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Erst Rente, dann Trennung? Um Himmels willen! Ulrike verkauft als Floristin anderen Romantik, nur sie selbst kommt daheim zu kurz. Ihr Mann Hans ist zum lahmen Sack mutiert, seit er Rentner ist. Vielleicht wird es Zeit, getrennte Wege zu gehen? Als Tochter Anja von den Trennungsplänen Wind bekommt, bleibt ihr fast die Luft weg. Hans ohne Ulrike? Er wäre völlig aufgeschmissen. Die rettende Idee: Ein spontaner romantischer Trip nach Paris soll die Funken der beiden neu sprühen lassen soll. Und damit das gelingt, fährt kurz entschlossen die ganze Familie mit. Doch ganz so einfach ist das mit dem zweiten Frühling nicht, zumal die Zeit in der Stadt der Liebe einige Familiengeheimnisse an den Tag bringt. Tessa Henning führt uns gewohnt warmherzig und mit viel Humor nach Paris und direkt hinein ins Familienchaos.
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C'est la vie, chérie
TESSA HENNIG schreibt seit vielen Jahren große TV-Unterhaltung und Bestseller-Romane mit Herz und Humor, die auch erfolgreich verfilmt wurden.Wenn sie vom Schreiben eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen gern in den Süden.Von der Autorin sind in unserem Hause außerdem erschienen:Mutti steigt aus・Elli gibt den Löffel ab・Emma verduftet・Lisa geht zum Teufel ・Mama mag keine Spaghetti・Alles außer Austern・Mit Oma in Roma・Bea macht blau・Nie wieder Amore!・Von wegen Dolce Vita!・Kann Gelato Sünde sein?・Erben wollen sie alle・Immer Ärger mit den Bambini
Ulrike verkauft als Floristin anderen Romantik, nur sie selbst kommt daheim zu kurz. Ihr Mann Hans ist zum lahmen Sack mutiert, seit er Rentner ist. Vielleicht wird es Zeit, getrennte Wege zu gehen? Als Tochter Anja von den Trennungsplänen Wind bekommt, bleibt ihr fast die Luft weg. Hans ohne Ulrike? Er wäre völlig aufgeschmissen. Die rettende Idee: Ein spontaner romantischer Trip nach Paris soll die Funken zwischen den beiden neu sprühen lassen. Und damit das gelingt, fährt kurz entschlossen die ganze Familie mit. Doch ganz so einfach ist das mit dem zweiten Frühling nicht, zumal die Zeit in der Stadt der Liebe einige Familiengeheimnisse an den Tag bringt.
Tessa Hennig
Roman
Ullstein
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Der Tag war gelaufen. Ulrike hatte einen Wurm im Ohr. Geholt hatte sie ihn sich von Herrn Eberle, der unentwegt nervenzersetzende Schlager von irgendwelchen Radiostationen aufschnappte, die sie anscheinend rund um die Uhr spielten. Freddy Brecks »Rote Rosen, rote Rosen. Sind die ewigen Boten der Liebe. Rote Rosen, rote Rosen. Die bekommst du darum auch von mir.« Die Textzeilen hatte Herr Eberle gesungen, als er um Ulrikes Rosenbestand herumscharwenzelt war. Die Platte aus den Siebzigern lief heute sicher den ganzen Tag in Ulrikes Stammhirn – so tief hatten sich diese Zeilen in ihren Kopf eingenistet. Wie eine Platte mit Kratzer in Dauerschleife. Der Eberle war glücklicherweise nicht dazu gekommen, weitere Strophen von sich zu geben, weil Ulrike ihn jäh unterbrochen hatte, um ihm klarzumachen, dass Rosen nichts weiter als ein Klischee waren. Wer rote Rosen kaufte, um seiner Angebeteten ein Zeichen seiner Liebe zu schenken, dem fiel halt nichts Besseres ein. Aber gut, wieder sechzig Euro Umsatz gemacht. Die roten waren nun weg und der Eberle auch. Ulrike seufzte erleichtert, als sich die Tür hinter ihm schloss. Voller Wehmut betrachtete sie die schönen Sträuße, die sie heute Morgen liebevoll arrangiert hatte. Romantik pur für frisch Verliebte. Ihre floristischen Kompositionen sagten mehr aus als dieser toupierte Breck mit seinem Gassenhauer. Am besten gefiel ihr der rund gebundene Strauß mit Alstromerien und Santini, Schleierkraut und Lilien, eingebettet, ja fast schon liebkost von Salal und Pistazie. Ein kleines Meisterwerk, wenngleich ein Kinderspiel für eine gelernte Floristin mit über dreißig Jahren Berufserfahrung, zehn davon im »Blütentraum« – ihrem kleinen Laden in der Offenburger Innenstadt, der es bis heute geschafft hatte, den Billigblumenangeboten sämtlicher Supermarktketten zu trotzen. Wahrscheinlich war es ihre Liebe für alles, was blühte, die sie tagtäglich, obwohl sie kurz vor der Rente stand, noch in den Laden trieb, der letztlich nicht nur Flora, sondern Ästhetik und Wohlbefinden verkaufte. Vom täglich betörenden Duft, der aus unzähligen Blütenkelchen strömte, mal ganz abgesehen. Das war jeden Tag ein Genuss, gemütsaufhellend und Trost spendend, wenn das Leben mal wieder vor sich hin zickte. Der Ohrwurm war erst weg, als Frau Heidenreich vor ihrem Laden auftauchte und sie keine zwei Atemzüge später mit einem einnehmenden Lächeln begrüßte. Ulrike mochte diese Stammkundin besonders gerne, weil sie stets guter Dinge war. Kundschaft hatte sie nicht nur einmal für Schwestern gehalten, wenngleich Ulrike der Heidenreich in Sachen Ausstrahlung, die Gletschereis zum Schmelzen bringen konnte, in letzter Zeit nicht mehr das Wasser reichen konnte. Sie sahen sich tatsächlich ähnlich, obwohl nicht einmal entfernt verwandt. Graues, kurz geschnittenes Haar, feine Gesichtszüge, braune wache Augen und Grübchen, wenn sie schmunzelten. Markant war bei beiden das Nashörnchen – Ulrikes Mann Hans bezeichnete es als solches. Auch bei Frau Heidenreich ragte die Nasenspitze etwas nach oben. Ulrikes Kundin wäre, zumindest auf dem Papier, die ältere Schwester. Sie sah mit ihren einundsiebzig aber fast noch einen Tick jünger aus als Ulrike an schlechten Tagen. Angeblich wegen gesunder Ernährung, Verzicht auf Salz und vor allem Zucker, Nikotin, Alkohol und Kaffee. Seit ihrem Vortrag darüber, dass Zucker das schlimmste Gift unserer Zeit sei, dick, süchtig, aber auch träge mache und die gesunde Reproduktion von körpereigenen Zellen unterdrücke, war keiner mehr im Haus. Frau Heidenreich war der lebende Beweis dafür, dass Gesundheit, Vitalität und Schönheit auch mit einem höheren Alter einhergehen konnten. Bei ihr hingen weder die Mundwinkel noch die Wangen, und nur die Haut am Hals zeigte ein paar Fältchen. Wer so aussah, konnte es sich sogar leisten, Kleidung zu tragen, vor der manch Fünfzigjährige zurückschrecken würde. So auch heute. Sie trug eine Bluse mit buntem Blumenmuster, einen roten Schal, passend zum Lippenstift, den gleichfarbigen modischen Ohrringen und eine keck geschnittene weiße Falschpelzjacke, die sie wahrscheinlich nur zur Zierde lose auf den Schultern trug. Joan Collins in Stöckelschuhen – zumindest gemessen an Ulrikes Hush Puppies mit Fußbett, ohne die sie die vielen Stunden im Laden nicht überstehen würde. Ulrike musste nie ihr routiniertes Lächeln für die Laufkundschaft aufsetzen, wenn sie hereinkam, obwohl sie die Frau daran erinnerte, dass sie im Gegensatz zu ihren Blumen, aber auch im Vergleich mit der Heidenreich, bereits am Verwelken war. Die Frau war noch nicht einmal geliftet!
»Guten Morgen, Frau Becher. Was für ein wunderschöner Tag.« Frau Heidenreich versprühte pure Lebensfreude.
Ulrike bemerkte erst jetzt, dass sich die Wolken verzogen hatten und die Sonne die Geschäftshäuser gegenüber beschien.
»Mal sehen, wie lange sich die Sonne heut noch blicken lässt.« Ulrike gab sich angesichts des wechselhaften Aprilwetters der letzten Tage pessimistisch.
»Ach was. Die bleibt schon am Himmel. Sie ist immer am Himmel. Nur manchmal schieben sich halt ein paar Wolken davor.« Frau Heidenreichs fröhliches Wesen verströmte seine Schwingungen wie der Duft von Ulrikes Blumenmeer. Erstaunlicherweise hatte sie nicht wie sonst die Ecke mit den Blumentöpfen im Visier. Manchmal kaufte sie auch nur ein paar Schnittblumen. Der Blumenstrauß für Romantiker schien es ihr heute besonders angetan zu haben.
»Das ist genau das Richtige«, schwärmte sie und ließ sogleich ihre Nase in einen der Alstromerienkelche sinken. Die zogen normalerweise Schmetterlinge an. Frau Heidenreich wirkte wie einer. So leicht, zart und unbeschwert.
»Ideal, einfach ideal …«
»Den hab ich heute Morgen als Hochzeitsstrauß gebunden. Die Hochzeit wurde aber auf kommende Woche verschoben«, erklärte Ulrike.
»Na, da hatte ich wohl den richtigen Riecher.«
»Sie wollen heiraten?«
»In meinem Alter? Wo denken Sie hin, meine Teuerste, obwohl …« Frau Heidenreich schien dieser Gedanke zu erheitern.
Ulrike sah sie entgeistert an, woraufhin Frau Heidenreich laut loslachte. Dass sie Männer immer noch interessierten, war Ulrike bekannt. Mit Mitte fünfzig die zweite Scheidung. Mit Ende fünfzig eine neue Flamme, die allerdings vor drei Jahren erloschen war. Ulrike hatte das Bouquet für seine Beerdigung gebunden.
»Er heißt Wolfgang. Total schnuckelig, der Kerl.«
Ulrike traute ihren Ohren nicht.
»Schnuckelig?« Ulrike hatte bei diesem Wort einen gerade mal geschlechtsreifen Jüngling vor Augen.
»Er ist letzte Woche sechzig geworden, aber immer noch total vital.«
Aha, vermutlich auch einer mit gesunder Ernährung und dem ganzen Pillepalle, um Falten aus dem Gesicht fernzuhalten.
»Hab ihn im Spanischkurs kennengelernt.«
»Sie lernen Spanisch?«
»Er hat ein Haus an der Costa Blanca. Er will, dass ich zu ihm ziehe.«
»Einfach so? Weg von hier?«
»Nennen Sie mir einen Grund, weshalb ich hierbleiben sollte. Sieht man mal von Ihrem Blumenladen ab.«
Ulrike fiel keiner ein. Frau Heidenreich hatte ihres Wissens eine fette Rente und war zudem witwenrentengeboostert. Ihr Sohn hatte sich in ein Mädchen aus der DomRep verliebt und lebte dort von einem Surfverleih, ansonsten von Joints und Liebe. Der besuchte sie gerade einmal im Jahr, entweder zu Weihnachten oder an ihrem Geburtstag, und würde sicher auch nach Spanien fliegen, um die Mama zu erfreuen.
»Sehen Sie«, kam es dann prompt. »Ich glaube, es würde Ihnen auch gefallen. Um die Jahreszeit duftet es dort überall nach Orangen. Man wird ganz high davon«, fuhr Frau Heidenreich fort.
»Sie waren schon dort?« Erst jetzt fiel Ulrike auf, dass sie Frau Heidenreich tatsächlich für bestimmt zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte.
Sie nickte genießerisch.
»Er hat eine Finca, etwas abseits vom Meer. Aber der Blick von dort oben und, was soll ich sagen … Ich fühle mich um zehn Jahre jünger«, juchzte sie. Das klang so, als hätten sie es jeden Tag in irgendeiner Orangenplantage getrieben.
»Wolfgang … Ach … Wolfi …« Frau Heidenreich wirkte wie weggetreten.
Ulrikes Verdacht bestätigte sich. »Er ist wohl noch gut beieinander«, wagte sie anzumerken.
»Gut beieinander? Ein Stier!« Frau Heidenreich kicherte wie ein junges Gör. Das war der Schlag in die Magengrube, obwohl Ulrike genau wusste, dass sie es nicht ernst gemeint haben konnte. In dem Alter. Oder etwa doch? Allein die bloße Vorstellung, dass Männer ab sechzig noch so viril sein konnten und Frauen wie die Heidenreich so lustvoll, brachte Ulrikes Weltbild angesichts eigener jahrelanger leidvoller Erfahrung im ehelichen Schlafgemach arg ins Wanken. Jeder hatte doch ab fünfzig seine Zipperlein. Arthrose, Rheuma, Schleimbeutelentzündungen, Hexenschuss. Rückenprobleme sowieso, wenn nicht Schlimmeres. Ein Stier? Die Heidenreich übertrieb sicher maßlos.
»Er kommt heute zu Besuch. Den Strauß nehm ich.«
Ulrike nickte und nahm ihn aus der Vase, steckte ihn in eine Plastiktube, gefüllt mit Wasser und etwas Düngerflüssigkeit, damit die Stängel straff blieben. Der ideale Strauß für Wolfgang, dessen Stängel anscheinend auch noch recht straff war. Die Frau war zu beneiden.
»Er sieht aus wie Mitte fünfzig. Anfangs hatte ich schon meine Bedenken, aber glauben Sie mir. Es zahlt sich aus, sich einen jüngeren Mann zu nehmen …« Frau Heidenreich hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, wenn es um ihre Männer ging, dennoch kam das etwas befremdlich rüber.
»Was kostet der?«
»Fünfunddreißig neunzig.«
»Sie haben wirklich ein glückliches Händchen. Er ist wunderschön.«
Ulrike freute sich über das Kompliment, fragte sich momentan allerdings, ob sie bei der Auswahl ihres Gatten vor vielen Jahren auch ein so glückliches Händchen bewiesen hatte.
Normalerweise war die Mittagspause nichts, worauf sich Ulrike sonderlich freute. Im Laden war es schöner als daheim, obwohl ihre direkt über dem »Blütentraum« liegende Eigentumswohnung geschmackvoll eingerichtet, mit Grünpflanzen und täglich frischen Schnittblumen dekoriert war. Eine Kleinigkeit zu sich nehmen konnte sie auch im Laden, zumal unweit ihres Zuhauses jede Menge Restaurants günstige Mittagsgerichte anboten. Ging schnell, doch dann hätte sie abends kochen müssen, was Ulrike zu mühsam war. Wer den ganzen Tag im Laden stand, der stellte sich nicht auch noch abends an den Herd. Von müden Füßen konnte heute treppauf bis zur Wohnungstür nicht die Rede sein, denn im Briefkasten hatten zwei beflügelnde Schreiben gelegen. Ulrike konnte es gar nicht erwarten, sie zu öffnen, stürmte gleich in die Küche und stellte gerade noch den Einkauf ab – Brokkoli, Karotten und vegetarische Schnitzel. Gesund essen wie die Heidenreich, auch wenn es bei ihr selbst anscheinend nichts nützte, um die hängenden Mundwinkel dauerhaft nach oben zu pinnen. Mit dem Schreiben von der Lebensversicherung in der Hand war das momentan jedoch ein Kinderspiel. Der Lohn einer Selbstständigen, die in einen alten und daher noch renditestarken Vorsorgefonds eingezahlt hatte, lag nun in ihren Händen. Einhunderttausend und ein paar Zerquetschte würden spätestens kommende Woche auf ihrem Girokonto sein. Vermutlich aber nicht für lange – zumindest, wenn es nach Ulrike ginge. Das zweite Schreiben war der angeforderte Prospekt eines Wohnmobilherstellers. Das Gemüse musste warten. Ulrike setzte sich gleich an den Küchentisch und besah sich das Objekt ihrer Begierde. Eine Empfehlung der Reinhards, Stammkunden, die, seitdem sie in Rente waren, mit so einem Teil um die halbe Welt tuckerten und ihre Fotoalben mit ihr online teilten. Die beiden waren zu beneiden. Nach so vielen Ehejahren immer noch ein Herz und eine Seele. Mit Ende sechzig noch fit wie ein Turnschuh. Nahezu täglich neue Eindrücke, Begegnungen mit interessanten Menschen. Leben in traumhaft schönen Landschaften und immer in Bewegung. Ulrike seufzte. Die Prospektfotos dieser Wohnmobilreihe anzusehen, die an Sehnsuchtsorten aufgenommen wurden, war beflügelnd und Qual zugleich, denn Hans liebte den Komfort und die Bequemlichkeit. Eingerostet war er. Eingefahren. Keine zehn Pferde würden ihn in so ein Ding kriegen. Mit »Ding« meinte er aber sicher den kleinen Van ihrer Nachbarn, die seit Jahren mit ihrem selbst umgebauten Vehikel in den Urlaub fuhren. Jeden Tag das Bett hochkurbeln, um sich drinnen überhaupt bewegen zu können. Keine Küche. Kein Klo, keine Dusche, sondern nur ein klitzekleines Waschbecken, das per Handpumpe aus einem Zehnliterkanister mit Wasser gespeist wurde und gerade mal für eine Katzenwäsche reichte, wenn kein Campingplatz frei oder erschwinglich war. Das wäre auch nichts für Ulrike, doch das vor ihr im Katalog abgebildete Modell hatte so ziemlich alles, was man zum Leben brauchte – für ein komfortables Leben. Ulrike nahm sich daher vor, bei Hans noch einen Anlauf in Sachen Wohnmobil zu unternehmen. Sogar einen kleinen Schreibtisch hätte er darin. Im Zeitalter von Roaming und 5G könnte er von überall aus seine Lektorate verschicken und Online-Videokonferenzen abhalten. Vielleicht würde ihn auf Reisen sogar die Muse wieder küssen, damit er endlich mit seinem Roman weiterkam. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Nun war das Gemüse dran, denn was nützte ein Leben auf Achse, wenn die eigenen Achsen ächzten. Gesund bleiben, ob mit Falten oder ohne. Ulrike stand auf, holte sich ein Schnittbrett von der Anrichte und zog ein großes Messer aus dem Block. Wie schön wäre es jetzt, nicht vor ihrer Einbauküche zu stehen, sondern das Gemüse auf der grob geschätzt einen Quadratmeter großen Arbeitsplatte dieser Wohnmobilküche vor sich liegen zu haben. Mehr Platz brauchte man doch gar nicht, um Essen zuzubereiten. Frisches von jedem Ort, an dem sie gerade waren. Das kleine Fenster zwischen Kühlschrank und dem Küchenmöbel für die Mikrowelle würde ihr einen Blick in traumhaft schöne Landschaften eröffnen – statt weißer Fliesen vor ihrer Nase. Du würdest den Blumenladen und deine Kundschaft vermissen, sagte sie sich. Länger arbeiten? Wozu? Nächstes Jahr bekam sie ihre normale Rente. Lange genug hatte sie im Angestelltenverhältnis darin eingezahlt. Seit dem sechzehnten Lebensjahr, um genau zu sein. Hans hatte bereits seine gesetzliche und eine von einer Pensionskasse. Keine Schulden. Fürs Essen, Klamotten und was man sonst noch so zum Leben brauchte, würde das doch reichen. Zusammengerechnet zweieinhalb Mille. Davon konnte man erst recht »on the road« leben. Keine Nebenkosten für die Wohnung mehr. Es sprach doch alles dafür. Der Kundschaft wegen länger zu arbeiten kam jedenfalls nicht mehr infrage. Blumen in der Natur waren sowieso viel schöner, und wer wusste schon, wie lange sie körperlich noch in der Lage war, jeden Tag im Laden zu stehen, um der Konkurrenz zu trotzen. So viel Gewinn brachte er nicht mehr ein. Das Messer lag noch immer unverrichteter Dinge in ihrer Hand, als sie das Geklimper von Hans’ Schlüsselbund an der Tür vernahm. Es riss sie aus ihren Gedanken. Schon war der Brokkoli in zwei Teile geschnitten. Schnell, schnell, denn in gut einer Stunde musste sie wieder im Laden sein.
Die Tür fiel ins Schloss.
»Hallo, Schatz«, ertönte, gefolgt von einem gequälten Stöhnen. Um sechs raus, um nach Frankfurt zu einer Drehbuchbesprechung zu fahren, rechtfertigte es. Hans hasste es, früh aufzustehen. Die schlurfenden Schritte, die sie vernahm, während sie das Gemüse zerkleinerte, ließen nichts Gutes ahnen.
»Am liebsten würde ich das alles hinschmeißen«, sagte er, als er die Küche betrat, seine Laptoptasche auf den Tisch legte und sich kraftlos auf einen der Küchenstühle plumpsen ließ. Wunderbar! Alles hinschmeißen und dann mit einem Wohnmobil um die Welt düsen. Leider sagte er das oft genug, doch hingeschmissen hatte er seinen Job als Lektor und Dramaturg bisher noch nicht.
»Gerupft hab ich sie.«
»Wen? Die Autorin oder die Redakteurin?«
»Beide.«
»Und warum?« Ulrike rechnete damit, dass er gleich wieder damit anfing, wie seicht das Fernsehprogramm geworden war und wie eingefahren die Drehbuchautoren seien, nur noch niederste Instinkte bedienten, Liebesgedöns oder Krimis in flachen Geschichten und am besten mit viel Haut. Dabei war doch gegen niedere Instinkte gar nichts einzuwenden. Leider waren sie ihm schon vor Jahren verloren gegangen, was aber auch daran liegen könnte, dass er zu viel saß und sich kaum bewegte. Ihr auch, räumte sich Ulrike zugleich ein. Ohne Frau Heidenreichs Männergeschichten würde sie vermutlich nicht einmal mehr daran denken.
»Mein Schädel. Zieht an den Schläfen. Und ich hab so einen Druck hinter den Augen.« Hans stöhnte erneut auf. »Mein Kollege hatte einen Hirntumor.«
»Glaub mir, du hast keinen. Hast du während der Fahrt was getrunken?«
»Das überteuerte Zeug im Zug?«
»Na, dann musst du dich auch nicht darüber wundern, dass du Kopfschmerzen hast.«
Hans stöhnte erneut auf.
»Jetzt erzähl schon. Wie war die Besprechung?«
»Das Buch ist für die Tonne. Die Prota ist wieder einmal so ein junges Ding. Ein Großstadtschneckchen. Ihr Ex hat sie sitzen lassen, und dann fährt sie zur Tante, die ein kleines Café kurz vor der Pleite betreibt. Rate mal, wohin.«
»Nordsee? Ostsee?«, mutmaßte Ulrike. Die gängigen Klischees waren Ulrike bekannt. Er lästerte schließlich unentwegt darüber.
»Ersteres.«
»Und dann verliebt sie sich in den Gärtner?«
»Noch schlimmer. In den Sohn des Nachbarn, der mit ihrer Tante im Clinch liegt.«
»Verstehe. Romeo und Julia. Zwei verfeindete Lager. Und die Liebe glättet die Wogen. Die jungen Leute werden ein Paar, und die Tante verträgt sich am Ende wieder mit dem Nachbarn«, spann Ulrike den Faden weiter.
»Aber erst, als die Kleine das Café mit ihren frischen Ideen wieder auf Vordermann gebracht und den widerspenstigen Typen gezähmt hat. Hundertmal in Varianten erzählt. Ich könnte kotzen.«
»Was regst du dich so auf? Lass sie doch nach Schublade schreiben. Wenn’s gedreht wird und die Zuschauer das sehen wollen.«
»Der Produzent hat mich als frustrierten Knochen bezeichnet.« Ulrike hatte Mühe, nicht loszufeixen, und war daher froh, dass sie ihm noch den Rücken zudrehte. Der hatte doch recht.
»Und dafür lebe ich. Für so einen Schrott.« Hans fing erneut an zu jammern.
»Zwingt dich ja keiner. Du könntest von deiner Rente leben.« Ulrike zog den Wok scheppernd aus der Anrichte und gab das Gemüse hinein. Ein Glas Wasser dazu. Deckel drauf und dünsten lassen. Es war nichts mehr zu tun. Daher setzte sie sich zu ihrem Mann an den Tisch. Sein Laptop bedeckte dummerweise den Katalog, was einen abrupten Themenwechsel unmöglich machte.
»Von meiner Rente leben … Als ob das Geld alles wäre.« Ulrike überraschte, dass ihre Worte anscheinend in ihm nachhallten.
»Und wofür willst du leben?«, sprudelte es aus ihr heraus.
Er zuckte nur die Achseln.
»Wofür leben wir?«
Hans’ starrer und fast schon lebloser Blick trieb Ulrike in den Wahnsinn. In diesen Momenten kam er ihr vor wie ein alles verzehrendes schwarzes Loch, das ihr die Lebensfreude nahm. Bis vorhin gut drauf. Von einem Wohnmobil geträumt, und nun floss die Energie in Strömen aus ihr heraus.
»Du vergräbst dich doch nur noch in deinen Büchern.« Damit meinte sie gute Literatur, mit der er sich seelisch anscheinend über Wasser hielt und sie wach, weil er oft genug bis tief in die Nacht las. Ulrike war danach, ihm das jetzt gleich noch mit aufs Brot zu schmieren.
»Ist ’ne bessere Welt.«
»In der ich anscheinend nicht mehr vorkomme.« Endlich ausgesprochen.
»Du übertreibst.«
»Ich hab unseren Hochzeitstag letztes Jahr jedenfalls nicht vergessen«, hielt sie ihm vor.
»War ja kein runder.«
Was sollte man darauf noch sagen?
»Ich hab Anja angerufen und zum Essen eingeladen. Sie kommt. Markus auch. Und Sophie freut sich auf ihre Oma«, sagte er. Wenigstens hatte er den diesjährigen Hochzeitstag nicht vergessen, auch wenn es nur ein halbrunder war. Fünfundvierzig Jahre mit diesem Mann. Dafür müsste man einen Orden bekommen. Der Gedanke daran munterte Ulrike etwas auf. Das Wort »Oma« ließ die Gesichtswangen allerdings gleich wieder hängen.
Endlich nahm er den Laptop vom Tisch. Sein Blick verfing sich wunschgemäß an dem Prospekt, aber nur kurz, denn dann sah er sie entgeistert an.
»Hab ich mir schicken lassen.«
»Wozu?« Sein fassungsloser Blick sprach Bände.
»Wir könnten uns das jetzt leisten.«
Hans litt sichtlich. Das Für und Wider eines Wohnmobils hatten sie bereits x-mal diskutiert. Angefangen bei den hohen Standplatzmieten über die bald unbezahlbaren Dieselpreise bis hin zu Horrorgeschichten von Überfällen.
»Schau ihn dir doch wenigstens mal an.«
»Wir haben hier doch alles.«
»Du vielleicht.«
»Was fehlt dir denn?«, fragte er so unbedarft und zugleich ungläubig, dass Ulrike keinen Ton mehr herausbrachte. Einiges fehlte, dachte sie sich im Stillen.
Es dampfte nicht mehr aus dem Wok. Nicht, dass das Gemüse noch anbrannte.
Ulrike stand wortlos auf und ging zur Herdplatte. Er bekam nicht einmal mehr mit, dass sie ihr Glück nur noch im Blumenmeer ihres Ladens fand. Seine Frage beschäftigte sie so sehr, dass sie gedankenverloren die inzwischen garen Gemüsebrocken im Wok hin- und herschob. Mehr körperliche Nähe? Dass er besser drauf war? Das stünde schon mal ganz oben auf der Liste. Würde ein Wohnmobil sie glücklich machen? War es nicht nur der verzweifelte Versuch, aus ihrem eingefahrenen Leben auszubrechen? Etwas zu verändern, egal wie? Vergrub sie sich nicht selbst in ihrem Blütentraum wie er in seinen Büchern? Im Wok würde sie jedenfalls keine Antwort auf diese Fragen finden.
Diese Jeanette Belford war für Anja mittlerweile ein rotes Tuch. Kamen ihre Ein- und Ausgabenbelege per Mail als PDF herein, gab es gleich mehrere Gründe, sich darüber zu ärgern. Die Scans waren schief und teilweise unscharf. Einen Scanner hatte die Belford anscheinend nicht. Mal schnell das Handy drüberhalten. Gut, das hatte Anja bei anderen Klienten auch. Wie will man dann richtig buchen und den Gewinn für die Steuererklärung oder wie heute die Zahllast für die Umsatzsteuervoranmeldung ermitteln? Bewirtungsbelege ohne Angabe eines Grunds oder Namensnennungen waren bei der Belford sowieso schon normal. Peanuts, zumal das Finanzamt bisher noch nie irgendwelche Belege dieser Art angefordert hatte. Was Anja viel mehr ärgerte, lag einige Schichten tiefer in ihrem Inneren. Jeanette Belford konnte von der Malerei leben! Dabei hatte es von Anjas Mutter und ihrem Vater immer geheißen: »Brotlose Kunst. Lerne was Gescheites. Etwas Handfestes.« Es gab in den Augen ihrer Eltern kaum etwas Handfesteres als den Beruf der Steuerfachfrau. Regelmäßiges Einkommen. Feste Arbeitszeiten. Etwas Parteiverkehr, um nicht zwischen Aktenordnern, dem PC und Drucker in ihrem zehn Quadratmeter großen Büro zu veröden. Gewinne herunterrechnen und Steuerschlupflöcher ausfindig machen, also Denkarbeit, die gelegentlich sogar forderte und Spaß machte, übernahm allerdings ihr Chef. Jeanette Belford führte Anja vor Augen, dass sie doch hätte Kunst studieren können. Die machte in manchen Jahren locker fünfzig- bis sechzigtausend Umsatz, und wenn’s schlechter lief, gab sie Kurse an der Volkshochschule. Jede Urlaubsreise ließ sich absetzen. Was die Belford machte, war zwar nichts »Handfestes«, aber etwas »Gescheiteres« als dieser furztrockene Job, für den Anja sich tagtäglich ins Büro schleppte. Vertippt! 112,13 statt 112,31. Mist! Kein Wunder, wenn man nicht bei der Sache war. Anja ertappte sich auch noch dabei, sich durchs Haar zu fahren. Noch bis letzte Woche eine sinnvolle Geste, weil ihr die schulterlange mittelblonde Mähne unentwegt ins Gesicht gefallen war. Mit Kurzhaarschnitt aus rein pragmatischen Gründen war das gänzlich sinnlos. 112,31 – nun war der Bewirtungsbeleg richtig eingegeben. Anja richtete sich auf, um tief Luft zu holen. Die Belford hatte keinen Mann und keine Tochter. Dafür Freiheit. Man konnte nicht alles im Leben haben. Anja hatte Sophie, die kleine süße und fleißige. Der Gedanke an ihre Tochter fühlte sich gut an und legitimierte ihre Entscheidung, dem Rat ihrer Eltern gefolgt zu sein. Für Sophie hatte sie ihr Studium aufgegeben. Anja brauchte gleich noch einen tiefen Atemzug, um das aufsteigende flaue Gefühl aus sich herauszuatmen. Sie war gerade dabei, die nächste PDF-Datei zu öffnen, als die Tür aufging und Susanne, ihr Lehrling, hereinspazierte. Gerade mal achtzehn und bildhübsch. Bis gestern noch in Thailand mit dem Rucksack unterwegs gewesen. Was erlebt. Anja hatte ihr noch Tipps gegeben, denn an ihre Rucksacktour in den Neunzigern konnte sie sich noch allzu gut erinnern. Ein echtes Lebenshighlight war das gewesen.
Wie immer kam Susanne nicht pünktlich aus der Berufsschule. Dem Chef war es egal, also verkniff sich Anja eine entsprechende Bemerkung.
»Wow«, kam zur Begrüßung. Susanne musterte sie trotzdem etwas irritiert.
»Steht Ihnen gut. Flott.«
»Eher praktisch und stromsparend. Das Föhnen ging mir auf die Nerven.« Das war nur die halbe Wahrheit, denn bei kurzem Haar ließen sich graue Ansätze schneller wegfärben.
»Verstehe.« Susanne verstand es sicher nicht, denn so wie sie sich jeden Tag stylte, verbrachte sie bestimmt eine halbe Stunde länger im Bad. Und an den höheren Stromverbrauch dachte sie sicher auch nicht. Wer heutzutage gedankenlos einen Langstreckenflug buchte, der scherte sich nicht um die Klimabilanz.
»Und? Wie war’s in Thailand?«, fragte Anja eher höflichkeitshalber.
»Ein Traum. Coole Typen kennengelernt. Jeden Tag chillen am Strand und abends in den Club. Einer der Jungs ist aus Offenburg. Stellen Sie sich das mal vor.«
Noch so ein Klimasünder, und anscheinend hatte Susanne sich in den verknallt – so wie das junge Ding strahlte.
»So klein ist die Welt.«
»Wir sehen uns heute Abend«, gestand sie mit Schmachtblick. Susanne wirkte wie weggetreten. Anja trat gedanklich nun auch weg, weil sie ein Déjà-vu überfiel. Erinnerungen an ihren Thailand-Urlaub. Sie hatte ihren Mann bei dieser Gelegenheit kennengelernt. Ein Film lief vor ihrem inneren Auge ab. Koh Samui. Die romantischen Hütten für fünf Dollar die Nacht direkt am Strand. Die Barbecues mit frisch gefangenem Fisch – und dann der erste Kuss zum Sonnenuntergang vor einem blutrot-violett schimmernden Himmel. Anscheinend stand der Kleinen das gleiche Schicksal bevor. Dass sie Susanne nun etwas betreten musterte, war klar. Verträumte Augen hatte sie an ihrer Vorgesetzten noch nicht zu Gesicht bekommen.
»Alles gut?«
»Ach, ich war in Gedanken.«
»Ich wollt mich nur zurückmelden. Ich soll für Herrn Schneider die Akten ablegen. Die von allen Kunden aus dem vorletzten Quartal.«
»Kundinnen und Kunden«, berichtigte Anja sie nicht zum ersten Mal. Lernte man das nicht in der Berufsschule? Eine korrekte Ausdrucksweise war heutzutage von großer Bedeutung.
»Der Kundschaft«, gab Susanne keck zurück. Geschickt aus der Affäre gezogen.
Anja nickte anerkennend.
»Wenn Sie noch etwas für mich haben …«
»Nein, nein. Ich komme heute schon klar. Morgen lass ich Sie die Lohnsteuererklärungen machen.«
Susanne nickte nicht gerade begeistert. Wahrscheinlich malte sie sich aus, dass sie nach ihrem Date nicht sonderlich fit sein würde. Die kleine Hedonistin machte die Ausbildung doch nur, weil sie die Nichte vom Schneider war. Die war bestimmt nicht so bescheuert, sich ein Leben lang mit Zahlen und Steuergesetzen herumzuplagen.
»Viel Spaß beim Ablegen der Akten.«
Susanne verdrehte die Augen und verließ Anjas Büro.
Wahrscheinlich ging Susanne mit ihrer neuen Flamme in einen der angesagten Clubs. Von ihr erfuhr man, was in der Ortenau los war. Mal wieder tanzen, wie früher? Dazu war sowieso keine Zeit, denn heute musste sie für ihren Mann die Buchhaltung für sein Fitnessstudio erledigen. Einmal dort, könnte sie allerdings auch gleich in die Aerobic-Stunde gehen. Das war ja fast wie Tanzen, nur viel schneller. Danach in die Sauna und später den Abend gemütlich in ihrem schönen Heim ausklingen lassen. Hatte auch was, sagte Anja sich und öffnete den nächsten Bewirtungsbeleg der Belford. Diesmal mit weniger Unbehagen.
Die Assistentenstelle am Lehrstuhl für Wirtschaftspsychologie hatte Sophie sich spannender vorgestellt. Tonnen Literatur für Frau Prof. Dr. Röttgers’ geplante nächste Veröffentlichung in Verhaltenspsychologie aus dicken Wälzern zu kopieren, Termine für Vorträge zu koordinieren und Klausuren vorab zu korrigieren war ermüdend. Tutorien abzuhalten, für die eigene Doktorarbeit zu recherchieren und die Sprechstunde für Studierende waren es hingegen nicht. Daran fand Sophie Halt, auch wenn die meiste Zeit für Hiwi-Dienste draufging. Heute überwog nach einem Nine-to-five-Arbeitstag die Langeweile. Nichts als Orga-Kram. Doch kaum hatte sie die Tür ihres Büros neben der von Prof. Röttgers abgeschlossen, ergriff sie wieder jenes beflügelnde Uni-Feeling, das sie letztlich dazu bewogen hatte, vorerst noch nicht für jemanden außerhalb der Unimauern zu arbeiten, selbst wenn die Kohle für den Assi-Job ein Witz im Vergleich mit dem Einstiegsgehalt einer Unternehmensberatung oder Personalabteilung einer großen Firma war. Die suchten händeringend nach Personal mit ihren Qualifikationen. Was sie bekam, reichte zudem, um zu leben, sprich die Studentenbude ohne Mamas und Papas Unterstützung zu finanzieren. Hier ging es einfach lockerer zu. Sie musste nichts businesstauglich Schickes tragen. Jeans taten es auch. Und man kannte sich. Ein Stück heile Welt und Unbeschwertheit bewahren, wobei sie gut für die Welt da draußen vorbereitet war. Der Studienschwerpunkt »Konfliktlösungen in komplexen Organisationsstrukturen« prädestinierte für einen Spaziergang durchs Leben, das anscheinend, wenn man sich täglich die Nachrichten reinzog, nur noch aus Konflikten zu bestehen schien. Verhaltensweisen von Gruppen, Vorgesetzten und Untergebenen, daraus resultierende Eigendynamik und kommunikative Verhaltensmuster. Hoch spannend! Sophie fragte sich selbstkritisch auf dem Weg durch den Gang, der zum Foyer der Uni führte, warum sie sich das gerade vor Augen hielt. Das klang so, als wollte sie sich ihre Forschung schönreden. Quatsch! Die Doktorarbeit zu diesen Themen machte Spaß. Trotzdem keimte die Frage auf, ob sie sich da nicht in irgendetwas verrannt hatte. Klar, Bachelor mit Bestnote. Master ebenfalls, aber das schrieb Sophie eher ihrem Ehrgeiz zu. Vermutlich hätte sie in Physik oder Sprachwissenschaften genauso geglänzt. Willste wirklich künftig im Kostüm durch Führungsetagen huschen, dich aufbrezeln wie Daniela? Die kam nämlich gerade aus dem Zimmer für den Lehrstuhl für Finanzen und trug jetzt schon ein Kostüm, und zwar eines, das ihre Reize in besonderem Maß betonte. Typ »Cameron Diaz« mit großen blauen Kulleraugen. Perfekt geschminkt und mit bananenbreitem Lächeln. Bei der müsste ein Maskenbildner am Set keine Hand mehr anlegen, bevor die erste Klappe fiel. Dagegen kam Sophie sich vor wie Nicole Kidman in jungen Jahren, naturgelockt mit ungesundem hellen Teint – und alles andere als eine sexy Erscheinung. Mit Nickelbrille auf der Nase, ohne die sie blind durch die Welt laufen würde, und in ihrem Hoodie-Sweater fühlte sich Sophie neben Daniela wie eine Schülerin, die kurz Uniluft schnuppern wollte.
»Hallo, Sophie. Na?«
»Hattest du heut ein wichtiges Meeting?«
»Nein. Wieso?« Knöpfte sie sich für Professor Beckmann die Bluse so weit auf? So bekam man auch eine Assistentinnenstelle, amüsierte Sophie sich.
»Wie läuft’s mit deiner Doktorarbeit?«
»Gut. Wird wohl Ende des Jahres fertig«, erklärte Sophie. »Und bei dir?«
»Ich lass mir Zeit.« Sophie vermutete, dass Daniela die Arbeit nicht auf die Reihe bekam.
»Den Job kann man sich auch im nächsten Jahr noch aussuchen. Hauptsache, du hast den Doktor vor deinem Namen«, sagte Daniela. So viel zum Thema »akademisches Interesse«.
»Was tut man nicht alles für rund zwanzig Prozent mehr Gehalt. Für Doppelstudium oder Promotion«, sagte Sophie mehr zu sich.
»Das ist völlig irre. Nur weil man sich mit einem einzigen Thema ausführlicher beschäftigt, heißt das doch noch lange nicht, dass man im Job besser ist.« Damit hatte Daniela recht.
»Du machst doch Konfliktlösung in Großunternehmen, oder?«
Sophie überraschte, dass Daniela sich noch daran erinnerte.
»Da braucht’s Menschenkenntnis. Sind wir doch mal ehrlich. Es geht letztlich doch nur darum, Mitarbeiter dazu zu kriegen, dass sie spuren.«
Sophie nickte. Das war es vermutlich unterm Strich. Daniela brachte es bestimmt einmal weit. Bauernschlau war sie ja, allerdings auch sehr höflich. Sie öffnete ihr sogar die Tür nach draußen.
Was für eine schöne Überraschung! Damit meinte Sophie den Umstand, dass ihr Freund auf einer der Sitzblockreihen neben dem Rasen auf sie wartete. Gelegentlich holte Niklas sie spontan ab. Angeblich, weil er solche Sehnsucht nach ihr hatte. Das war natürlich Quatsch. Er konnte das nur, weil er heute Nachmittag freihatte. Das wusste Sophie, weil er im Fitnessstudio ihres Vaters arbeitete. Er war wieder einmal mit seinem Handy beschäftigt. Süchtig nach Videos, bei denen es um Body Shaping ging, um noch den letzten Muskel sichtbar aus sich herauszukitzeln. Ein richtiger Sportfreak.
»Den hab ich doch schon mal hier gesehen«, sinnierte Daniela mit dem geschärften Blick eines Habichts, der seine Beute im Visier hatte. Sie wusste nicht, dass Niklas bereits vergeben war, nämlich an die Brillenschlange im Hoodie. »Macht sicher viel Sport. Außerdem mag ich Kerle mit dunklem Haar und blauen Augen.«
»Hast ihm also schon in die Augen gesehen?«
»Ich ihm? Er mir!«
Whoops! Das wollte Sophie eigentlich nicht hören.
»Der lässt bestimmt nichts anbrennen.« Daniela fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Wie kommst du darauf?«
»Hab ich im Gefühl.«
Das Gefühl hatte Sophie auch gehabt, bevor sie ihn im Gym ihres Vaters näher kennengelernt hatte. Aber am Ende hatte sie ihn noch nicht gut genug kennengelernt.
»Oh. Mist. Ich hab mein Handy vergessen«, sagte Sophie. Eine glatte Lüge. Ihr war nach einem psychologischen Menschenexperiment. Wie sie Daniela einschätzte, würde sie nicht grußlos an Niklas vorbeischwirren. Die grub ihn bestimmt an.
»Wir sehen uns …« Und schon verschwand Sophie im Inneren des Gebäudes. Der Eingang war verglast. Sie ging ein paar Schritte in den Gang hinein, nur um dann gleich wieder kehrtzumachen und durch die Scheibe zu beobachten, wie Niklas reagierte. Daniela war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, er noch mit seinem Handy beschäftigt. Doch dann legte er es abrupt zur Seite. Hatten Männer einen Instinkt für sich nähernde Gelegenheiten? Sophies Augen weiteten sich, weil seine Daniela von oben bis unten scannten. Am Ausschnitt verfingen sie sich. Klar, dass sie ihn nun anquatschte und sich vor ihm in Pose setzte. Über was redeten die? Wieso lächelte er? Niklas! Eifersucht war einer fast promovierten Psychotante unwürdig. Scheiß drauf! Schon hatte sie ihr Handy in der Hand und sendete ihm per Messenger eine Sprachnachricht: Hast du schon was vor heut? Hab jetzt Feierabend. Dann sah er gleich ihr Profilbild auf dem Display seines Handys. Nicht, dass es noch zu Schlimmerem kam, das sie mitansehen musste. Na also. Das wirkte. Dabei hatte er ihre Nachricht noch gar nicht abgehört. Er schien Daniela etwas zu erklären. Sie trollte sich daraufhin. Sein Blick klebte trotzdem an ihren hinteren Rundungen. Na warte, Bürschchen! Sophie schoss förmlich aus dem Unigebäude und sprintete auf dem Rasen hinter Büschen lautlos und somit unbemerkt zu ihm.
»Du sitzt ja immer noch da. Ich dachte schon, du tappst ihr gleich hinterher.«
Niklas fuhr förmlich zusammen und sah sie schreckensbleich an. Sollte er erregt gewesen sein, war er jetzt sicher abgekühlt.
»Sophie …«, stammelte er.
»Die ist doch scharf auf dich. Nur zu.«
»Daniela?«
»Oh. Ihr habt euch also schon bekannt gemacht.«
»Sie hat mir gesagt, wie sie heißt.«
»Und was noch?«
»Nichts.«
»Ihr habt geredet. Ich hab’s gesehen.«
»Ob ich Lust hätte, mal was mit ihr zu trinken«, gestand Niklas ein.
»Klar hast du Lust.«
»Nein, hab ich nicht.«
»Du hast sie mit Blicken doch fast ausgezogen.«
»Rein hormonell bedingt. Das hat nichts zu bedeuten.«
»Also ein rein unterbewusster Prozess bei Männern.«
»So könnte man es auch sagen.«
Niklas schnappte sich ihre Hand und zog sie zu sich auf die Bank. Dann sah er ihr direkt in die Augen.
»Du bist eifersüchtig!«
»Ich hab weder ihren Hintern noch ihre Titten.« Am besten gleich ohne Umschweife zum Punkt kommen.
»Die will ich nicht.«
»Ja, aber …«, fing sie an.
»Oh, oh. Die bösen zwei Wörter. Wir wollen doch nicht in eine ›Ja, aber‹-Schleife verfallen«, zog er sie breit grinsend auf. Zu Recht, denn erst am Vortag hatte sie ihm einen Vortrag darüber gehalten, dass genau diese beiden Wörter in Kombi Diskussionen meist ungut verlaufen ließen und man sie zur Konfliktbewältigung tunlichst umschiffen sollte. Fragen zu stellen oder Möglichkeiten in den Raum zu werfen sei der sinnvollere Weg. Alles, nur nicht auf diese Weise widersprechen. Erstaunlich, dass er alles, was sie ihm sagte, wie ein Schwamm in sich aufsog. Anscheinend gab es aber noch eine Konfliktbewältigungsmöglichkeit, die nicht in den Lehrbüchern stand. Die kannte er. Dazu reichte ein tiefer Blick in ihre Augen und dass er sie sanft zu sich zog, zu seinen Lippen, um genau zu sein. Wer so küssen konnte, der brauchte sich nicht mehr herauszureden – rein hormonell betrachtet.
Die Buchhaltung im Fitnessstudio ihres Mannes zu machen entlastete nicht nur die Familienkasse. Anjas Tätigkeit sorgte dafür, dass alles korrekt war bzw. korrekt erschien, wenn es aus der Hand einer Steuerfachfrau kam – allerdings auch für Stressabbau und Entspannung nach ihrem Feierabend. Damit warb Markus ja. Sportliche Anstrengung schüttete Glückshormone aus, und gerade an Tagen, an denen man sich mies fühlte, sollte man sich dazu aufraffen. Nach der Stunde Power Yoga mit einer Schwedin, die nicht nur mit einer Traumfigur gesegnet war, sondern mit ihren Übungen auch noch der Schwerkraft trotzte, fühlte Anja sich jedoch alles andere als fit. Selbst »der Hund« war heute zu anstrengend für sie gewesen, nur »das Kind« hatte sie entspannt – zwei klassische Yogapositionen, die in keiner Stunde fehlten. Der Versuch, heute nach Anweisung der Schwedin einen Kopfstand zu wagen, hatte gar in einer Panikattacke gemündet. Zappelnde Beine gerade zu kriegen, um sich nicht das Genick zu brechen, sah bestimmt urkomisch aus. Das Knacksen im Halswirbelbereich war allerdings nicht zum Lachen gewesen. Mit vierundvierzig konnte man mit dem gummigliedrigen, ranken und schlanken Junggemüse halt nicht mehr mithalten. Da half nur noch eines. Duschen und ab in die jüngst errichtete gemischte Sauna – die Idee ihres Mannes. Tatsächlich hatten sich nach dem Abriss der kleinen Saunen für Männlein und Weiblein sowie der Werbung für den Unisex-Wellnesstempel jede Menge neue Mitglieder gefunden – natürlich keine Mitgliederinnen. Noch so ein Wort, bei dem sie nicht wusste, ob es demnächst auch Eingang in den Sprachgebrauch finden würde. Männer würden Markus’ Ansicht nach nun einmal gerne nackte weibliche Haut sehen. Um damit jedoch Frauen, die sich in gemischten Saunen unwohl fühlen, nicht zu vergraulen, gab es dienstags einen reinen Frauentag und donnerstags einen nur für Männer, meist Männer, die Männer sehen wollten. Heute war Montag. Das Handtuch ließ Anja um sich geschlungen. Es reichte schon, nackt durch die Duschen huschen zu müssen, gemeinsam mit den Gummimenschen, die nicht ein Gramm zu viel an den Hüften hatten. Klar, dass die sich splitterfasernackt und ungeniert auf den Saunabrettern verteilen konnten. Anja zog das hintere Eck vor. Es war weniger gut ausgeleuchtet und bot somit Schutz vor neugierigen oder mitleidigen Blicken. Die Position da oben hatte allerdings den Nachteil, nach jedem Aufguss eine volle Breitseite Hitze abzubekommen, aber auch den Vorteil, alles gut im Blick zu haben. Drei Kerle mit Traumkörpern, um genau zu sein. Die waren jeden zweiten Tag da und grüßten sie sogar. Einer goss gerade auf. Er hieß Karl, war Mitte dreißig, und mein lieber Schwan, war der gut beieinander. Anja amüsierte sich darüber, dass auch die beiden Yoga-Gummimädels ungeniert auf den »Ofen« starrten. Der kurze Anflug einer erotischen Fantasie beim Blick auf das stramme Gesäß des Mannes, der nun das Handtuch wie einen Propeller über seinem Haupt kreisen und somit seine Muskeln spielen ließ, um die Wärme zu verteilen, fiel abrupt wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als Anjas Mann den Versuch unternahm, sich während eines Aufgusses zu ihnen zu gesellen. Das galt in der Sauna als Todsünde.
»Hey, Tür zu«, gellten ihre Mitschwitzenden nahezu unisono, Vermutlich hatte er den Aufguss nicht mitbekommen, weil er sich vor der Tür mit einem der Gäste unterhalten hatte. Er zwängte sich durch die beiden Sitzreihen nach oben zu ihr – kein leichtes Unterfangen, denn sein rechtes Bein spielte seit seinem Unfall beim Paragliding nicht mehr so recht mit. Sein Rücken schmerzte bei unbedachten oder ungewohnten Bewegungen aufgrund der daraus ebenfalls resultierenden Wirbelsäulenverletzung. Der Preis für seine Extremsport-Leidenschaft. Die lange Narbe an seinem Bein zu sehen und sein schmerzverzerrtes Gesicht, als er sich zu ihr setzte, versetzte Anja anders als noch vor fünf Jahren, als man ihn aus der Klinik entlassen hatte, keinen Stich mehr mitten ins Herz. Es erzeugte jedoch nach wie vor ein Gefühl des Mitleids. Markus brauchte sie für so viele Dinge im Alltag. Lediglich aufrecht zu gehen oder kerzengerade auf einem Stuhl mit einer Rückenlehne im Neunzig-Grad-Winkel zu sitzen, gelang nahezu schmerzfrei. Er litt auch darunter, kein Vorzeige-Fitnessmodell mehr zu sein und andere engagieren zu müssen, um auf den Social-Media-Kanälen ihre perfekt geformten Körper in kurzen Videoclips für Werbezwecke zu posten.
»Ah, tut das gut«, wisperte er, als er es sich auf der oberen Reihe bequem gemacht hatte, mit nur einem angezogenen Bein. Das rechte blieb ausgestreckt, um Nervenschmerzen zu vermeiden. Endlich entspannen. Anja interessierte der Adonis nicht mehr, als er aufstand und die Sauna verließ – ohne um die Hüfte gewickeltes Handtuch. Markus’ Anwesenheit als Lustkiller zu bezeichnen wäre übertrieben. Sie liebte ihn. Das war es letztlich, was ihr die Lust gerade vertrieb. Er brauchte sie. Sie hatten ihr gemeinsames Leben, und auch wenn sein Studio knapp davor war, in hoffnungslos rote Zahlen zu schlittern, hatten sie es doch schön. Dieser Gedanke erwies sich als noch entspannender als die Wärme, die in sie hineinkroch und sie wohlig umhüllte. Das schöne Gefühl hielt an, bis die Tür aufging und die Schwedin sich zu ihnen in die Sauna gesellte. Die Blicke der Männer lagen sofort auf ihrem wohlgeformten Körper. Keine Minute später verselbstständigte sich das Handtuch zwischen den Beinen ihres Mannes zu Anjas Überraschung, denn in der Arena zu Hause war so ein Anblick eher selten. Höchstens morgens nach dem Aufstehen. Wann war das letzte Mal gewesen? Ewig her. Sex war zwar kein Extremsport, doch wenn ihm jede Position wehtat, dann schränkte das den Spieltrieb ein, ja, würgte ihn ab. Aus drei möglichen Varianten waren zwei geworden, aus zwei nur noch eine, und seit bestimmt über einem Jahr war Sendepause, die sich sogar richtig anfühlte. Mal ein Kuss, ausgiebig kuscheln, seine Nähe spüren. Das war sowieso viel wichtiger und letztlich schöner, sagte sie sich. Der Körper gewöhnte sich anscheinend an einen Hormonhaushalt auf Sparflamme. Den Widerspruch, sich den gut gebauten Herrn vorhin dennoch genauer angesehen zu haben, schob Anja kurzerhand mit der Begründung zur Seite, dass nur Hingucken ja etwas ganz anderes war. So ein Mann war ein Kunstwerk, das man sich wie eine griechische Statue im Museum ansah. Und was Markus betraf, war sie ihm etwa nicht mehr attraktiv genug? Er sagte schließlich nie etwas. Unsinn! Die Dinge waren nun einmal so, wie sie waren. Abschalten und den noch in der Luft schwelenden Lavendelduft inhalieren.