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Wer erben will, muss leiden Bianca will es noch mal wissen: In ihrer Finca auf Mallorca auf den Tod warten? Kommt nicht in Frage! Zusammen mit dem liebenswerten Rentner Wolfgang will die rüstige 75-Jährige die Welt bereisen und dabei ihr Vermögen verjubeln. Doch Bianca hat die Rechnung ohne die bucklige Verwandtschaft gemacht. Sohn Steffen und Tochter Anja glauben, ihre Mutter sei auf einen Heiratsschwindler reingefallen und sehen ihr Erbe zerrinnen. Mit Kind und Kegel reisen sie nach Sóller, um ihre Mutter umzustimmen. Doch die denkt gar nicht daran, das Erbe einfach so den Nachkommen zu überlassen. Nur wer sie wirklich liebt, soll etwas bekommen, und sie weiß auch schon, wie sie die Familie auf die Probe stellen kann ...
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Seitenzahl: 434
Erben wollen sie alle
TESSA HENNIG schreibt seit vielen Jahren große TV-Unterhaltung und Bestseller-Romane mit Herz und Humor, die auch erfolgreich verfilmt wurden. Wenn sie vom Schreiben eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen gern in den Süden.Von Tessa Hennig sind in unserem Hause bereits erschienen:Mutti steigt aus · Elli gibt den Löffel ab · Emma verduftet · Lisa geht zum Teufel · Mama mag keine Spaghetti · Alles außer Austern · Mit Oma in Roma · Bea macht blau · Nie wieder Amore! · Von wegen Dolce Vita! · Kann Gelato Sünde sein?
Bianca Stegemann ist fast fünfundsiebzig und lebt auf Mallorca. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie sich für den Lebensabend eine Villa im schönen Küstenort Sollér erarbeitet. Doch das Glück hielt nur wenige Jahre: Ihr Mann ist verstorben, und weder ihr Sohn Steffen noch ihre Tochter Anja haben Zeit für sie. Lediglich ihre Enkeltochter Luisa besucht sie regelmäßig in den Semesterferien. Als Bianca am Hafen von Sollér den charmanten Rentner Wolfgang kennenlernt, werden ihre Lebensgeister geweckt. Warum soll sie allein in einer Villa leben, wenn sie die ganze Welt sehen kann? Bianca beschließt, das Haus zu verkaufen und gemeinsam mit Wolfgang das Geld auf einer Weltreise zu verjubeln. Leben um jeden Preis – den zahlen schließlich die Erben. Doch die sind nicht erfreut, als sie von Mutters Plänen erfahren …
Tessa Hennig
Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2021© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Gerhard GlückE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-8437-2505-7
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Brauch bald ’ne mit 2.0. Mit 1,75 wird der Arm hin zur Tastatur ja immer länger. 1,5 Diop – das waren noch Zeiten!Wenigstens kein Geierhals mehr. Weitsichtigkeit ist gut für die Haltung. Man lehnt sich zurück, um scharf zu sehen, aber das geht in die Schultern.Wenn’s wehtut, merkt man, dass man lebt! Also jammre nicht!Schon die zweite Nacht von Ernst geträumt. Koffer gepackt. Mutter hat mal gesagt, wenn alte Menschen Koffer packen, dann gesellen sie sich bald zu den Ahnen. Die Kiste mit den Nägeln drauf kann warten!Will Ernst mich jetzt etwa holen? Bin doch erst 74, na gut, aufgerundet 75 – aber erst ab übermorgen.Und holen? Ha! Wozu? !Erst Luisa zusammenstauchen, dass sie ständig diese Emikodingsdas schickt, und jetzt biste selbst süchtig danach.Jeder braucht ein Laster!Und was, wenn Mutter in Sachen Koffer recht hat? Bianca, beruhig dich! Es sind nur Träume. Sind Schäume. Auch das hat sie oft gesagt, und die hat keinen Koffer gepackt, bevor sie der Schlag getroffen hat.Das kommt nur davon, weil ich diese Woche zweimal auf dem Friedhof war. Else ist jetzt auf ihrer letzten Reise, auch ohne Koffer. Hätte ja nicht bei Ernst vorbeischauen müssen. Der hat seine Blumen schon letzte Woche gekriegt, unverdienterweise.Sollte ich nicht denken. Bringt Unglück. Nix Schlechtes über Tote reden.Ach, Else … Du wirst mir fehlen. Mit dir war sogar der Ballermann schön. Jetzt sind se bald alle weg. Entweder in Alemania oder im Himmel, wobei Else sich nicht sicher gewesen war, ob sie nicht in die Hölle kommen würde . Fünf Männer verschlissen! Dann hatte sie doch den Himmel schon auf Erden gehabt . Vielleicht trifft sie in der Hölle ja auf Ernst . Dann hat sich’s ausgeballermannt.
Sonne scheint. Wird wieder heiß heut. Hoch lebe Mallorca! Rheumasaison ist endlich rum.
Tag fängt abgesehen von diesen Koffern gut an.War ausnahmsweise ohne diese pflanzlichen Dragees auf dem . Geht also doch. Die richtige Atemtechnik. Allein dafür hat sich Yoga gelohnt. Und reichlich Olivenöl ins Essen. Gibt’s ab heute jeden Abend, zu allem, und nicht zu scharf essen. Muss ich Teresa sagen. Estufado so scharf. Nee! Stopft. Vermutlich heißt das Gericht deshalb »estufado«. Klingt doch schon irgendwie nach »stopfado«. Das braucht sie gar nicht mehr machen. Spanische Küche in allen Ehren, aber nix mehr mit scharf! Soll lieber putzen statt kochen. Kann sie bald woanders. Oh Gott! Ich muss es ihr heut sagen!
Bianca klappte ihr Notebook entschlossen zu und trank den letzten Schluck ihrer zweiten Tasse Kaffee. Mit nur einer waren Albträume kaum zu vertreiben. Ein Hirnputzer, dieser spanische Lösliche. Und der Kreislauf kam dabei auch noch in Schwung. Biancas Blick fiel auf die Uhr über ihrem Sekretär. Schon halb neun, und sie saß immer noch im Schlabber-T-Shirt vor der Schlafzimmerkommode. An sich kein Problem, wenn man allein lebte, doch solche Dinge durften gar nicht erst einreißen. Disziplin ist das halbe Leben! Bianca betrachtete sich bei diesem Gedanken im Spiegel und erschrak über ihren Gesichtsausdruck, die schmalen, zusammengekniffenen Lippen, aber auch über ihr Haar, das noch kreuz und quer abstand. Keine gute Idee, diese Kurzhaarfrisur. Gib’s zu! Haste dir doch nur so machen lassen, weil Wolfi die Beimer aus der Lindenstraße so toll findet. Der bloße Gedanke an ihn zauberte die erschreckende Strenge ihres Spiegelbilds sofort weg und belebte es mit einem Lächeln. Das verschwand aber, als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Teresa!
Bianca stand auf und huschte hinüber zum begehbaren Kleiderschrank, in dem nun, seitdem Ernsts Sachen entsorgt waren, alles viel übersichtlicher auf den Stangen hing. Obwohl Bianca sich eigentlich nur ihre bequemen Leggings herausholen wollte, schnappte sie sich gleich noch ihr blaues Kleid und legte es sich für später auf dem Bett zurecht. Wolfi liebte Blau, das gefiel ihm auch an ihren Augen so, und früher hatte die Farbe sowieso perfekt zu ihren naturblonden Haaren gepasst. Zu Friedhofsblond passte gottlob alles. Einer der Vorzüge des Alters. Hinein in die Hose. Das T-Shirt ließ sie gleich an. Für eine Zugehfrau musste man sich schließlich nicht schick machen.
Hatte Teresa etwa Fledermausohren? Natürlich hörte man normalerweise jeden Schritt auf der ausladenden Wendeltreppe aus Marmor, die hinunter ins Erdgeschoss führte, aber doch nicht, wenn jemand barfuß darauf heruntertapste. Bianca liebte die sanfte Kühle an ihren Fußsohlen, wenn es draußen schon recht warm war – mit ein Grund, weshalb sie sich für Marmorfliesen im ganzen Haus entschieden hatten. Die waren auch leichter zu reinigen, vor allem im Frühjahr, wenn der Wind aus dem bergigen Umland Kiefernpollen über ganz Port de Sóller verteilte und ihn gelegentlich damit sogar gelb einnebelte.
»Hola Bianca. Que tal?«, hallte es erneut hinaus ins Treppenhaus. Teresas Stimme kam aus der Küche, begleitet von Gerumpel und einem daraufhin einsetzenden Geräusch von fließendem Wasser, das munter in einen Eimer pritschelte. Schon zog Bianca der Duft des in Spanien allseits beliebten Chlorreinigers, den sie hierzulande »Lejia« nannten, in die Nase. Angeblich ja das Allerbeste, um ein Haus keimfrei und blitzeblank zu bekommen, insbesondere die Bäder. Wenn Teresa mit ihrer Putzaktion fertig war, roch es in ihrem Domizil wie in einem Krankenhaus. Man konnte dann vom Boden essen. Das Haus wurde zugleich zur Todeszone für Ameisen und sonstiges Krabbelzeug, mit dem Mutter Natur sie im grünen Teil Mallorcas, im Nordwesten, reichlich segnete.
»Buenas«, begrüßte Bianca sie, als sie die Küche betrat. Das dazugehörige »Dias« ließ sie weg. Das machten hier alle Einheimischen, wie ihr Teresa erklärt und sie selbst oft genug in der Stadt aufgeschnappt hatte. Man war dann eine von hier, wobei Teresa froh war, dass Bianca de facto keine »von hier« war – vermutlich mit ein Grund, warum sie als Zugehfrau seit Jahren fast ausschließlich für sie, Überwinterer aus Berlin, und noch drei Deutsche, die Bianca nicht kannte, arbeitete. Brachte auch mehr ein als ihre früheren Jobs in der Hotellerie und Gastronomie, denen sie ihre Deutschkenntnisse zu verdanken hatte. Deutsche hatten Teresas Erfahrung nach stets ein aufgeräumtes und vor allem logisch organisiertes Haus. Bei Spaniern lag so viel herum, dass sie vor lauter Aufräumen gar nicht zum Putzen kam. Die minimalistische, moderne Einrichtung ihres Hauses musste für Teresa das Paradies auf Erden sein. Durchdacht bis ins letzte Detail, genau wie Bianca es immer für ihre Kunden getan hatte. Wer zwanzig Jahre für andere Wohnungseinrichtungen konzipiert hatte, der wusste, wie man aus einer Finca einen Luxustempel machte. Ein Traum in Weiß und Anthrazit mit wenigen und für jeden Raum abgestimmten Farbakzenten, die Gemälde und Skulpturen beisteuerten.
»Magst du einen Kaffee?«, fragte Bianca, obwohl sie genau wusste, dass Teresa vor der Arbeit keinen trank. Dementsprechend verdutzt sah sie zu ihr her. Doch lieber später mit ihr reden? Etwas vor sich herzuschieben, war an sich nicht Biancas Ding. Das sorgte nur für einen nervösen Magen.
»Es gibt etwas zu besprechen«, gab Bianca ihr zu verstehen, damit sie es so schnell wie möglich hinter sich hatte.
»Aber das Wasser. Es ist jetzt heiß«, protestierte Teresa.
»Dauert nicht lange.« Zumindest hoffte Bianca das.
Teresa stellte den Wasserhahn ab und hievte den nach Chlor stinkenden Eimer aus der Spüle. Schwungvoll und mit so angespanntem Bizeps, dass man meinen könnte, sie sei eine ehemalige russische Gewichtheberin. Bianca erstaunte immer wieder, woher diese Frau die Kraft nahm. Mit fünfundsechzig war man schließlich kein junges Ding mehr. In Teresas Alter hatte sie beim Treppensteigen bereits gekeucht und nach zwei fiesen Schüssen der Hexe nichts mehr angefasst, was die Hexe hätte ärgern können.
»Also doch einen Kaffee? Cortado?« Bianco hoffte, dass Teresa mit ihren Prinzipien brach.
Zunächst nickte sie – schulterzuckend –, nahm dann aber Bianca mit zusammengekniffenen Augen ins Visier, woraufhin aus ihren sonnengegerbten Falten regelrechte Furchen wurden, die ihre Stirn von der nach hinten gebundenen blondierten Mähne bis zu den Augenbrauen zierten.
»Ist alles in Ordnung? Du siehst blass aus«, stellte Teresa fest.
»Ja. – Was soll denn nicht in Ordnung sein?« Warum sie etwas blass war, wusste Bianca. Das musste die Aufregung sein. Wer überbrachte schon gern unangenehme Nachrichten? Da sah man nun mal nicht aus wie das blühende Leben.
»Du warst doch beim Arzt.« Aha, der Brief mit dem Laborbericht vom Centro de Salud von letzter Woche war Teresa also nicht entgangen.
»War reine Routine. Blutwerte einer Chica in den besten Jahren, hat der Arzt gesagt«, versicherte Bianca ihr, wobei sie natürlich wusste, dass er damit charmant übertrieben hatte. Fit war sie, aber schon lange kein Mädchen mehr.
Teresa erleichterte das sichtlich. Ihre Stirnfalten wurden wieder zu bloßen Zeitzeugen. Sie musterte sie aber immer noch misstrauisch.
»Aber du gehst doch normalerweise im Herbst.« Auch das wusste Teresa natürlich, zumal ältere Semester sich naturgemäß gerne über Arztbesuche austauschten. Eine Steilvorlage.
»Ich wollte wissen, ob ich für die Reise fit bin – und dann noch die ganzen Impfungen. Muss man doch klären.« Eigentlich hatte Bianca geplant, ihr das schonender beizubringen, doch bevor das Wasser im Eimer noch kalt wurde, was Teresa ihr vorwerfen würde, legte sie die Karten besser gleich auf den Tisch.
»Reise? Impfung? Gegen was?« Teresa war sichtlich von der Rolle.
»Wolfi und ich … wir planen eine Weltreise.« Jetzt war es raus.
Teresas Augen weiteten sich. Ihre Stirnfalten sprangen erneut in den Canyon-Modus. Sie suchte Halt am Stiel des Wischmopps.
»Die ganze Welt? Todo el mundo? Madre mía!«, stammelte Teresa.
Bianca ließ sich mit einer Antwort Zeit, denn es war gar nicht so einfach, sich an ihre Reisepläne in der richtigen Reihenfolge zu erinnern.
»Von hier mit einem Segler nach Gran Canaria. Weiter mit dem Flieger nach Marokko. Hoch nach Tunesien, runter nach Nigeria und Südafrika. In Port Elisabeth gibt’s ’nen Elefantenpark. Wieder hoch nach Ägypten. Einmal im Leben die Pyramiden sehen und das Tal der Könige. Tut Ench … Du weißt schon, Anun oder so ähnlich. Weiter nach Dubai, Shopping und rauf auf diesen hohen Turm, dann Indien Tadsch Mahal. Ist ja auch wie ein Weltwunder. Also eines der Neuzeit. Hab ich gelesen. Bangkok. Muss sein. Ach, ich freu mich so auf den Königspalast. Der ist so schön bunt und mit so viel Gold. Glitzert alles. Dann Sydney. In Australien noch zwei Inlandsflüge. Ich möchte endlich mal Kängurus in echt sehen und den berühmten roten Felsen. China, die Mauer und den Kaiserpalast. Der letzte Kaiser war so ein toller Film. Natürlich Japan, in Tokio Sushi essen und über Honolulu nach San Francisco, Boston, New York, Paris, und bevor wir wieder heimkommen, nach Basel oder Stuttgart. Dann noch ein Abstecher nach Freiburg.« Bianca ratterte ihr Reiseprogramm herunter wie auswendig gelernt.
Teresa stand mit sperrangelweit geöffnetem Mund da.
Bianca suchte nun auch Halt am Küchentisch. Sie hatte sich selbst von ihren Reiseplänen davontragen lassen und sich schwindlig geredet.
»Freiburg?«, wunderte Teresa sich, nachdem sie wieder Luft bekam.
»Luisa.«
Teresa nickte wissend. Dass Biancas Enkelin in Freiburg studierte, wusste sie. Sie wirkte dennoch immer noch leicht geschockt.
»Aber wie lange seid ihr denn dann unterwegs? Und Luisa? Die kommt doch im Sommer.« Das war der Wermutstropfen, denn ihre Enkelin vermisste Bianca schon beim bloßen Gedanken daran, dass sie sich auf Monate nur noch per Videochat sehen würden.
»Monate … Vielleicht sogar ein Jahr. Wir haben ja keine Eile.«
»Hast du im Lotto gewonnen?«
Bianca holte tief Luft, denn das Gespräch lief unweigerlich auf den neuralgischen Punkt zu. Dementsprechend dünnte sich Biancas Stimme aus.
»Mein Erspartes reicht höchstens für Rucksacktourismus. Und dafür bin ich schon zu alt. Ich werd das Haus verkaufen.«
Teresa schluckte und zog traurigen Blicks ihre Augenbrauen so weit zusammen, dass Bianca schon fürchtete, dass Teresa die Stirnfurchen nun blieben.
»Aber … du hast es doch so schön hier«, sagte Teresa.
»Schön? Die meisten meiner Freunde sind entweder tot oder in der alten Heimat. Ich hock hier die ganze Zeit allein herum.«
»Das Haus. Es war doch euer Traum …« Teresa sah sich fassungslos in der Küche um und ließ ihren Blick zum Fenster wandern. »Allein diese Aussicht«, schwärmte sie.
»Jeden Tag das Gleiche.« Bianca wunderte sich selbst darüber, mit welcher Leichtigkeit sie das eben von sich gegeben hatte.
»Und die vielen schönen Sachen … Bilder und Möbel. Die ganzen Erinnerungen.«
»Kann man auch in seinem Herzen tragen. Solange es noch schlägt.« Genau das war doch der Punkt.
Teresa seufzte und schüttelte den Kopf. Dann wirkte sie schlagartig tieftraurig. Die Konsequenz des Hausverkaufs hatte sie nun wohl erfasst.
»Wann fahrt ihr?«
»Sobald das Haus verkauft ist. Es gibt bereits Interessenten.«
Teresa nickte still und stumm vor sich hin. Der Stiel des Wischmopps wurde mittlerweile zur Krücke.
»Die neuen Eigentümer brauchen sicher auch jemanden«, versuchte Bianca, sie zu trösten, was aber nicht so recht zu wirken schien.
»Ich dachte, ihr wolltet nur Urlaub machen. Für ein paar Wochen.«
»Wennschon, dennschon. Wolfi wollte das auch schon immer mal machen. Er tut mir gut. Er bringt mich zum Lachen. Ich bin wieder ein Mensch. Verstehst du?«
Teresa nickte, auch wenn sie es sicher nicht vollumfänglich verstand, denn mehr als zweimal hatte sie Wolfi noch nicht zu Gesicht bekommen.
»Aber gleich so weit weg … Und wenn unterwegs etwas passiert … oder du krank wirst …«
»Reisekrankenversicherung mit Rücktransport. Die Uhr tickt. Und die Zeiger laufen immer schneller. Ich will hier nicht verrotten, noch etwas erleben, bevor’s auf die letzte Reise geht«, sagte Bianca. Es war eigentlich schon ein Ausruf, der einfach alles auf den Punkt brachte.
»Und deine Familie … weiß die …?«
»Das kriegen die doch gar nicht mit. So selten, wie sie sich bei mir melden. Ich kann schon froh sein, wenn Steffen mich übermorgen überhaupt anruft. Na ja, Anja wird sich sicher melden.« Zumindest hoffte Bianca das. Am Ende vergaßen ihre Kinder ihren Geburtstag noch gänzlich.
Teresa kommentierte das mit einem mitleidsvollen Blick.
»Telefonieren kann man von überall auf der Welt … Und Luisa … Ich könnte ihr ein Flugticket spendieren. Dorthin, wo wir halt gerade sind.« Auf diesen Gedanken war Bianca gerade eben erst gekommen. Verlockend!
Teresa richtete sich tapfer wieder auf.
»Bevor ich es wegschütte, fang ich jetzt wohl besser an«, sagte sie, womit klar war, dass Bianca sich den Weg zur Kaffeemaschine am anderen Ende der Küche ersparen konnte.
»Wir finden eine Arbeit für dich. Und ich melde mich von unterwegs, schick dir Fotos.« Bianca überlegte, ob das so eine gute Idee war, denn soviel sie wusste, hatte Teresa noch nicht so viel von der Welt gesehen.
Teresa brummelte zustimmend. Ihr Finger steckte schon prüfend im Putzeimer. Anscheinend war das Wasser ihr noch heiß genug, denn flink versenkte sie den Mopp darin.
»Hab was zu essen mitgebracht. Ist im Kühlschrank. Paella«, sagte sie, bevor der Mopp auf den Boden klatschte.
Bianca kannte die Schärfe ihrer Paella, verkniff sich aber im Moment besser eine Bemerkung, denn das würde Teresas Gemüt nur noch mehr beschweren. Am besten, sie verzog sich. Teresa hasste es sowieso, wenn man ihr bei der Arbeit zusah. Außerdem näherte sich der Mopp bedrohlich ihren Füßen, was sehr nach einer Aufforderung aussah, sich aus der Küche zu verziehen. Bianca beschloss, nach oben zu gehen und sich das Wesentliche des eben Gesagten aufzuschreiben, auch Teresas Reaktion. Wie schnell vergaß man so was. Wertvolle Erinnerungen. Viel wertvoller als das Haus, die Möbel und der ganze Kram, für den sie paradoxerweise jahrelang geschuftet hatte. Ab jetzt wird nur noch gelebt und nicht mehr gesammelt. Bianca nahm sich vor, dies wörtlich in ihr Tagebuch zu schreiben.
Das Licht aus den an der Decke angebrachten Neonleuchten ist so grell, dass es nicht nur blendet, sondern regelrecht in die Augen sticht. Der Geruch von Desinfektionsmitteln legt sich beißend auf die Lunge. Anja rennt trotzdem, so schnell sie nur kann, den sterilen Gang entlang. An so vielen Türen vorbei. Aus dem hintersten Zimmer ruft jemand nach ihr. »Schwester.« Die Kinderstimme ist gurgelnd und dumpf. Ein erstickter Laut aus einem der anderen Zimmer. Schneller. Türen über Türen. Keuchen, Stöhnen, Röcheln, Rufe. Die Tür zu dem Zimmer, aus dem das Kind nach ihr ruft, ist noch so weit weg. Der Gang wie ein nicht enden wollender Tunnel. Sie kommt der Tür nicht näher. »Schwester!« Frische Mandel-OP. Der Junge braucht einen Spucknapf. Sie liegen vor ihr auf dem Wagen. Schon desinfiziert? Anja greift nach der obersten Schale auf dem Stapel. Tücher liegen daneben. Unglücklich in der Eile hingegriffen. Scheppernd gehen die Metallschalen zu Boden. Ein Höllenlärm. Er hallt wie Donner im Gang. »Schwester!« Nur noch ein Wimmern. »Ich bin doch gleich da«, ruft sie, doch dann versagt ihr die Stimme.
Anja schreckte auf und befand sich plötzlich mitten in Dunkelheit, die ein feiner Lichtstrahl aus einem schmalen Riss in den Stoffrollos durchschnitt – gerade hell genug, um sich in ihrem Schlafzimmer zu orientieren, zu wissen, dass sie in ihrem Bett lag, halb gelähmt von diesem Traum, der nur einer von vielen in letzter Zeit war. Er sorgte dafür, dass sie sich schweißgetränkt zur Seite wälzte und die Nachttischlampe anknipste, um einen Blick auf den Radiowecker zu werfen. Erst kurz vor elf. Anja ließ sich wie ein schlaffer Sack zurück ins Bett sinken, in der Hoffnung, wieder einzuschlafen, doch sie erschrak, als sie sich im verspiegelten Kleiderschrank gegenüber sah. Der feine Lichtstrahl fiel nun genau auf ihr Gesicht und leuchtete es gruselig von der Seite aus. So sahen Zombies aus. Ihr schwarzes Haar wild und verwirbelt. Leichenblässe und dunkle Ränder unter den Augen. Während sie sich aufsetzte, um das klatschnass geschwitzte Kissen umzudrehen, überlegte sie, ob es sich überhaupt noch lohnte, weiterzuschlafen. Gerade mal vier Stunden hatte sie nach dem Nachtdienst bisher zusammengekratzt. Eindeutig zu wenig. Aber wie konnte man mit diesem Traum im Gedächtnis einschlafen? Anja versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass die Albträume dieser Art nicht mehr so häufig waren wie noch vor einem Jahr, als sie völlig übermüdet einem Kind eine falsche Infusion gelegt hatte. Wenn ihre Kollegin Petra es nicht gemerkt hätte, wäre das Kind sicher gestorben. Nie wieder Onkologie. War die Privatstation besser? Ja, sie war besser, auch wenn Anja oft die ganze Nacht allein Dienst schob. Geld für mehr Personal war zwar nicht da, aber wenigstens gab es auf dieser Station nur Kleinkram. Mandeln raus, Knochenbrüche, Blinddarm. Man musste einfach nur da sein und funktionieren, ohne die Psyche dabei bis an die Grenzen und darüber hinaus zu belasten. Anja dachte sogleich an den kleinen Benjamin, der ihr am Vortag einen Hasen gemalt hatte. »Für die liebe Schwester Anja«, stand darauf. So süß, der Kleine. Gedanken dieser Art entspannten. Sie trieben der geschundenen Seele die Geister der Vergangenheit aus. Doch! Es lohnte sich noch, weiterzuschlafen. Sonst war der freie Tag kein Vergnügen. Zwei volle Tage frei. Überstunden abbauen. Jetzt wird wieder geschlafen! Anja drehte sich auf die Seite. Der Duft von Lavendel aus dem kleinen Kissen, das sie sich nach anstrengenden Nachtschichten stets ans Kopfende ihres Betts legte, war noch stark genug, um ihr in die Nase zu kriechen. Beruhigt! An den süßen Hasen denken. So schöne Gedanken. Für solche Momente lohnte es sich zu arbeiten. Schlafen! Der Kopf sank immer tiefer in die Federn. Das entspannte so schön, doch der Effekt hielt nicht lange an, weil sich ihr Handy lautstark meldete. Anja verkrampfte augenblicklich, obwohl es nicht der Klingelton für die Klinik war. Oft genug erlebt, dass sie einspringen musste, weil sich eine ihrer Kolleginnen krankgemeldet hatte. Es war der für Unbekannte. Wahrscheinlich irgendein Telefonfuzzi, der ihr erneut ein Unterhaltungspaket für Bundesliga-TV andrehen wollte. Ignorieren. An den Hasen denken! Hört schon wieder auf. Hörte aber nicht auf. Wenn das Blut einmal in Wallung gerät und das Herz bis zum Hals schlägt, ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Wut treibt dummerweise den Puls nach oben. Und die trieb sie auch aus dem Bett und die fünf Schritte hinüber zu ihrer Anrichte, auf der das Handy lag.
Ihr »Hallo« war Anklage und Verurteilung in einem. Bissiger konnte man sich kaum melden.
Ein eingeschüchtertes »Hola« kam vom anderen Ende der Leitung zurück. Moment, die rauchige Stimme mit spanischem Akzent kennste doch. Teresa? Oh Gott! Ist irgendetwas mit Mama? Ihre neue Handynummer hatte sie ihr doch nur für Notfälle gegeben. Anjas Herz begann zu rasen.
»Wie geht es dir?«, kam dann.
Okay, Mama konnte nichts passiert sein, sonst würde Teresa nicht so dämlich fragen.
»Bin grade aufgestanden«, sagte Anja wahrheitsgemäß und wieder in einem normalen Tonfall.
»Oh, tut mir leid. Lo siento. Hab ich dich geweckt?«
Jemandem, der sich so kleinlaut gab und hörbar Reue zeigte, konnte man nicht böse sein.
»Wäre eh gleich aufgestanden«, log sie.
»Hast du eine Minute?«
»Auch zwei. Was gibt’s? Ist irgendwas mit Mama?« Es konnte ja gar nicht anderes sein, überlegte Anja, aber es war bestimmt nix Schlimmes.
Für einen Moment vernahm Anja nur atmosphärisches Knistern in der Leitung und einen Schnaufer. Anja nutzte die Zeit, um die Rollos ein kleines Stück nach oben zu ziehen, sodass die Helligkeit nur langsam ihr Schlafzimmer flutete.
»Hat sie dir davon erzählt? Dass sie ihr Haus verkaufen will?«
»Was?« Anja tappte zurück zum Bett. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich zu setzen.
»Also nicht?«
»Nein. Und wieso so plötzlich?« Teresa musste sich täuschen, denn das Haus war Mamas ganzer Stolz. Zu lange hatte sie dafür geschuftet und es liebevoll eingerichtet.
»Eigentlich dürfte ich das gar nicht sagen.« Auch wenn Teresa ihr natürlich nicht direkt gegenüberstand, spürte Anja förmlich, dass es ihr unter den Nägeln brannte, ihre guten Vorsätze zu brechen.
»Ich bin verschwiegen wie ein Grab«, köderte sie Mamas Putzkraft.
»Ein Mann. Sie hat sich wieder verliebt«, sagte Teresa.
Anja versteifte augenblicklich. Hatte Mama nach der Trennung von Papa nicht immer getönt, dass ihr kein Mann mehr ins Haus komme? Und überhaupt. Warum wollte sie es dann verkaufen?
»Schön für sie«, löste sich ungewollt von ihren Lippen. Blöde Bemerkung. Etwas Besseres war ihr aber nicht eingefallen.
»Sie will mit ihm eine Weltreise machen. Alles verjubeln, hat sie gesagt.«
»Mama? Nie im Leben.«
»Doch … Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Wer ist das? Dieser Mann?«
»Ein Deutscher.«
»Woher kennt sie den?«
»Die haben sich in einem Café am Hafen kennengelernt.«
»In einem Café«, wunderte Anja sich.
»Warum denn nicht? Wo will man in ihrem Alter sonst einen Mann kennenlernen?«
»Mama? Sie wollte jemanden kennenlernen?« Es hatte doch immer geheißen: Nie wieder.
»Vielleicht wollte ja auch er jemanden kennenlernen«, sagte Teresa dann.
»Kennst du ihn? Wie alt ist er?«
»Er ist jünger«, sagte Teresa.
»Jünger?« Anja traute ihren Ohren nicht. Ein Heiratsschwindler, schoss es ihr durch den Kopf. Anja hatte von der Witwenjagd auf Malle erst kürzlich in einer Zeitschrift gelesen.
»Und wer weiß …« Teresa sprach nicht weiter. Stattdessen stieß sie einen Laut des Unmuts aus.
»Wie meinst du das?«
»Deine Mutter war beim Arzt … Vielleicht ist sie krank und will deshalb noch die halbe Welt sehen, bevor …«, krächzte Teresa.
»Mama?«, sagte Anja mehr zu sich.
»Sie hat doch übermorgen Geburtstag. Vielleicht wäre es gut, wenn jemand von der Familie … Ich glaube, sie braucht das jetzt. Sie vermisst euch«, sagte Teresa. Es klang überzeugend.
»Und am meisten Luisa«, fügte sie hinzu.
Letzteres nahm Anja ihr sofort ab. »Also, ich kann nicht. Dienst.«
»Deine Mutter übersteht in ihrem Alter so eine Reise nicht. Australien, Afrika … Impfungen.«
»Afrika? Was will sie denn in Afrika?« Anja hielt es nicht mehr auf ihrem Bett. Sie stand auf, zog das Rollo noch ein Stück nach oben, auch wenn die Sonne sie höllisch blendete.
»Du musst kommen, und nimm Luisa mit. Ich muss auflegen. Der Bus ist da …«, sagte Teresa gehetzt. Dann klickte es in der Leitung.
Anja stand wie gelähmt am Fenster und blickte auf die trostlose Betonwüste des Neubaukomplexes, in dem auch sie ihre Wohnung hatte.
Mama todkrank? Anja konnte das nicht glauben. Aber angenommen, es stimmte. Dann wären ihre Reisepläne plausibel. Nach so einer Diagnose gaben einige Leute Gas. Noch aus dem Leben rausholen, was ging, vor allem reisen. Schon oft gehört. Und ein neuer Mann klebte an ihren Fersen. Ein jüngerer Mann. Erbschleicher. Auch das hatte sie sich von ihren älteren Patienten bereits anhören dürfen. Schöne Augen machen, ein paar Gefälligkeiten, und dann in aller Ruhe warten, bis das Opfer sich von dieser Welt verabschiedete. Alles klar. Steffen anrufen. Vielleicht kann er ja. Oder soll ich meinen Urlaub dafür opfern? Wie denn, wenn kaum noch Personal da ist. Anja zog das Rollo mit einem Ruck nun ganz nach oben. Entscheidungen dieser Art traf man besser bei vollem Bewusstsein.
Bianca hatte schon lange aufgehört zu zählen, wie viele Fotos sie von ihrer Terrasse aus oder auf ihrem Spazierweg hinunter zum Hafen gemacht hatte, um diese traumhafte Aussicht auf die Bucht von Port de Sóller einzufangen. Im Frühjahr, wenn alles blühte, war es hier am schönsten. Je nach Tageszeit, dem damit verbundenen Lichteinfall und der Wolkenstimmung leuchtete das Meer mal türkisfarben, mal azurblau. Um die Mittagszeit, wenn die Sonne fast vertikal auf die Bucht fiel, strahlten die Farben der Häuserzeilen, die vom Hafen bis zur immergrünen hügeligen Landzunge reichten, besonders intensiv. Es waren weiße und überwiegend ockerfarbene Gebäude modernerer Bauart, nach oben zum Hang hin aber vor allem ältere Steinhäuser, aus deren Gärten Zitrusbäume und blühende Sträucher ragten. Das alles zusammen ergab ein schier unbezahlbares Panorama und war einer der Gründe, weshalb sie sich hier so wohlgefühlt und überhaupt erst in diesen Ort verliebt hatte. Obwohl Bianca Panoramen normalerweise erst gegen Nachmittag fotografierte, wenn sich Schatten in die Landschaft gruben, hielt sie heute an einem Oleanderstrauch an. Dessen prächtige rote Blüten musste sie einfach einfangen. Sie bildeten einen reizvollen Kontrast zum Meer und den vielen Segelbooten, die mitten in der Bucht vor Anker lagen. Schönes Bild! Sie machte gleich noch eines aus einem anderen Blickwinkel. Farben und Formen in immer neuen Varianten zu kombinieren, war zeit ihres Lebens eine ihrer liebsten Beschäftigungen gewesen, nicht nur berufsbedingt. Um die Strecke hinunter zum Hafen zu bewältigen, blieb noch genug Zeit. Wolfi schätzte Pünktlichkeit. Bianca beschloss daher, das Foto gleich in ihr digitales Tagebuch hochzuladen. Das vom Vortag war ein Selfie von sich und Wolfi, Arm in Arm an der Uferpromenade. Bianca öffnete den Eintrag und vergrößerte es. Ob er heute wohl wieder diesen tollen Leinenanzug trug? Er passte zu ihm und zu seiner Lässigkeit. Ein Mann wie er gehörte auch nicht in etwas perfekt Gebügeltes und Aalglattes. Aus dem aufgeknöpften Knitterhemd mussten seine gekräuselten Haare auf der Brust sprießen. Die und sein ebenfalls ergrauter Bart, sein von der Sonne gegerbtes Gesicht und sein weißes Haar, das silbern im Gegenlicht schimmerte, machten ihn äußerst attraktiv. Wolfis sonore Stimme ebenfalls – Christian Kohlund würde vor Neid erblassen –, und dann noch sein verwegener Blick. Ein richtiger Mann! Das Gesamtpaket stimmte und verursachte angenehmes Kribbeln im Bauch, wenn sie sich sahen. Dagegen nahmen sich selbst gut gebaute junge Mallorca-Schönlinge, die sie bei Erreichen der Uferpromenade am Strand Volleyball spielen sah, richtig langweilig aus. Und am schlimmsten waren diese geschleckten Neureichen in ihren Lacoste-Hemden und Golfhosen. Wenn bei einem Mann die Schultern schmaler als die Hüften wurden, konnte man doch schon gar nicht mehr von einem Mannsbild reden. Letzteres hatte sie in den letzten Ehejahren auch an Ernst gestört, an den sie nun ungewollt dachte, weil einer dieser Golfies in Begleitung seiner Gattin an ihr vorbeischlenderte und das gleiche Parfüm wie Ernst trug. Sie blieb kurz stehen und sah ihm kopfschüttelnd nach. Da war ihr Wolfis herbes Rasierwasser schon lieber. Nur noch wenige Gehminuten, dann hatte sie es wieder in der Nase. So lange schätzte sie, noch bis zum vereinbarten Treffpunkt in einem gemütlichen Café zu brauchen. Es war eines von vielen an der restaurantgespickten Carrer de la Marina, doch nicht irgendeines, denn dort hatten sie sich kennengelernt. Bianca setzte ihren Weg zwischen den im Trottoir eingelassenen Straßenbahnschienen, die direkt an der zum Strand hin palmengesäumten Promenade verliefen, fort. Wohl eher aus Gewohnheit, weil Touristen diesen schmalen Streifen, aus Angst überfahren zu werden, mieden und man daher schneller vorwärtskam. Wenn sich die »Ferrocarril de Sóller«, eine holzverkleidete Straßenbahn, wie man sie auf dem Festland nur noch in einem Museum fand, näherte, hörte man das schon von Weitem. Nur wussten das die meisten Touris nicht, sodass die Schienen zugleich zur Schnellspur für einheimische Fußgänger wurden.
Wolfis schneeweißes Leinenhemd hob sich von den vielen bunt gekleideten Touristen ab, die sich auf den Stühlen vor dem Café unter Sonnenschirmen tummelten. Heute mit Strohhut? Er stand ihm. Als sie sich näherte, nahm sie die Touris ins Visier, die an den Tischen neben ihm saßen. Wer sah wohl nett genug aus, um ein Foto von ihnen beiden zu machen? Das gab bestimmt eine traumhaft schöne Aufnahme. Sie in ihrem blauen Kleid und er im Leinenhemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Wahrscheinlich kam nur das junge Touristenpärchen dafür infrage. Die hatten einen Selfie-Stick dabei. Mussten also Profis der Selbstinszenierung sein. Die Herrschaften im schätzungsweise frischgebackenen Rentenalter, mit Wohlstandsbäuchen, über die sich geschmacklose Billig-T-Shirts spannten, und ein Pärchen, das so dasaß, als hätten beide einen Stock verschluckt, schieden für ihr Vorhaben eher aus.
»Meine Schöne«, begrüßte Wolfgang sie, stand auf und funkelte sie erst einmal aus seinen braunen Augen an, bevor er sie zur Begrüßung küsste. Und gleich noch mal, diesmal aber fest umschlungen. Dass seine Hand an ihrem Rücken entlangfuhr und sich rotzfrech auf ihren Po legte, er dabei verwegen grinste, war genau das, was sie an Wolfi so liebte. Ungezwungen und frei. Die mit dem verschluckten Stock starrten sie ungläubig an. Die mit Wanst ebenso. Nur das junge Pärchen, wohl selbst frisch verliebt, grinste begeistert. Wolfi dachte gar nicht daran, von ihr abzulassen.
»Bleiben wir hier auf einen Drink oder gehen wir gleich zum Hafen? Möchte dir ’nen Segler zeigen. Gehört einem Griechen. Der fährt kommende Woche auf die Kanaren.«
»Einem Griechen? Kennst du ihn?«
»Christos hat mal ’nen Achter-BMW bei mir gekauft. Gran Coupé.«
»Onassis’ Enkel?« Bianca waren die verschiedenen Automodelle mittlerweile ein Begriff. Flotte Schlitten waren Wolfis Leidenschaft, und bis vor zwei Jahren hatte er diese hier auf der Insel verkauft.
»Geldwäscher«, sagte er und lachte, woraufhin Wanst und Stock gleich noch größere Augen machten.
»Magst du eine Sangria?«, fragte er, während er ihr einen der Stühle zurechtrückte.
Bianca nickte, denn sie wusste, dass die Sangria hier nur auf Grundlage der besten Roten zubereitet wurde. Am Ballermann konnte man das beim besten Willen nicht trinken.
»Dos sangrias con mucho hielo y tres rodajas de naranja«, bestellte er beim vorbeihuschenden jungen Ober, bevor er neben ihr Platz nahm. Auch eines der Dinge, die sie an Wolfi schätzte. Er war so aufmerksam und merkte sich selbst Kleinigkeiten wie, dass sie viel Eis und mindestens drei Scheiben Orangen im Sangriaglas haben wollte.
Nachdem die Bestellung aufgegeben war, lehnte er sich erst mal entspannt zurück und sah sie einfach nur an. Bianca ertrug das bei keinem anderen Menschen. Wie oft hatte sie sich mit Ernst in Cafés wie diesem angeschwiegen. Im Moment fielen auch keine Worte, doch sie schwiegen nicht. Seine Augen und Gesten waren beredt genug. Seine Hand wanderte auf ihre. Sein Daumen fuhr ihr über den Handrücken. Dabei schmunzelte er wie ein junger, verliebter Kerl.
»Kann noch gar nicht glauben, dass es erst zwei Wochen her ist«, sagte er dann.
»Mir geht es genauso«, erwiderte Bianca. Seither hatten sie fast täglich in diesem Café gesessen. Am Platz daneben, wo jetzt das junge Pärchen saß, hatten sie ihr erstes Date gehabt, wie man das heutzutage nannte. Nur einen Blick getauscht, dann ein irritiertes, eher schüchternes Lächeln ihrerseits. Mehr brauchte es doch nicht, um sich zu verlieben.
»Ich heiße Wolfgang – und Sie?«, hatte er keck vom Nebentisch aus gefragt.
Ja, was will man denn darauf anderes sagen, als sich namentlich vorzustellen? »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Hab hier schon zu oft allein rumgesessen. Da kann man ja mit niemandem anstoßen.« So eine charmante und doch bodenständige Anmache wies eine kluge Frau nicht ab. Bianca erinnerte sich an den wohl längsten Tagebucheintrag seit Jahren. Wie sonst sollte man Gefühlswallungen, die schon seit Ewigkeiten eingemottet gewesen waren, einigermaßen einordnen und vor allem verarbeiten?
»Neben mir saß doch diese Blondine. Hast du dich bei der auch so dreist vorgestellt?«, wagte sie heute ganz offen zu fragen. Natürlich augenzwinkernd.
»Interessierte mich nicht«, erwiderte er schmunzelnd, ohne seinen Blick von ihr zu nehmen.
»Zu jung?«
»Kein Charisma. Ich hab Menschenkenntnis. Die brauchst du als Autohändler.«
»Deine Achter-BMW-Kunden waren doch sicher Männer.«
»Klar, aber ausschlaggebend sind immer die Frauen. Ein Mann kauft so einen Wagen, um einer Frau zu imponieren. Die Frau trifft die Kaufentscheidung. Ist doch bei Wohnungen genauso. Bad und Küche müssen top sein.«
Bianca lachte, denn dies entsprach so ziemlich genau ihrer langjährigen Berufserfahrung. Küchen und Bäder zu planen, war sowieso eine Wissenschaft für sich.
»Ich kann es kaum erwarten … Mit dir unter sternenklarem Himmel an Bord zu liegen.«
Bianca ging es nicht anders, doch bei aller Verliebtheit keimten in solchen Momenten Ängste auf, vor allem die Angst vor der eigenen Courage. Man durfte das wohl kaum jemandem erzählen, sich mit einem Mann, den man noch nicht so lange kannte, auf Weltreise zu begeben. Aber das musste sie ja auch niemandem erzählen. Bianca schmunzelte diese Angst einfach hinweg.
Wolfi war dieser nachdenkliche Moment offenbar trotzdem nicht entgangen, denn er musterte sie nun etwas eindringlicher.
»Schon verrückt. Wir kennen uns erst so kurze Zeit. Ich hätte nicht gedacht …« Der Mann konnte anscheinend Gedanken lesen.
»Ich bin sicher hier auch nicht entlangspaziert in der Absicht, jemanden zu finden, mit dem ich um die Welt reise«, gab sie zurück.
»Hast du Angst davor?«
Auch das war merkwürdig. Bianca scheute sich nicht davor, ihm gegenüber offen zu sein. Sie nickte. »Manchmal …«
»Vor was genau? Etwa vor mir?«
Bianca verneinte seine Frage und musterte nun ihn im Gegenzug. Sein Blick war fürsorglich und einfühlsam.
»Dass ich es vielleicht nicht durchhalte. Rein körperlich. Die Hitze, Stürme, Turbulenzen im Flieger, Moskitos … Oh Gott, ich darf gar nicht darüber nachdenken.«
»Man wächst mit den Herausforderungen. Je weniger man macht, desto weniger traut man sich zu. Und nichts ist schlimmer, als sich zu verkriechen.«
»Selbst mal erlebt?«
»Nach der Scheidung von meiner Frau wollte ich nicht mal mehr aus dem Haus gehen.«
»Du hast mir noch nicht erzählt …«
»Warum wir uns haben scheiden lassen? Sie hat sich in einen Jüngeren verliebt. Animateur. Sportlich, trainiert. Junger Hengst. Passiert.« Wolfi gab sich zwar cool, aber seine Stimme hatte auf einmal eine melancholische Klangfarbe.
»Und du? Warum hast du dich scheiden lassen?«
Bianca zögerte, denn dies war einer ihrer neuralgischen Punkte.
»Ging nicht mehr. Passiert«, gab sie zurück. Bianca war froh, dass der Kellner ihnen die Sangriagläser auf den Tisch stellte.
Wolfi griff als Erster zum Glas.
»Auf die Dinge, die passieren. Sind ja auch schöne Momente dabei«, sagte er und hielt ihr das Glas hin.
»Macht ihr ein Bild von uns?«, fragte sie den jungen Kerl am Nachbartisch.
»Klar.«
Bianca reichte ihm ihr Handy und posierte für das Bild. In Gedanken an das, was ihr mit Ernst »passiert« war, fiel es ihr aber schwer, so ganz unbeschwert zu lächeln.
»Tolles Foto«, kommentierte Wolfi, nachdem der junge Mann ihm die Aufnahme gezeigt hatte.
»Ein Traumpaar.«
»Ein wirklich hübsches«, sagte der junge Kerl.
Bianca atmete auf.
Beim Umrunden seines in die Jahre gekommenen Hotels wartete Steffen förmlich auf einen Satz, den er in den letzten drei Monaten leider des Öfteren zu hören bekommen hatte: »Das wird teuer.« Zuletzt vor zwei Wochen und ausgerechnet an seinem fünfundvierzigsten Geburtstag, weil sich in zwei Zimmern Schimmelbefall gezeigt hatte – und das im Sommer. Ein Hotel mit verschimmelten Räumen, einer stellenweise brüchigen Außenfassade und ohne Wärmedämmung war faktisch unbewohnbar. Noch besah sich der Handwerker die Holzfenster, die Steffen seit Kauf des Hotels vor gut zwei Jahren mangels Finanzen noch nicht hatte austauschen lassen. Ebenfalls eine potenzielle Schimmelquelle, vor allem im Winter, wenn es in Lindau ziemlich frostig wurde und die Heizung auf Hochtouren lief, um die feuchtkalte Luft vom nahen Bodensee zu vertreiben.
»Das wird teuer«, kam dann wie befürchtet vom etwa gleichaltrigen Mittvierziger, einem Allround-Handwerker namens Jochen, der beinahe schon fest angestellt für ihn würde arbeiten können.
»Zwanzigtausend. Mindestens. Aber das kannst du doch von der Steuer absetzen. Energetische Sanierung. Wird gefördert.«
Das war sicher aufmunternd gemeint, doch das in die Jahre gekommene Hotel Stegemann lag nun einmal nicht in Bestlage, sondern am Ortsrand und war nur während der Sommerferien rappelvoll. Ohne die »Wellnessoase«, im Wesentlichen eine stinknormale Sauna, ein Kellerraum mit Massagepritsche und dem anhängigen Nagel- und Fußpflegebereich seiner Frau, wären sie vermutlich bereits pleite. Steffens Gesicht wurde immer länger.
»Ist halt so bei alten Gebäuden. Aber dafür haben sie ihren Charme«, sagte Jochen.
»Charme? Die Leute wollen keinen Rosengarten, sondern einen Pool und möglichst nur wenige Gehminuten zum See«, klagte Steffen sich selbst an. Ihn schmerzte die späte Erkenntnis, die ihn davor hätte bewahren können, sich diesen »lukrativen« Kasten aufschwatzen zu lassen. Scheißtouristikstudium. Da fehlte definitiv der Praxisbezug, auf was man zum Beispiel beim Erwerb eines Hotels, für das man sich auch noch verschuldete, achten sollte. Ein schön gestaltetes Innenleben, die Terrasse mit Blick auf einen traumhaften Rosengarten und der Glasfaseranschluss auf jedem Zimmer rissen es wider Erwarten nicht heraus. Gegessen!
»Wann fängst du an?«
»Kommende Woche? Ist ja noch nicht so viel los hier. Wird Lärm machen.«
Steffen nickte nur. Welche Wahl hatte er schon? Wenigstens war Jochen günstiger als andere, und etwas unter der Hand ging bei ihm normalerweise immer. Die hielt er ihm dann auch hin. Give me five. Die bekam er. Auftragserteilung wie üblich per Handschlag. Diesmal allerdings mit Rechnung, um die energetische Förderung vom Staat zu kassieren. Er kann ja mehr draufschreiben, überlegte Steffen.
Jochen war gerade mit seinem Kombi von der Zufahrt in die Hauptstraße gebogen, da vernahm Steffen die Stimme seiner Frau. Yvonnes Ausruf klang dringlich. Hoffentlich nicht noch ein Schaden in ihrem Fußpflegebereich, den sie Jochen noch schnell mit auf den Weg geben wollte. Auch das Souterrain hatte ja bereits letztes Jahr mit Feuchtigkeit zu kämpfen gehabt.
»Du glaubst das nicht«, sagte sie, während sie in ihrem weißen Praxiskleid die Treppe, die zum Wellness führte, emporeilte. Wenn Yvonne unentwegt ihr schulterlanges brünettes Haar aus dem Gesicht streifte, dann nagte etwas an ihr. Sie tat es auch noch, als sie ihn erreicht hatte.
»Anja hat angerufen.« Yvonne schüttelte ungläubig den Kopf. Die nächste widerspenstige Haarsträhne fiel in ihr hübsches Gesicht, das beunruhigend angespannt wirkte.
»Deine Mutter will ihr Haus verkaufen und mit einem Heiratsschwindler durchbrennen.«
»Was?« Steffen konnte das kaum glauben.
»Sie scheint krank zu sein. Schwer krank.«
»Hat sie das Anja gesagt?«
»Nein. Sie weiß es von Teresa. Du weißt schon. Die Alte, die ihr hilft. Anja meint, wir sollten zu ihrem Geburtstag hinfahren. Könnte ihr letzter sein.«
»Mama? Die ist doch nicht krank.« Steffen kannte keine Frau in ihrem Alter, die rüstiger und reger war.
»Im Kopf offenbar schon«, merkte Yvonne an.
Steffen musste das erst mal verdauen.
»Das ist dort unten Volkssport. Eine Witwe angeln, ihr schöne Augen machen und dann … Weltreise. Der braucht sie bloß irgendwo zurücklassen oder bei einer Kreuzfahrt von Bord ins Meer schubsen …«
»Seit wann machst du dir so viele Gedanken um meine Mutter?«
Yvonne fuhr sich mit einer Hand übers Haupt. Bei Steffen fiel bereits der Groschen, doch Yvonne sprach es auch noch aus.
»Sie wird ihm alles vermachen. Wir sollten hinfahren«, sprudelte es aus ihr heraus.
»Ich werde dieses Haus nicht betreten. Du weißt das. Sie wollte ja unbedingt dorthin, obwohl wir mit Engelszungen auf sie eingeredet haben, dass das in ihrem Alter keine so gute Idee ist.«
»Dein Vater ist ja jetzt nicht mehr dort.« Yvonne wusste allzu gut, dass dies der Hauptgrund gewesen war, warum er sie bisher noch nicht in Port de Sóller besucht hatte. Dass sie sich nicht schon viel früher von seinem Vater getrennt hatte, der zweite. Keine Zeit, weil ein Hotelbetrieb kein Selbstläufer war, der dritte …
Aber verdammt, wenn sie wirklich schwer krank war? Letzteres nagte an ihm mehr, als er sich anmerken lassen wollte.
»Wir könnten sie überraschen. Schließlich wird sie fünfundsiebzig«, schlug Yvonne vor. Dass sie überhaupt wusste, wie alt seine Mutter genau war, wunderte Steffen, denn noch vor einem Monat hatte Yvonne geglaubt, achtunddreißig zu werden, statt neununddreißig. Yvonne hatte es nicht so mit Zahlen.
»Und wer kümmert sich in der Zeit ums Hotel?«
»Frieda ist doch da. Um die Zeit ist es eh ruhig.« Ihrem Zimmermädchen für alles traute Steffen das sogar zu. Dennoch musterte er Yvonne argwöhnisch. Erst vor Kurzem hatten sie bei einem Gespräch anlässlich sanierungsbedingt schwindender Rücklagen über eine mögliche Erbschaft gesprochen.
»Und Anja hast du auch schon lange nicht mehr gesehen. Luisa mögen wir beide.«
So wie Yvonne ihn gerade bedrängte, dachte sie mit Sicherheit in erster Linie an die Knete, die wohl flöten ging, wenn sich seine Mutter von einem Kerl ausnehmen ließ.
»Ich war erst einmal auf Mallorca. Der Westen soll sehr schön sein«, ergänzte sie.
»Anja kommt auch?«
»Weiß sie noch nicht. Hängt von ihrem Dienstplan ab. Viel wichtiger ist, dass Luisa kommt. Deine Mutter hört auf sie.«
»Gott im Himmel! Mallorca, und ausgerechnet jetzt«, unkte Steffen.
»Ich schau mal nach Billigflügen.«
»Mach das.« Unterm Strich gestand Steffen sich ein, dass es gar keine andere Möglichkeit gab, auch wenn ihm davor graute, Vaters Haus zu betreten, und er auch keine große Lust darauf hatte, seine Schwester zu treffen. Die Vorstellung, dass seine Mutter ernsthaft erkrankt sein könnte, wühlte ihn nun aber doch ordentlich auf.
Bianca liebte es, wenn ein Segelschiff sich sanft im Takt der Wellen wiegte. Hier neben Wolfi an Deck von Christos’ Segeljacht zu sitzen, die Füße über die Reling baumeln zu lassen und dabei den herrlichen Blick auf Port de Sóller zu genießen, weckte überraschenderweise Zweifel an ihrer Entscheidung, diesen Ort für längere Zeit zu verlassen. Wolfis Arm, den er um sie gelegt hatte, und die Segelboote, die Kurs auf das offene Meer nahmen, befeuerten hingegen Sehnsüchte, die Bianca nicht mehr länger zu verdrängen gedachte. Die Rahmenbedingungen passten. Der Grieche war Wolfis Wissen nach ein erfahrener Segler und die Jacht groß genug, um in der Straße von Gibraltar nicht abzusaufen. So hingebungsvoll, wie der griechische Mittfünfziger gemeinsam mit einem jüngeren Skipper die Planken polierte, würde er sicher gut auf seine Schwarzgeldperle aufpassen.
»Siehst du die Jolle da drüben? So was bin ich früher gefahren. Am Ammersee«, sagte Wolfi gedankenverloren. Dass er mit seiner geschiedenen Frau dort gewohnt hatte, wusste Bianca bereits.
»Na wenigstens du kannst hier mit anpacken.«
»Das müssen wir nicht, aber es macht Spaß, sich mit dem Wind anzulegen. Und du bist noch nie …?«
»Ernst fuhr gelegentlich zum Fischen raus aufs Meer. Mir war das immer zu langweilig.« Bianca ärgerte sich augenblicklich darüber, dass sich das leidige Thema wohl doch nicht ganz vermeiden ließ, und beschloss, sich ein Beispiel an Wolfi zu nehmen. Er schaffte es, seine Ex außer auf Nachfrage komplett auszublenden. Dankenswerterweise fragte er jetzt auch nicht weiter nach.
»Da plappert man einfach so vor sich hin, und jetzt: zum Greifen nah«, sagte er gedankenverloren, während er seinen Blick hinaus auf die silbrig glitzernde See schweifen ließ und die salzhaltige Luft genussvoll inhalierte.
»Aus Spaß wird Ernst. Sagt man doch immer.«
»Also ich hab nicht damit gerechnet«, gestand er und sah zu ihr.
»Weil ich das mit der Weltreise auch nur so vor mich hin geplappert hab?« Bianca erinnerte sich nur allzu gut an ihren ersten Tag im Café, an dem dieses Thema aufgekommen war.
»Nein, weil es ganz schön verrückt ist.«
»Und wenn schon«, gab Bianca zurück.
»Willst du wirklich dein schönes Haus verkaufen? Dein bisheriges Leben hinter dir lassen und alles verjubeln? Ich hab keine Kinder. Da ist es etwas anderes.«
»Was übrig bleibt, können sie ja haben. Für einen allein ist das Haus viel zu groß. Die Maklerin hat schon Interessenten. Rodriguez hat bereits einen Vorverkaufsvertrag für ein schwedisches Ehepaar aufgesetzt.« Dass es sie unentwegt auch an Ernst erinnerte, verschwieg Bianca. Da nützte auch die schönste Landschaft nix. Die tickende Uhr und der jahrelange Verzicht auf Fernreisen, weil sie Ernst zu anstrengend gewesen waren, kamen noch mit hinzu.
Wolfi musterte sie in einer Mischung aus Verwunderung und Besorgnis.
»Ich weiß ja schon gar nicht mehr, wie Steffen aussieht. Und Anja? Wir telefonieren, aber auch nur an Geburtstagen und wenn Luisa da ist. Luisa kriegt ihren Teil. Den leg ich zur Seite. Die ist noch jung und braucht die Kohle sowieso dringender.« Dass die Reise, bei der sie nicht aufs Geld zu schauen brauchte, auf Kosten der Erben gehen sollte, war beschlossene Sache.
»Vielleicht sind sie einfach zu beschäftigt, dich zu besuchen. Das Leben ist so fordernd. Deine Tochter arbeitet doch im Krankenhaus. Hat sicher viel Stress.«
»Alles Ausreden.«
»Anja und Steffen haben dich nie hier besucht? Das Haus ist doch riesig.«
»Anja war einmal hier, als Ernst noch lebte. Und beide waren bei seiner Beerdigung. Steffen blieb mit seiner Frau im Hotel.« Bianca suchte bereits nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln, musste sich aber eingestehen, dass Wolfgangs Fragen nur allzu verständlich waren. Über die Familie zu sprechen, war zwar nicht minder unangenehm, allerdings verstieß das nicht gegen ihr stillschweigendes Übereinkommen, den Ex-Partner in Gesprächen jeder Art weitmöglichst auszuklammern.
»Es fing in der Pubertät an. Steffen war unerträglich. Jeden Tag Streitereien, vor allem mit seinem Vater. Anja war ruhiger. Das Nesthäkchen. Sie ist vier Jahre jünger als mein Sohn. Vermutlich hast du recht. Im Moment hat sie bestimmt ordentlich Stress.« Bianca wusste, dass dies nicht der vollen Wahrheit entsprach, auch wenn sie daran glauben wollte. Vielleicht erzählte sie ihm alles, wenn sie unterwegs um die Welt waren.
»Und du? Wem willst du alles vermachen?« Sie fragte nicht nur, um das Thema zu wechseln.
»Einem Verein, der sich um streunende oder ausgesetzte Hunde kümmert«, erwiderte Wolfi trocken.