The Map of Longing - Alice Kellen - E-Book

The Map of Longing E-Book

Alice Kellen

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Beschreibung

Ein attraktiver Fremder. Ein Spiel voller Emotionen. Eine Liebe, die alles verändert.

Grace wurde nur aus einem Grund geboren: Sie sollte ihre schwerkranke Schwester Lucy retten. Als Lucy trotz aller Bemühungen stirbt, sieht Grace keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Bis sie eines Tages die »Karte der Sehnsüchte« entdeckt – ein Spiel mit Aufgaben, das Lucy sich vor ihrem Tod ausgedacht hat. Den Anweisungen folgend sucht Grace einen Fremden namens Will auf. Sofort fühlt sie eine tiefe Verbundenheit zu dem geheimnisvollen Mann. Gemeinsam folgen sie der Karte und begeben sich auf eine Reise voller Möglichkeiten und vergessener Träume, aber auch voller Schmerz. Wie kannst du vorankommen, wenn die Vergangenheit dich immer wieder zurückhält? Grace glaubt, die Antwort zu kennen: durch Liebe. Doch um Will lieben zu können, muss sie erst sich selbst akzeptieren. Und das ist die schwierigste Aufgabe von allen.

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Seitenzahl: 611

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Das Buch

Grace wurde nur aus einem Grund geboren: Sie sollte ihre schwerkranke Schwester Lucy retten. Als Lucy trotz aller Bemühungen stirbt, sieht Grace keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Bis sie eines Tages die »Karte der Sehnsüchte« entdeckt – ein Spiel mit Aufgaben, das Lucy sich vor ihrem Tod ausgedacht hat. Den Anweisungen folgend, sucht Grace einen Fremden namens Will auf. Sofort fühlt sie eine tiefe Verbundenheit zu dem geheimnisvollen Mann. Gemeinsam stellen sie sich den Aufgaben und begeben sich auf eine Reise voller Möglichkeiten und vergessener Träume, aber auch voller Schmerz. Wie kannst du vorankommen, wenn die Vergangenheit dich immer wieder zurückhält? Grace glaubt, die Antwort zu kennen: durch Liebe. Doch um Will lieben zu können, muss sie erst sich selbst akzeptieren. Und das ist die schwierigste Aufgabe von allen.

Die Autorin

Alice Kellen ist eine internationale Bestsellerautorin. Sie schreibt Geschichten mit universellen, übergreifenden Themen wie Liebe, Freundschaft, Unsicherheiten, Verlust und der Sehnsucht nach einer besseren Zukunft. Sie lebt mit ihrer Familie in Valencia, Spanien.

Lieferbare TitelAll That We Never WereAll That We Are Together

ALICE KELLEN

the map of longing

ROMAN

Aus dem Spanischen von Anja Rüdiger

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe EL MAPA DE LOS ANHELOS erschien erstmals 2022 bei Editorial Planeta, Spanien.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 12/2024

Copyright © 2022 by Alice Kellen

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock (Michael)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30508-6V001

www.heyne.de

Für Juan,

der diesen Roman nicht geschrieben,

mir aber ermöglicht hat, ihn zu beenden.

Die Geschichte von Grace

1 Ich heiße Grace

Manchmal lege ich mich ins Bett, schließe die Augen und stelle mir den Beginn meines Lebens vor. Ich sehe ein Spermium, das schneller ist als die anderen und sich zügig bewegt, bis es die Eileiter erreicht. Es schlängelt sich durch und schafft es, die von allen ersehnte Eizelle zu erobern, indem es die Plasmamembran durchbricht. Und dann, nach der Befruchtung, trete ich in Erscheinung. Ich habe noch keine Augen, keinen Mund und keine Gliedmaßen, aber ich existiere.

Eine Existenz zu einem bestimmten Zweck.

Die meisten Menschen, die ich kenne, fragen sich regelmäßig, warum sie auf die Welt gekommen sind, was ihr Ziel ist oder ob ihr Leben einen Sinn hat. Darauf weiß ich keine Antwort, aber mein Schicksal stand von Anfang an fest, so wie das Gras wächst, um das Vieh zu ernähren, oder so wie die Bienen alles eifrig bestäuben. Daher habe ich als Kind, wenn ich in der Schule aufgefordert wurde, aufzustehen und mich vorzustellen oder einen Aufsatz über meine Familie zu schreiben, immer mit folgendem Satz angefangen:

Mein Name ist Grace Peterson, und ich wurde geboren, um meine Schwester zu retten.

Großvater sagt immer, dass ich mit einem Superhelden-Umhang auf die Welt gekommen bin. Einem lilafarbenen Umhang natürlich. Einem wehenden Umhang über den Schultern, der für andere unsichtbar ist, auch für die Hebamme, die bei meiner Geburt dabei war. Wahrscheinlich waren alle, obwohl ich heftig geweint habe, nur hinter einer Sache her: der kostbaren Nabelschnur mit dem Blut, dessen Stammzellen sie auf Lucy übertragen konnten, um die myeloische Leukämie zu bekämpfen, die sie bei ihr im Alter von anderthalb Jahren diagnostiziert hatten.

Während ich aufgewachsen bin, habe ich nicht oft darüber nachgedacht, aber ich glaube, dass uns das besonders eng miteinander verbunden hat, auch wenn wir nicht unterschiedlicher hätten sein können. Meine Schwester war sanft, und alle sagten, ihr Lächeln sei aufrichtig und ansteckend gewesen; die Ärzte bewunderten sie, meine Mutter nannte sie ihren Sonnenschein, und wenn ihr Gesundheitszustand es ihr erlaubte, zur Schule zu gehen, waren alle Mitschüler ganz versessen auf sie. »Du leuchtest, Lucy«, hat Dad ihr versichert, »du bist wie ein funkelnder Stern.«

Und wer möchte nicht mit den Sternen, dem Mond oder anderen Gestirnen, Sternbildern oder faszinierenden, unendlichen Galaxien verglichen werden?

Das hätte ich mir auch gewünscht.

Ich, die immer wie ein schwarzes Loch war: Niemand versteht mich so richtig, auch wenn das, was ich sage, in der Theorie absolut Sinn ergibt, und ich bin sogar für mich selbst ein Rätsel mit meinem Gravitationsfeld, das verhindert, dass mir auch nur der kleinste Partikel entrinnt.

Anders als Lucy mit ihrem Leuchten muss ich mich daher ständig um ein Lächeln bemühen. »Es ist, als ob meine Lippen aus harter Pappe wären«, habe ich mal meinem Großvater anvertraut. Woraufhin er, nachdem er mich gut zugedeckt hatte, geantwortet hat: »Weißt du, dass Pappe weicher wird, wenn man ein wenig Wasser dazugibt? Probier es mal aus und schau, was passiert, Grace.« Ich schäme mich, zuzugeben, dass ich mich nie besonders angestrengt habe. Aber ich habe meine Gründe: Die Erde ist ein feindlicher Ort. Ich kann das Leben nicht als ein Geschenk betrachten, sondern nur als einen steinigen Weg voller Schmerzen, Ungerechtigkeiten, Krankheiten und verschiedenen Mangelerscheinungen.

Das habe ich in einer schlaflosen Winternacht auch zu Lucy gesagt, als sie aufgestanden war, um sich ein Glas Wasser zu holen, während draußen vor dem Fenster Schneeflocken fielen. Unsere Zimmer liegen sich gegenüber, sodass der Unterschied deutlich ins Auge fällt: Ihre Tagesdecke ist rosa, meine dunkelviolett; sie hat alle Stofftiere aus ihrer Kindheit aufbewahrt, während ich meine auf den Dachboden verbannt habe; sie hat gerahmte Bilder in Pastellfarben an den Wänden, ich Schwarz-Weiß-Fotos von Vivian Maier und Zettel, auf die ich einzelne Worte schreibe, die mich faszinieren.

»Lucy, ich verstehe das Leben nicht.«

»Was meinst du damit?«

»Es ist überbewertet.«

Sie hat das Wasserglas auf meinen Nachttisch gestellt, und ich habe ihr Platz in meinem Bett gemacht. Ihre Hände waren kalt. In der Dunkelheit konnte ich ihre Silhouette kaum erkennen, aber ich nahm ihr blondes Haar wahr, das ausgebreitet auf dem Kissen lag, ihre blasse Haut und die dunklen Schatten unter den Augen in ihrem von den Medikamenten aufgedunsenen Gesicht, im Gegensatz zu ihren Beinen, die so dünn waren wie die eines Flamingos.

»Vielleicht liegt das Problem darin, dass du versuchst, das Leben zu ›verstehen‹. Es ist kein Rätsel, Grace. Glaub mir, ich habe viel darüber nachgedacht. Ich habe es oft als ein Spiel betrachtet, aber ein fieses, weil es keine Spielanleitung oder Taktik gibt und es nur darum geht, zu würfeln und zu sehen, welche Zahlen herauskommen.«

Lucy war ein großer Fan von Spielen, weil das Krankenhaus ihr zweites Zuhause war. Dort hat sie sich die Zeit mit einem Kartenspiel oder einem anderen Spiel vertrieben, das sie gerade bekommen hatte. In meiner Familie sind wir alle erfahrene Gegner, aber Lucy konnte niemand besiegen.

»Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis und zu viel Zeit zum Nachdenken«, sagte sie immer, wenn ich sie fragte, warum sie jeden meiner Spielzüge voraussehen konnte. Anstatt etwas zu erwidern, habe ich dann einfach die Karten für die nächste Runde verteilt.

Lucy von ihrer Krankheit zu trennen war, als würde man verschiedene Ölfarben mischen und dann versuchen, die einzelnen Farben wiederherzustellen. Die beiden bildeten eine Schlingpflanze mit Blüten und Dornen: Manchmal gewann der Frühling eine Schlacht, und Lucy blühte für eine Weile auf, aber früher oder später kehrte der Winter zurück.

»Sie hätte geheilt werden müssen«, sagte Dad.

Um genau zu sein, war das, rein medizinisch gesehen, auch der Fall. Sie wurde geheilt. Doch ein paar Monate später wurde bei ihr eine Graft-versus-Host-Erkrankung diagnostiziert. Mit anderen Worten: eine ernste Komplikation nach der allogenen Transplantation, die sich auf den unerbittlichen Kampf meiner Zellen gegen Lucys Immunsystem zurückführen ließ. Man verabreichte ihr Kortikosteroide und Immunsuppressiva, damit sie das Transplantat nicht abstieß, aber dadurch wurden ihre Abwehrkräfte so geschwächt, dass sie anfällig für opportunistische Infektionen war, von Lungenentzündung bis hin zu multiplen Harnwegserkrankungen.

Wenn davon die Rede war, konnte sie nur an einen Haufen sich windender Würmer denken.

Das Faszinierende an Lucy war, dass sie trotz allem keine Wut auf die Welt verspürte. Doch je mehr sie ihre Krankheit akzeptierte, desto mehr störte mich das. Die große Frage, die mich immer umtrieb, lautete: Warum? Mein Großvater sagt, dass das schon bei mir als kleines Kind deutlich wurde und es mal zu einem Problem werden würde, weil die Phase, in der Kinder alles infrage stellen, bei mir besonders ausgeprägt war.

»Warum kann es keine neuen Farben geben?«, »Warum haben Kühe schwarze Flecken und keine violetten?«, »Warum haben alle Jungen in der Klasse kurze Haare?«, »Warum heißen Gurken Gurken?«, »Warum ist Meerwasser salzig?«

Der erste kleine Zettel, den ich geschrieben habe, hängt heute noch an der Wand meines Zimmers. WARUM? Alle anderen habe ich im Laufe der Zeit ausgetauscht: Es gab eine Phase, in der ich von dem Wort geistreich besessen war, und eine andere, in der ich nicht aufhören konnte, an die Schönheit von Orangenblüte, Skarabäus oder Bougainvillea zu denken. Meine Wand ist eine Schlange, die sich regelmäßig häutet.

Die große Frage jedoch bleibt. Egal, wie viel Zeit vergeht, sie übersteht Regen und Kälte, und hohe Temperaturen können ihr nichts anhaben. Sie ist unvergänglich.

»Warum nur war Lucy krank?«

Die übliche Antwort darauf lautet: »Weil es eben so ist, weil das Leben so ist, weil die Erde ein zufälliger und chaotischer Ort ist, es gibt keine Regeln oder Statistiken dafür. Also hör auf, darüber nachzudenken, nimm das verdammte Papier von der verdammten Wand und akzeptier es ein für alle Mal.«

Aber da ich nicht zu den gewöhnlichen Menschen gehöre, bin ich beharrlich.

Wo steht das geschrieben? Gibt es in dem riesigen Universum einen geheimen Code für jeden von uns, der so kompliziert ist wie unsere eigene DNA? Könnten wir unser Schicksal ändern, wenn wir erraten könnten, was in der Zukunft passieren wird? Entscheidet womöglich ein höheres göttliches Wesen, dass ein zweijähriges Mädchen es verdient, an Krebs zu erkranken, zu ertrinken, zu verhungern oder ein anderes Unglück zu erleiden?

Meine Mutter hat mir mal erzählt, wie alles angefangen hat: Es waren die Petechien. Lucys kleines Bäuchlein war mit rötlichen Flecken bedeckt, und dann kamen die blauen Flecken.

»Bist du hingefallen?«

»Nein«, sagte sie.

»Hat dich im Park ein anderes Kind geschlagen?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. Nach einem Routinebesuch beim Kinderarzt kam sie zur Untersuchung ins Krankenhaus.

Schon bald stand die Diagnose fest. Und die Chemotherapie. Und meine triumphale Ankunft in der Welt mit all den Hoffnungen auf ein paar Zellen.

Doch das Glück war nur von kurzer Dauer.

Wenn ich zurückblicke, denke ich, dass ich in einem verlassenen Palast aufgewachsen bin, der zu einem Trümmerhaufen zusammengestürzt ist.

Meine Eltern haben sich auf einer Party der Firma kennengelernt, für die sie arbeiteten, und ich stelle mir den Salon in dem imaginären Palast zu jener Zeit in all seiner Pracht vor, mit Kronleuchtern und bunten Tapeten an den Wänden, während sie in der Mitte tanzen: Mein Vater war ein sehr attraktiver Mann (unsere Nachbarinnen und die Freundinnen meiner Mutter sagten das immer wieder), und meine Mutter war sehr intelligent. Gemeinsam gaben sie ein perfektes Team ab. Sie veranstalteten Grillabende im Garten und galten als interessantes Paar. Ich kann mir kaum ein schöneres Kompliment vorstellen als dieses: interessant zu sein.

Beide waren Immobilienmakler.

Dad bezauberte die Käufer mit seiner Freundlichkeit, seinem Lächeln mit seinen perfekt weißen Zähnen, seinem selbstbewussten Auftreten und seinem Charme im Stil der 1950er-Jahre.

Aber meine Mutter war noch besser. Sie hatte den Spitznamen Rosie, der Hai. Die Kunden wurden zur Beute, wenn sie ihr in die Hände fielen. Sie vermittelte jedes Haus an potenzielle Käufer. Sie hatte baufällige Häuser an den Mann gebracht, Häuser, in denen es angeblich spukte, und sogar ein paar, in denen ein Mord begangen worden war. Zweimal hintereinander wurde sie zur besten Immobilienmaklerin des Landes gekürt, und bei den Weihnachtsfeiern in der Stadt überstrahlte sie alle.

Als Lucy auf die Welt kam, waren die Petersons ein perfektes Paar. Bis das Wort Krebs in ihr Leben trat und die ersten Risse entstanden.

Als ich auf die Welt kam, schien der Schaden noch reparabel. Aber je mehr sich der Gesundheitszustand meiner Schwester verschlechterte, desto mehr vertiefte sich die Kluft, und Mom wurde vom Star in der Firma zur genügsamen Monopoly-Spielerin im Krankenhaus, wenn Lucy einen guten Tag hatte. Meine Mutter hat ihren Job gekündigt. Sie hat aufgehört, morgens beim Kaffeekochen zu singen. Sie traf sich nicht mehr mit ihren Freundinnen. Sie sah nicht mehr in den Spiegel. Sie hat alles aufgegeben.

Wie ich schon gesagt habe, wurden wir in der Schule manchmal aufgefordert, einen Aufsatz über unsere Familie zu schreiben, über einen besonderen Tag zu berichten oder ein Bild zu zeichnen. Die prominenteste Figur in meinem Werk war immer mein Großvater. Ich habe ihn größer gezeichnet als meine Eltern, weil er in meinem Leben eine so bedeutende Rolle spielt. Lucy wurde von mir oft mit einer Sonne über dem Kopf und in einem Bett liegend dargestellt. Und neben ihr stand ich, winzig, fast beiläufig, ein Tintenklecks, der oft unbemerkt blieb.

Wenn man eine kranke Schwester hat, lernt man auf die harte Tour, für sich selbst zu sorgen. Du erwartest nicht, dass deine Eltern dir Gute-Nacht-Geschichten vorlesen oder dich beim Eislaufwettbewerb anfeuern, weil sie meistens damit beschäftigt sind, ihre andere Tochter vor dem Tod durch eine Infektion zu bewahren.

Ich weiß nicht mehr, wann sie erkannten, dass es eine lächerliche Utopie war, eine Art familiäre Normalität vorzutäuschen. Manchmal gab es gute Zeiten, in denen Lucy sogar zur Schule gehen konnte, und wir alle das Gefühl hatten, in einem perfekten Edward-Hopper-Gemälde in einem absurden alltäglichen Moment eingefroren zu sein, aber das hielt nie lange an. Der Rückfall kam immer wieder, und das Krankenhaus wurde zum Hauptquartier im Krieg, mit meiner Mutter an der Front und meinem Vater, der immer länger arbeitete, um die Kosten zu decken und vor den Schmerzen zu fliehen.

Und wie passte ich in diese Gleichung?

Na ja, ich war im Haus meines Großvaters, der ein paar Straßen weiter wohnt. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich das dunkle Giebeldach vor mir, die Vogelnester im Baum vor dem Wohnzimmerfenster, dessen Blätter im Herbst über Nacht herunterfallen. Das weiß ich, weil ich so gerne auf den Ästen herumgeklettert bin und das Rascheln der Blätter geliebt habe. Aus einiger Entfernung sah Henry Tallon – so der Name, unter dem jeder im Viertel meinen Großvater kennt – mir schweigend zu, während er auf den Stufen der Veranda saß und Kaffee trank. Er ist kein redseliger Mensch, glaubt fest daran, dass »Ja« und »Nein« als Antworten ausreichen, und mag es nicht, wenn man Worte verschwendet. Er ist praktisch veranlagt, was meiner Generation gänzlich abhandengekommen ist, und kauft deshalb nur dann Schuhe, wenn seine alten kaputt sind, und in der Kürbiszeit fühlt er sich verpflichtet, alles anzunehmen, was ihm seine großzügigen Nachbarn anbieten. Also essen wir Kürbiscreme, Kürbiskuchen und Kürbiskekse, gefüllten Kürbisbraten, Kürbispfannkuchen mit Honig und sogar Kürbisspaghetti und trinken dazu Kürbisbier.

Aber wenn ich an Großvater denke, fällt mir auch wieder ein, wie er mich zum Eislaufen bringt oder mich zur Schulbushaltestelle begleitet. Und wie er mir meine erste Kamera schenkte oder mir das Fahrradfahren beibrachte. Das war ungefähr so:

»Muss ich meine Füße auf die Pedale stellen?«

»Ja.«

Und das habe ich gemacht. Ich schaffte es etwa einen Meter, bevor ich am Ende der Straße herunterfiel. Mein Großvater fasste mich am Ellbogen und half mir wieder auf die Beine.

»Habe ich es gut gemacht?«

»Nein.«

»Dann versuche ich es noch mal.«

»Ja.«

»Ist das die Bremse?«

»Ja.«

»Okay.«

Und mit ein paar weiteren Ja und Nein habe ich gelernt, mein Gleichgewicht zu kontrollieren. Seitdem fahre ich mit dem Fahrrad durch Ink Lake, sowohl im Winter als auch im Sommer. Das habe ich meinem Großvater zu verdanken, wie so viele andere Dinge auch. Es ist nicht so, dass meine Eltern das alles nicht interessierte, aber sie hatten immer Wichtigeres zu tun. Stellt euch vor, ihr müsstet entscheiden, ob ihr den Nachmittag mit eurer sterbenden Tochter verbringt, die gerade wegen einer neuen Komplikation intubiert wird, oder ob ihr eine Weile mit der anderen Rad fahrt. Das war bereits entschieden, bevor mein Name auf meiner Geburtsurkunde stand.

Also gewöhnte ich mich daran, im Schatten zu leben, hinter dem Vorhang.

Wenn man keinen Lärm macht, wenn man lernt, auf Zehenspitzen zu gehen, dann wird man irgendwann unsichtbar, selbst wenn man in den Spiegel schaut. »Wer bist du?«, habe ich mich manchmal mit dem Blick auf meine zweiundzwanzig Lebensjahre gefragt. Die Antwort ging mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich erst im Morgengrauen nach Hause kam und das Haus leer vorfand oder wenn Dad zwar da war, sich aber nicht einmal die Mühe machte, mit mir zu schimpfen. Ich war nie allein: Zwei Drinks zu viel und eine erstickende Einsamkeit begleiteten mich.

Wenn ich ins Bett fiel, umkreiste mich jene Gewissheit. Mein Name ist Grace Peterson, und ich wurde geboren … Ich suchte nach den Worten, die wie Libellen flatterten. Ich wurde geboren, um … Ich schrieb sie auf Zettel, suchte Reißzwecken und befestigte sie an der Wand, damit sie nicht entkommen konnten. … um meine Schwester zu retten. Und am Ende umarmte mich der Schlaf, als es auf der anderen Seite des Fensters hell wurde. Ich schlief friedlich. Weil meine Leere kleiner wurde, wenn ich mich daran erinnerte, dass ich das Mädchen war, dem es gelungen ist, ein Leben zu verändern, dem Schicksal zu trotzen und die Heldin der Geschichte zu sein.

In der Welt der Illusionen befand ich mich auf einer Bühne im Scheinwerferlicht, das Publikum applaudierte begeistert, und Lucy schaute mich mit einem strahlenden Lächeln an, während sie meine Hand ergriff; doch gerade als ihre Finger meine Fingerspitzen berührten, wurde die Fantasie zu einem Albtraum, und Lucy löste sich auf, als wäre sie aus Rauch: Violette Schwaden waberten, bis sie plötzlich verschwand.

Mein Name ist Grace Peterson, und ich wurde geboren, um meine Schwester zu retten.

Was geschieht also, wenn der Grund für deine Existenz unter der Erde landet und ein über hundert Kilo schwerer Grabstein aus grauem Granit darauf liegt?

Dann treibt man in der Strömung mitten auf dem Ozean. Es ist, als würde man schweben und gleichzeitig einen Rucksack voller Steine auf dem Rücken tragen. Dann verzerrt sich die Welt um einen herum wie im Sommer bei flirrender Hitze. Dann verliert die Angst den Kampf gegen die Vernunft. Alles kommt zum Stillstand.

Jetzt ist Lucy also tot.

Und ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

2 Lucys Spiel

Heute ist aus zwei Gründen ein besonderer Tag: Es ist vier Monate her, dass Lucy diese Welt verlassen hat, und Großvater wird achtundsiebzig Jahre alt.

Es ist fast ironisch, als ob sie sich jeweils auf einer Seite der Waage befänden und der Zufall sich einen Spaß daraus machte, mit ihnen zu spielen. Großvater hat vierundfünfzig Jahre länger gelebt als seine älteste Enkelin, obwohl ich weiß, dass er ihr gern all diese Jahre geschenkt hätte, wenn dies eine Dystopie wäre und wir mit der Zeit handeln könnten. Aber dann hätte es Lucy vielleicht nie gegeben.

Ich muss immer wieder daran denken, während Tayler mich küsst.

»Komm zurück auf die Erde, Grace. Woran denkst du?«

An den Zufall und den Tod, aber ich weiß, dass Tayler das nicht hören will. Um genau zu sein, will er sich und mich einfach nur entkleiden. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich weiterhin mit ihm treffe, und ich könnte auch nicht erklären, warum wir angefangen haben, miteinander zu schlafen. Aus Langeweile. Um dieses Gefühl der Einsamkeit, das mich nie verlässt, zu lindern. Um nicht mehr an Lucy zu denken. Denn der Grat zwischen Sex und Liebe ist schmal, und ich hoffe immer wieder, dass ich von der einen auf die andere Seite springen kann. Jede der oben genannten Optionen könnte zutreffen. Aber was macht das für einen Unterschied? Interessiert das jemanden?

»Ich denke darüber nach, wie sehr ich dich mag«, sage ich.

Tayler grinst zufrieden und drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus, bevor er sich herunterbeugt und seine Hände unter mein Shirt schiebt. Ich versuche, mich von seinen Berührungen mitreißen zu lassen, wenn er auf mir liegt, aber ich werde wieder von dem Wort abgelenkt, das mir schon seit Wochen durch den Kopf schwirrt. Traumtänzer bezeichnet einen Menschen, einen Träumer, der in einem Zustand der Unwirklichkeit lebt. Ich würde gern so sein und durch die Wattewolken hüpfen, ohne an irgendwas zu denken.

Ich starre an die Schlafzimmerdecke, während Tayler in mich eindringt. Das Gefühl ist nicht neu, wir sehen uns schon seit einiger Zeit immer mal wieder. In der Highschool war er drei Klassen über mir und ein typischer Bad Boy: Er fuhr Motorrad, dealte mit Drogen und hatte jeden Abend ein anderes Date. Acht Jahre später, mit sechsundzwanzig, ist er immer noch genauso. Ich habe noch nie ein interessantes Gespräch mit ihm geführt, und ich bezweifle, dass er wirklich etwas über mich weiß, abgesehen von der Größe meiner Brüste, aber uns verbindet etwas Wesentliches: Sowohl sein als auch mein Leben ist stehen geblieben. Und wir sind mitten im Nirgendwo gestrandet.

Er löst sich von mir, als er fertig ist. Ich bin noch nicht mal gekommen.

»Hör mal, Grace.«

»Was?«

»Nimmst du den Müll mit raus, wenn du gehst?«

»Du kannst mich mal.«

Aber ich ärgere mich nicht. Denn es ist unmöglich, sich über jemanden zu ärgern, der einem egal ist. Tayler versucht, mich zurückzuhalten, indem er mich umarmt. Also löse ich mich von ihm und ziehe mich eilig an. Er fragt, ob ich am nächsten Tag wiederkomme. Ich zeige ihm nur den Mittelfinger, obwohl wir beide wissen, dass wir wahrscheinlich in ein paar Tagen wieder aufeinandertreffen.

Mein Fahrrad ist an dem Laternenpfahl neben dem Haus angekettet, in dem Tayler mit zwei Freunden lebt. Ich steige auf und strample zügig durch die breiten, von Bäumen gesäumten Straßen in all ihrer frühlingshaften Pracht, obwohl mir der Herbst lieber ist, wenn goldgelbe und braune Blätter die Gehsteige bedecken. Das war schon immer so. Die Stadt ist zwar klein, aber man hat trotzdem das Gefühl, in einem Meer von Fremden zu leben. Außer natürlich in unserem Wohngebiet, wo jeder weiß, dass wir die Familie des toten Mädchens sind. Viele Nachbarn sind zur Beerdigung gekommen, und der Kühlschrank zu Hause, der normalerweise immer halb leer ist, wurde mit den mitgebrachten Speisen gefüllt, die schließlich verdarben. Ink Lake mag nur irgendeine verlorene Stadt mitten in Nebraska sein, zeichnet sich aber durch die Freundlichkeit der Menschen aus.

Aus der Vogelperspektive hat sie eine runde Form, wobei ein Ende in eine Abzweigung übergeht, sodass sie aussieht wie eine Schnecke. Im Zentrum gibt es Geschäfte, mehrere Cafés, Restaurants und Bars, kleine Unternehmen und eine Apotheke, die dank der Medikamente, die wir für Lucy bestellt haben, bis heute besteht. Es gibt auch ein Kino, aber es ist klein und so alt, dass man, wenn man sich auf einen der Sitze setzt, Gefahr läuft, nie wieder hochzukommen; ich möchte gar nicht wissen, warum sie so klebrig sind. Am Stadtrand befindet sich die verrufenste Gegend, wo die Leute in Wohnwagen leben, und mein Lieblings-Hamburgerladen: Die Spezialität des Hauses ist einfach göttlich.

Als ich in der Highschool war, haben die meisten meiner Klassenkameraden davon geträumt, in einen besseren Ort zu ziehen. Obwohl ich mein ganzes Leben lang Zeugin dieser Fantasie gewesen bin, habe ich das für mich nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Und ich habe Nebraska noch nie verlassen. Wegen Lucys Krankheit sind wir regelmäßig nach Omaha gefahren, bis sie an einen anderen Spezialisten im Krankenhaus von Lincoln überwiesen wurde, das etwas näher liegt. So konnte ich, wenn ich sie besuchen wollte, den Neun-Uhr-Bus nehmen und während der anderthalbstündigen Fahrt Musik hören, denn Autofahren macht mir Angst.

Wenn ich dann vor ihrem Bett stand, ergab meine Existenz wieder einen Sinn. Da war sie. Die unsichtbare Heldin. Die stille Retterin. Die Trägerin der unzerstörbaren Zellen.

»Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, zur Uni zu gehen, Grace?«, hat Lucy mich an einem regnerischen Frühlingsnachmittag gefragt. »Etwas zu studieren, für das man sich begeistert, und zwar an einem Ort, an dem man ganz von vorn anfangen kann, ohne dass jemand irgendetwas voraussetzt.«

»Ich glaube nicht, dass das so eine große Sache ist.«

»Du könntest es tun. Nach New York gehen, schicke Klamotten anziehen und vor einem schön dekorierten Schaufenster einen Hotdog essen. Und wer weiß? Vielleicht würdest du eine berühmte Eiskunstläuferin werden, und ich könnte dich im Sommer besuchen kommen und im Gästezimmer deiner hübschen, minimalistischen Wohnung übernachten.«

»Du siehst zu viele Filme, Lucy.«

»Träumen kostet nichts«, entgegnete sie.

Ich griff nach dem Karton mit dem Spiel, der neben dem Bett stand, öffnete ihn und verteilte die Karten. Der Nachmittag verging mit Würfeln, bis Lucy einschlief und eine der Krankenschwestern kam, um ihr eine weitere Dosis Medikamente zu geben. Danach war die Stille unsere einzige Gesellschaft. Mom hatte meinen Besuch genutzt, um nach Hause zu fahren und zu duschen, aber es würde nicht lange dauern, bis sie wieder da war. Ich betrachtete das Gesicht meiner Schwester und versuchte, einen Blick auf den Teil von ihr zu werfen, der nicht von der Krankheit eingenommen worden war. Wie hätte ihr Leben wohl ausgesehen, wenn sie gesund gewesen wäre? Oder um die Frage zu erweitern: Wie das Leben der Familie Peterson wohl ausgesehen hätte?

Als ich als Kind einmal den Stamm des Baumes betrachtete, der auf dem Grundstück von Großvaters Haus steht, wurde mir klar, dass er das perfekte Sinnbild für die Existenz ist. Erstens braucht er Wasser und Nährstoffe, um zu überleben. Zweitens: Der anfängliche Weg ist gerade, aber früher oder später teilt er sich, es entstehen mehrere Abzweigungen, und man muss Entscheidungen treffen. Das Leben ist nicht mehr linear, sondern gleicht eher einem Labyrinth. Jedes Mal, wenn man einen Weg einschlägt, lässt man andere zurück, und das ist beängstigend.

Also, ja, in einem anderen Leben habe ich Freundinnen und spreche mit ihnen darüber, von Ink Lake wegzuziehen. Ich verwirkliche meine Träume, habe Erfolg, lerne interessante Menschen kennen, verliebe mich, breche ein paar Herzen und esse Eis mit meinen Mitbewohnerinnen. Ich reise nach Europa, feiere das Jahresende, wie es sich gehört, Weinen macht mich stärker, ich probiere exotische Gerichte und trinke Weißwein aus Kristallgläsern. In den Ferien besuche ich meine Eltern zu Hause und umarme meine Schwester, sobald ich zur Tür hereinkomme. Sie ist eine Schwester mit geröteten Wangen, glänzenden Augen, seidigem Haar und intakten Zellen. Sie stellt mich ihrem Freund vor, und nach dem Familienessen sitzen wir bis spät in der Nacht auf dem Dach des Hauses und lachen und reden, bis meine Mutter uns durchs Dachfenster bittet, leiser zu sein.

Es ist so lächerlich perfekt, dass mir übel wird, während ich immer kräftiger in die Pedale trete und meine Hände den Lenker umklammern, als wollte ich ihn erwürgen.

Spulen wir noch mal zurück.

Der zurückgelegte Weg war ein anderer. Deshalb sitze ich in einer Kleinstadt fest, da ich nie auf den Gedanken gekommen bin wegzugehen. Der Stillstand hat etwas Anziehendes, was schwer zu erklären ist. Stellt euch einen dunklen Brunnen vor: Das Wasser bewegt sich nicht, es fließt nicht, alles ist still, und nichts regt sich. Und wenn Sie sich die Nase zuhalten, werden Sie den fauligen Geruch gar nicht bemerken. Hier bin ich also, verankert in einer grauen Gegenwart, in der das Wort Traumtänzer herumschwirrt. Ich bin seit Jahren nicht mehr Schlittschuh gelaufen, ich bezweifle, dass ich auch nur eine richtige Freundin habe, ich glaube, mein Vater hat Geheimnisse, und in einer Minute werde ich links abbiegen, um zum Haus meines Großvaters zu gelangen, seinen Geburtstag feiern und so tun, als ob das Leben weiterginge und speziell für mich noch einen Sinn hätte.

Der Tisch im Wohnzimmer ist bereits gedeckt, und es duftet nach Zitronentarte, Großvaters Lieblingskuchen. Es erscheint mir wie ein Wunder, dass meine Mutter sich die Mühe gemacht hat, ihn zu backen, wohl, weil es ein besonderer Anlass ist. Als wir um das gefüllte Huhn herumsitzen, fällt mir auf, dass das Besteck gerade auf den blauen Servietten liegt. In der Theorie scheint alles perfekt zu sein, aber die Stille im Raum ist erdrückend. Mom ist mit dem Schneiden und Servieren des Essens beschäftigt, Dad scheint sich auf einen losen Faden zu konzentrieren, der von der Tischdecke herunterhängt, und Großvater ist so ernst und ruhig wie immer.

Ich würde gern schreien. Oder anfangen zu tanzen. Oder etwas völlig Unerwartetes tun, wie zum Beispiel einen Handstand an der Wand machen oder die Bewegungen eines verärgerten Orang-Utans imitieren.

»Es ist köstlich, Rosie«, sagt mein Vater, »genau richtig.«

»Vielen Dank, Jacob.« Sie macht sich nicht einmal die Mühe, ihn anzuschauen. Sie könnten zwei Schauspieler sein, die sich gerade erst kennengelernt haben und ein paar Zeilen aus dem Drehbuch vorlesen, damit die Filmcrew entscheiden kann, ob sie zusammenpassen.

Das Ergebnis: Es gibt keins.

Während des Essens führen wir belanglose Gespräche, und die Pausen zwischen den Sätzen sind zu lang, so als falle es uns schwer, die Worte auszusprechen. Niemand fragt mich, wo ich die Nacht verbracht habe; wahrscheinlich haben sie meine Abwesenheit nicht einmal bemerkt. Der Einzige, der vor Jahren versucht hat, mir Grenzen zu setzen, war mein Großvater, was ihm nicht mehr möglich ist, seit ich volljährig wurde.

»Ich hole den Kuchen.« Meine Mutter steht auf.

Auch ich erhebe mich und räume mit den anderen den Tisch ab. Wir sehen aus wie vier Gespenster, als wir vom Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück gehen. Minuten später stellt meine Mutter den Kuchen mit seiner gelblichen Zitronenglasur in die Mitte des Tisches und zündet die Kerzen an. Denkt in diesem Moment noch jemand daran, dass Lucy niemals dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre alt werden wird? Sie wird in unserer Erinnerung ewig jung bleiben, und ich frage mich, ob ich, wenn ich in Großvaters Alter bin, es seltsam finden werde, an meine ältere Schwester als das blonde Mädchen zu denken, das ein paar Tage vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag starb.

Er pustet kräftig die Kerzen aus.

»Hast du dir etwas gewünscht, Großvater?«

»Ja, das habe ich.« Er nimmt den Teller, den seine Tochter ihm anreicht, und spießt mit der Gabel ein Stück des weichen Kuchens auf. Dann führt er sie zum Mund und fügt mit nachdenklicher Miene hinzu: »Zu diesem Wunsch muss ich euch allerdings noch etwas sagen. Ich gehe für eine Weile nach Florida.«

»Was?« Mom sieht ihn ungläubig an.

Es mag trivial erscheinen, aber wenn ich zurückdenke, kann ich mich nicht daran erinnern, dass Großvater jemals eine Nacht außerhalb seines Hauses verbracht hat. Keine Ahnung, was er in Florida verloren hat.

»Ein Freund hat mich eingeladen, einige Zeit dort zu verbringen. Ich glaube, ich kann einen Tapetenwechsel gebrauchen. Außerdem gehen wir angeln. Ich wollte schon immer angeln lernen.«

»Aber welcher Freund, Dad?«

»McGregor, wir waren zusammen in der Armee.«

»Nach allem, was passiert ist, scheint mir das nicht der beste Zeitpunkt für so ein Abenteuer zu sein. Der Arzt hat gesagt, dass dein Herz schwach ist und dein Cholesterinspiegel zu hoch …«

Großvater schiebt sich die Gabel mit dem Kuchen in den Mund und schluckt so heftig, dass man meinen könnte, er hätte gerade einen Mundvoll Schrauben gegessen. Er atmet tief durch, und dann sagt er den längsten Satz, den ich je von ihm gehört habe:

»Rosie, mein Kind, wenn nicht jetzt, wann dann? Schau mich an. Ich bin fast achtzig Jahre alt, und ich habe seit Jahrzehnten nichts Interessantes mehr erlebt. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, den Verlust deiner Mutter zu beweinen, und dann hat mir Lucys Krankheit zu schaffen gemacht. Ich habe versucht, eine starke Stütze für diese Familie zu sein, aber mach endlich die Augen auf: Sie ist von uns gegangen, und der beste Weg, ihr Andenken zu ehren, ist weiterzuleben.«

Großvater schluckt einen weiteren Bissen hinunter. Die Augen meiner Mutter füllen sich mit Tränen, und sie steht abrupt vom Tisch auf. Dad entschuldigt sich kurz darauf mit einem fast unhörbaren Murmeln und folgt ihr. Undeutlich sind ihre Stimmen zu hören, und dann fällt eine Tür zu. Das Geburtstagskind und ich verfallen in einträchtiges Schweigen.

»Wie es aussieht, sind wir jetzt allein.«

»Willst du dein Stück Kuchen nicht essen?«

»Doch«, antworte ich. »Und übrigens halte ich das mit Florida für eine gute Idee, auch wenn ich mir dich nicht beim Angeln vorstellen kann. Du weißt doch, dass die Würmer noch lebendig sind, wenn du sie auf den Haken aufspießt? Das habe ich in einem Dokumentarfilm gesehen.«

Großvater lächelt leicht und seufzt dann. Er sieht müde aus, während er schweigend zusieht, wie ich meinen Kuchen esse. Ich halte mich für eine brillante emotionale Chirurgin und nehme oft ein imaginäres Skalpell zur Hand, um die Herzen der Menschen um mich herum zu öffnen und nachzusehen, was in ihnen steckt, aber Großvater Henry ist eine harte Nuss. Vielleicht hat er ein Herz aus Stein, und ich brauche einen verdammten Bohrer, um dem auf den Grund zu gehen. Es ist nicht leicht zu erkennen, was er fühlt, wenn sich seine Augen verdunkeln und er abwesend ist, meilenweit weg. Er hat ein hartes Leben hinter sich, und seine Seele ist spröde geworden, während all der Zeit, die er in der Werkstatt verbracht hat, bevor er sich zur Ruhe gesetzt hat, um Möbel zu bauen oder hölzerne Figuren zu schnitzen. An dem Tag, als Lucy uns verlassen hat, war es, als wäre eine schwere Steinplatte auf ihn gefallen. Mein Großvater war immer die Insel, zu der man rudern konnte, wenn man in die Strömung geriet, aber plötzlich war er alt und noch schweigsamer als sonst.

Bis heute.

Wir leisten uns gegenseitig Gesellschaft, und nach einer Weile merke ich, dass er nervös ist. Das ist ungewöhnlich für ihn, weil er so zurückhaltend ist, aber er tippt mit den Fingern auf den Tisch und wendet den Blick ab, als ich ihm in die Augen sehen will.

»Was ist los? Machst du dir Sorgen wegen der Reise?«

»Nein.«

»Du wusstest, dass Mom es so aufnehmen würde«, sage ich, denn es ist kein Geheimnis, dass sie die letzten vier Monate im Bett oder vor dem Fernseher verbracht hat, weil sie nicht weiß, was sie nach dem Tod ihrer Tochter tun soll; sie kann sich nicht vorstellen, dass die Welt sich ohne ihre Trauer weiterdreht. »Aber du warst all die Jahre für uns alle da, und ich denke, es ist an der Zeit, dass du das tust, was du möchtest.«

»Grace …«

»Du solltest dir eine Badehose kaufen.«

»Ich muss dir etwas geben.«

»Du denkst doch nicht daran, das Erbe aufzuteilen, bevor du nach Florida gehst, oder? Denn ich weiß, dass die letzten Wochen hart waren, aber ich werde bald einen Job finden, der länger als ein paar Tage dauert …«

»Es ist von Lucy«, unterbricht er mich mit heiserer Stimme.

Ich erstarre, und als er den Raum verlässt, folge ich ihm mit dem Blick. Ein paar Minuten später kommt er mit einer Schachtel zurück, die in weiches goldfarbenes Papier verpackt und mit einer pompösen Schleife umwickelt ist. Darunter steckt ein violetter Umschlag, auf dem etwas geschrieben steht. Aber ich komme nicht dazu, es zu lesen, weil Großvater mir einen anderen violetten Umschlag reicht, auf dem ich meinen Namen erkennen kann, und bevor mir bewusst wird, was das bedeutet, reiße ich das Papier schon mit zitternden Händen und rasendem Herzen auf.

»Ich lasse dich allein«, sagt Großvater.

Mein Mund ist so trocken, dass ich nicht antworten kann, als er hinausgeht. Und dort, neben den Resten des Zitronenkuchens und dem wächsernen Duft der Geburtstagskerzen, begegne ich meiner Schwester. Sie ist es nicht. Zumindest nicht leibhaftig. Aber es besteht kein Zweifel, dass die lang gezogene Handschrift ihre ist, das tut weh, und ich muss mich anstrengen, das Geschriebene zu entziffern, weil die Tränen meinen Blick verschleiern.

Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Ich habe alles versucht, vom typischen »Wenn Du das hier liest, bin ich tot« bis hin zu dem Versuch, witzig oder dämlich tiefgründig zu sein, aber alles klingt gezwungen. Du musst dich also hiermit begnügen, kleine Grace.

Ich habe Dich immer gern so genannt. Ich glaube, wegen dieser Fantasie, in der ich die große Schwester spiele und Du mich um Rat fragst, wenn es um Jungs, Freundschaften, die Schule oder andere Sorgen geht. Kannst Du Dir das vorstellen? Ich hätte Sätze sagen können wie: »Du kannst meinen Eyeliner benutzen, wenn Du fünfzehn bist« oder so etwas in der Art, aber wir wissen beide, dass das nie passiert ist. In der Praxis warst Du mir immer einen Schritt voraus, unabhängig vom Alter.

Deshalb werde ich zumindest bei dem liebevollen Kosenamen bleiben. Und ich nehme an, das erklärt auch, warum Du diesen Brief in den Händen hältst. Ich bin bereit, mich von der Welt zu verabschieden, aber nicht von Dir. Es gibt noch zu viele Dinge, die ich gern zu Dir gesagt oder mit Dir erlebt hätte. Ich wünschte, wir könnten weiter zusammen aufwachsen, aber ich bin nicht so naiv, nicht zu erkennen, dass das Ende nah ist. Das Seltsame ist, dass, je weniger Zeit mir bleibt, die Tage in diesem Bett mir länger und eintöniger erscheinen. Und ich denke sehr viel nach. Ich denke zu viel nach, weil ich nichts anderes zu tun habe, als jedes Mal mühelos zu gewinnen, wenn jemand beschließt, mir Gesellschaft zu leisten und ein Kartenspiel in die Hand nimmt oder ein Brettspiel öffnet. Dabei hatte ich eines Tages eine hervorragende Idee: Warum sollte ich nicht mein eigenes Spiel erfinden? Eines, das einzigartig und anders ist und in dem ich irgendwie weiterleben kann, wenn ich nicht mehr da bin.

Also habe ich genau das getan. Ich habe es für Dich gemacht.

Es heißt The Map of Longing. Die Karte der Sehnsüchte.

Ich hatte das große Glück, auf Großvaters Hilfe zählen zu können. Wenn er Dir das Paket gegeben hat, bedeutet dies, dass er denkt, es ist an der Zeit, dann macht er endlich die Reise nach Florida, die er seit Jahren aufgeschoben hat. Bitte gib ihm einen Kuss von mir und sag ihm, dass ich ihn liebe und hoffe, er genießt jeden Moment.

Kleine Grace, vor langer Zeit hast Du mich einmal gerettet. Jetzt bin ich an der Reihe, etwas für Dich zu tun. Und gepfuscht wird nicht, Du weißt schon. Du musst jede einzelne Anweisung im Spiel befolgen.

Und hör auf Will.

In Liebe,

Lucy

Ich blinzle einige Male. Noch immer stehe ich unter Schock. Ich fange noch mal von vorn an und lese langsamer, lese bewusst jedes Wort und verweile bei den Punkten und Kommas. Aber als ich zum Ende komme, bin ich immer noch genauso verwirrt.

Denn wer, zum Teufel, ist Will?

3 Will Tucker

Die Situation ist folgende: Ich sitze vor einer Schachtel, in der sich theoretisch die Karte der Sehnsüchte befindet, und kann sie nicht öffnen. Das Gleiche gilt für den violetten Umschlag, den ich in der Hand halte und immer wieder von allen Seiten betrachte, während ich mir Superkräfte wünsche, damit ich durch das Material hindurchsehen und den Brief darin lesen kann.

In Großbuchstaben steht dort: WILLTUCKER.

Und ein Stück weiter unten eine Adresse. Den Straßennamen habe ich schon mal gehört, ich weiß, dass sie im Zentrum von Ink Lake liegt und ich mit dem Fahrrad in zwanzig Minuten dort wäre, wenn ich mich entschließen würde, aufzustehen und loszufahren, aber das scheint unmöglich.

Ich bin wie gelähmt.

Ich habe das seltsame Gefühl, dass Lucy gleichzeitig hier und nicht hier ist. Es ist beunruhigend, vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr ich in den letzten Monaten versucht habe, nicht an sie zu denken, mich nicht an sie zu erinnern, damit ich nicht jeden Tag weine.

»Ich verstehe das nicht«, wiederhole ich noch einmal.

»Vielleicht geht es genau darum, Grace.«

»Aber warum hat sie mir nichts gesagt? Wir haben uns alles erzählt. Oder fast alles. Ich meine, sie hat mir alles erzählt.«

»Aha, du könntest also Geheimnisse haben, aber Lucy nicht.« Großvater zieht eine Augenbraue hoch und seufzt dann. »Ich geh mal Kaffee kochen.«

»Für mich einen doppelten, bitte.«

Ich weiß, was er meinte, bevor er das Zimmer verlassen hat, aber er versteht natürlich nicht, dass es mir manchmal zu grausam erschien, Lucy zu erzählen, dass ich zu einer Party gehe oder einen Jungen treffe, also hatte ich meine Geheimnisse, ja. Ich habe es für sie getan. Für sie und für mich, denn ich habe die Schuldgefühle gehasst, die ich empfand, wenn ich ging und sie mit all ihren Zellen, ihren und meinen, im Krankenhaus bleiben musste, wo sie mit einer Armee an Kortikosteroiden einen zermürbenden Kampf führte, die ihr die olivgrüne Hautfarbe, die Schwellungen im Gesicht, das Jucken und die Schuppenbildung auf der Haut bescherten.

Aber ich dachte, ich wüsste alles über Lucy.

Denn alles war nicht wirklich viel.

In den Sommerferien traf sie sich mit ein paar Mädchen, die sie in der Highschool kennengelernt hatte, wenn sie in die Stadt zurückkamen. Und ab und zu besuchte sie ihre Freundin Marge in dem Café, in dem sie arbeitete. Der letzte Junge, mit dem sie etwas hatte, hieß Tom, und das war vor mehr als drei Jahren. Obwohl ich mir da jetzt natürlich nicht mehr sicher bin. Denn in meinen Händen halte ich immer noch den Umschlag mit dem Namen dieses Fremden.

Will.

Will Tucker.

Ich spreche ihn laut aus, in der Hoffnung, dass mir dabei etwas einfällt, aber, nein, ich bin mir sicher, diesen Namen habe ich noch nie gehört.

Ich möchte den Umschlag so gern öffnen, ich kann mich kaum noch zurückhalten. Glücklicherweise taucht Großvater mit dem Kaffee auf, denn sonst hätte ich wohl Lucys Regeln gebrochen, bevor wir überhaupt mit dem Spiel angefangen haben.

»Ich verstehe es immer noch nicht«, beharre ich.

Großvater stößt einen langen Seufzer aus.

»Grace, du musst nur die Regeln befolgen.«

»Du weißt, dass ich darin nicht gut bin.« Ich verbrenne mir die Zunge am Kaffee, aber das ist mir egal. Ich bin wie betäubt. »Wann hast du von diesem Irrsinn erfahren?«

»Ein paar Monate vor …«

»Ein paar Monate vor ihrem Tod«, wäre der vollständige Satz, aber er muss ihn nicht vollenden. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie sie es hinter meinem Rücken planen, vor allem, was Großvater angeht. Obwohl ich die Entscheidung meiner Schwester, ihn zu fragen, verstehe und auch, dass er natürlich zugestimmt hat. Wie hätte er seiner geliebten Enkelin den letzten Wunsch verwehren können?

»Kennst du diesen Will wirklich nicht?«

»Das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortet er, kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Wirst du zu ihm gehen?«

Ich nicke, immer noch in Gedanken, und stecke den Umschlag zurück unter das pompöse Geschenkband. Dann sehe ich auf meinem Handy nach der Uhrzeit: Es ist fünf Uhr nachmittags. Bevor ich diese geheimnisvolle Adresse aufsuche, muss ich noch zu Hause vorbeigehen, um nach meiner Mutter zu sehen und zu duschen, also küsse ich Großvater auf die Wange und verspreche, ihn auf dem Laufenden zu halten und am Abend vor seiner Reise mit ihm zu essen.

Schon als Kind ist mir aufgefallen, dass jedes Haus einen besonderen, unverwechselbaren Geruch hat. Einen Geruch, der über einen Raumduft oder den Weichspüler der Bewohner hinausgeht. Schon bevor ich das Haus von Olivia – meiner besten Freundin –, unserer Nachbarn oder das meines Großvaters betrat, nahm ich den Geruch wahr. Deshalb ist es so merkwürdig, dass unser Haus nach gar nichts riecht. Es ist aseptisch wie ein Museum oder das Wartezimmer eines Anwalts. Ich hatte immer das Gefühl, dass jeder einfach hineingehen und es in weniger als fünf Minuten in Besitz nehmen könnte, denn trotz der Fotos im Wohnzimmer war es nie wirklich ein gemütliches Zuhause. Ich weiß nicht, ob es an der Gleichgültigkeit liegt, die zwischen meinen Eltern herrscht, an der ständigen Krankenhausatmosphäre oder daran, dass wir besondere Ereignisse wie Weihnachten oder Geburtstage immer bei Großvater gefeiert haben.

Als ich das Haus betrete, empfängt mich lediglich Stille.

Der Autoschlüssel meines Vaters liegt nicht im Eingangsbereich, also ist er wohl weggefahren. Mom sitzt auf dem Sofa, starrt auf den Fernseher und sieht aus wie ein verlassenes Kind. Ich stehe in der Tür und schaue sie einige Sekunden lang zweifelnd an, beschließe dann, dass es das Beste ist, ihr nichts von der Karte der Sehnsüchte zu erzählen, zumindest im Moment. Ich weiß nicht, wie sie es aufnehmen würde, und bestimmt würde sie, trotz Lucys Warnungen, auf der verzweifelten Suche nach einem letzten Schimmer der Tochter, die sie verloren hat, die Schachtel sofort öffnen.

Ich gehe nach oben in mein Zimmer, um saubere Kleidung aus dem Schrank zu nehmen. Das Bett ist seit zwei Tagen nicht mehr gemacht worden, der Schreibtisch, den ich nicht mehr zum Lernen benutze, ist voll mit nutzlosem Zeug, und an der Wand hängt ein Schwarz-Weiß-Foto von einem Arm mit Gänsehaut und aufgerichteten Haaren gleich neben einem Artikel über Tornados und Gewitter, den ich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten habe, einer Postkarte von Gustav Klimts Der Kuss und ein paar Zetteln mit einzelnen Wörtern darauf. Neben WARUM? fällt mir der mit Traumtänzer ins Auge. Ich reiße ihn ab und zerknülle ihn zwischen den Fingern zu einem kleinen Ball, den ich in den Papierkorb werfe.

Während ich in der Dusche den Strahl mit dem warmen Wasser auf mein Gesicht richte, denke ich an Lucys Brief, und ich unterdrücke den Drang zu weinen, als ich mich an ihre sanfte, ruhige Stimme erinnere, mit der sie mich kleine Grace nannte. Auch mir hat es gefallen, wenn sie es tat. Sehr gut sogar. Dann verlasse ich die Duschkabine, entwirre mir grob das Haar und ignoriere das blasse dunkelhaarige Mädchen im Spiegel. Ein Geheimnis: Manchmal mag ich sie nicht. Ich atme tief durch. Egal, wie sie lauten, ich werde mich an Lucys Regeln halten. Schließlich habe ich nichts Besseres zu tun. Wortwörtlich. Ich bin seit Wochen auf der Suche nach einem Job, nachdem ich bei PizzaK entlassen wurde, und die Vorstellung, etwas zu finden, was mir wirklich gefällt, rückt in immer weitere Ferne.

Ich ziehe eine schwarze Jeans, Turnschuhe und ein Sweatshirt an.

Als ich gerade mit dem goldenen Päckchen in meinem Rucksack das Haus verlassen will, tritt meine Mutter mir im Flur entgegen und lächelt mich lustlos an.

»Wohin gehst du? Triffst du dich mit Olivia?«

»Ja. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.«

»Grüß sie von mir.«

Ich steige auf mein Fahrrad und fahre in Richtung Stadtzentrum. Es ist jetzt fast acht Monate her, dass Olivia beschlossen hat, nicht mehr mit mir zu sprechen, und meine Mutter hat nicht einmal bemerkt, dass sie nicht mehr zu uns nach Hause kommt. Besser so. Dann muss ich sie nicht anlügen, wenn sie mich fragt, was zwischen uns passiert ist.

Ich fahre zu der Straße, die auf dem Umschlag steht, und kette das Fahrrad an einen nahe gelegenen Laternenpfahl. Die meisten Geschäfte in dieser Gegend haben bereits geschlossen. Ich suche nach der Hausnummer und stelle, als ich sie finde und vor einer schwarzen Tür stehe, fest, dass es sich nicht um ein Privathaus, sondern um einen Pub namens Zinrock handelt, der gerade geöffnet hat. Ich gehe hinein. Der Barkeeper ist ein Mann in den Dreißigern mit stark tätowierten Armen. Will? Vielleicht. Ich habe ihn noch nie gesehen, das steht fest. Er hebt den Blick, als ich mich der Theke nähere, und zieht die Augenbrauen hoch. Wahrscheinlich kommen die üblichen Gäste erst nach Einbruch der Dunkelheit, und er wundert sich über mein zögerliches Auftreten, während ich ihn und die Umgebung mustere. An dem Ort ist nichts Besonderes: ein typisches Lokal, in dem junge Leute den Tag mit ein paar Bierchen ausklingen lassen.

»Will Tucker?«

»Wer will das wissen?« Der Mann sieht mich von oben bis unten an. »Ich hätte nicht gedacht, dass Will mit anderen Menschen zu tun hat. Was für eine unerwartete Überraschung.«

Er lacht über seinen eigenen Witz, obwohl ich ihn offensichtlich nicht verstanden habe.

»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann? Ich muss mit ihm reden.«

Der Mann wendet den Blick von mir ab und schaut in eine andere Richtung.

»Da ist er«, sagt er und an den gerade Hereingekommenen gewandt: »Du bist schon wieder zu spät.«

Die Antwort ist nicht »Tut mir leid« oder »Kommt nicht wieder vor«, sondern eine Art mürrisches Brummen. Ich drehe mich um und erblicke einen völlig Fremden. Wenn ich ihn beschreiben sollte, wie normale Menschen es tun, würde ich sagen: dunkles Haar, strenge Gesichtszüge, zu groß für meinen Geschmack, dunkle Schatten unter auffallend grünen Augen, ein finsterer Blick, angespannte Schultern. Er trägt eine schwarze Jacke, die mich an die eines College-Footballstars erinnert. Er sieht gut aus, aber auf eine kühle Art, wie die leere Schale eines hübschen bunten Ostereis.

Aber wenn ich sagen sollte, woran ich bei seinem Anblick denken muss, wäre das: Maiskörner in einer Bratpfanne, die sich in Popcorn verwandeln, ein bläulicher Schmetterling in den letzten Zügen seines Lebens, kühles Wasser, das einen Berghang hinunterfließt, mintfarbene Polohemden, Zirruswolken. Und das Wichtigste: Ich kann fast seine violette, melancholische Aura hinter ihm sehen.

Er geht vorbei, als ob ich unsichtbar wäre.

»Viel Verkehr«, sagt er.

»Komm schon, Will.« Die Tätowierungen scheinen lebendig zu werden, als der Mann nach oben greift und einige Flaschen ins Regal stellt. »Du hast Besuch.«

Erst da sieht er mich an.

Und er wirkt so verblüfft, als hätte sein Kollege ihm gerade erzählt, dass ein UFO vor seiner Haustür gelandet ist.

»Wer, zum Teufel, bist du?«

Was für ein sympathisches Kerlchen.

Ich atme einmal tief durch. Oder nehme meinen ganzen Mut zusammen. Was aufs Gleiche herauskommt.

»Mein Name ist Grace. Lucy Peterson schickt mich.«

»Lucy …« Unruhig fährt er sich mit der Hand durchs Haar.

»Wie geht es ihr?«

Er weiß es also noch nicht.

Wer konnte meiner Schwester so wichtig sein, dass sie ihn in ein Spiel einbezieht, obwohl sie offensichtlich nicht oft mit ihm gesprochen hat?

Ich suche nach den richtigen Worten, um es ihm möglichst schonend beizubringen, aber warum sollte ich ihm etwas vormachen? Es ist ein aussichtsloser Versuch.

»Sie ist vor vier Monaten gestorben.«

Will blinzelt, erst ungläubig, dann traurig. Er schluckt und spannt, den Blick von mir abgewendet, den Kiefer an.

»Scheiße«, murmelt er.

Dann geht er nach draußen.

Das Klirren der Gläser, die der Mann mit den Tattoos eingeräumt hat, verstummt, und es wird still. Er wirft sich das Tuch über die Schulter und sieht mich misstrauisch an.

»Was hast du gesagt, wer bist du?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Hey, warten Sie …«

Aber ich höre nicht auf ihn. Schließlich ist das eine Sache zwischen Will und mir. Ich öffne schwungvoll die Tür und trete hinaus. Beißende Kälte. Der Kerl mit den grünen Augen ist nirgendwo zu sehen. Er ist verschwunden. Ich gehe mit der Schachtel in der Hand die Straße entlang und komme an einigen Passanten vorbei: einem Mann mit einem Blumenstrauß, einer Frau mit einem kurzbeinigen Hund, ein paar Jugendlichen. Ich bin kurz davor, aufzugeben, als ich ihn beim Überqueren einer Ampel in einer Sackgasse auf den Stufen eines Reihenhauses sitzen sehe.

Er weint nicht. Er starrt nur auf die Wand vor ihm. Für einen Moment erinnert er mich an eine dieser Steinbüsten aus dem Unterricht in Kunstgeschichte an der Highschool. Auch sein Haar ist an den Schläfen und im Nacken leicht gewellt. Und er wirkt wie aus Marmor, Granit oder einem anderen harten Material.

»Was ist los mit dir?« Ich trete genervt auf ihn zu, und er hebt mit erstaunlicher Langsamkeit den Blick. »Ich habe Besseres zu tun, als dir hinterherzurennen.« Das ist natürlich eine Lüge, aber man hat ja seinen Stolz.

Er macht sich nicht einmal die Mühe, zu antworten. Nach einem tiefen Seufzer steht er auf. Ich muss nach oben schauen, um ihm in die Augen sehen zu können.

»Hier.« Ich drücke den Umschlag gegen seine Brust.

»Was ist das?«

»Ein Brief.«

»Das ist offensichtlich.«

»Ein Brief von Lucy.«

»Für mich?«

»Für dich, ja.«

Ich weiß nicht, ob er immer noch unter Schock steht oder nicht sehr helle ist, und werde ungeduldig. Plötzlich öffnet er den Umschlag und zieht ein einzelnes Blatt Papier hervor. Ich schaue auf mein Handy, um ihm ein wenig Privatsphäre zu geben, obwohl ich ihm den Brief am liebsten entreißen möchte, um ihn zu lesen.

Er fährt sich mit der Hand durchs Haar.

Dann faltet er das Blatt vorsichtig in der Mitte und steckt es zurück in den Umschlag. Ich versuche, mich zurückzuhalten, aber als er nicht reagiert, frage ich:

»Und?«

Endlich sieht er mich an.

Seine Augen haben sich verändert. Ist es möglich, dass er gleichzeitig verwirrt und gelassen aussieht? Wie jemand, der gerade eine Entscheidung getroffen hat, aber noch mit sich ringt.

»Grace, richtig? Gib mir deine Telefonnummer«, verlangt er, und ich hätte beinah gescherzt, dass er mir zuerst einen Drink spendieren sollte. Doch in Anbetracht der Situation unterdrücke ich meinen Sarkasmus und diktiere ihm die Nummer.

»Was machst du am Donnerstag?«

»Nichts.«

Ich habe eigentlich nie etwas Interessantes vor, außer mich mit Tayler zu treffen, mir einen Job zu suchen oder auf eine Party zu gehen, wo ich mich immer so fehl am Platz fühle wie eine Wespe in einem Bienenstock.

»Ich schicke dir eine SMS, damit du mir deine Adresse senden kannst. Um vier Uhr am Nachmittag hole ich dich ab. Die Schachtel ist übrigens für mich.«

Ohne zu zögern, reißt er sie mir aus der Hand, und ein seltsames Gefühl schnürt mir die Kehle zu, als hätte er mir gerade einen Teil von Lucy weggenommen, das Einzige, was mir von ihr geblieben ist.

»Aber … Warte …« Mein Mund ist trocken. »Was soll das Ganze? Könntest du mir wenigstens sagen, was in dem Brief steht? Ich weiß nicht mal, wie du und Lucy euch kennengelernt habt …«

»Es tut mir leid, ich muss zurück an die Arbeit.«

Und einfach so geht er im Eiltempo davon. Er schaut nicht mal nach links und rechts, bevor er die Straße überquert. Ich starre ihm hinterher, bis er zusammen mit der Aura der Melancholie, die ihn umgibt, verschwindet. In meinem Kopf hat sie die Farbe von Glyzinien. Und dieser Gedanke, die Vorstellung der Blumen, die herunterregnen, erschüttert mich.

4 Tohuwabohu

Tohuwabohu.

Ich liege im Bett und denke über das Wort nach, das ich gestern auf einen Zettel geschrieben habe. Ich weiß nicht mehr genau, wann es mir aufgefallen ist, aber es hat mir gefallen. Die Begriffserklärung lautet: Tohuwabohu ist ein Lehnwort aus dem Hebräischen. Es bezeichnet ein heilloses Durcheinander und wird modernisiert mit Chaos übersetzt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es meine Situation gut beschreibt. Und es ist anstrengend, in diesem Durcheinander einen einigermaßen klaren Kopf zu behalten.

Es gibt eine Stimme in mir, die mir manchmal sinnloses Zeug zuruft. »Achte darauf, genug Schlaf zu bekommen, Grace.« »Halte durch.« »Trink Wasser.« »Mach etwas aus deinem Leben.« »Iss mehr Gemüse.« »Hör auf, dich wie ein pubertärer Teenager zu verhalten.«

Und es gibt noch eine Stimme. Die mit einem tieferen Ton spricht: »Was soll’s? Welchen Sinn macht es, morgens früh aufzustehen, sich einen Job zu suchen, zu lachen, zu tanzen und zu träumen, wenn wir alle irgendwann sowieso sterben werden?«

Tatsächlich habe ich bei beiden Stimmen nicht den Eindruck, dass sie mir gehören.

Die Stimme, die wirklich zu mir passt, schlummert schon seit Langem. Ich hatte schon immer das unangenehme Gefühl, dass ich, wenn ich laut aussprechen, wenn ich wirklich sagen würde, was ich denke, damit nicht nur den Verdacht der Leute bestätigen würde, die mich für seltsam halten, sondern dass sie mich trotzdem nicht verstehen würden.

Und gibt es eine einsamere Einsamkeit, als sich völlig unverstanden zu fühlen?

Ich öffne die Augen.

Ich starre an die weiße Decke.

Die letzten vier Tage habe ich damit verbracht, über Will Tucker nachzudenken. Ich drehe mich um und nehme ein Stück Papier, auf das ich Was wird er wohl tun? schreibe und es dann an die Wand hefte. Das ist die Frage, die mich quält. Ich habe mir vorgestellt, wie er den Kühlschrank öffnet, sich den Rücken kratzt, schläft, duscht, die Straße entlanggeht und Getränke serviert. In all diesen Szenen hat er meine goldene Schachtel bei sich. Denn ich habe das Gefühl, dass sie mir gehört, nur mir, auch wenn Lucy das offensichtlich nicht so gesehen hat. Es macht mich verrückt, nicht zu wissen, was drin ist. Nur eines weiß ich ganz sicher: Meine Schwester kannte mich gut genug und hat vorausgesehen, dass ich nicht in der Lage sein würde, die Regeln zu befolgen, wenn die Karte der Sehnsüchte allein von mir und meiner Fähigkeit, mich zurückzuhalten, abhinge.

Zurückhaltung ist, wie man merkt, eine Eigenschaft, die mich nicht gerade prägt. Und die mir auch nicht wirklich wichtig ist. Das bedeutet: Gefühle, Impulse oder Leidenschaften zu zügeln, ist auf Dauer nutzlos, wenn auch zu bestimmten Zeiten klug, damit man nicht wie ein Wesen von einem anderen Planeten wirkt. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich diese Tarnung auf Dauer aufrechterhalten kann. Und ich weiß auch nicht, ob es mir gelingen wird, mich an die Regeln zu halten, denn bisher habe ich bei allem, was ich mir vorgenommen habe, versagt.

Aber in dieser Woche habe ich nicht nur über Lucy, Will und das Spiel nachgedacht, sondern auch weiter nach einem Job gesucht. Ich hatte zwei Vorstellungsgespräche und habe noch keine Antwort erhalten. Das erste war in einem indischen Restaurant in der nächstgelegenen Stadt, die viel größer ist als Ink Lake und nur wenige Kilometer entfernt ist. Das zweite bei einer Tankstelle am Stadtrand.

In diesem Jahr hatte ich bisher drei Jobs. Bei einem wurde ich entlassen, weil ich nach einer durchgemachten Nacht morgens um sieben Uhr zur Arbeit gekommen bin und nach Alkohol und Zigaretten gerochen habe. Zu der Farm bin ich nicht mehr gegangen, weil ich es nicht ertragen konnte, die Hühner so dicht zusammengepfercht zu sehen, und bei meinem letzten Job war es eine Art einvernehmliche Entscheidung: Mein Chef und ich konnten uns nicht leiden.

Irgendwann zwinge ich mich, nicht mehr an die Wand zu starren und mir Wortspiele auszudenken, die den Begriff Tohuwabohu enthalten. Ich nehme meinen Laptop zur Hand und schaue mir noch einmal kurz die neuesten Stellenangebote in der Region an. Da ich wohl der einzige Mensch in der Stadt bin, der älter als siebzehn ist und nicht mit dem Auto fährt, bin ich in Bezug auf die Entfernungen etwas eingeschränkt, wodurch gut die Hälfte der Jobs für mich nicht infrage kommt. Doch plötzlich stoße ich auf eine Anzeige, in der ein Hundesitter gesucht wird. Ohne lange darüber nachzudenken, stehe ich auf und rufe bei der angegebenen Nummer an.

»Hallo?«

»Ich rufe wegen der Anzeige an.«

»Haben Sie Erfahrung mit Tieren?«

»Nein. Als Kind hatte ich einen Goldfisch, der auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, daher möchte ich lieber nicht darüber sprechen. Aber ich kann gut mit Hunden umgehen und wohne nur zehn Minuten entfernt.«

»Könnten Sie zu einem Gespräch vorbeikommen?«

Ich sage zu, und wir verabreden uns in einer Stunde. Dann ziehe ich das Erste an, was mir in die Hände fällt, und mache mich auf den Weg.

Das angegebene Haus ist riesig und hat ein rundes Fenster. Noch bevor ich an die Tür klopfe, höre ich das Bellen des Hundes. Als die Besitzerin die Tür öffnet, lächle ich sie an. Ihr Name ist Anne Rogers, und sie ist eine reizende Person, die mich daran erinnert, wie meine Mutter hätte sein können. So wie ich es mir vorstelle, denn wenn das Leben Rosie Peterson nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte, wäre sie nun sicher eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die es gewohnt ist, sich in tadellose Kostüme zu kleiden, in denen sie mit ihren dreiundfünfzig Jahren eine beneidenswerte Figur hat.

Anne erklärt, dass Mr. Flu (so heißt der Hund) einmal täglich einen Spaziergang braucht, wenn sie dienstlich unterwegs ist. »Er läuft gern an der Hauptstraße entlang bis zum Park.« Ich höre ihr zu, während sie die genaue Nahrungsmenge angibt, die er zu sich nehmen muss, damit er nicht schwabbelig wird, wie sie es ausdrückt.

Ich kann nicht sagen, dass ich besonders stolz auf mich bin, als ich den Job bekomme. Ich meine, es ist gut für mich, etwas zu tun, bis ich etwas Besseres finde, aber es fühlt sich an wie der Nebenjob einer Schülerin. Nur dass ich nicht mehr zur Schule gehe, zweiundzwanzig Jahre alt bin und keine Zukunftsperspektive habe.