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Eigentlich möchte Anne nach dem Tod ihres Mannes einfach nur ihre Ruhe haben. Ihre besten Freundinnen, Christine und Karin, überzeugen sie aber, die Ferien wieder in der Bretagne zu verbringen. Gute Traditionen bricht man nicht. Doch dieses Jahr ist irgendwie der Wurm drin: Karins Ehe steckt in der Krise, und Christine liegt im Clinch mit ihrer aufmüpfigen Tochter. Eine gemeinsame Fahrradtour soll die Wogen glätten, aber Christine ist es zu anstrengend, und Karins Mann legt sich prompt mit der Polizei an. Nur Anne blüht auf. Liegt das vielleicht an ihrem neuen Tandempartner, mit dem sie die bretonische Küste erkundet?
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Das Buch
Endlich Urlaub in der Bretagne! Den hatten sich Anne, Christine und Karin aber etwas anders vorgestellt. Seit über zwanzig Jahren treffen sich die drei Freudinnen jeden Sommer im malerischen Ferienhaus auf den Klippen – zusammen mit ihren Familien. Doch dieses Jahr will sich einfach keine rechte Urlaubsstimmung einstellen. Anne denkt noch immer an ihren verstorbenen Mann, Karins Ehe steckt in der Krise, und Christines Tochter verliebt sich ausgerechnet in einen Surflehrer. Christine findet das alles gar nicht witzig. Anne hingegen schon, zumal sie selbst endlich wieder lachen kann, seit sie ihren blinden Nachbarn Michel besser kennt. Eine gemeinsame Radtour soll die Wogen zwischen den Freundinnen wieder glätten. Im Prinzip eine gute Idee, doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt …
Die Autorin
Tessa Hennig schreibt seit vielen Jahren nicht nur große TV-Unterhaltung, sondern auch erfolgreich Frauenromane. Alle ihre Bücher wurden Spiegel-Bestseller, einige sogar verfilmt. Wenn sie vom Schreiben und ihrem Wohnort München eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen und Abenteuern gern in den Süden.
Von Tessa Hennig sind in unserem Hause bereits erschienen:
Mutti steigt aus
Elli gibt den Löffel ab
Emma verduftet
Lisa geht zum Teufel
Mama mag keine Spaghetti
Tessa Hennig
Alles außer Austern
Roman
List Taschenbuch
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Originalausgabe im List Taschenbuch
List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
1. Auflage April 2015
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © Gerhard Glück
ISBN 978-3-8437-1082-4
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Kapitel 1
Schöner konnte der weißblaue Münchner Himmel an diesem Sommermorgen gar nicht sein. Obwohl ihr die Sonne entgegenlachte und man tagsüber naturgemäß keine Sterne am Himmel entdecken konnte, sah Anne dennoch einen Himmelskörper – zumindest vor ihrem geistigen Auge. Ausgerechnet Jupiter! Das passierte ihr nach Jörgs Tod öfter, sobald sie sich der Garage näherte, in der seine Golfausrüstung lagerte. Anne machte stets einen großen Bogen darum, doch dummerweise stand die Abfalltonne daneben, so dass sich der Weg dorthin nicht gänzlich vermeiden ließ, wollte sie nicht im Unrat ersticken. Müllstrategisch war Anne bereits auf Sechzigliterbeutel umgestiegen. Was tat man nicht alles, um die persönliche Via Dolorosa – sprich, den Küchenabfall zu entsorgen – so selten wie möglich zu bewältigen. Lieber schwerer schleppen und das Auto auf der Straße hinter dem Haus parken, als täglich durchzudrehen, weil die Golfausrüstung sie zwangsläufig an Jörgs Tod erinnerte, der nun mal schicksalhaft mit Jupiter verknüpft war. Über Letzteres hatte Anne bisher nur mit ihren beiden besten Freundinnen gewagt zu sprechen.
»Mensch. Wirf dir irgendwas ein. Ein Beruhigungsmittel. Das hilft bestimmt«, hatte ihr Karin in ihrer pragmatischen Art geraten, obwohl die Anwältin für europäisches Patentrecht mit Sicherheit keine Expertin in Sachen »durchdrehen« war. Ihre Pariser Freundin Christine hingegen gab sogar offen zu, dass sie ziemlich oft an den Planeten dachte. Jupiter brachte astrologisch gesehen nämlich Glück, zumindest wenn man wie Christine unter dem Sternbild des Löwen geboren war. Vermutlich galt das aber nicht für »Gerade-noch-Löwen«, aus denen »um ein Haar eine Jungfrau geworden wäre«, wie Annes Mann immer erklärt hatte, wenn er nach seinem Sternbild gefragt wurde. Die bunte Riesenmurmel im All hatte Jörg jedenfalls kein Glück gebracht, auch wenn er große Stücke auf sie gehalten hatte: »Ohne Jupiter wären wir schon alle tot.« – Originalton Jörg. Sein Lobgesang auf die Gravitation des Planeten, die umherschwirrende Asteroiden und Meteore von der Erde fernhalten würde, hatte Anne unauslöschbar im Ohr. Leider reichten Jupiters Kräfte nicht bis zum hiesigen Golfplatz. Der verfluchte Golfball. Das genoppte Geschoss mit der Wucht einer Kanonenkugel hatte Jörg keine zwei Atemzüge nach seiner Laudatio auf den Himmelskörper niedergestreckt. Treffer! Direkt auf die Schläfe. Tot! Einfach so – und mit dreiundfünfzig viel zu früh.
Anne stand wie angewachsen vor der Garage. Es tat weh. Immer noch. Hörte dieser dumpfe Schmerz denn nie auf? Scheiß Jupiter! Was mussten sie auch mitten auf dem Golfplatz stehen bleiben und über die Wahrscheinlichkeit debattieren, von einem Stück Gestein aus dem All getroffen zu werden? Hätten sie doch bloß nicht am Vorabend diese Doku darüber im Fernsehen gesehen. Anne blickte gen Himmel. Dabei fragte sie sich, was wahrscheinlicher war: von einem Golfball oder von einem Meteor getroffen zu werden. Beides war extrem unwahrscheinlich, aber was spielte das noch für eine Rolle? Viel wahrscheinlicher war es doch, dass sie zurück im Haus wieder stundenlang an seinen Sachen hängen bleiben würde.
Sein Schachspiel, das immer noch in seinem Arbeitszimmer stand, musste dringend weg. Um ein Haar hätte Anne gestern die letzten Züge der Partie nachgespielt, an die sie sich noch genau erinnern konnte, weil sie nur ein einziges Mal gegen ihn gewonnen hatte. So vieles im Haus ließ sie gedanklich einfach nicht zur Ruhe kommen. Anne überlegte daher, heute noch zu bügeln, um sich abzulenken, doch was würde passieren, wenn sie die Wäsche in den Schrank räumte, neben seine Anzüge? Nur die Berührung eines seiner eleganten schwarzen Jacketts hatte sie vor ein paar Tagen die Oper hören lassen, die sie letzten Sommer gemeinsam in Verona gesehen hatten. Die Arie »Habanera« aus Carmen als penetranter Ohrwurm war fast noch schlimmer als Jupiter-Visionen beim Müllentsorgen. Die Lust auf Bügeln war ihr augenblicklich vergangen. Haare tönen vielleicht? Ihre nach seinem Tod im Nu ergrauten Locken mit dem neuen Mittelblond aufpeppen, das ihr die Dame aus der Drogerie gestern beim Einkauf ans Herz gelegt hatte, weil ein frischer Look angeblich aufmunterte? Keine Lust! Diese lähmende Schwermut musste ein Ende haben. Also vielleicht doch eher Ausmisten? Alles raus? – Jetzt erst mal den Müllsack in die Tonne werfen. Es war so simpel. Deckel auf, Deckel zu. Genug Müllsäcke hatte sie ja. Warum nicht gleich damit anfangen? Seine Golfausrüstung könnte sie verschenken. Hauptsache weg damit! Aber wenn alles weg war, wäre Jörg dann nicht auch ganz weg? Spurlos ausradiert? Der Gedanke erschreckte Anne so sehr, dass die eben verspürte Wut auf all die Dinge, die sie nicht mehr losließen, im Nu in ein schlechtes Gewissen umschlug, das nach wenigen Schritten zurück zur Terrasse bereits in Angst mündete. Die Angst davor, ihn ganz zu verlieren, ihn am Ende zu vergessen, all die Kleinigkeiten, die sie miteinander geteilt hatten. Mit Carmen und Jupiter konnte man sich ebenso arrangieren wie mit nicht gebügelter Wäsche oder grauem Haar. Mit einem Haus, in dem er nicht mehr in irgendeiner Form weiterlebte, eher nicht. Und genau das versetzte sie schon wieder in Wut.
Karin genoss den stressfreien Vormittag, der ihr sogar die Gelegenheit gegeben hatte, zum Friseur zu gehen und anschließend entspannt im Rafiot, einem für die Gastronomie umgerüsteten Binnenschiff am Quai des Pécheurs, auf ihren Klienten zu warten. Mit Pagenlook, zu dem sie sich hatte überreden lassen, ging es zum nächsten Termin, vor dem es sie ausnahmsweise nicht graute, weil sie sich nicht wie sonst üblich mit irgendwelchen hochtechnischen Patenten herumschlagen musste. Ihr Arbeitsbereich, sprich Erfindungen im Maschinenbau und in der Informationstechnologie patentrechtlich zu prüfen, war normalerweise extrem rechercheintensiv. Streitigkeiten um Details, die ihr selbst Experten nie so genau erklären konnten, blieben unglücklicherweise an ihr hängen, weil sie angeblich die besten Nerven hatte – zumindest sah ihr Chef das so, obwohl er mit Mitte dreißig und somit um fast zwanzig Jahre jünger noch die besseren Nerven haben sollte. Wie wohltuend und erfrischend waren hingegen Erfindungen, die in ihrer Einfachheit glänzten. Mit den banalsten Ideen konnte man von heute auf morgen Millionär werden, vor allem wenn man in China produzierte. Gewinnmargen von mehreren hundert Prozent waren dabei keine Seltenheit. Dass Karin auf die Erfindung des jungen Kerls, der ihr sein Patent erklärte, nicht selbst gekommen war, konnte sie sich diesmal nicht vorwerfen, also auch keiner verpassten Million nachweinen. Dazu musste man wohl eigene Kinder haben. Der gelernte Schneider und Vater von gleich drei Kindern hatte sich mangels Einkommen keine besonders gut isolierte Wohnung leisten können. »Ich konnte die Kleinen nie auf die Krabbeldecke legen. Der Boden war so kalt, da hätte ich sie gleich ins Gefrierfach stecken können«, hatte er ihr beim Kaffee dargelegt. Karin rechnete fest mit einem neuartigen Heizlüfter, der nie überhitzte und so schmale Schlitze hatte, dass ein Baby darin nicht herumstochern konnte. Weit gefehlt! Im Einfachen lag das Genie. Er hatte sich eine integrierte Heizdecke patentieren lassen. Produktionskosten in China: zwei Euro fünfzig. Verkaufspreis in Frankreich: fünfunddreißig. Satt! Klar, dass sich ein Hersteller von konventionellen Heizdecken auf den Schlips getreten fühlte. Ein einfacher Fall. Kurz und schmerzlos. Karin würde dafür sorgen, dass das tapfere Schneiderlein recht bekam. Die Freude war groß, die Umarmung zum Abschied umso inniger. Konnten nicht alle Tage so entspannt und harmonisch sein? Und dann war sie auch noch pünktlich zum gemeinsamen Lunch mit Andreas fertig geworden – ein Luxus, den sie sich gönnte, weil sie sich ebenso wie ihr Mann für ihre Kanzlei totschuftete, gut bezahlt, aber dennoch »La galère«, wie man in Frankreich ein Sklavendasein am Ruder einer Galeere bezeichnete. Andreas kam wie immer pünktlich ins Rafiot, weil seine Kanzlei keine zwei Gehminuten von ihrem Stammcafé entfernt in einer Seitenstraße lag.
»Hallo Schatz. Na, wie war’s?«, fragte Andreas, an dessen Art, wie er sie zur Begrüßung küsste, Karin ablesen konnte, wie es bei ihm »war«. Ein Kuss mit leichtem Sog hieß so viel wie »Ich hatte einen guten Tag«. Ein Kuss, der gerade noch intensiv genug war, um seine Lippen zu schmecken, war ein untrügliches Zeichen dafür, dass alles passte. Ein Kuss, der ihre Lippen gerade mal streifte, verhieß allerdings nichts Gutes. Dass er ihre neue Frisur unkommentiert ließ, ebenfalls. Insofern ersparte Karin es sich, ihn zu fragen, wie es bei ihm gelaufen war, nachdem sie seine Frage mit einem zufriedenen Lächeln beantwortet hatte.
»Vierzehn Akten voll mit gegenseitigen Strafanzeigen, Beschimpfungen, Beleidigungen und alles so konfus … Es geht gerade mal um lausige dreitausend Euro. Ich werd dem Richter einen Deal vorschlagen«, fing er ohne Vorwarnung an zu wettern.
»Du weißt, dass das nicht erlaubt ist«, erinnerte Karin ihn.
»Der Richter hat auch keinen Bock«, behauptete ihr Mann.
»Verstehe«, erwiderte sie, um nicht erneut eine Grundsatzdiskussion darüber vom Zaun zu brechen, dass ein Anwalt ein Anwalt und kein »Dealer« war.
»Bist du gestern deshalb erst um halb vier ins Bett?«, fragte Karin.
Andreas nickte und ließ sich kraftlos in einen der Liegestühle sinken, die das Rafiot besonders attraktiv machten. Man konnte darin so herrlich entspannen und dösen. Und schon waren seine dunkel umringten Augenlider auf Halbmast. Karin musterte ihn. Die Hose spannte um seinen Bauch, ein Luftzug legte die ersten Geheimratsecken frei. Er sollte mehr für sich tun, um dem hübschen dunkelhaarigen Mann, in dessen strahlend blaue Augen sie sich vor Jahren verliebt hatte, zumindest wieder ein kleines bisschen näher zu kommen.
»Kommt Anne jetzt oder nicht?«, brummte er im Halbschlaf.
»Sie hat sich noch nicht bei mir gemeldet«, sagte Karin.
»Chérie. Ruf sie an. Du kennst sie doch …«
»Sie muss Jörgs Tod verarbeiten. Wir waren immer zu sechst und jetzt …«
»Es wird ihr guttun. Komm schon. Anne hört auf dich«, ließ Andreas nicht locker.
Karin war hin- und hergerissen. Sie wusste, dass Anne sehr an dem Haus in der Bretagne hing. Immerhin hatten sie es ihrem Großvater zu verdanken, dass sie seit Jahren dort ihren großen Sommerurlaub verbringen durften. Andererseits hatte sie Angst davor, sich drei Wochen lang mit Annes inzwischen etwas ausufernder Trauer herumschlagen zu müssen. Wenn sie schon jedes Staubkorn in ihrem Haus an Jörg erinnerte, wie würde das erst in ihrem Feriendomizil werden, in dem sie sich in Jörg verliebt hatte? Erholung ade … Aber Anne war ihre beste Freundin, und die Clique war gefordert, sie gerade jetzt aufzufangen.
»Du hast recht«, sagte sie. Ein Sommer ohne Anne war undenkbar.
Jupiter zum Trotz war die Garage nun offen. Anne stellte die letzte Kiste mit Golfutensilien neben die dazugehörige Tasche, in der sie Jörgs Schläger untergebracht hatte – potenzielle Mordwaffen, wie sie seit einem halben Jahr wusste.
»Bist du dir sicher?«, vergewisserte sich Heinz, Jörgs vollbärtiger Spezi aus dem Golfclub München-Eichenried, dem Tatort, um genau zu sein.
»Du weißt, dass ich nur ihm zuliebe gespielt habe«, versicherte sie ihm.
»Ich werd sie in Ehren halten«, versprach er demütig.
Anne war froh darüber, dass sie sich keine weiteren Beileidsbekundungen oder den Klassiker »tragisch, wirklich tragisch« mehr anhören musste. Weil es vermutlich das letzte Mal war, dass sie jemanden aus dem Klub treffen würde, interessierte sie sich nun doch dafür, was aus dem »Attentäter« geworden war.
»Hast du noch mal was von dem Meisner gehört?«, fragte sie.
Heinz nickte. »Er spielt nicht mehr.«
Verständlich. Anne hatte ihn gleich nach dem Unfall kennengelernt. Ein Gast aus Hamburg, Mitte fünfzig. Meisner war so am Boden zerstört gewesen, dass sich der Notarzt um seine Herzprobleme hatte kümmern müssen.
»Ich bring dann mal die Sachen weg«, meinte Heinz mit Leidensmiene und Blick auf eine Müllbeutelgalerie, die nur mit viel Glück in seinen VW-Bus passen würde. Das meiste war für einen Altkleidersammeldienst bestimmt, der Jörgs Sachen sicher gut gebrauchen konnte. Ein Teil würde auf dem Wertstoffhof landen. Was hatte Jörg alles im Keller verschanzt. Allein schon sieben Kabelkisten, mit deren Inhalt man eine Verbindung von Garching bis zum Marienplatz hätte spannen konnte. Jede Menge berufsbedingten Technikkram, von dem Anne noch nicht einmal wusste, wozu er überhaupt gut war. Ordner über Ordner und seine Super-8-Filmsammlung, die mit Sicherheit bereits vergilbt war. Videokassetten belegten allein zwei Müllsäcke. Es hatte sich überraschend gut angefühlt, Jörgs persönliche Dinge zu entsorgen. Es machte irgendwie frei und leicht. Wenn da nur nicht diese immer wieder plötzlich einsetzende Wehmut wäre. Gab man ihr nach, brauchte man Stunden, um alles einzupacken. Bis auf die Fotoalben war jetzt trotzdem alles weg, so schmerzlich es auch war. Anne ahnte, dass sie es bereits heute Abend bereuen würde. Man musste aber hart zu sich selbst sein – jedenfalls gelegentlich.
Heinz hatte den ganzen Kram dank ihrer tatkräftigen Unterstützung schneller eingeladen als gedacht.
»Besuch uns doch mal«, bot er ihr an, doch auch wenn Anne nickte, war sie sich sicher, dass dies noch Zeit brauchte. Erst mal Luft holen und das Leben auch von allen Routinen befreien, die sie an Jörg erinnerten. Als Nächstes nahm Anne sich vor, das Haus gründlich zu putzen, doch da klingelte das Telefon und machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Wahrscheinlich jemand aus dem Büro, weil ihre Urlaubsvertretung aus der Abteilung Hausrat bei Lebensversicherungen verständlicherweise nicht sattelfest war. Es war jedoch Karin – und warum sie anrief, konnte Anne sich denken.
»Wie geht’s dir?«, wollte ihre Freundin zunächst einmal wissen.
»Ich hab das Haus entrümpelt. Seine Sachen …«
»Ernsthaft? Das ist ja super!« Karin freute sich darüber, weil sie ihr dazu mehrfach geraten hatte.
»Ich werd den Urlaub nutzen, um das Haus wieder zu meinem zu machen«, erklärte Anne, um Karin gleich im Vorfeld klarzumachen, dass es nichts bringen würde, sie erneut dazu überreden zu wollen, mit ihnen zu fahren.
Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung.
»Heißt das jetzt, du bleibst definitiv in München?«, fragte Karin nach.
»Ich pack das einfach noch nicht«, erklärte Anne.
»Wir sind doch da. Alle freuen sich auf dich.« Karin ließ wie üblich nicht locker.
»Karin. Es hat mich sehr viel Kraft gekostet, mich von Jörgs Sachen zu trennen. Das muss sich erst einmal setzen«, untermauerte Anne ihre Entscheidung.
»Das kann es doch dort auch. Raus aus dem Trott! Außerdem wird das Klima dir guttun. Gerade jetzt. Und die Abwechslung …«
»Abwechslung? Wir machen das, was wir immer machen, und genau das wird mich runterziehen, weil wir es jetzt ohne Jörg machen.«
»Dann komm uns wenigstens in Straßburg besuchen. Es sind doch nur ein paar Stunden mit dem Zug«, setzte Karin nach.
»Ich weiß nicht …«
»Komm schon. Straßburg ist neutraler Boden. Dann erinnere dich eben an unsere Studienzeit. Anfangs hast du Jörg ja noch gar nicht gekannt.«
Diese ausgefuchste Anwältin, nie um Argumente verlegen.
»Wir holen dich vom Bahnhof ab. Am Freitag? Jetzt sag schon ja …«
Konnte ein Großputz nicht auch warten? Sie hatte Karin und Andreas seit der Beerdigung ihres Mannes nicht mehr gesehen.
»Ich geb dir morgen Bescheid, okay?«, versprach Anne.
»Ich drück dich«, sagte Karin mit Inbrunst in der Stimme.
»Ich dich auch«, erwiderte Anne, bevor sie auflegte.
Im Moment war ihr tatsächlich danach, die Koffer zu packen, doch lieber nichts überstürzen und erst einmal abwarten, wonach ihr morgen früh zumute war.
An Tagen wie diesen verfluchte Christine ihre Entscheidung, mit Bernd nach Paris gezogen zu sein, obwohl sie die Stadt im Grunde genommen liebte. Es war eine Hassliebe. Lief es in der Werbeagentur gut, konnte sie abends auf gesellschaftlichen Empfängen und im Glanz der großen Couturiers oder bei Filmpremieren punkten. Dann erschien ihr Paris wie ein Traum. Lief es mies – und heute war es richtig mies gelaufen –, nervte einfach alles: der Mief in der Metro und die Touristen an der Champs-Élysées, die sie jeden Tag über sich ergehen lassen musste, weil ihr Büro in der Rue de Marignan lag, einer der ruhigeren Seitenstraßen der Prachtallee. Am schlimmsten war dann die Hektik, die so typisch für das Pariser Großstadtflair war und sie normalerweise inspirierte – heute war sie aber nur noch lästig! Christine war so erledigt, dass es sie bereits anstrengte, das eiserne Gitter ihres geliebten romantischen Aufzugs, der sie in den vierten Stock ihrer Wohnung bringen würde, zur Seite zu ziehen. Geschafft! Erst mal raus aus den High Heels. Das fühlte sich auf dem kühlen Aufzugsboden schon mal gut an. Der Blick in den Spiegel der Kabine eher weniger. Selbst das perfekte Make-up konnte nicht verdecken, wie fertig sie war. Sofort inspizierte sie sich näher. Konnte es sein, dass bei akuter Übermüdung und Stress die Muskulatur um die Augen bis zu den Wangen erschlaffte und somit alles, was man sich morgens mühsam ins Gesicht gekleistert hatte, auf unnatürliche Weise nach unten hing? Furchtbarer Gedanke! Vielleicht war es aber auch nur das Licht im Aufzug, das jede Furche und die nicht mehr ganz so straffe Haut gnadenlos in Szene setzte. Beim Aussteigen stellte Christine noch fest, dass sie dringend den Friseur aufsuchen musste. Ihr glattes Haar hing schlaff wie die Ohren eines Cockerspaniels herunter, und der Blondton wirkte matt. Höchste Zeit für eine Runde Bleaching. Hoffentlich waren Bernd und Suzanne noch unterwegs. Christine hatte das dringende Bedürfnis, sich nach einer nervenaufreibenden Kampagne für die größte Zuckermarke Frankreichs erst einmal auf die Couch zu schmeißen und die Füße hochzulegen. Daraus wurde aber nichts.
»Mama?«, tönte die Stimme ihrer Tochter aus dem Bad.
Am besten ignorieren und warten, bis sie herauskam.
»Hast du vorhin angerufen?«, fragte ihre Tochter.
»Nein«, rang sie sich ab. Danach herrschte Stille. Das arme Kind. Immer wenn es ihr dreckig ging, legte sie sich in die Wanne mit irgendeinem Duft – mittlerweile fast täglich. Suzanne kam einfach nicht darüber hinweg, dass Pierre, dieser aufgeblasene Macho, sie betrogen hatte. Offiziell waren sie nun getrennt und Suzanne über ihn hinweg, aber wer ständig nach dem Telefon hechtete, wenn es klingelte, der war weit davon entfernt, über jemanden hinweg zu sein.
»Mama?«, meldete sich Suzanne erneut.
»Ja.« Gequälter konnte Christines Stimme nicht klingen.
»Du sollst Papa wecken. Der hat sich nur kurz hingelegt.«
Auch das noch. Bernd war schon da. Das hieß kochen. Ach was, sie würden sich was vom Chinesen kommen lassen.
»Papa ist schon wach«, drang es aus dem Schlafzimmer von der anderen Seite.
Keine fünf Minuten Ruhe hatte man hier. Wie auf Stichwort meldete sich das Telefon. Bernd musste es mit ins Schlafzimmer genommen haben.
»Wenn es Pierre ist …«, fing ihre Tochter schon wieder an.
»Sicher nicht«, erklärte Christine in Richtung Badezimmer, um das Thema endlich vom Tisch zu kriegen. Dann rief sie ihrem Mann zu: »Wer ist es?«
Da kam Bernd heraus – strahlend. Waren die Aktien der Telekommunikationsfirma, für die er arbeitete, wieder einmal gestiegen?
»Karin hat es geschafft«, sagte er erfreut.
»Was?« Kaum ausgesprochen, fiel ihr ein, was sie vor zwei Tagen mit ihrer Freundin besprochen hatte. Die bleierne Müdigkeit in ihren Beinen war wie weggeblasen. Sofort setzte sich Christine auf und winkte ihren Mann zu sich her. »Gib sie mir«, sagte sie und schnappte sich das Telefon.
»Karin … Das glaub ich nicht. Sie kommt? Das ist großartig … Aber haltet sie vom Museum fern … und keine allzu langen Spaziergänge in der Altstadt. Meidet sein Stammlokal in der Innenstadt. Am besten, ihr geht in den neuen Crêpe-Laden im Studentenviertel. Der hat erst letztes Jahr eröffnet. Da kann sie noch nicht gewesen sein«, instruierte Christine ihre Straßburger Freundin.
Bernd stimmte all dem offenbar voll und ganz zu, weil er bei jedem Wort nickte. Alles lief nach Plan, allerdings gab Karin etwas zu bedenken, das sie bisher übersehen hatten. »Wir sind aber nur zu fünft … das fünfte Rad am Wagen … Christine, das ist ungut«, meinte sie.
»Bernd sitzt doch eh den ganzen Tag vor dem Computer, und Andreas liest. Dann machen wir halt mehr zu dritt«, erwiderte Christine, was sie aber selbst nicht sonderlich überzeugte. Noch bevor Karin etwas darauf erwidern konnte, hatte Christine auch schon eine bessere Idee: »Wir nehmen Suzanne mit!«
Bernds Miene erstarrte augenblicklich.
»Aber wir waren doch in den letzten Jahren immer unter uns. Suzanne? Bist du sicher?«, fragte Karin.
»Eben darum. Es muss alles anders sein. Dann denkt sie nicht mehr die ganze Zeit an Jörg. Außerdem ergibt Minus mal Minus Plus.«
»Wie?« Karin konnte ihr nicht folgen, was selten bei ihr war.
»Mama? Ich will nicht in die Bretagne!«, protestierte Suzanne auch schon aus dem Bad.
»Das klären wir später«, rief sie ihr zu, bevor sie sich wieder Karin widmete, nun allerdings einen Tick leiser, damit ihre Tochter nicht jedes Wort mithören konnte.
»Pierre hat mit ihr Schluss gemacht. Das ist doch optimal, verstehst du? Die beiden können gemeinsam Wunden lecken und sich gegenseitig aufbauen.«
Bernd starrte sie nur an. Ungläubig, doch weil seine zunächst erstarrten Gesichtszüge sich langsam lockerten, wertete Christine dies als Zustimmung.
»Erst müssen wir sie so weit kriegen, dass sie mitkommt«, wandte Karin ein.
»Das, meine Liebe, ist dein Job. Ich verlass mich auf dich«, delegierte Christine.
»Sag Suzanne, dass ich mich auf sie freue. Ich melde mich.« Damit besiegelte Karin die Planerweiterung und beendete das Gespräch.
Schon stand Suzanne mit Turban und in ein riesiges Handtuch eingewickelt vor ihr. Was für ein bildhübsches Ding. Eine Mittzwanzigerin, die so gut aussah, hatte doch gar keinen Grund, sich über so einen wie Pierre aufzuregen. Dafür regte Suzanne sich nun aber über etwas ganz anderes auf: Ferien in der Bretagne.
»Nein, nein und nochmals nein!«, gab sie sich störrisch wie ein kleines Kind.
»Pierre ruft nicht an«, hielt Christine dagegen.
»Du kannst ja dein Handy mitnehmen«, untermauerte ihr Mann.
Suzanne stand wie angewurzelt da und schnaubte.
Vielleicht half ja ein Griff in die Trickkiste: »Mensch, Suzanne. Anne freut sich total auf dich. Ihr habt euch die letzten Jahre kaum noch gesehen. Sie ist immerhin deine Patentante.« Das musste einfach ziehen, weil Christine wusste, wie sehr Suzanne an Anne hing.
»Aber ich dachte, sie kommt nicht«, hakte Suzanne sogleich misstrauisch nach.
»Sie kommt deinetwegen. Sie braucht dich«, fügte Christine hinzu. Das wirkte, weil ihre Tochter über Annes Seelenzustand bestens Bescheid wusste.
Suzanne schluckte. Es ratterte in ihr. So wie es im Moment aussah, war der alljährliche Urlaub in der Bretagne so gut wie sicher.
Anne konnte immer noch nicht glauben, dass sie im TGV von München nach Straßburg saß, noch weniger, dass sie sich tatsächlich am Morgen zum Friedhof begeben hatte, um Jörg zu erklären, warum sich seine Sachen nun entweder auf dem Wertstoffhof oder auf dem Weg in ein Entwicklungsland befanden. Als versöhnliche Geste hatte sie ihm ein frisches Blumengesteck auf das Grab gelegt. Das schlechte Gewissen plagte sie trotzdem. Letztlich war ihr Gemütszustand aber ein Wechselbad aus Erleichterung, Angst vor eventuellen Folgen, weil die Entscheidung, das Haus zu ihrem zu machen, endgültig war, aber auch Stolz darauf, dass sie den Mut dazu gefasst hatte. Es fühlte sich langfristig bestimmt besser an, ihn nur noch im Herzen zu bewahren, anstatt sich mit greifbaren Dingen im Haus täglich aufs Neue zu quälen. Anne hatte sogar schon überlegt, ob an seinen Sachen ein Teil seiner Seele haftete – Christines Theorie. Am Ende luden sich Gegenstände tatsächlich auf irgendeine Weise energetisch auf. Dieses dumpfe Gefühl war momentan jedenfalls weg. Allein schon beim Kofferpacken endlich wieder nahezu unbeschwert den Kleiderschrank aufmachen zu können, hatte die gestrige Aktion gerechtfertigt. Karin hatte recht. Jetzt erst einmal alles hinter sich zu lassen, war das Beste, was sie tun konnte. Außerdem freute sie sich auf ihre Freundin und Andreas, ein bisschen auch auf Straßburg. Und es war kaum zu glauben, wie schnell man mit dem Zug in eine völlig andere Kultur eintauchen konnte – in knapp vier Stunden von München nach Klein-Paris, das auch ohne gigantomanische Prachtbauten und eine Champs-Élysées all den Charme zu bieten hatte, den man aus der französischen Hauptstadt kannte, allerdings ohne dabei sonderlich anstrengend zu sein. Für Anne waren es sowieso eher die kleinen Dinge, die Frankreich ausmachten: frisches Baguette, die mit Obst gedeckten kleinen, aber nicht minder verführerischen »Tartelettes« in der Boulangerie, die Straßencafés, in denen man an Bistro-Tischen sitzen konnte, um die Zeitung zu lesen oder Passanten zu beobachten. Es war die Lässigkeit der Franzosen, denen es wichtiger war zu leben, als jeden Lackschaden am Auto sofort ausbessern zu lassen. Anne mochte ihre Begeisterung fürs Kino, die trotz Internetvideos nicht totzukriegen war. Sie liebte es, stundenlang im Restaurant mit Freunden zu sitzen und Kulinarisches zu entdecken, am liebsten frische Austern in allen Variationen. Nannte man das nicht »Savoir vivre«? Anne seufzte wohlig, als der TGV die Neubaugebiete der nördlichen Stadtviertel erreichte und seine Geschwindigkeit verlangsamte, bevor er in den erst vor ein paar Jahren neu renovierten Bahnhof einfuhr. Ausnahmsweise ein Prachtbau aus Glas, mit dem selbst die Pariser Bahnhöfe nicht mithalten konnten. Karin und Andreas standen schon am Gleis und winkten ihr frenetisch zu. Und wie wohl es tat, die beiden zu umarmen.
»Du schaust gut aus«, konstatierte Andreas.
Am liebsten hätte Anne ihm das Kompliment zurückgegeben, doch angesichts seiner dunklen Augenränder und Leichenblässe, die sich meist erst an der bretonischen Küste verflüchtigten, schenkte sie ihm lediglich ein freundliches Lächeln. Karin hingegen, die, soviel Anne wusste, auch erheblichen Stress hatte, schien aus robusterem Holz geschnitzt zu sein. Sie sprühte nur so vor Vitalität, und wie jedes Jahr hatte sie ihren Look geändert. Kein Wunder, wenn man sich tagtäglich mit brottrockenen Patenten herumschlagen musste. Da mussten andere Dinge für Abwechslung sorgen.
»Die kurzen Haare stehen dir gut«, sagte Anne und fuhr ihr über den perfekten Pagenschnitt. Mit ihren ausdrucksstarken Augen sah Karin aus wie die Tochter von Mireille Mathieu, aber das ersparte sich Anne zu sagen.
»Hast du Hunger, oder möchtest du dich erst etwas ausruhen?«, fragte Karin, die sich auf dem Weg nach draußen sogleich bei ihr einhängte.
Anne entschied sich für Letzteres, doch kaum in der Wohnung der beiden angekommen, den Koffer deponiert und einen Schluck getrunken, lockte das Stimmengewirr der Altstadt. Anne öffnete das Fenster und genoss den Ausblick auf das Münster, dessen rosa Vogesensandstein die tief stehende Sonne noch intensivierte. Immer wieder schön anzusehen. Anne erinnerte sich prompt an das alte Ritual, bevor sie gemeinsam mit Karin und Andreas in die Bretagne weitergefahren waren. Jörg hatte sich die Sound-&-LightShow nie entgehen lassen, die das Münster an jedem Sommerabend von Juli bis Anfang September in ein Farbenmeer tauchte. Sie hatten sich das Spektakel von einem der Restaurants auf dem Vorplatz des Münsters aus angesehen und dann der klassischen Musik gelauscht, die das Farbspiel untermalte. Komischerweise tat dieser Gedanke weniger weh als gedacht. Überhaupt fühlte sich diesmal alles anders an. Vielleicht lag das an der Zugfahrt, denn sonst waren sie immer mit dem Auto unterwegs gewesen, oder daran, nicht im Schlafzimmer von Karin und Andreas untergebracht zu sein, sondern im kleinen Gästezimmer, in dem nur ein kleines Bett stand. Sogar das eben aufsteigende Hungergefühl und die Lust auf die kulinarischen Leckerbissen der Altstadt wertete Anne als gutes Zeichen, doch irgendwie zogen die beiden nicht so recht.
»Was hältst du von Crêpe? Hast du Lust?«, fragte Karin stattdessen.
Annes Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ihr war eher nach etwas Deftigem.
»Das Crêpe Gourmande ist genial. Ein Kollege hat es mir kürzlich empfohlen. Im Studentenviertel. Ist nicht weit von hier«, setzte Andreas nach.
»Also ich hätte Lust auf die gute elsässische Küche. Choucroute … Flammkuchen. Lasst uns ins Maison Kammerzell gehen«, sagte Anne und merkte, wie ihr beim Gedanken an das älteste Restaurant der Stadt, das sich gleich am Vorplatz des Münsters befand, das Wasser im Mund zusammenlief.
Karin und Andreas tauschten Blicke. Was hatten die beiden denn neuerdings gegen das Kammerzell?
»Die haben nachgelassen. Stimmt doch, Schatz?«, meinte Andreas, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.
»Außerdem waren wir doch schon so oft dort«, sagte Karin.
»Eben«, erwiderte Anne resolut. Wenn sie schon mal hier war, dann ab ins beste Restaurant der Stadt. Diskussion beendet.
Das war wieder typisch Anne. Ja nichts Neues ausprobieren. Es könnte ja schiefgehen. Karin hätte auch fast darauf gewettet, dass Anne, wie sonst üblich, noch einen Knirps mitnehmen würde, weil es ja unerwartet regnen könnte. Den hatte sie sich aber verkniffen. Nun lief ihre Freundin blindlings ins offene Messer. Ausgerechnet ins Kammerzeller Haus, in dem sie sozusagen Stammgast gewesen war – mit Jörg. Vielleicht hatte sich Anne aber auch tatsächlich gefangen. Ihre Entrümpelungsaktion, von der sie ihr am Telefon erzählt hatte, schien Wunder bewirkt zu haben.
»Und nachher schauen wir uns noch die Show an«, schlug Anne vor, als sie am Münster vorbeiliefen.
Auch Andreas überraschte das.
Aus heiterem Himmel blieb Anne dann stehen und sah hinauf in den Himmel und zu den Häuserdächern. »Wisst ihr noch? Die schwebenden Artisten? Das muss letztes oder vorletztes Jahr gewesen sein«, stellte Anne mit einem Hauch von Melancholie in ihrer Stimme fest.
O nein! Nun tauchte sie ab in Erinnerungen. Christine hatte Karin ausdrücklich davor gewarnt. Was Anne jetzt machte, war Konfrontationstherapie – aber auf die harte Tour –, allerdings auch für Karin, die sich sehr wohl an den Luftzirkus erinnern konnte, aber nicht, weil die Show sensationell gewesen und man aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen war, sondern weil sie sich an diesem Abend hatte eingestehen müssen, dass Anne die eindeutig bessere Ehe führte. Ständig hatte Jörg nach Annes Hand gesucht, sie fest zu sich herangezogen, immer wieder mal spontan geküsst. Das machte man an einem gelungenen romantischen Abend, vor allem aber dann, wenn man seine Frau liebte. Andreas hingegen war nur neben ihr hergetrottet, wie jetzt auch.
»War wunderschön«, sagte Karin trotzdem. Was für eine Ironie. Da machte man sich Sorgen, dass die beste Freundin in ein depressives Tief geraten könnte, das sie daran hindern würde, sie in die Bretagne zu begleiten, und plötzlich verspürte man selbst die ersten Gewitterwolken im Kopf. Die Schwüle in der Stadt passte irgendwie dazu. Doch auch davon schien sich Anne nicht beirren zu lassen. Sie wirkte wie aufgezogen und erweckte den Anschein, den Platz mit all seinen Fachwerkhäusern und den Cafés förmlich in sich aufzusaugen, als ob sie zum ersten Mal hier wäre. Na ja, Hauptsache ihr ging es gut – fast einen Tick zu gut, weil sie jetzt auch noch damit anfing, von gemeinsamen Zeiten mit Jörg zu sprechen.
»Hier haben wir immer gesessen«, sagte Anne und seufzte wohlig.
Nicht der Hauch von Melancholie, eher eine schöne Erinnerung, die sich im Wohlklang ihrer Stimme niederschlug.
»Eines der schönsten Häuser hier, nicht wahr?«, führte sie weiter aus und fotografierte es zum x-ten Mal mit ihrem Smartphone. Dass sie dabei nun aber etwas wehmütiger seufzte als vorhin, war besorgniserregend. Annes gute Laune hielt zu Karins Beruhigung trotzdem an. Dass ihre Freundin sich ausgerechnet den Platz am Fenster aussuchen musste, an dem sie meist gesessen hatten, versetzte Karin nun doch in Alarmbereitschaft. Die Sirene in ihrem Kopf ging aber erst los, als sich Anne den mit Honig marinierten Schweinebraten bestellte – von wegen Sauerkraut oder Flammkuchen. Das war sein Lieblingsgericht gewesen. Karin war so geschockt, dass sie das Gleiche bestellte, weil sie sich gar nicht mehr auf die Speisekarte konzentrieren konnte. Schon dass Anne nun verdächtig schweigsam von dem Wein trank, den ihnen der Ober flott serviert hatte, beunruhigte sie. Anne ging auch nicht wie sonst interessiert auf kuriose Fälle ein, die Andreas gerne beim Essen erzählte, sondern fragte nur sporadisch nach, bevor sie sich wieder still umsah und weiter am Wein nippte. Dann war es Zeit für das letzte Abendmahl – jedenfalls wirkte das so, als sie alle drei die mit Honig überzogenen Schweinemedaillons vor sich auf den Tellern liegen hatten. Anne machte allem Anschein nach ein Ritual daraus – schweigend! Jeden Bissen ließ sie sich wie eine gesegnete Hostie auf der Zunge zergehen.
»Ja, die guten alten Zeiten«, jammerte Anne, nachdem sie den letzten Bissen des Bratens intus hatte. Dann starrte sie auf den Teller und tupfte ihn meditativ mit der Beilage, einer zermatschten Kartoffel, sauber. Es hatte ja so kommen müssen. Anne knickte ein. Die erste Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Sofort schnellte Karins Arm tröstend um die Freundin, was sich als kontraproduktiv erwies, weil Annes Augen gleich noch feuchter wurden. Andreas kommentierte die Aktion mit einem vielsagenden Blick, den Karin dahingehend interpretierte, dass sie Anne wohl besser in die Crêperie hätten prügeln sollen. Die Bretagne zu sechst war jetzt vermutlich gestorben.
Karin versuchte sich nach diesem Abend, den Anne im weiteren Verlauf ganz und gar ihrem verstorbenen Mann gewidmet hatte, mit dem Gedanken zu beruhigen, dass am nächsten Morgen alles ganz anders aussehen konnte. Leise schlich sie am Gästezimmer vorbei. Kein Mucks. Anne schien zu schlafen. Ein gutes Zeichen. Weniger gut war, dass sie selbst keinen Schlaf fand. Anne musste auf einem Maso-Trip gewesen sein. Auch die Lichtershow hatte sie sich noch ansehen müssen – im Wechselbad zwischen Verzückung und Tränen. Nach zwei weiteren Gläsern Wein, mit denen Andreas sie noch abgefüllt hatte, war der Spuk vorbei gewesen. Nun nippte Karin an ihrem dritten. Rotwein machte sie normalerweise müde. Auch Andreas saß noch wach im Bett und sah sich eine Gameshow an – vielmehr sah er nur in Richtung des Fernsehers, dessen Ton so leise gestellt war, dass man sowieso nichts mehr hören konnte.
»Sie muss mitfahren. Das ist dir doch klar«, sagte er, als Karin das Glas leerte und es auf den Nachttisch stellte.
»Du meinst wegen Leclerc?«, fragte Karin verwundert nach, weil sie sich sicher war, dass sie auch ohne Anne in diesem Haus Ferien machen durften.
»Der war doch letztes Jahr schon so wacklig auf den Beinen. Stell dir vor, Anne fährt gar nicht mehr mit … Leclerc hat bestimmt Verwandtschaft …«, sagte er für Karins Geschmack einen Tick zu kalt und berechnend.
»Vergiss bitte nicht, dass wir nicht der Grund dafür sind, dass wir jedes Jahr dort kostenlos Urlaub machen dürfen. Die Sache geht nur Anne etwas an.«
»Ja, aber es ist doch nur zu ihrem Besten. In ein, zwei Jahren ist sie über Jörgs Tod hinweg … Und dann? Sie hängt an diesem Haus genau wie wir«, führte er aus, und Karin wusste, dass er damit recht hatte.
Sie starrte erst mal eine gefühlte Ewigkeit auf den flackernden Bildschirm, genau wie ihr Mann. Ihre Gedanken ließen sich damit jedoch nicht abstellen. Schließlich sagte sie: »Du hast Anne doch heute erlebt. Wenn sie dieser Braten schon umhaut. Was passiert dann erst, wenn sie dort ist? Ich möchte nicht verantworten, dass sie sich die Klippen runterstürzt.«
»Schatz. Jetzt übertreibst du aber. Dann passen wir halt auf sie auf«, sagte Andreas, meinte damit aber sicher, dass seine Frau auf Anne aufpassen sollte, weil er sowieso wieder mit Bernd zusammenstecken oder juristische Abhandlungen lesen würde, um sich zu entspannen.
Karin wusste einfach nicht mehr, was richtig war. Konnten sie Anne das antun?
Zwei Raterunden weiter neigte sie dann doch dazu, Andreas’ Meinung zu verinnerlichen. Zu groß war die Angst, ein Stück ihres Lebens zu verlieren. Sie hing an dem Haus – genau wie ihr Mann. Sie mussten Anne dazu kriegen mitzukommen.
Andreas schaltete endlich den Fernsehapparat und gleich auch noch das Licht aus. So cool, wie er sich auf die Seite drehte und ihr ein entspanntes »Gute Nacht, Schatz« zuhauchte, war das ohnehin schon beschlossene Sache.
Vielleicht half es, wenn sie gleich morgen früh noch einmal mit Christine telefonierte. Sie könnten Anne ja zunächst nach Paris locken, weil sich die beiden sonst wahrscheinlich für fast ein Jahr nicht sehen würden. Gutes Argument! Wenn sie erst mal alle zusammen waren, würde die Bande der Freundschaft alle Wunden heilen – und wenn nicht, hätten sie immer noch die Trumpfkarte mit Suzanne im Ärmel. Karin beruhigte sich augenblicklich. Hauptsache, man hatte Lösungen parat. Wirkliche Bettschwere wollte sich aber erst einstellen, als sie an die würzige Luft der Bretagne und den frischen Wind dachte, an die Blumenwiesen am Hang und das Geräusch der schroffen Brandung. Danach sehnte sie sich, und Anne würde es bestimmt auch guttun.
Kapitel 2
Eine Autobahnfahrt von Straßburg nach Paris lohnte sich eigentlich nur im Frühjahr, wenn die Rapsfelder je nach Wetterlage von Ende April bis Mitte Mai in voller Blüte standen. Anne erinnerte sich beim Blick aus Andreas’ Wagen an die Magie der einzigartigen Farbkompositionen, die leuchtend gelben Streifen, das punktuelle Grün der Baumreihen und Sträucher. Das waren naturgeschaffene impressionistische Gemälde, die ein Monet sicher gemalt hätte, wenn es in seiner Zeit flurbereinigte Landwirtschaft gegeben hätte. Im Sommer war der Zauber vorbei. Nichts als langweiliges Grün in Grün auf beigefarbenen leeren Äckern hinter der Leitplanke. Wenigstens gab diese Monotonie dazu Gelegenheit, sich während der vierstündigen Fahrt auszutauschen – jedenfalls nachdem sich Anne für ihren gestrigen »Auftritt« entschuldigt hatte. Welcher Teufel hatte sie denn nur geritten, herausfinden zu wollen, ob sie damit fertig würde, all die Plätze zu sehen, mit denen sie gute Erinnerungen an Jörg verband? Also nichts weiter als ein Test, den sie offensichtlich mit der Note sechs abgeschlossen hatte? Noch gestern Nacht war Anne auch klargeworden, warum die beiden sie in das studentische Viertel hatten ausführen wollen. Total aufmerksam von ihren Freunden und typisch Karin, die alles perfekt organisierte, dabei stets an das Wohl der anderen dachte und nichts dem Zufall überließ. Vermutlich hatte sie Andreas gebrieft, sich etwas gesprächiger als sonst zu erweisen, um sie abzulenken. Er gab sich nämlich auf der Fahrt alle Mühe, sie mit den jüngsten Obskuritäten aus seinem Anwaltsleben zu versorgen.
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