sie.
»Sehr erfreut, Leah Jones.«
Wir redeten den ganzen Abend. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt ich fand, betrunken genug zu sein, um einem völlig Unbekannten mein Herz auszuschütten. Ich erzählte ihm vom Tod meiner Eltern, von meiner Geschichte mit Axel, von der schwierigen Zeit, seit ich in Brisbane lebte … alles.
Landon ist einer dieser Menschen, die einem sofort Vertrauen einflößen. Er hörte aufmerksam zu, unterbrach mich nur, wenn nötig, und erzählte auch von sich: Wie fordernd seine Eltern waren, wie gern er fotografierte und kletterte, wenn er mal Zeit dafür fand.
Als meine Freundinnen gehen wollten, sagte ich, ich würde noch ein Weilchen bleiben. Später begleitete Landon mich zum Wohnheim. Als wir die Straßen entlanggingen und unsere Stimmen die Stille der Nacht durchbrachen, wurde mir bewusst, dass ich mich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt hatte. An der Haustür angekommen, stützte er sich an der Wand ab, beugte sich zögerlich vor und gab mir einen Kuss. Es war nicht unangenehm, sondern schön.
Dann trat er zurück und sah mich im gelblichen Schein der Straßenlaterne an.
»Du bist noch in ihn verliebt.«
Es war keine Frage, eher eine Feststellung. Ich nickte und bemühte mich, die Tränen zurückzuhalten, denn es wäre mir lieber gewesen, wenn es anders gewesen wäre. Ich hätte gern ein freies Herz gehabt, um einem so reizenden Mann wie Landon eine Chance zu geben.
Von dem Tag an war er einer meiner besten Freunde. In den folgenden Jahren lernte ich viele Männer kennen, und er hatte ein paar Freundinnen, die aber nicht seinen Erwartungen entsprachen. Ich beschränkte mich auf One-Night-Stands, in denen ich nie fand, was ich suchte. Schon bald entdeckte ich den Unterschied zwischen ficken und Liebe machen, dass es etwas anderes war, jemanden nur zu begehren oder ihn auch zu lieben. Es war eine so große Kluft, dass ich mich außerstande sah, sie zu überwinden.
An einem frühen Wintermorgen stand ich weinend und mit Herzklopfen vor Landons Tür.
»Was ist los mit dir?«, fragte er und zog mich in die Wohnung.
Angstzustände. Ich kannte die Symptome gut. Ich musste schlucken.
»Ich glaube, ich fühle gar nichts, Landon, ich glaube … Ich glaube, dass …«
Ich konnte nicht weitersprechen. Er schloss mich in die Arme, und ich barg schluchzend meinen Kopf an seiner Brust. Zu der Zeit ging es mir richtig schlecht. Und ich hatte eine Scheißangst davor, mich wieder leer zu fühlen, wieder taub zu werden. Nicht mehr malen zu können. Beim bloßen Gedanken daran schnürte es mir die Kehle zu. Aber mit jedem Tag, der verging, schienen die Gefühle stärker in den Hintergrund zu rücken, und ich stand jeden Morgen nur auf, weil ich wusste, dass ich es tun musste. Die Küsse irgendeines Unbekannten befriedigten mich nicht mehr, auch nicht die Erinnerungen, wenn ich das dringende Bedürfnis verspürte, sie zu malen, sie auszudrücken.
»Ganz ruhig, Leah.« Landon strich mir über den Rücken.
Ich erschauderte. Und dann hörte ich auf zu denken, gab mich dem Impuls einfach hin. Ich atmete an seiner Wange, zitternd vor Angst und spürte, wie weich seine Haut war, wie gut er roch.
Unsere Lippen trafen sich wie von selbst. Landon zog mich an sich, und wir küssten uns eine Ewigkeit, wie mir schien, ohne Eile und voller Genuss. Als wir uns auszogen, fühlte ich mich sicher. Als wir auf seinem Bett lagen, entspannte ich mich. Und als ich spürte, wie er sich in mir bewegte, fühlte ich mich geliebt. So hatte ich schon lange nicht mehr empfunden, weshalb ich mich an ihn klammerte, an seinen Rücken, an seine Freundschaft, an seine Welt, denn mit ihm zusammen zu sein, fühlte sich an wie das Aufklaren und die Ruhe nach einem Gewitter.
Eine Woche später kam mein Bruder zu Besuch. Wir verabredeten uns in einem Lokal, in dem es ein köstliches Hühnchen-Sandwich gab. Nachdem wir bestellt hatten, rieb er sich seufzend den Nacken.
»Ist was passiert?«, fragte ich beunruhigt.
»Ich … Ich glaube, ich sollte es dir sagen.«
»Schieß los. Was auch immer.«
»Ich habe Axel wiedergesehen.«
Als ich seinen Namen hörte, zog sich mein Magen zusammen. Könnte ich doch sagen, dass er keinerlei Reaktion in mir hervorrufen würde, könnte ich doch nur gleichgültig auf diese vier Buchstaben reagieren, könnte ich doch …
»Warum erzählst du mir das?«, fragte ich empört.
»Weil es nur fair ist, Leah. Ich will nicht, dass zwischen uns Lügen stehen. Ich hatte es nicht geplant, ich weiß nur, dass ich kürzlich, nach einem Besuch bei den Nguyens, einfach so zu ihm gefahren bin. Oder vielleicht doch nicht einfach so. Denn seit ich mit Bega verlobt bin, denke ich die ganze Zeit darüber nach. Ich frage mich, wer mein Trauzeuge sein soll, und ich, verdammt …«
»Du musst nicht weiterreden. Ist okay, Oliver.«
Er sah mich dankbar an. Und ich verstand ihn wirklich.
Ich wusste, wie wichtig Axel für meinen Bruder war, und wollte nicht zwischen den beiden stehen, wenn sie wieder Kontakt hatten. Aber das bedeutete nicht, dass es weniger schmerzte. Es schmerzte während des gesamten Treffens, obwohl wir das Thema nicht mehr ansprachen. Und es schmerzte auf dem Heimweg. Der Schmerz ließ erst nach, als mich Landon in die Arme schloss. Als ich in Sicherheit war. Weit weg von allem anderen.
Seitdem waren wir etwas mehr als Freunde.
Ich war mir nicht ganz sicher, was dieses »mehr« bedeutete, aber ich war auch noch nicht bereit, es herauszufinden. Wir waren kein Paar, aber auch nicht mehr nur Freunde. Landon hatte schon mehrmals versucht, darüber zu reden, und ich hatte ihn um Zeit gebeten.
Draußen nieselte es, und plötzlich stand sie vor mir.
Ich drückte die Zigarette aus und bückte mich. Sie war ausgemergelt und röchelte.
Seit drei Wochen hatte sie sich nicht mehr blicken lassen. Als sie sich hinlegte, streichelte ich ihr über den Rücken. Sie wimmerte leise, als hätte sie Schmerzen.
»Was ist mit dir, meine Kleine?«
Die Katzenaugen waren halb geschlossen.
Keine Ahnung, warum, aber ich verstand.
Ich verstand, dass sie zum Sterben zu mir gekommen war. Mir brannten die Augen beim Gedanken daran, wie grausam Einsamkeit manchmal sein kann. Ich setzte mich auf den Boden, lehnte mich ans Geländer und legte sie auf meine Beine. Ich streichelte sie sacht, beruhigte sie und blieb bei ihr, bis ihre Atmung immer regelmäßiger wurde, als würde sie einschlafen.
Das wollte ich glauben. Dass es ein sanfter Tod war.
Ich blieb noch ein Weilchen sitzen und starrte in den dunklen Himmel dieser warmen Nacht. Als der Nieselregen nachließ, ging ich ins Haus und suchte unter meinen Werkzeugen nach einem kleinen Spaten.
Ich schaufelte und schaufelte; ich hob ein viel zu tiefes Loch aus, konnte aber nicht aufhören. Erst im Morgengrauen hielt ich inne. Ich war völlig verdreckt. Mit beklommenem Herzen legte ich sie hinein und schaufelte das Loch wieder zu.
Anschließend stellte ich mich unter die Dusche und schloss die Augen.
Ich griff mir an die Brust.
Noch immer konnte ich nicht atmen.
»Du siehst schlecht aus«, sagte Justin besorgt.
»Ich habe nicht viel geschlafen. Meine Katze ist zum Sterben zu mir gekommen.«
»Schon komisch, dass du erst jetzt von deiner Katze sprichst, wo sie nicht mehr da ist«, meinte mein Bruder, der gerade Gläser abtrocknete.
Ich schnaubte, trank meinen Tee aus und verließ das Café mit einem knappen Gruß. In der Galerie warf ich einen Blick auf die Bilder und dachte an die Geheimnisse, die sich hinter jedem Pinselstrich verbargen, daran, dass jedes Werk Gedanken und Gefühle darstellte, menschliche Regungen auf Leinwand gebannt. Ich schluckte und fragte mich, warum mir das nie gelungen war. Etwas von mir auf eine Leinwand zu bannen.
»Heute bist du aber früh dran.« Sam lächelte mich erfreut an.
»Komm, ich helfe dir.« Ich nahm ihr die Taschen ab und folgte ihr ins Büro.
Sam hatte rosige Wangen. Ich sah mich um, an den Wänden ihres Arbeitszimmers hingen die kindlichen Malversuche ihrer Kinder, was fast etwas Ironisches hatte. Beim letzten Bild musste ich lächeln: Darauf waren fünf Personen zu sehen, die aus bunten Bastelhölzern angefertigt waren, und darunter stand in krakeliger Kinderschrift: »Für die beste Mama der Welt.«
»Da steckt durchaus Talent drin«, scherzte ich.
»Mir würde es schon reichen, wenn sie mich mal länger als zwei Stunden am Stück schlafen ließen.«
»Darüber sollte man nachdenken, bevor man den Gummi weglässt.«
»Axel!« Lachend warf sie einen Kugelschreiber nach mir.
»Misshandlung am Arbeitsplatz?« Ich hob eine Augenbraue.
»Du bist ein hoffnungsloser Fall. Konzentrieren wir uns. Morgen bin ich um zehn mit Will Higgins in seinem Atelier verabredet, er meint, einige seiner neuen Arbeiten könnten uns interessieren. Das hoffe ich, denn das Letzte, was er gemalt hat …« Sie zog eine witzige Grimasse.
»Mach Fotos. Ich möchte sie sehen.«
»Wäre es nicht einfacher, wenn du mitkommst?«
»Vergiss es. Mir in einem Atelier all diese Bilder anzuschauen, den Kerl zu ertragen …«
Sam seufzte und steckte sich das Haar zu einem lockeren Knoten hoch. »Du bist der seltsamste Mensch, den ich je kennengelernt habe.«
»Hast du viele kennengelernt?«, erwiderte ich.
»Ja, ein paar. Sag mal, Schätzchen, magst du Kunst eigentlich, oder verabscheust du sie?«
»Ich bin mir noch nicht ganz sicher.« Ich stand auf. »Essen wir heute zusammen?«
»Klar. Aber vorher muss ich noch einiges erledigen.«
Ich ging die Termine des folgenden Monats durch, die Werke, die eintreffen und zurückgeschickt werden sollten, und die verschiedenen Kunstmessen, auf denen wir Bilder von Künstlern, die wir vertraten, zeigen wollten. Messen waren die beste Form des Marketings für sie und ihre Arbeiten und natürlich Hans’ Kontakte in ganz Europa.
Eine Stunde später gingen wir mittagessen.
Sam erzählte mir immer haarklein von den Heldentaten ihrer drei Kinder. Eines von ihnen, der Älteste, ging in dieselbe Schule wie meine Neffen, und die drei schienen sich bestens zu verstehen, wenn es darum ging, neue Streiche auszuhecken. Mein Bruder Justin behauptete, seine Zwillinge hätten die schlechten Gene der Familie geerbt, mit anderen Worten, meine.
»Als ich nach Hause kam, waren die drei von oben bis unten mit Schokoladensirup verschmiert, und ich habe sie kurzerhand mit Klamotten und allem in die Badewanne gesetzt, um Zeit zu sparen.« Sam führte die Gabel zum Mund, kaute und wurde ernst. »Und was ist mit dir, Axel? Hättest du nicht gern Kinder? Sie wären sicher wunderschön mit deinen Augen und dieser Stirnfalte.«
»Ich? Kinder?« Ich verspürte einen Druck in der Brust.
»Ja, du, ich rede nicht von Außerirdischen oder Dinosauriern.«
»Das wäre deutlich wahrscheinlicher.«
Sam hatte einen ausgeprägten Mutterinstinkt. Sie kniff mich gern mal in die Wange oder zerzauste mir das Haar, und wenn ich Kopfschmerzen hatte, was in letzter Zeit häufiger vorkam, legte sie mir prüfend die Hand auf die Stirn. Außerdem schleppte sie immer eine große Tasche mit sich herum, in der sie Reinigungstücher, Pfefferminzbonbons gegen Halsschmerzen, Taschentücher, Salbe gegen Mückenstiche und Ähnliches griffbereit hatte.
Sie rührte in ihrem Milchkaffee und sah mich nachdenklich an.
»Warst du noch nie verliebt, Axel?«
Die Frage traf mich unvorbereitet. Blitzartig schoss mir der Gedanke an Leah durch den Kopf, eines der vielen mentalen Fotos von ihr. Das Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ, ihr eindringlicher Blick, ihre Haut unter meinen Fingern.
»Doch, ist aber schon länger her«, sagte ich mit belegter Stimme.
»Was ist passiert?«
Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.
»Nichts. Es sollte nicht sein«, fasste ich zusammen.
Sam schien sich meiner zu erbarmen und stellte keine weiteren Fragen, bis ich aufstand und bezahlte. Schweigend kehrten wir in die Galerie zurück und machten uns wieder an die Arbeit. Kurz vor Feierabend klopfte sie an meine Tür.
»Ich wollte nur sehen, ob du okay bist.«
»Warum sollte ich nicht okay sein?«, fragte ich stirnrunzelnd.
»Ich gehe jetzt. Brauchst du noch etwas?«
»Nein. Schließ ab, ich bleibe noch etwas länger.«
»Okay.« Sie ging an mir vorbei, zerzauste mir das Haar, als wäre ich einer ihrer Söhne, und gab mir einen Kuss auf die Wange, den ich mit einem Brummen quittierte.
Ich rieb mir das Gesicht, setzte die Lesebrille auf, die ich inzwischen brauchte, wenn ich müde war, und las ein paar interessante Lebensläufe, die Hans mir geschickt hatte. Als ich die Galerie verließ, war es schon dunkel. Ich überlegte, ob ich bei meinem Bruder vorbeischauen sollte, weil mir die Vorstellung, in Gesellschaft zu Abend zu essen, plötzlich reizvoll erschien, jenseits der häuslichen Stille, um ein bisschen Zeit mit ihm, Emily und den Kindern zu verbringen. Am Ende ließ ich es sein und ging nach Hause.
Ich machte mir ein Sandwich und rauchte auf der Veranda eine Zigarette. Ohne Musik. Ohne Lektüre. Ohne Sterne am bedeckten Himmel. Ohne sie.
Ich sollte aufhören, sie zu vermissen, ich sollte …
»Komm schon, lass mich mitkommen. Ich will es mal sehen.«
Landon sah mich mit einem liebevollen Blick an, aber ich weigerte mich. Ich konnte ihn nicht in mein Atelier lassen. Ich wollte es einfach nicht. Die Vorstellung, dass er in diesen sehr persönlichen Bereich eindrang, machte mir Angst. Es gab niemanden, dem ich genug vertraute, um ihn in mein Allerheiligstes zu lassen, nicht einmal meinem Bruder.
»Es wäre irgendwie komisch«, wiederholte ich. »Du verstehst das nicht.«
»Dann erklär es mir noch mal«, sagte er lächelnd.
»Es ist … es ist zu intim.«
»Intimer, als mit jemandem ins Bett zu gehen?«
Ja, viel intimer, wollte ich sagen, biss mir aber auf die Zunge.
»Das ist es nicht, Landon. Es ist etwas, das nur mir gehört.«
»Aber ich will teilhaben an dem, was dir gehört.«
Ich verspürte einen leichten Druck in der Brust. Und er schien zu merken, dass er mich bedrängte, also ließ er es gut sein und gab mir einen Kuss.
»Okay, entschuldige. Sehen wir uns später?«
»Ja, ich rufe dich an, wenn ich fertig bin.«
Ohne auf meine Umgebung zu achten, ging ich in mein Atelier. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal, und als ich oben ankam, erfüllte mich eine intensive Ruhe. Der Geruch nach Farbe. Die Leinwände, die meinen Blick zurückgaben. Das Knarzen des Holzbodens. Ich zog den Kittel über und öffnete das kleine Fenster, das immer klemmte.
Dann betrachtete ich das in Sonnenlicht getauchte Meer auf der Leinwand und dachte, dass das Bild diesem Ort eigentlich nicht gerecht wurde, nicht wegen des Ortes an sich, sondern wegen allem, was dieser Strand für mich bedeutete, an dem ich Stück für Stück wieder ich selbst wurde, bevor ich erneut zerbrach. Doch als es zum zweiten Mal geschah, war es zum Glück anders. Es waren nicht so viele Stücke, nein. Ich zerbrach schlicht und einfach in zwei Teile. Ein schneller und sauberer Bruch. Das war er.
Ich griff zur Palette und mischte mehrere Farben, bis ich mich entschließen konnte, den Pinsel einzutauchen. Seufzend begann ich zu malen, ich malte und malte, bis mein Magen knurrte und ich mir aus dem Lokal an der Ecke eine gefüllte Teigtasche holte. Wieder in der Mansarde, setzte ich mich zum Essen auf den kleinen Sessel und betrachtete das Bild, die Farbgebung, den Lichteinfall aufs Wasser …
In letzter Zeit dachte ich wieder öfter an Axel.
Vielleicht lag es daran, dass ich etwas malte, was ich mit ihm verband. Das Meer. Unermesslich und geheimnisvoll in seiner Tiefe, schön und kristallklar in Ufernähe. Die Kraft der Wellen. Und ihre Feigheit, wenn sie über den Sand leckten, bevor sie sich wieder zurückzogen.
Vielleicht lag es aber auch gar nicht daran, sondern an der Ausstellung. Denn in meinem früheren Leben, als ich mit neunzehn so verliebt in Axel war, wäre es für mich selbstverständlich gewesen, ihn bei meiner ersten Ausstellung an meiner Seite zu haben. Dass er mich, wenn eines meiner Bilder zum ersten Mal mit einem Etikett an einer Wand hing, stolz anlächelte und dann irgendeinen Scherz machte, um mich zu beruhigen.
Aber so würde es nicht sein. Und es tat weh. Nicht wegen des gemeinsam Erlebten, nicht, weil wir kein Paar waren, sondern weil ich ihn auch als Freund verloren hatte. Weil er nicht da sein würde.
Als der Kloß in meinem Hals jeden weiteren Bissen unmöglich machte, legte ich die Teigtasche weg. Ich stand auf und griff mit klopfendem Herzen zum Pinsel. Statt des Pastellblaus, das ich für den Himmel benutzt hatte, wählte ich eine Tube mit einem dunkleren Blauton.
Ich betrachtete die flauschigen Wolken, die ich gemalt hatte.
Kurze Zeit später waren sie unter einem Gewitterhimmel verschwunden.
Als ich das Schlafzimmer betrat, sah ich es, wie immer, als Erstes.
Das einzige Bild, das ich in den letzten Jahren gemalt hatte. Das ich mit Leah gemalt hatte, als ich sie auf dieser Leinwand gefickt und ihre Haut mit Farben, Küssen und Worten überzogen hatte, die inzwischen in Vergessenheit geraten waren. Ich betrachtete die chaotischen Linien und Flecken. Dann wanderte mein Blick zum Schrank, und ich atmete hörbar aus. Und zögerte. Wie so oft. Doch diesen Kampf gewann die Alltagsroutine, ich verließ das Zimmer und griff nach dem Surfboard.
Als ich bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam, saß Oliver vor der Tür. Ich grüßte ihn mit einem leichten Kopfnicken, und er folgte mir ins Haus. Dann ging er wie früher direkt zum Kühlschrank und nahm zwei Flaschen Bier heraus.
Er wirkte glücklich, strahlte geradezu.
»Lass uns anstoßen!«, sagte er.
»Und worauf?«
»Ich wollte es dir erst nicht sagen, aber dann dachte ich …« Er rieb sich verlegen den Nacken. »Ich dachte, dass du es erfahren solltest. Leah wird diesen Monat in der Red Hill Gallery ausstellen. Zwar nur drei Werke, aber das ist ein großer Schritt, ihre Professorin hat sie empfohlen. Und ich dachte, dass du es verdienst, es zu erfahren. Schließlich ist das trotz allem auch dir zu verdanken.« Er stieß mit seiner Bierflasche an meine.
Aber ich rührte mich nicht. Ich konnte es nicht.
Ich starrte ihn nur an. Und hasste ihn. Und mich hasste ich noch mehr. Es nervte mich, dass er mir das erzählt hatte und damit schlagartig so viele Erinnerungen in mir wachrief. Aber schlimmer noch war, dass es mich noch viel mehr genervt hätte, wenn er es mir nicht erzählt hätte. Aber egal. Keine der beiden Möglichkeiten stellte mich zufrieden, und ich hatte große Mühe, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen.
»Axel.« Er sah mich unsicher an.
»Wann?«, murmelte ich leise.
»Nächste Woche.«
»Wirst du dabei sein?«
»Ich kann nicht, ich muss arbeiten.«
»Dann fahre ich hin.« Das war keine Frage, auch kein Vorschlag. Es war ein fester Entschluss. Ich würde zur Vernissage gehen, ich musste es tun, ich musste es mit eigenen Augen sehen.
Oliver stellte das Bier auf den Tresen.
»Das kannst du nicht machen. Willst du ihr die Vernissage versauen? Ich habe es dir nur erzählt, weil ich so stolz bin und weil ich weiß, dass du ihr geholfen hast, verdammt noch mal, trotz allem anderen. Ich habe viel darüber nachgedacht …« Er verstummte, als wüsste er nicht weiter.
»Es ist mir egal, was du sagst. Ich werde hingehen.«
Seine Kiefer spannten sich an.
»Du wirst nicht noch einmal alles kaputt machen.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich.
»Ich brauche eine Zigarette.«
Oliver folgte mir auf die Veranda. Ich zündete mir eine an und nahm einen tiefen Zug in dem Versuch, mich zu beruhigen, obwohl ich wusste, dass es mir nicht gelingen würde. Denn die Vorstellung von ihr und ihren Bildern in einer Galerie hatte mich regelrecht umgehauen.
»Warum?«
Diese Frage hatte ich nicht erwartet.
»Weil ich es sehen muss.« Ich bemühte mich, wie ein vernünftiger Mensch zu argumentieren. »Weil ich sie ein Leben lang kenne, Oliver, ich darf einen solchen Moment nicht verpassen, weil …« Ich sie immer noch liebe. Ich schluckte die Worte hinunter. »Aber du hast recht. Ich werde ihr nicht den Abend versauen. Ich werde ihr nicht zu nahe kommen und dafür sorgen, dass sie mich nicht sieht.«
Oliver rieb sich übers Gesicht und schnaubte.
»Scheiße, Axel. Ich hasse das. Diese Situation, alles.«
Ich biss mir auf die Zunge, um ihm nicht zu sagen, was ich dachte, denn er war immer noch ein Teil meines Lebens, auch wenn jetzt alles anders war, kälter, belasteter.
Ich drückte die Zigarette aus. Wir sahen uns an, und ich las Zweifel und Zwiespältigkeit in seinem Blick. Er sah in meinen Augen vermutlich die Entschlossenheit, denn schließlich wandte er den Blick ab und nahm mir die Zigarettenschachtel aus der Hand. Zumindest diese Schlacht hatte ich gewonnen. Dabei fiel mir nicht auf, dass dies eines der wenigen Male war, in denen ich mich direkt mit etwas auseinandersetzte.
Ich trank einen Schluck von meiner zweiten Tasse Lavendeltee, der aber nicht zu wirken schien, denn ich war noch immer sehr nervös. Die Ausstellungseröffnung war erst in zwei Stunden, und ich musste ständig darüber nachdenken, was alles schiefgehen könnte: vernichtende Kritiken, gleichgültige Blicke, über die eigenen Füße zu stolpern und mitten in der Galerie hinzufallen.
Das Handy klingelte. Es war eine aufmunternde Nachricht von Blair. Weil ich wusste, dass es ihr in den ersten Schwangerschaftsmonaten nicht gut gegangen war, hatte ich ihr untersagt zu kommen. Und nicht nur ihr, sondern auch Justin und Emily, die vorgeschlagen hatten, die Zwillinge bei der Nachbarin zu lassen. Ich hatte ihnen versichert, dass es nicht nötig sei, und auch Oliver beruhigt, dem nach meinem Geburtstag kein weiterer Urlaubstag gewährt worden war.
Und wieder musste ich an meine Eltern denken. Wenn sie doch dabei sein könnten.
Ich ging in das winzige Badezimmer, um mich zu kämmen. Umgezogen und geschminkt hatte ich mich schon am Nachmittag. Als ich gerade meinen Tee austrank, klopfte es an der Tür.
Ich umarmte Landon so fest, dass ich fürchtete, ihm wehzutun.
»Ich bin so nervös!« Ich zeigte ihm meine Hände. »Schau, wie ich zittere.«
Er lachte und ergriff meine Hand so, dass ich mich einmal um die eigene Achse drehte.
»Übertreib mal nicht. Du bist wunderschön. Es wird alles gut gehen.«
»Glaubst du wirklich? Mir ist richtig schlecht.«
»Ist das nur eine Ausrede, oder soll ich dir über der Schüssel das Haar zurückhalten?«
»Ich weiß nicht. Ich habe Bauchschmerzen.«
Um mich abzulenken, erzählte mir Landon von den ständigen Albernheiten seines Kommilitonen, der Dinge tat, wie im Schlafanzug an der Uni zu erscheinen oder sich einen Bleistift in die Nase zu stecken, weil dies angeblich seine Kreativität förderte, und ich beruhigte mich ein wenig. Ich musste lachen, und es wurde Zeit zu gehen. Ich stand auf und suchte nach meiner Handtasche.
»Ich habe bestimmt etwas Wichtiges vergessen.«
»Das sagst du immer, und es ist noch nie passiert.«
»Aber …« Ich sah mich besorgt um.
»Wir müssen los, Leah. Komm schon.«
Ich nickte und folgte ihm die Treppe hinunter.
Die Galerie war nicht weit. Wir gingen Hand in Hand schweigend nebeneinander her. Ich wusste, dass er den ganzen Abend bei mir sein würde. Auch ein paar Freundinnen, die später kommen wollten, und meine Professorin Linda Martin.
Die Ausstellungsräume waren klein, denn die Red Hill Gallery war keine der großen Galerien der Stadt, aber für mich war sie die beste der Welt. Das Haus hatte ein Satteldach, und an der granatroten Fassade stand in grünen Lettern ihr Name.
Für das Publikum war noch geschlossen, weshalb unsere Schritte auf dem Holzparkett laut widerhallten, als wir den ersten Raum betraten, in dem allerdings bereits Stimmen erklangen.
Linda war schon da. Sie lächelte mich an und stellte mich dem Galeristen und anderen, die an der Ausstellung mitgewirkt hatten, sowie einigen Künstlern vor.
Ich versuchte, mich zu entspannen, und nahm ein Glas Sekt von dem Tablett, das uns gereicht wurde. Wir plauderten eine halbe Stunde mit den anderen und schlenderten durch die Räume, um uns die Exponate anzusehen. Als wir zu meinen Bildern kamen, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich tastete nach Landons Hand und drückte sie.
Ich hatte lange mit Linda darüber diskutiert, welche drei Bilder wir auswählen sollten. Es war nicht einfach gewesen, weil ich eine ganz bestimmte Vorstellung im Kopf hatte und es ihr schwergefallen war zu verstehen, warum mir das so wichtig war. Als ich meine Bilder sah, war ich zum ersten Mal stolz auf mich, und mir zitterten die Knie.
Das erste war ausschließlich in dunklen Tönen gehalten. Nacht. Ein gebrochenes Herz. Der Kummer. Die Fassungslosigkeit. Der Schmerz.
Das zweite war bittersüß mit ein paar leuchtenden Strichen, andere gedämpfter, als würde die Leinwand sie aufsaugen. Die Sehnsucht.
Das dritte Bild war Licht. Echtes Licht mit all seinen Schatten. Die Hoffnung.
Sie trugen keine Titel. Die Komposition aus allen dreien hatte ich Liebe genannt.
Ich schielte zu Landon hinüber und fragte mich, ob er ihren verborgenen Sinn erfasste. Als wir noch Freunde waren, hatte ich ihm einmal ein Bild gezeigt und ihn gebeten, mir zu sagen, was er darin sah, aber er war unfähig gewesen, zwischen den verworrenen Linien zu lesen. Ich warf es ihm nicht vor, weil ich wusste, dass sie für einen distanzierten Betrachter nicht die gleiche Bedeutung hatten. Denn er konnte die Linien nicht spüren wie ich, vielleicht anders, aber nicht genauso.
Die ersten Gäste trafen ein. Und während sich die Räume füllten und das Stimmengewirr um mich herum zunahm, wurde ich immer ruhiger. Als meine Freundinnen eintrafen, begleitete Landon sie in den Nachbarraum, um mich mit meiner Professorin allein zu lassen.
»Es haben sich schon zwei Interessenten gemeldet.«
»Wirklich? Wer will denn …«
»Etwas von dir haben?«, unterbrach Linda mich. »Du wirst dich daran gewöhnen.«
Als sich der Assistent des Galeristen zu uns gesellte und mit meiner Professorin ins Gespräch kam, rieb ich mir nervös die Hände. Ich stand zwischen den beiden, ohne genau zu wissen, was ich sagen oder tun sollte. Ich traute mich aber auch nicht, in den Nebenraum zu gehen, um zu sehen, wie die Besucher auf meine Bilder reagierten, weil ich mich davor fürchtete.
Ich atmete tief durch, das Schlimmste war ja inzwischen vorbei.
Und da spürte ich ihn. Ich weiß nicht, wie. Auf der Haut. Im Körper. Im Herzen. Wie viele Herzschläge braucht es, um einen Menschen zu erkennen? In meinem Fall waren es sechs. Zwei, bei denen ich wie gelähmt dastand und die Welt um mich herum plötzlich verstummte. Drei weitere für die Entscheidung, ob ich mich umdrehen sollte, denn ich hatte panische Angst davor. Und einen, nur einen, um auf diese blauen Augen zu treffen, die mich ein Leben lang verfolgen würden.
Ich rührte mich nicht. Ich konnte es nicht.
Unsere Blicke verschmolzen ineinander.
Und mir wurde schwindelig. Als würde ich plötzlich ins Leere stürzen.
Ich hatte ihr aus dem Weg gehen wollen, aber ich hatte sie gleich beim Betreten der Galerie gesehen. Mir blieb die Luft weg, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube erhalten. Leah wandte mir den Rücken zu. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie oft ich sie in den Nacken geküsst und umarmt hatte, wenn wir in der Küche das Essen zubereiteten. Oder wie ich auf der Veranda von hinten auf sie zugegangen war. Ich sah das blonde Haar, das zu einem straffen Knoten frisiert war, aus dem sich inzwischen ein paar Strähnen gelöst hatten.
Und plötzlich drehte sie sich um, als hätte sie mich gespürt.
Sie tat es langsam, wie in Zeitlupe. Ich stand mitten im Raum. Unsere Blicke trafen sich. Wir betrachteten uns stumm, und ich spürte, wie alles um uns herum verschwand: die Stimmen, die Leute, die Welt. Dann setzte ich mich unwillkürlich in Bewegung, als würde ich von ihr angezogen. Ein Schritt. Und noch einer. Bis ich vor ihr stand. Leah wandte ihren Blick nicht ab, er war provokant, hart und gefährlich.
Ich hielt den Atem an. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wollte etwas sagen, irgendwas, aber was sagt man zu der Frau, die so viel in dir ausgelöst hat, bevor du ihr das Herz gebrochen hast? Ich fand keine Worte. Ich konnte sie nur anstarren, als könnte sie sich jeden Moment in Luft auflösen und als müsste sich dieses Bild so scharf wie möglich in mein Gedächtnis einbrennen. Ich sah die Linie ihres Halses. Ihre zitternden Hände. Ihren Mund. Diesen Mund.
Als ich endlich genug Mut aufbrachte, um etwas zu sagen, drehte sich die Frau neben ihr plötzlich um und ergriff sie am Arm.
»Komm, ich muss dich ein paar Leuten vorstellen.«
Sie warf mir einen letzten durchdringenden Blick zu, bevor sie am anderen Ende des Raumes verschwand. Ich war für die Unterbrechung fast dankbar, weil ich mich wieder fangen musste.
Scheiße. Es war alles ganz anders gekommen als geplant.