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Küsse niemals einen Sizilianer Seit sie Rentnerin ist, hat Moni Renner viel zu viel Zeit. Zeit zum Nachdenken über Vincenzo, ihre einst große Liebe, und seinen plötzlichen Tod. Da erreicht Moni eine Nachricht von Lena, einer jungen Deutschen, die in Italien lebt. Von ihr erfährt sie Unglaubliches: Vincenzo ist gar nicht tot, sondern lebt als Orangenbauer auf Sizilien. Wie kann das sein? Moni ist empört und reist mit ihrem Enkel Jan nach Palermo. Gemeinsam mit Lena versuchen sie, Vincenzo zu finden und klappern jede Orangenplantage der Insel ab. Monis Engament ruft aber nicht nur die Behörden, sondern auch windige Mafiosi auf den Plan. Doch zu Jans Überraschung, kann Oma Moni es selbst mit dem furchteinflößensten Mafiaboss aufnehmen ... Großer Urlaubsspaß von Bestsellerautorin Tessa Hennig
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Tessa Hennig schreibt seit vielen Jahren erfolgreich große TV-Unterhaltung. Mit ihrem ersten Roman »Mutti steigt aus« gelang ihr auf Anhieb ein Bestseller. Wenn sie vom Schreiben und ihrem Wohnort München eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen und Abenteuern gern in den Süden.
Von Tessa Hennig sind in unserem Hause bereits erschienen:Mutti steigt ausElli gibt den Löffel abEmma verduftetLisa geht zum TeufelMama mag keine SpaghettiAlles außer AusternMit Oma in RomaBea macht blau
Im Leben von Apothekerin Monika Renner hat sich so einiges geändert, seit sie Rentnerin ist: Die Apotheke führt jetzt ihre Tochter, das Einfamilienhaus hat sie gegen eine altersgerechte Wohnung eingetauscht, arbeiten geht sie nur noch aushilfsweise. Kein Wunder, dass sie Erinnerungen an alte Zeiten nachhängt – vor allem an ihre große Liebe Vincenzo, Gastarbeiter aus Italien, den sie vor langer Zeit am Chiemsee kennengelernt hat und der so plötzlich verstarb … Das dachte Moni zumindest immer, bis sie der Anruf von Lena, einer jungen Deutschen, erreicht, die in Italien lebt und in ihrem Keller auf eine alte Filmrolle gestoßen ist. Von ihr erfährt Moni Unglaubliches: Vincenzo ist gar nicht tot, sondern lebt putzmunter als Orangenbauer auf Sizilien. Moni ist völlig überrumpelt und bucht kurzerhand einen Flug – oder besser gesagt, sie lässt buchen. Enkel Jan hilft ihr mit dem Internet und wird auch gleich verpflichtet, Moni zu begleiten. Mit Lenas Hilfe beginnen Großmutter und Enkel eine abenteuerliche Suche, die sie nicht nur einmal quer über die Insel, sondern auch zu allerlei Familienkonflikten und zu einer überraschenden Begegnung mit der Mafia führt …
Tessa Hennig
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2018© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Gerhard GlückE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-1728-1
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Wenn der Weg zum Discounter zum Highlight des Tages wird, ist irgendetwas faul an deinem Leben. Faul ist gar kein Ausdruck. Es stinkt zum Himmel. Moni rümpfte prompt die Nase, als sie die ineinander verkeilten Kampfwagen neben dem Parkplatz erreicht und einen davon mit einer Euromünze von seiner Kette befreit hatte. Ab heute galt der neue Prospekt. Darin Waffeleisen für neunzehn neunzig. Moni brauchte eines, andernfalls wäre es ihr nie im Leben eingefallen, sich an so einem Tag mitten ins Kriegsgebiet zu begeben. Der Einkaufswagen hatte auch noch einen Rechtsdrall, was ihr prompt die linke Hüfte übel nahm. Und wenn schon. Bei Linksdrall würde sich das rechte Knie melden. Von wegen: »Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an.« Moni stieß in Gedanken an Udo Jürgens’ Rentnerhymne einen abfälligen Laut aus, und zwar so laut, dass eine jüngere Kundin in unvorteilhaften Leggings meinte, er gelte ihr. Moni grinste verstohlen, denn es war bestenfalls mutig, mit derartigen Rettungsringen um die Hüfte Leggings zu tragen. Wenigstens hatte das junge Ding sicher noch keine Zipperlein und schien fit wie ein Turnschuh zu sein. Kein Wunder, wenn man von Mitte fünfzig noch meilenweit entfernt war. Um den Dreh machten sich nämlich die ersten Anzeichen des Alters bemerkbar. Runter von der Überholspur, keine Lichthupe mehr, das Tempolimit beachten. Man hatte es ja nicht mehr so eilig. Moni erinnerte sich mit Wohlgefühl an diese Zeit. Einfach entspannter durchs Leben gehen. Da störte einen nicht einmal ein ständig nach links ausscherender Einkaufswagen. Heute schon. Moni hatte bereits Mühe, auf dem Parkplatz des Augsburger Stadtrand-Discounters nicht im Kreis zu laufen. Dann kam die Phase, strikt in der Mitte zu fahren, der Bequemlichkeit wegen. Man wusste, dass es die anderen nervte – na und? Ab sechzig war auch das zu stressig geworden. Immer schön rechts fahren, nachgeben, da man ja klüger war. Spätestens wenn man aber anfing, gelegentlich sogar mit der Standspur zu liebäugeln, und immer häufiger an die letzte Ausfahrt dachte, wurde einem klar, dass man mit sechsundsechzig eben nicht mehr »in Schuss« war, wie einem deutsches Liedgut von einem mittlerweile verstorbenen Österreicher glauben machen wollte. Eine Durchhalteparole aus den Siebzigerjahren, um fleißig bis zur Rente zu malochen, die goldenen Aussichten »noch lange nicht Schluss« vor Augen. Und wer hat dem Jürgens die Mär von reihenweise in Jungbrunnen plumpsenden Rentnern damals nicht abgekauft? Moni stieß gleich noch einen missmutigen Laut aus, der diesmal aber im Lärm des Supermarktgewimmels unterging. Vier ihrer besten Freundinnen hatten nämlich nicht einmal mehr ihren Rentenbescheid erlebt. Werner auch nicht, allerdings selbst verschuldet. Ein Apotheker sollte wissen, dass man Viagra nicht überdosiert, wenn man sich bei Calima heimlich in den Dünen von Gran Canaria mit einer drallen Spanierin vergnügt. Der nächste abfällige Laut blieb Moni im Hals stecken. Schon zehn Jahre her und trotzdem geriet das Blut in Wallung. Dass man anfing, über sein Leben ungesund exzessiv nachzudenken, müsste eigentlich im Beipackzettel zum Rentenbescheid stehen – die unerwünschten Nebenwirkungen und Risiken, wenn man auf einmal zu viel Zeit hatte und die Phase vorbei war, in der man sich jeden Morgen darüber freute, ausschlafen zu können, oder lang ersehnte Spaziergänge entlang des Lechs zu langweilen begannen.
Moni zückte ihren Einkaufszettel. Ablenken! Kuchen für Tanja stand ganz oben auf der Liste. Ungesundes Zuckerzeug, aber das Töchterlein braucht’s. Dann war sie besser drauf. Ein gewichtiges Argument – im wahrsten Sinne des Wortes. Eine promovierte Apothekertochter müsste es eigentlich besser wissen und sich gesünder ernähren. Was soll’s. Hauptsache, Tanja machte es glücklich.
»Na?«, gellte es von der Auslage mit den in Plastikfolie verschweißten glasierten Kalorienbomben. Die Gruber. Stammkundin. Kein Einkauf im Viertel, ohne irgendeinem Kunden über den Weg zu laufen.
»Geht so, und selbst?«, gab Moni mit dem jahrelang eingeübten Lächeln einer pensionierten Apothekerin zurück. Lieber Gott, mach, dass sie jetzt nicht anfängt, mir all ihre Beschwerden aufzuzählen – jahrelang ertragen. Moni mochte die Gruber nicht, vor allem ihre Hörigkeit Ärzten gegenüber. So manches ihrer Wehwehchen hätte man auch naturheilkundlich in den Griff bekommen, aber nein, sich lieber mit der eigenen Leber anlegen, sprich Tabletten in sich reinstopfen und auf den Rat einer erfahrenen Apothekerin pfeifen.
»Sie haben es gut. Ich hab noch drei Jahre«, lamentierte die Gruber in Anspielung auf Monis goldenes Rentnerdasein.
»Ach, die paar Jahre kriegen Sie auch noch rum«, erwiderte Moni und verkniff es sich, hinzuzufügen: »falls Sie sich bis dahin nicht mit Pharmaprodukten vergiftet haben«.
Die Gruber nickte einsichtig und zog mit aufgesetztem Lächeln in Richtung Wursttheke weiter. Halleluja! Jetzt aber mit Vollgas zu den Wühltischen, also mitten rein in die Kampfzone. Schon vernahm Moni von dort das erste empörte »Autsch!«. Ein zweites folgte auf dem Fuß. Wie an solchen Tagen üblich, hatten bereits zwei der Kampfwagen die Fersen der Vorderleute gerammt. Im Moment war man in der Nähe der Wühltische nur mit Springerstiefeln sicher. Moni beschloss daher, sich zunächst zu den Obst- und Gemüsetischen zu begeben – ihre Lieblingszone, da »gesund«. Heute im Angebot: sizilianische Blutorangen. Und wie die dufteten! Verführerisch. Unaufhaltsam setzte vor den prall gefüllten Obststeigen, die orangefarben leuchteten, eine sinnbetörende Lähmung ein. »Bella Sicilia«, pochte es vom Herzen bis hinauf zum Kopf. Rhythmisch und unaufhaltsam. Moni schloss augenblicklich die Augen, um sich diesem Duft hinzugeben. Sofort sah sie eine schier endlose Plantage vor sich, die saftig grünen Blätter ihrer Orangenbäume und darin Tausende von orangefarbenen Tupfern, über die sich azurblauer Himmel spannte. Moni seufzte. Wie gern hätte sie das wenigstens einmal im Leben »live« gesehen. Die plötzlich einsetzende Melancholie ließ sich nicht mehr abschütteln. Vincenzo! Schon stand er vor ihr. Moni spürte förmlich seine Nähe. Was für ein hübscher Mann: lockiges schwarzes Haar, wache blaue Augen, die stets nur auf sie gerichtet waren. Und dann noch sein unwiderstehliches verwegenes Lächeln, mit dem er ihr Herz im Sturm erobert hatte.
»Ti amo per sempre amore mio.« Seine rauchige Adriano-Celentano-Stimme hatte sie sofort im Ohr, und dann legten sich seine Lippen auf die ihren, ganz sanft und doch so fordernd. Moni japste nach Luft und suchte augenblicklich Halt am Obststand.
»Kann ich Ihnen helfen?«, tönte es aus dem Mund einer äußerst besorgt wirkenden uniformierten Angestellten. Nie waren sie da, wenn man sie brauchte. Heute schon.
»Mir ist nicht mehr zu helfen«, flüsterte Moni mehr zu sich.
Die Sorgenfalten der Verkäuferin glichen bereits einer Vulkankraterlandschaft. Um die zu glätten, sollte sie ihr halt in Gottes Namen »helfen«, auch wenn hier normalerweise Selbstbedienung angesagt war.
»Vier Kilo von diesen Blutorangen. Ach was, geben Sie mir gleich sechs«, sagte Moni dann mit gefestigter Stimme, was ihr Gegenüber sichtlich beruhigte. Wenn sich Tanja heute mit Kuchen die Droge gab, dann gedachte Moni, sich mit einer Überdosis Blutorangen ins Reich der Träume zu schicken. Als Rentnerin hatte man ohnehin alle Zeit der Welt.
Lena konnte Emilia, der alten Gemüsehändlerin vom hiesigen Markt, nur recht geben. Der liebe Gott hatte wohl bei der Erschaffung der Welt mit Italien angefangen und sich dabei so verausgabt, dass er etwas müde gewesen war und den Rest seiner Schöpfung nur noch sporadisch mit atemberaubender Schönheit bestückte. Wenn ein Künstler ein Meisterwerk erschuf, wurde es zum Maß aller Dinge und konnte einfach nicht mehr übertroffen werden: Lenas Theorie – und bei einem ihrer letzten Einkäufe an Emilias Stand wohl so überzeugend vorgetragen, dass die Gemüsehändlerin sie sofort in ihr Herz geschlossen hatte.
»Du denkst schon wie eine echte Sizilianerin.« Wenn das mal kein Kompliment war, noch dazu für eine junge Deutsche, die noch gar nicht so lange hier war. Neuerdings griff Emilia Lenas Gedanken zur Erschaffung der Welt sogar auf, um vorbeischlendernden Touristen ihre Ware schmackhaft zu machen. Etwas Besseres als sizilianische Orangen und Limonen gab es demnach nicht. Das Gleiche galt natürlich auch für Pistazien, Oliven, Maronen, Maulbeeren, Feigen und Kapern, selbst wenn Letztere überwiegend von den Liparischen Inseln im Norden Siziliens stammten. Kundenfang auf Sizilianisch. Lena brauchte man allerdings nicht mehr einzufangen. Sie hatte sich bereits vor einem guten Vierteljahr unsterblich in Taormina, eine wahre Perle der sizilianischen Ostküste, verliebt. Es verging kein Tag, an dem sie nicht für mindestens ein Viertelstündchen auf der kleinen Steinmauer ihrer derzeitigen Behausung in der Oberstadt saß, um von dort hinab auf unzählige Dächer und blumengeschmückte Balkone des malerischen Orts und dessen Amphitheater zu blicken. Immer dann, im Angesicht solcher Schönheit, fielen ihr Emilias Worte wieder ein, wobei der liebe Gott zumindest in architektonischer Hinsicht nicht für das vor ihr liegende getupfte Landschaftsgemälde verantwortlich zeichnete, sondern die Baukunst der Menschen. Sie passte sich den Örtlichkeiten an. Die Häuser Taorminas wuchsen den steilen Hang hinunter bis zum Meer, an dessen Küste die Landstraße und die Bahnstrecke verliefen. Nirgendwo sonst auf der Welt hatte Lena ein derart intensives Meeresblau gesehen. Es schien von innen zu leuchten. An klaren Tagen wie heute konnte man sogar die grünen Hänge am Fuße des Ätna im Landesinneren erkennen und seinen Atem sehen. Es hingen meist Dampfwölkchen über seinem Schlot, fast so, als ob der Vulkan genüsslich eine Friedenspfeife paffte. Für die Sizilianer war der mit rund dreitausendvierhundert Metern höchste aktive Vulkan Europas eine gute Freundin, also erstaunlicherweise weiblich, geliebt für ihre Schönheit und gefürchtet wie eine launische Schwiegermutter, die ab und an grollte.
In nordwestlicher Richtung lag das italienische Festland, Kalabrien, um genau zu sein. Von dort gingen die meisten Fähren nach Messina, einem Ort im Nordosten der Insel und Ausgangspunkt für Tausende von Touristen, die während der Saison von Ostern bis in den Oktober Sizilien für sich entdeckten oder einfach nur Strandurlaub machten – sofern sie nicht per Flieger nach Palermo oder Catania kamen. Wie unromantisch! Lena musste beim Anblick einer der Fähren, die eine weiße Gischtspur im Meer hinter sich herzog, unwillkürlich schmunzeln, weil sie auf diesem Weg hierhergekommen war. Eigentlich hatte sie nur einen Strandurlaub geplant gehabt, einen Break nach Abschluss ihrer letzten Klausuren an der Uni, doch dann war alles ganz anders gekommen. Und der Grund dafür, zu dem eine feurig temperamentvolle Stimme gehörte, riss sie nun aus ihren Gedanken.
»Lena, mein Engel. Wo steckst du denn?«, tönte es vom Haus. Warum die gut zwanzig Jahre ältere Francesca sie gelegentlich Engel nannte, wusste Lena. Das lag an ihrem lockigen blonden Haar und angeblich an ihrer herzlichen Ausstrahlung, die ihr Francesca bereits bei ihrer ersten Begegnung auf der Fähre attestiert hatte.
»Ich komme gleich«, rief Lena in Richtung des in die Jahre gekommenen Hauses, für deutsche Verhältnisse fast schon eine Ruine, die Francesca von ihren Eltern geerbt hatte. Schon auf der Überfahrt hatte Francesca ihr von ihren Plänen vorgeschwärmt. Eine Sprachschule wollte sie hier aufmachen. Kein schlechter Gedanke. Idyllischer konnte ein Ort kaum sein. Unterricht im Freien, an der frischen Luft? Das war Francescas Idee, und eine gute noch dazu. Der riesige Garten würde es ermöglichen. Ihn zierten drei mächtige Palmen, zwei Gartenlauben und ein Pavillon, der von Sternjasmin umrankt war. Er spendete im Sommer Schatten. Kaum ein anderes Haus in dieser Gegend hatte so einen großen Grund, auf dem sogar noch ausreichend Platz für zwei Zitronen- und drei Orangenbäumchen in riesigen Lehmtöpfen war. Im April zog der Duft ihrer Blüten bis ins Haus, das mit Stuck und uraltem Mobiliar auf zwei Etagen nostalgischen Italo-Flair verbreitete.
»Die Leute lieben so was. Nur ein bisschen renovieren. Zu zweit schaffen wir das locker. Und ich kenne ein paar Handwerker hier. Freunde der Familie.« Francescas Worte. Die verrückte Nuss hatte sie tatsächlich nach nur einer Hausbesichtigung dazu gebracht, einzuschlagen. Mit Romanistik war sowieso kein Geld zu verdienen, und je länger Lena in Italien lebte, desto näher kam sie ihrem Ziel, eines Tages als Dolmetscherin zu arbeiten. Bei Francesca lagen die Gründe auf der Hand. Sie war sowieso schon Lehrerin, hatte aber keine Lust mehr, sich für wenig Geld mit den kratzbürstigen Jugendlichen an einem Gymnasium in Padua herumzuärgern, um ihnen Deutsch beizubringen. Lena konnte trotzdem immer noch kaum glauben, dass sie nun Francescas Geschäftspartnerin war – mit sich selbst als Eigenkapital nebst einem Zuschuss von ihrer Mutter, um sich die erste Zeit über Wasser zu halten.
»Hilfst du mir jetzt im Keller oder nicht?« Francesca ließ einem aber auch keine fünf Minuten Ruhe. Schon schleppte der Rotschopf eine Kiste ins Freie und stellte sie mit Geschepper und Getöse auf der gefliesten Terrasse ab.
»Meine Eltern haben mir nie etwas davon erzählt, dass sie den Keller zuletzt als Lager vermietet haben. Da steht so viel Zeugs rum, sogar Kisten von fremden Leuten«, echauffierte sich Francesca.
Lenas Neugier war geweckt, als sie die Kiste erreichte und einen ersten Blick hineinwarf.
»Von Fremden?«, hakte Lena nach. Ihr war das bisher noch gar nicht in den Sinn gekommen, weil sie von Francesca wusste, dass ihre Eltern früher einen Trödelladen hatten und naturgemäß alles Mögliche in solchen Läden verkauft wurde. Sie hatten sich allem Anschein nach aber auf Kleinmöbel und Lampen spezialisiert. Denn davon war der Keller voll.
»Ein Teil der Kisten ist mit Namen beschriftet. Und das andere Zeug … Meine Eltern hatten nie ein Grammofon, weder privat noch im Laden, und schon gar keine Schellackplatten … und das hier …« Francesca zog drei Filmdosen heraus. »Schmalfilme … Die haben nie gefilmt. Das wüsste ich. Am besten, wir hauen alles in den Müll«, fuhr sie fort.
Lena setzte schon dazu an, zu Francescas Wagen zu gehen, um eine Sackkarre zu holen, die sie heute Morgen im Supermarkt gekauft hatten. Doch dann fiel ihr Blick auf eine der runden Filmdosen, die aus Aluminium gefertigt schienen. Auch wenn es bereits verblasst war, konnte Lena darauf ein Herz erkennen. Jemand musste es vor Jahren mit einem wasserfesten Stift darauf gemalt haben. Sofort begann Lenas Herz heftig zu schlagen. Hinter dieser kühlen Schale aus Metall schlummerte sicher eine heiße Romanze.
»Von wem das wohl ist?«, sinnierte sie laut vor sich hin.
»Ist doch egal«, erwiderte Francesca mittlerweile etwas genervt, weil Lena generell dazu tendierte, sich jedes Fundstück näher zu besehen, um es ausgiebig zu bewundern.
Lena nahm die Filmdose an sich. Ihrer Breite nach zu urteilen musste darin ein Schmalfilm liegen. Vater hatte seine alten Super‑8-Filme vor Jahren auf Video überspielen lassen, daher kannte sie das Format. Ein am Rand angebrachtes Klebeband hielt die beiden Dosenhälften zusammen. Die darauf angebrachte Schrift war noch heute zu lesen. »Chiemsee 1972«, murmelte Lena vor sich hin. Das weckte offenbar auch Francescas Interesse, denn wie um alles in der Welt kam ein mit einem Herzchen versehener Film, der offenbar am Chiemsee gedreht wurde, nach Sizilien?
»Ist wunderschön dort. Wir haben oft Ferien im Chiemgau gemacht. Vater liebte die Berge. Das war im Jahr, bevor er starb«, erinnerte Lena sich.
Francesca seufzte und begann dann, in der Kiste zu kramen.
»Mit ’nem Grammofon können wir die Filme jedenfalls nicht ansehen.« Francesca juckte es nun anscheinend auch in den Fingern.
»Ich war auch mal dort … ein Ausflug mit einer meiner Klassen. Die wollten das nie fertiggestellte Schloss von Ludwig sehen. Herrenchiemsee«, erklärte sie.
»Kann man sich so einen alten Schmalfilmprojektor hier denn nicht leihen? Vielleicht in Palermo?«, wollte Lena wissen.
»Der alte Giuseppe … Hatte früher mal ein Kino hier«, erwiderte Francesca nach kurzer Überlegung. »Wer weiß, am Ende ist es ja ein privater Porno aus den Siebzigern«, amüsierte sie sich.
»Dann wäre doch kein Herz drauf«, wandte Lena ein.
»Na, auf den Film bin ich jetzt aber gespannt.« So wie Francesca nun auf die Dose starrte, platzte sie gleich vor Neugier. Warum sollte es ihr anders ergehen als Lena? Hoffentlich konnten sie sich den Film ansehen.
Kuchen bei Mutter! Leider backte sie ihn nicht mehr selbst wie früher. Das musste wohl am Alter liegen. Viel zu viel Aufwand. Mittlerweile gab sie es wenigstens zu. Tanja freute sich trotzdem auf den allwöchentlichen Besuch am Samstag, gleich nachdem die Apotheke ihre Pforten schloss. Gottlob trafen sie sich nicht mehr im elterlichen Haus, das für Mutter sowieso viel zu groß war. Außerdem klebte daran nun mal die Kindheit. In so einer Umgebung blieb man das ewige Kind. Die Treffen in der neuen Altersresidenz am Park hingegen fühlten sich eher so an, als würde sie eine Freundin besuchen – zugegebenermaßen nicht die beste, aber immerhin eine Freundin und natürlich Kollegin, denn Mutter half gelegentlich in der Apotheke aus, wenn Not am Mann war. Auf den letzten Metern stellte Tanja zufrieden fest, dass sie ihrer Mutter den richtigen Ratschlag gegeben hatte. Natürlich hatte sie sich erst dagegengestemmt, doch sanfter Druck und jede Menge Überzeugungsarbeit hatten sie dann doch zur Einsicht bewogen, hier glücklich ihren Lebensabend verbringen zu können. Hier hatte sie es schön, konnte jeden Tag im nahe gelegenen Park spazieren gehen, war von in etwa Gleichaltrigen umgeben und genoss allen Komfort, den man sich nur wünschen konnte – von fußläufig erreichbaren Einkaufsmöglichkeiten mal ganz abgesehen.
Das Kuchenritual hatten sie bewusst beibehalten, um ein wenig Vertrautes in Mutters neues Leben zu integrieren – natürlich auch, weil Tanja für ein gutes Stück Sachertorte alles tun würde.
Warum nur ließ Mutter sie vor der Haustür stehen? Dreimal hatte sie schon geklingelt. Hoffentlich war ihr nichts passiert. Die meisten Unfälle ereigneten sich schließlich in den eigenen vier Wänden. Doch da öffnete Mutter die Tür doch noch.
»Ah, Tanja. Ich dachte schon, der Frieder. Der klingelt immer zweimal. Wenn’s öfter oder nur einmal klingelt, weiß ich, dass es jemand anders ist. Komm rein!« Ihre Mutter wirkte äußerst angespannt. Ein Blick über ihre Schulter genügte, um zu erkennen, dass sie immer noch dabei war, Kisten zu räumen. Vermutlich war das eine Art Rentnersport, in Kisten zu wühlen und sie unentwegt woanders hinzustellen. Es sah doch schon kurz nach Mutters Einzug alles so ordentlich aus – und das war vor sechs Wochen gewesen.
»Wer ist Frieder?«, wollte Tanja dann aber wissen.
»Demenz. Er meint, er wohnt hier. Ich erkläre es ihm jedes Mal. Einmal hab ich ihn sogar zu seiner Wohnungstür begleitet. Nützt alles nix«, erklärte Mutter.
»Dass ihr so schwere Fälle hier habt …«, wunderte Tanja sich. Sind die nicht eher im Pflegeheim untergebracht? Zumindest hatte ihr der Makler das so geschildert. Kein Wunder, dass Mutter angesichts eines anscheinend doch nicht mehr so ganz rüstigen Umfelds etwas verschnupft war.
»Das Alter macht vor nichts halt. Das ist doch hier nichts weiter als ein Zwischenlager … vor der Endlagerung.« Diese Aussage war ernüchternd und deprimierend zugleich. Das musste sie Tanja wohl angesehen haben.
»Jetzt schau nicht so finster. Die Uhr tickt. Mir gefällt der Begriff. Er ist auch nicht von mir, sondern von Evi. Die wohnt eine Etage tiefer und hat zehn Jahre mehr auf dem Buckel.« Mutters Erklärung war nicht besonders hilfreich, die nachdenkliche Lähmung von sich abzuschütteln. Ihr Kommandoton schaffte es: »Ich nehm den Kuchen, du das Tablett! Heut gibt’s Erdbeerschnitten mit Sahne.«
Das ließ Tanja sich nicht noch mal sagen, zumal die vom Discounter ausgesprochen gut waren. Kaum hatte sie das Tablett mit der Kaffeekanne und dem guten Service in der Hand, drang ein markerschütterndes Heulen an ihr Ohr. Es musste von nebenan kommen. Merkwürdigerweise schien Mutter sich gar nicht daran zu stören. Sie musste es aber doch auch gehört haben. War sie etwa schon taub geworden?
»Was war denn das?«, wollte Tanja wissen. Nun war deutlich vernehmbar, dass nebenan jemand von Weinkrämpfen förmlich durchgeschüttelt wurde. Sie erstarben in einem Schluchzen, das schließlich abebbte, als Tanja im Slalom durch die Kisten den Balkon erreicht hatte.
»Waldemar«, gab Mutter zum Besten. Es klang irgendwie nach Voldemort, also dem »Du weißt schon wer« aus Harry Potter. Mutter hatte den Namen auch mindestens so ehrfürchtig ausgesprochen, aber dieser Fiesling schluchzte doch nicht so jämmerlich.
»Und? Was hat der?«, fragte Tanja.
»Nichts. Seine Katze ist gestern gestorben. Ich hab ihm angeboten, ihn ins Tierheim zu begleiten, um sich eine neue zu holen, aber er wollte nicht«, erwiderte Mutter, nachdem sie am runden Tisch auf dem Balkon mit Blick auf die Parkanlage Platz genommen hatte.
Tanja tat es ihr gleich.
»Na, den Dauerklingler und den Katzenjammerer bist du ja bald los. Nur noch eineinhalb Wochen«, freute Tanja sich. Eine Kreuzfahrt stand bevor. Nur Mutter und ihr Töchterlein, ihre »große Maus«, wie sie sie bis zu ihrer Hochzeit genannt hatte. Ein lang gehegter Traum.
Mutters Mundwinkel regten sich nicht.
»Freust du dich denn gar nicht?«, fragte Tanja mit unüberhörbarer Entrüstung, denn dafür hatte sie tief genug in die Apothekenkasse gegriffen – Privatentnahme nannte sich das auf Fiskaldeutsch.
»Doch«, gab Mutter zurück, allerdings nicht gerade überzeugend.
»Das wolltest du doch immer.«
»Du wolltest das immer, damit du damit bei den Kunden angeben kannst.«
Mutter hatte zwar nicht so ganz unrecht, aber trotzdem dachte Tanja, dass sie sich ebenfalls freuen würde. So eine Fjord-Tour in Norwegen war ja auch was Besonderes. Warum um alles in der Welt stand Mutter nun auf, um über das Balkongeländer nach unten zu sehen?
»Endlager. Evi hat da ganz recht«, sagte Mutter unvermittelt.
»Was? … Womit?« Tanja erhob sich nun ebenfalls und folgte dem Blick ihrer Mutter. Da gab es allerdings nichts Besonderes zu sehen. Ein Kombi lud nur Müllsäcke und ein paar entrümpelte Möbel ein.
»Siehst du die Etiketten an den Säcken?«, fragte Mutter.
Tanja bemerkte sie erst jetzt.
»Da sind die Namen der Heimbewohner drauf, nebst Sterbedatum. Irgendwann machen die das auch mit meiner Wohnung. Und wer weiß das schon, vielleicht bin ich ja als Nächstes dran«, stellte Mutter mit beunruhigender Leichtigkeit fest.
»Na, das hat ja wohl noch jede Menge Zeit, Mutter.« Tanja versuchte, sich damit zu beruhigen, dass bisher jeder in ihrer Familie steinalt geworden war. Gute Gene. Dachte Mutter am Ende tatsächlich, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte?« Schon setzte ein dumpfes Gefühl der Unruhe in der Bauchgegend ein. Mutter war nicht der Typ, der über Erkrankungen sprach. Hatte sie nicht vor Kurzem eine Vorsorgeuntersuchung gehabt?
»Mistest du deshalb aus?«, fragte Tanja mit Blick zurück in die Wohnung, weil sie der Gedanke nun doch stärker beunruhigte – Gene hin oder her.
»Nein. Ich stochere in alten Erinnerungen herum, und ich möchte alles digitalisieren, Fotos, Briefe, Urkunden, einfach alles. Dann hat man es schneller zur Hand.«
»Du hast einen Scanner?« Eigentlich wollte Tanja fragen, ob das so eine Art Beschäftigungstherapie für Rentner war.
»War im Angebot. Und wenn du willst, schicke ich dir ’nen Link zu meiner Cloud, aber natürlich nur zu Bildern, auf denen du drauf bist«, präzisierte Mutter. So wie sie mit diesen Fachbegriffen um sich warf, musste Jan ihr einen Intensivkurs in Sachen Internet verpasst haben.
»Und Papa?«
Ein abfälliger Laut folgte. Also, keine Bilder mit Papa. Tanja konnte es ihrer Mutter nicht einmal übel nehmen.
»Soll ich dir Fotos mit dir und Rüdiger …?« Mutters Frage war sicher nicht ernst gemeint. Daher verkniff sich Tanja eine passende Antwort. Fotos von ihrem Ex, der sie mit einer jüngeren Magersüchtigen betrogen und dann ihretwegen verlassen hatte, musste sie nicht auch noch digital haben. In der Liebe schienen beide das Glück wahrlich nicht abonniert zu haben. Anscheinend vererbte sich das.
»Vielleicht findest du ja jemanden auf der Kreuzfahrt«, sagte Mutter allen Ernstes, nachdem sie sich wieder gesetzt und ihre Kaffeetasse in der Hand hatte.
»Ich will gar niemanden finden. Ich hätte ja nicht einmal die Zeit. Du weißt doch selbst, was bei uns los ist«, versuchte Tanja, sich zu rechtfertigen.
»Faule Ausrede. Ein paar Pfunde weniger und …« Auch das wusste Tanja, aber hören wollte sie es nicht. Die Erdbeerschnitte hatte daraufhin augenblicklich ihren Reiz verloren.
»Willst du deinen Kuchen denn nicht essen?«, fragte Mutter und dekorierte ihn auch noch mit einem verführerischen Sahnehäubchen. Sie selbst hatte sich diesen ekeligen Vollkornkarottenkuchen, der wie Pappe schmeckte, auf den Teller gelegt. Ja, Mutter machte anscheinend alles richtig. Ließ man den deutlich sichtbaren Gewichtsunterschied außen vor, könnte man sie in fünf Jahren der Anzahl ihrer Falten im Gesicht nach zu urteilen bestimmt für Schwestern halten, so flott sah Mama noch aus. Und die ersten grauen Haare hatte Tanja auch schon.
Mutter wusste, wenn sie zu weit ging, und meinte es ja letztlich nie böse. Dass sie sich nun selbst ein noch viel größeres Sahnetürmchen aus der Sprühflasche auf ihrem Pappmascheekuchen errichtete, wertete Tanja als ein Zeichen der Versöhnung, das sie sogleich mit einem Schmunzeln quittierte.
Lena hatte sich den alten Giuseppe als verrunzelte Rosine vorgestellt, sprich als einen alten Sizilianer mit von Sonne und Wind gegerbtem Gesicht. Vor ihrem geistigen Auge trug er eine Schirmmütze und altmodische, ausgebeulte Stoffhosen, die unter einem abgewetzten Jackett hervorlugten. Francesca glaubte ja, dass er bestimmt schon über achtzig sein musste. Er wohnte in einer der Seitengassen der Altstadt, die zum Amphitheater führten. Der Giuseppe, der ihnen die Tür öffnete und Francesca innig umarmte, bevor er Lena die Hand reichte, sah jedoch anders aus. Erstens war er rein optisch viel jünger und zweitens auch noch eine äußerst gepflegte Erscheinung. Er hatte etwas von einem Aristokraten an sich, wofür der um den Hals geschwungene helle Seidenschal sprach. »Piacere« klang aus seinem Munde nicht nach einer Höflichkeitsfloskel, die im Deutschen dem »angenehm« entsprach. Es lagen Inbrunst und sehr viel Gefühl in seiner Stimme. Er schien sich aufrichtig über den überraschenden Besuch zu freuen. Giuseppe wollte erst einmal wissen, wie es Francesca in Rom ergangen war. Anscheinend hatte er sie bereits gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen und in den Gassen Taorminas zusammen mit anderen Kindern umhergestreunt war. Die Filmdose in Lenas Hand erregte dennoch seine Aufmerksamkeit. Während des Gesprächs mit Francesca lugte er immer wieder darauf. Dass er ein Filmfreak war, wusste Lena spätestens seit er sie in seine kleine Wohnung gebeten hatte. Schon der Flur war gepflastert mit alten Kinoplakaten und gerahmten, überwiegend bereits angegilbten Schwarz-Weiß-Fotografien. Lena kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das waren keine aus Zeitungen oder Zeitschriften herausgeschnittenen und montierten Schnipsel, sondern echte Fotos, die stets den gleichen Mann, mal jünger, mal etwas älter, entweder Arm in Arm oder auf einem Gruppenbild mit irgendeinem Weltstar zeigten: mit der Taylor, als sie noch gut aussah, mit Marlon Brando, Robert de Niro, Tom Cruise, Audrey Hepburn, Melanie Griffith, der Streisand, Bardot und mit Ex‑Bond Sean Connery. Sogar Lenas Lieblingsstars Dustin Hoffman in jüngeren Jahren und Antonio Banderas waren mit von der Partie. Halb Hollywood schien an seinen Wänden verewigt zu sein.
»Questo sono io«, sagte Giuseppe und deutete erst stolz auf seine Fotokollektion, dann auf sich selbst. Lena hatte sich schon gedacht, dass er der Mann auf den vielen Fotos war. Seine Augen funkelten immer noch so hell wie auf den Schnappschüssen, aber vielleicht auch nur deshalb, weil sie das von der Küche hereinfallende Sonnenlicht streifte. Dort sah es nicht anders aus als im Flur, nur dass darin ein in die Tage gekommener Kühlschrank und ein angerosteter Gasherd standen, die als klassische Küchenmöbel in diesem Privatmuseum deplatziert wirkten.
»Giuseppe hat das hiesige Filmfest betreut und alle großen Stars persönlich kennengelernt«, erläuterte Francesca.
Giuseppe nickte und ließ den Blick über seine Sammlung aus einem früheren Leben schweifen.
Lena blieb an einer weiteren Aufnahme mit Antonio Banderas hängen. Er hatte seinen Arm freundschaftlich um Giuseppe gelegt. Und wie der strahlte. Lena wäre dem Banderas wahrscheinlich gleich um den Hals gefallen. Genau ihr Typ Mann. Verwegen, ein bisschen Macho, einen Hauch verrückt und zugleich einen so sentimentalen Blick drauf, dass man nur so dahinschmelzen konnte. Auch Giuseppe hatte ein Banderas-Lächeln. Als junger Mann mussten ihm die Frauen hinterhergelaufen sein.
»Das Filmfest gibt es immer noch. Seit 1971 ist es in Taormina. Im griechischen Theater. Ich war aber schon dabei, als es noch nicht Taofest hieß. Rassegna Cinematografica Internationale di Messina e Taormina. Das klingt wie Poesie. Und besser als dieser alberne Name. Aber alles wird heutzutage irgendwie veralbert oder verniedlicht. Finden Sie nicht?«, fragte er an Lena gerichtet.
Lena nickte erst, nachdem sie sich von Banderas hatte losreißen können.
»Haben Sie einen alten Film dabei? Es ist nicht das erste Mal, dass Leute damit zu mir kommen«, drängte er dann. Die runde Aluminiumdose schien eine magische Anziehungskraft auf ihn auszuüben.
Lena reichte sie ihm. Es wunderte sie keineswegs, dass sich ein Lächeln in seinem Gesicht zeigte, als er das Herz sah.
»Hoffentlich ist der Film nicht brüchig geworden. Scheint ja schon älter zu sein«, sagte Giuseppe, nachdem er ihnen bedeutet hatte, auf einer mit grünem Samt bezogenen Eckcouch Platz zu nehmen. »Francesca. Meine Hände sind schon so zittrig. Hol doch den Limoncello aus dem Kühlschrank. Die Gläser sind in der Glasvitrine«, wies er sie an. Dann verschwand er im Nebenraum.
Lena vernahm das Knarren einer Schranktür und riskierte einen Blick in das Zimmer, in dem Giuseppe zugange war. Dort standen ein altes Holzbett, über dem ein Kruzifix thronte, und jede Menge Kisten. Es raschelte und knarzte. Er kramte wohl den Projektor aus irgendeiner Ecke hervor. Lena nutzte die Zeit, um sich wieder den Fotos an der Wand im Wohnzimmer zu widmen. Dort hingen definitiv mehr Aufnahmen von männlichen Stars, und zu allen hatte er irgendwie Körperkontakt, sei es ein Arm um die Schulter gelegt oder eine wie auch immer geartete Geste der Nähe. Das Halstuch, seine gepflegte Erscheinung. Nun fiel ihr ein, woran sie der Mann erinnerte. Wie einer der Typen aus dem Käfig voller Narren kam er daher. Okay, alles klar. Francesca darauf anzusprechen, kam nicht mehr infrage, weil Giuseppe wieder zu ihnen stieß. Stolz wie auf eine Jagdtrophäe hielt er den S‑8-Projektor in der Hand.
»Wenn die Damen mir folgen würden? Wir gehen ins Kino«, sagte er geheimnisvoll und deutete auf eine zweite Tür, die zu einem Raum führte, den ein Vorhang vor Tageslicht schützte.
Giuseppe ging vor und machte Licht. Der Raum war nur etwa zwölf bis dreizehn Quadratmeter groß, aber sehr schmal. An den Wänden hingen Filmposter, die bis zu einer Abmauerung im hinteren Teil reichten. Dort war eine rechteckige Aussparung zu erkennen. Giuseppe verschwand dahinter und schlüpfte nun offenbar in die Rolle des Filmvorführers.
»Es sind genügend Plätze frei. Ich empfehle Reihe drei«, gab er ihnen zu verstehen. Dann dimmte er das Licht der Leuchten an den Seitenwänden. Kinofeeling pur. Es fehlten nur noch die Eisverkäuferin und das Popcorn. Insgesamt hatte er vier Reihen mit je drei Kinosesseln auf dem Boden verschraubt. Er musste sie wohl aus verschiedenen Kinoräumen zusammengeklaubt haben, denn sie hatten unterschiedliche Bezüge, und auch die Polsterung war auf jedem anders gearbeitet. Lena fand ihren bequem. Francescas Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie wohl einen eher unbequemen Sessel erwischt.
»Wir haben Glück. Der Film fühlt sich noch geschmeidig an«, kam es von hinter der schwarzen Wand. Dann setzte das Knattern ein, wie es nur ein alter S‑8-Projektor von sich geben konnte, wenn er die ersten Zentimeter des perforierten Filmmaterials einzog. Das laute Geräusch ebbte ab und wurde gleichmäßiger. Dann ging das Licht aus, und die Leinwand vor ihnen begann zu flackern. Staubkörner tanzten am Rand entlang und krochen durchs Bild, das zunächst nichts weiter als eine Berglandschaft zeigte, doch schon in der nächsten Einstellung tauchte eine wunderschöne junge Frau auf. Sie trug typische Kleidung der frühen 1970er-Jahre. In welcher anderen Zeit trug man einen einfarbigen orangefarbenen Minirock zu einer grünen Bluse? Die müssen alle auf Droge gewesen sein. Vielleicht erklärte das auch, warum die Frau so furchtbar gestellt in die Kamera winkte. Da fiel Lena ein, dass man damals nicht endlos viele Aufnahmen machen konnte wie heute im digitalen Zeitalter, weil das Filmmaterial sehr teuer gewesen war und man daher selbst weniger gelungene Filmteile nicht einfach wegschmiss.
Der verliebte Blick der Frau kam in der groben Körnung des Filmmaterials gleich noch besser rüber, weil die Szenerie wie ein impressionistisches Gemälde mit dem Titel »Winkende Frau vor dem Berg« wirkte. Nun setzte urplötzlich Musik ein. »Volare«, eine Uraltschnulze, die damals auch schon ein Oldie gewesen sein musste. O‑Ton fehlte. Schade, denn irgendetwas rief die Frau dem Kameramann zu. Francesca konnte es wohl auch an den Lippen ablesen: »Ti amo«, hauchte sie, genau wie die Frau in Grün und Orange. Dann fing die Szenerie an zu wackeln. Füße und ein Stück Wiese huschten durchs Bild. Wahrscheinlich hatte ihr Gegenüber vor, ihr nun die Kamera in die Hand zu drücken. Heute nannte man das Reality‑TV. Jetzt filmte die Frau. Noch waren von ihm nur Lederschuhe und die nächste Klamottensünde zu sehen. Wie konnte man nur Jeans tragen, die unten so ausladend wie Zelte waren? Er tat es, und verdammt, er konnte es sich leisten. Erstens die Augen. Blau, und zwar so was von intensiv blau. Zweitens seine lockigen schwarzen Haare, in die man sich einwühlen konnte, und drittens ein grübchenumrahmtes Lächeln, bei dem sogar Antonio Banderas einpacken konnte. Auf seiner Wange war ein Muttermal, eher ein Schönheitsfleck, wie ihn der venezianische Hochadel gerne trug. Die Kamerafrau schwenkte nun frivol auf seinen Po, während der zu Recht Angebetete in die Ferne auf den unter ihm liegenden Bergsee blickte. So weit die Jeans unten damals geschnitten waren, so eng waren sie oben. Ein echter Hingucker.
Schnitt und Szenenwechsel. Die beiden Turteltäubchen saßen nun Arm in Arm in einem Segelboot. Der unbekannte Kameramann zoomte sie näher heran, zu nah, denn nun waren die Köpfe weg. Ihre grüne Bluse und sein weißes Hemd kamen ins Bild. Dazu gesellte sich sein rotes Halstuch. Schon füllte die italienische Flagge die Leinwand.
Schnitt zu einer Picknickszenerie, bei der die bunte Schönheit sich auf einer Decke mitten auf einer Wiese neben einem Korb rekelte. Sie mussten diesmal ein Stativ verwendet haben, weil der knackige Kerl zurück zum Motiv hechtete, zu seiner »Amore«. Diesmal, um sie vor laufender Kamera zu küssen – was zunächst eher gestellt und unfreiwillig komisch aussah. Das änderte sich jedoch.
»Wieso hat mich noch nie ein Mann so geküsst?«, gab Francesca unvermittelt von sich, weil aus dem gestellten Kuss Leidenschaft wurde, die man auch nach Jahrzehnten noch spürte. Die Oldie-Schnulze passte perfekt dazu.
Lena war in ihrem Sessel schon förmlich dahingeschmolzen.
Auch Giuseppe, der sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatte, starrte wie gebannt auf das Zeugnis einstiger Leidenschaft, mal in der Landschaft, mal auf dem Berg, mal am Wasser. Und ein Italo-Evergreen folgte dem anderen.
Francesca wirkte bereits wie weggetreten.
Mal er, mal sie, dann wieder beide zusammen in innigster Eintracht und mit Schmachtblicken um sich schmeißend, Händchen haltend und sich küssend – immer wieder. Lena wurde schon ganz heiß.
»Grande Amore …« Francesca seufzte. Nun hatte sie ihren Porno, nur war er wohl eher etwas für die Seele und daher umso wirkungsvoller.
»Gott im Himmel. Oma, wie viel haben sie dir damals gezahlt, um diesen Fummel anzuziehen?« Jan kriegte sich beim Betrachten eines der auf dem Wohnzimmertisch verstreuten Fotos aus Monis Jugend gar nicht mehr ein, aber selbst jahrelang herumlaufen, als ob ihm eine Windel zwischen die Beine gerutscht wäre. Furchtbar diese Jeans, bei denen der Schritt am besten auf Höhe der Kniekehlen hängen musste und die Hosenbeine sich so über »Sneakers« stülpten, dass sie zu selbst gebauten Stolperfallen wurden. Ein kleiner Rapper war er gewesen und jetzt? Einen auf schick machen. Perfekt gestylt und adrett. Soviel Moni wusste, bügelte er sogar seine T‑Shirts. Insgesamt war ihr Enkel eine sehr attraktive Erscheinung, aber mit seinen dreiundzwanzig Jahren schon sehr konservativ gekleidet. Wenn er sich wenigstens das Haar nicht so streng nach hinten gelen würde. Wollte er mit dieser Maßnahme etwa seine dunklen Locken bändigen? Alles nicht typgerecht, wenn man so ein hübscher junger Mann war, an dem ein Jackett aussah, als ob sich ein Milchbubi zu Fasching als Aufsichtsrat von VW verkleidete. Vielleicht wollte er auch nur seinem Image als künftiger Stararchitekt gerecht werden. Moni stellte ihn sich gerade mit Jackett im Hörsaal der Uni vor. Die mussten ihn doch alle für einen gefälligen Streber halten. Also, über das Thema modische Verfehlungen brauchte er mit ihr beim besten Willen nicht zu reden.
»Aber ziemlich flott und sexy«, fuhr Jan fort, nachdem er sich weitere Fotos ihrer »bunten Phase« vom Stapel geschnappt und durchgesehen hatte. Na gut, das konnte man als Kompliment durchgehen lassen, und damit hatte er auch noch recht. Diese Miniröcke von damals hatten was, mal abgesehen von aus heutiger Sicht unmöglichen Farben. Bevor er sich noch tiefer durch ihren Fotobestand wühlte und auf verfängliche Aufnahmen von ihr und Vincenzo stieß, die unerwünschte Fragen nach ihrem vorehelichen Liebesleben nach sich ziehen würden, sollte er lieber diesen komischen »Dongel« testen, den er ihr unaufgefordert aufs Auge gedrückt hatte, weil er »cool« sei und man sich damit angeblich die besten Filme auf den Fernseher »streamen« konnte.
»Läuft das Ding jetzt?«, fragte sie ihn daher. Prompt griff Jan nach der Fernbedienung, um den Kanal auszuwählen, an dem dieses Teil angeschlossen war. Wahrscheinlich hatte ihm Tanja gesteckt, dass sie sich letztes Wochenende über das immer eintöniger werdende Fernsehen aufgeregt hatte, weil abgesehen von Wiederholungen nichts Gescheites mehr lief. Wie sonst sollte man den Abend allein verbringen, wenn man zum Lesen schon zu müde war? Für Jan war es Chefsache, dass es seiner Oma gut ging. Leider war er eine Stunde zu früh gekommen. Die Fotos hatte sie eigentlich wieder in die Kisten packen wollen.
»Du wählst HDMI, und dann kannst du dir mit dem Abo anschauen, was du willst«, erläuterte Jan, während er mit der Fernbedienung durch verschiedene Sparten zappte, die ihr Monitor nun anbot. Dann drückte er ihr das Teil in die Hand. »Versuch’s mal.«
Jan stand auf und verzog sich auf die Toilette. Genau wie früher in ihrem Haus machte er die Wohnzimmertür hinter sich zu, und Moni hörte, dass er auch die Badezimmertür absperrte. Als ob ihm jemand was abschauen würde. Das hatte in seiner Pubertät angefangen, aber aus der war er doch schon raus, überlegte Moni. Erst kürzlich hatte sie sich mit Tanja darüber unterhalten. Es war ja schon etwas merkwürdig, dass er in seinem Alter noch keine feste Freundin hatte. Schwul war er jedenfalls nicht, weil Tanja ihn erst kürzlich in einer verfänglichen Situation vor seinem Computer erwischt hatte. Anscheinend stand er auf Blondinen. Man ging aber auch nicht ins Zimmer eines jungen Mannes, ohne anzuklopfen. Vielleicht fehlte Jan einfach nur der Vater, doch der hatte sich nach Tanjas Scheidung nach Panama abgesetzt und war somit auch aus Jans Leben verschwunden. Kein Wunder, dass ihr Enkel ein richtig braves Muttersöhnchen geworden war. Andererseits: Was war daran so verkehrt?
Moni zappte durch die Kanäle. Die meisten aktuellen Filme kannte sie sowieso nicht. Bis die Klospülung von nebenan deutlich vernehmbar war, hatte sie die richtige Filmkategorie für sich gefunden: Klassiker. Schon stach ihr ein Film ins Auge, von dem sie sich geschworen hatte, ihn nie wieder anzusehen. Die Streep und der Eastwood in DieBrücken am Fluss. Moni hasste diesen Film regelrecht, aber nicht, weil er schlecht war. Ganz im Gegenteil. Rotz und Wasser hatte sie schon seinerzeit im Kino geheult, als die Streep das Paket ihrer verstorbenen großen Liebe erhalten und daraus sein Amulett herausgezogen hatte. Nicht minder taschentuchtauglich war die Szene gewesen, in der sich die Farmersfrau an einer Straßenkreuzung zwischen ihrem Dasein als Ehefrau und Mutter und einer großen Liebe hatte entscheiden müssen. Hatte sie sich richtig entschieden? Damals im Kino war Moni mit sich in einen heftigen Widerstreit geraten, der damit geendet hatte, sich »Steig endlich aus!« zu wünschen. Denn die dumme Kuh war im Wagen bei ihrem Mann sitzen geblieben, und sicher nicht, weil es draußen in dieser Szene in Strömen regnete. Welche Dramatik, wie sich die Hand der Streep Halt suchend am Türgriff des Wagens festgeklammert hatte und sie immer wieder kurz davorgestanden hatte, die Tür aufzureißen, um ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Vor ihr der Wagen des Mannes, der ihr ein glückliches Leben versprochen hätte. Neben ihr der Mann, von dem sie zwei Kinder hatte, für den sie sich aufopferte und der sie ebenfalls liebte, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Die Landpomeranze, Vollblut-Hausfrau und Mutter hatte sich gegen den Traum entschieden, den sie zumindest für eine Woche hatte erleben dürfen. Irgendwo war das verständlich und vernünftig. Zu der Einsicht war Moni aber erst Stunden nach dem Kinobesuch gelangt, notgedrungen, und um sich davor zu bewahren, von der nächstbesten Brücke zu springen. Vernunft zahlte sich nicht immer aus. Wie tat das noch weh, mit der Gewissheit zu leben, dass man in seinem eigenen Leben zwar die richtige Entscheidung getroffen hatte, aber trotzdem vom Leben dafür abgewatscht worden war.
»Na, haste dir schon was ausgesucht?«, fragte Jan, als er wieder hereinkam. Sein Blick fiel sofort auf das Kinoplakat der Brücken am Fluss auf dem Bildschirm. »Den kenn ich. Ich bin dabei fast eingeschlafen. Schau dir doch ’nen Bond an. Die haben alle im Programm«, kommentierte er.
Eingeschlafen? Wie konnte man bei so einem Film nur einschlafen? Moni beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Jan war viel zu rational gestrickt und definitiv der unromantischste Mensch, den sie kannte. Nun stand er etwas unentschlossen da.
»Ich muss. Aerobicstunde«, erklärte er. »Du kommst damit klar?«, wollte er sich noch vergewissern.
»Ich find schon was«, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Wange. Das alte Ritual. Ein Abschiedsküsschen für die Oma musste trotz der Ameisen in seinem Hintern drin sein. Wie auf Knopfdruck bekam sie zwei.
»Ich meld mich«, versprach er. Dann war er weg.
»Bond? Nee!«, sagte Moni zu sich selbst, nachdem sie es sich auf ihrem Sofa bequem gemacht hatte. Irgendeinen Horrorfilm aus den Achtzigern anschauen, um sich abzulenken? Das Tor zur Hölle war ja eh schon auf. Die vielen Fotos hatten es aufgestoßen. Dann kam es auf diesen gottverdammten Film auch nicht mehr an. Blutorangen auspressen. Etwas Bacardi rein. Perfekt! Wenn man schon beabsichtigte, sich fertigzumachen, dann gescheit. Das war wie bei einem Gewitter. Moni hoffte auf dessen reinigende Wirkung und baute auf ihre Lebenserfahrung, wonach sich jede dunkle Wolke irgendwann verzog und anschließend wieder die Sonne schien.
An sich hatte Lena geplant, den Fund der nostalgischen Filmrolle nach dem Frühstück schnell wieder abzuhaken, weil zumindest die Neugier auf deren Inhalt gestillt war. Außerdem war im Haus einfach noch zu viel zu tun, um sich weiterhin mit einer längst vergangenen Romanze zu beschäftigen. Francescas Idee, die Rolle Giuseppe zu schenken, lag da auf der Hand. Er sammelte alte Filme und hatte diesen gar als wertvoll bezeichnet, weil er ein Stück Zeitgeschehen dokumentierte, wenn auch in einem anderen Land. Immerhin war einer der Beteiligten ein Italiener, dessen waren sie sich alle einig, weil die südländischen Züge und die Art, wie er vor der Kamera gestikulierte, typisch für Giuseppes Landsleute waren. Es schien für jedes Wort und jede Gefühlsregung eine passende Geste zu geben. Lena hatte bereits ernsthaft darüber nachgedacht, zur allgemeinen Aufheiterung in ihren ja hoffentlich bald stattfindenden Italienisch-Kursen Vokabellisten mit Abbildungen der dazugehörigen Handbewegungen zu erstellen, die im Alltag vielleicht noch wichtiger als Wörter waren, weil man sich damit schnell und auf den Punkt verständigen konnte. Das häufigste Handvokabular war wohl, wenn man den Daumen und die Fingerspitzen zusammenführte und dabei nach oben zeigte. Das Handgelenk musste dabei rhythmisch in Richtung Schulter schwingen. Francesca hatte beispielsweise damit zum Ausdruck bringen wollen, dass sie überhaupt nicht verstand, warum Lena diese Filmdose behalten wollte, zumal sie doch eigentlich ihren Keller ausmisten wollten. Um ihr die Dringlichkeit dieser Aktion klarzumachen, hatte Francesca dann noch ihre Hände wie zum Gebet zusammengelegt. Die flach aufeinanderliegenden Handflächen schwangen bei dieser Geste in Richtung Brustkorb und wieder weg. Gepaart mit Francescas schierer Verzweiflung darüber, dass Lena jede einzelne Kiste nach weiteren Spuren der »Grande Amore vom Chiemsee« durchforstete und somit wertvolle Zeit bis zum Abend damit verplemperte, hieß diese Geste Lenas Auffassung nach auch: »Warum um alles in der Welt tust du das?« Lena wusste es selbst nicht so genau und ignorierte, dass Francesca sich mit der flachen Hand symbolisch wie mit einem Messer über den Hals gefahren war, was so viel heißen sollte wie »Jetzt hör aber endlich auf damit«. Ging aber nicht, denn in einer zweiten Kiste waren noch Fotos der beiden aufgetaucht. Die Rückseite zweier Fotos war beschriftet. Die Frau mit Vorliebe für Kunterbuntes hieß demnach Monika. Der »bello Ragazzo«, im Übrigen genau Lenas Typ, war ein Vincenzo. Was für ein hübsches Paar. In der Kiste waren auch noch Briefe von Monika aufgetaucht. Obwohl Francesca sie vorhin mit der »Gebetspose« dazu aufgefordert hatte, für heute Schluss zu machen, sprich gemeinsam zu essen und den Abend bei einem Glas Wein auf der Terrasse ausklingen zu lassen, konnte Lena sich der Magie, die von Monika und Vincenzo ausging, einfach nicht entziehen. Kein Licht im Keller? Francesca hatte sich zu früh darüber gefreut, dass sie noch nicht dazu gekommen waren, Ersatzsicherungen für den alten Sicherungskasten zu besorgen. Wozu gab es Kerzen? Und in deren Lichterspiel war es gleich noch einen Tick romantischer, diese alten Briefe durchzulesen. Das Essen konnte warten. Warum er so gut Deutsch konnte, ging gleich aus einem der ersten Briefe des vor ihr liegenden Stapels hervor. Er war zum Kellnern nach Deutschland gekommen und am Chiemsee in einem Hotel gestrandet. Dort hatten sich die beiden auch kennengelernt, anlässlich einer Tagung für Apotheker. Monika hatte es aufgegriffen, weil sie schon ein Jahr zuvor dort auf einer Tagung gewesen war und sich darüber wunderte, warum sie sich nicht bereits früher über den Weg gelaufen waren. Liebe auf den ersten Blick war es also gewesen, wie sich unschwer aus ihren Zeilen schließen ließ. Die regelmäßige Korrespondenz hatte unmittelbar nach dem Kongress begonnen, und fortan hatte für Monika jedes Wochenende der Chiemsee auf dem Programm gestanden. Das war ja nicht so weit von Augsburg aus, was sich aus dem Absender erschloss. Lena stellte beim Lesen fest, dass Liebeserklärungen nie schwülstig waren, sofern sie von Herzen kamen. »Ich vermiss dich so sehr, dass ich kaum noch einschlafen kann.« Und: »Ich umarm dich, ich küss dich, ich vernasch dich …« – Monika hatte es also ordentlich erwischt. Brief drei brachte aber Ernüchterung. Der böse Dritte kam nun mit ins Spiel, denn Monika war bereits verlobt gewesen. Es wurde ja richtig spannend. Werner hieß er. Lena litt beim Lesen mit.
»Und?«, gellte es von oben aus der Küche. Francesca hatte sich damit abgefunden, dass sie am heutigen Abend allein essen musste. Warum Lena jedoch gleich so lange im Keller verschwunden war und was in diesen Briefen stand, wollte sie dann aber doch wissen. Das war bereits die dritte Nachfrage gewesen.
»Sie muss sich zwischen ihm und einem Werner entscheiden«, rief Lena nach oben.
»Willst du nicht doch was essen?«, kam es zurück.
»Nein!«
Lena zog lieber den nächsten Brief aus dem Stapel. Es wurde immer dramatischer, weil Vincenzo zurück nach Italien musste. Seine Mutter war krank geworden, und Monika sah sich außerstande, ihn zu begleiten, weil sie ihr Studium seinetwegen nicht hätte einfach hinwerfen können – schon allein der Eltern wegen, die sich die Übernahme der Apotheke erhofft hatten. »Melde dich, so schnell du kannst. Deine Moni.« Ernüchternd daran war, dass Monika in der vorübergehenden Trennung sogar eine Chance für sie beide gesehen hatte. Sie war ja noch mit ihrem Werner zusammen gewesen und hatte sicher sein wollen, dass Vincenzo sie immer noch liebte, selbst wenn sie Hunderte von Kilometern voneinander trennten. Vielleicht war die kranke Mutter auch nur eine Ausrede, überlegte Lena.
Und da gab es noch einen Brief. Lena wurde ganz heiß beim Lesen, denn darin stand Brisantes: »Ich hab mich von Werner getrennt. Es geht nicht mehr. Ich liebe Dich, und daran wird sich auch nichts mehr ändern.« Nach dieser Quintessenz kamen nur noch Vorschläge, wann und wo sie sich so bald wie möglich treffen sollten. Das konnte doch nicht alles gewesen sein? Keine weiteren Briefe mehr? Hatten sie sich jetzt noch einmal getroffen oder nicht? Vielleicht hatten sie ja miteinander telefoniert. Dagegen sprach aber die Existenz der Briefe. Lena überlegte, dass er als Kellner seinerzeit wahrscheinlich über keinen eigenen Telefonanschluss verfügte. Weil es damals noch keine Handys gegeben hatte, war es ihm bestimmt unmöglich gewesen, Moni in der Apotheke oder privat anzurufen, ohne dass sie Gefahr liefen aufzufliegen. Irgendetwas musste zu diesem Kontaktabbruch geführt haben.
»Was gibt es Neues?«, wollte Francesca von oben wissen.
Die Antwort überbrachte Lena ihr diesmal direkt, denn es gab ja nichts mehr zu lesen.
»Entweder sie sind seit Jahren verheiratet, oder sie haben sich nie wiedergesehen«, sagte sie und setzte sich zu Francesca an den Küchentisch.
»Jetzt iss doch was«, forderte Francesca sie auf.
Lena nickte mechanisch.
»Was machst du für ein Gesicht? Man könnte ja meinen, du hättest dich in den Typen verknallt«, sagte Francesca auf dem Weg zum Herd.
»So viele Apotheken wird’s in Augsburg ja wohl nicht geben«, murmelte Lena vor sich hin.
Francesca sah sie mit großen Augen an. Schon formten sich ihre Finger wieder zu einem Ei, doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. Francesca schien gerade darüber nachzudenken. Ihre Hand floss wieder in ihre natürliche Form und entspannte sich.
»Warum eigentlich nicht? Falls diese Frau noch lebt, freut sie sich bestimmt über die Filme«, sagte Francesca dann.
»Monika Reitmeier. Steht auf dem Absender«, stellte Lena fest.
Francescas Interesse war nun geweckt. Sie hatte einen kleinen Laptop in der Küche und schnappte ihn sich sogleich.
»Das will ich jetzt genau wissen«, sagte sie.
Lena beobachtete Francesca gebannt bei der Eingabe der Begriffe Monika Reitmeier und Apotheke in die Suchmaschine. Das Ergebnis war ernüchternd.
»Es gibt keine Apotheke Reitmeier in Augsburg.« Demonstrativ drehte Francesca den Laptop in Lenas Richtung. »Kann ich jetzt die Nudelsoße aufwärmen?«, fragte Francesca.
Lena nickte resigniert, scrollte aber weiter durch die Liste der Augsburger Apotheken.
»Renner«, brach es aus ihr heraus.
»Renner? Ich dachte, die heißt Reitmeier«, hakte Francesca irritiert nach.
»Ja, aber Werner hieß so.«
»Wer ist Werner?«
»Na, ihr Verlobter«, erläuterte Lena.
»Du meinst, sie hat dann doch diesen Deutschen geheiratet?«
»Einen Versuch ist’s wert«, sagte Lena.
»Aber vielleicht will sie dann gar nichts mehr von Vincenzo wissen. Wer weiß, was damals vorgefallen ist. Am Ende hatte er eine andere. Du kennst doch die italienischen Männer. ›Grande Amore‹, und wenn es ernst wird, ziehen sie den Schwanz ein«, stellte Francesca fest.
»Ich kann ja anrufen und sagen, dass wir Briefe gefunden haben, wo ihr Absender drauf war. Und den Film erwähne ich auch. Ich muss ja nicht ins Detail gehen«, versuchte Lena, sich zu rechtfertigen.
Schon hatte Francesca die Hände wieder vor der Brust zusammengelegt, um dann damit hin- und herzuwippen. Das sollte heißen: »Warum tust du dir das an?«
»Ich bin hoffnungslos romantisch – deine Worte«, erwiderte Lena.
»Aber heut rufst du nicht mehr an. Die Frau ist bestimmt schon alt. Am Ende trifft sie noch der Schlag. Außerdem isst du jetzt deine Pasta. Noch einmal wärme ich sie nicht auf«, verlangte Francesca.
Mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis zu bilden, die anderen Finger dabei locker in der Luft schweben zu lassen, war nicht nur eine beliebte Meditationshaltung beim Yoga. In Deutschland hieß das okay. Francesca nickte, also hatte sie es auch als solches verstanden.
Am nächsten Morgen und nach einer Runde Schlaf sah die Welt Lenas Erfahrung nach meist ganz anders aus. Der Rausch nach hochprozentiger Romantik hatte sich ohne Katerstimmung bereits beim Duschen verflüchtigt. Das Flair der uralten und daher äußerst charmanten Küche tat ihr Übriges. Die Morgenroutine hatte sie wieder. Lena genoss es, barfuß auf dem kühlen Specksteinboden zu laufen und sich an den kleinen gefliesten Tisch inmitten des Küchenmuseums zu setzen. Dass der alte weiße Gasherd überhaupt noch funktionierte, war ein Wunder. An Gewohntem kam der Duft von getrockneten Kräutern hinzu, die Francesca an Haken über einem kleinen Küchenschränkchen angebracht hatte.
Wenn dann noch die Sonne ihr magisches sizilianisches Licht hineinwarf, die Espressomaschine ratterte und Francesca backfrische Hörnchen aus der Bäckerei ums Eck geholt hatte, konnte ein Morgen kaum schöner sein. Es gab aber Ausnahmen. Post, die in farbigen Umschlägen steckte, war eine davon, und die trug entschieden zur weiteren Ernüchterung in Sachen »Chiemsee-Romanze« bei.
Francesca hielt ihn in der Hand, als sie aus ihrem Zimmer kam, das gleich neben der Küche lag.
»Die Behörden machen uns Schwierigkeiten. Angeblich muss hier noch viel geändert werden, damit wir die Schule eröffnen können. Dann noch die ganzen touristischen Auflagen, dabei haben wir doch gar kein Hotel«, ließ sich Francesca nicht gerade gut gelaunt aus, nachdem sie Lena den Brief zur Lektüre gereicht hatte.
»Warum das denn?«, fragte Lena, während sie das Schreiben überflog. Bisher war jedenfalls nie von behördlichen Auflagen die Rede gewesen.
»Keine Ahnung. Ich war auf dem Bauamt. Die haben bisher nur davon gesprochen, dass wir mehr Toiletten brauchen«, sagte Francesca. Kopfschüttelnd ließ sie sich auf einen der Küchenstühle nieder, seufzte und starrte sorgenvoll ins Leere.
Keine guten Nachrichten.
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