Mit Oma in Roma - Tessa Hennig - E-Book
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Mit Oma in Roma E-Book

Tessa Hennig

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Beschreibung

Wo zum Teufel ist Oma? Nina Ritter beginnt sich ernsthaft Sorgen zu machen, als sie in der Wohnung ihrer Großmutter Unterlagen zum Thema Sterbehilfe findet. Gemeinsam mit ihrer Mutter Heike macht sie sich auf die Suche nach dem vermeintlich lebensmüden Familienoberhaupt. Wie sich schnell herausstellt, ist Oma Inge jedoch quicklebendig und unternimmt gerade die Reise ihres Lebens: Einmal im Leben nach Rom fahren und den Papst sehen! Auf ihre Familie hat sie allerdings weniger Lust. Und so beginnt für Nina und Heike ein turbulenter Trip durch Italien – immer auf den Spuren von Oma Inge und ihrem geheimnisvollen Begleiter.

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Das Buch

Wo zum Teufel ist Oma? Nina Ritter ist mehr als nur beunruhigt, als sie in der Wohnung ihrer Großmutter Unterlagen zum Thema Sterbe­hilfe findet. Gemeinsam mit ihrer Mutter Heike macht sie sich auf die Suche nach dem vermeintlich lebensmüden Familienoberhaupt. Während Nina vor Sorge fast umkommt, sieht Heike darin eine überfällige Auszeit von Hartz IV. Endlich mal wieder Urlaub! Mit Oma wird schon alles in Ordnung sein.

Oma Inge ist tatsächlich noch quicklebendig und unternimmt gerade selbst die Reise ihres Lebens: Sie wollte schon immer nach Rom fahren und den Papst sehen! Auf ihre Familie hat sie allerdings weniger Lust. Für Nina und Heike beginnt somit ein turbulenter Trip über Rom und Pompeji bis nach Ischia – immer auf den Spuren von Oma Inge und ihrem geheimnisvollen Begleiter.

Die Autorin

Tessa Hennig schreibt seit vielen Jahren erfolgreich große TV-Unterhaltung. Mit Mutti steigt aus gelang ihr auf Anhieb ein Bestseller. Wenn sie vom Schreiben und ihrem Wohnort München eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen und Abenteuern gern in den Süden.

Von Tessa Hennig sind in unserem Hause bereits erschienen:

Mutti steigt aus

Elli gibt den Löffel ab

Emma verduftet

Lisa geht zum Teufel

Mama mag keine Spaghetti

Alles außer Austern

Tessa Hennig

Mit Oma in Roma

Roman

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-548-61257-7

Originalausgabe im List Taschenbuch

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

1. Auflage Mai 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: © Gerhard Glück

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Kapitel 1

Einmal vom Virus befallen, der sich »Bella Italia« nannte, gab es keine Chance auf Heilung. Inge kannte das nur allzu gut. Die in der Regel in Schüben verlaufenden Symptome, sprich Fernweh, Sehnsucht und triefende Melancholie, bekam man lebenslang nicht mehr los. Kurzzeitige Linderung verschafften in solchen Fällen nur noch Pizza und Pasta beim Italiener ums Eck, natürlich auch selbstgemachtes Tiramisu oder ein Schluck Limoncello. Doch erst wenn man sich der Quelle des Unheils, dieser atemberaubenden landschaftlichen Schönheit südlich des Brenners und dem Charme aussetzte, mit dem dieses Land anscheinend die ganze Welt verhexte, spülten Glückshormone einfach alle Trübsal weg. Man war faktisch wieder gesund – bis zum nächsten Schub.

»Du bist dran!« Henriettes stechendem Blick nach zu urteilen, der durch ihre starken Brillengläser gleich noch viel bedrohlicher wirkte, sollte Inge sich besser wieder auf das Kartenspiel konzentrieren, anstatt von Bella Italia zu träumen. Obwohl ihr Otto vorhin ins Blatt gesehen hatte, lag auf dem Tisch vor ihr nun die grüne Sieben. Passt perfekt, wenn man selbst nur noch zwei für Mau-Mau zweckentfremdete grüne Schafkopfkarten in der Hand hielt. Und dann immer behaupten, er hätte keinen Alzheimer. Noch eine Runde, dann war es Zeit für Tee und Kekse, um dabei mit dem ehrenamtlichen Seelsorger endlich die bevorstehende Romfahrt zu besprechen.

Inge legte die grüne Zehn auf den Stapel. »Mau!«, kündigte sie siegessicher an, was ihr feindselige Blicke aus gleich drei Augenpaaren einbrachte.

»Träumt die ganze Zeit vor sich hin und gewinnt schon wieder«, beschwerte sich prompt der Vierte in der allwöchentlichen Kartenrunde des Gemeindehauses Oberkirch. Herbert hielt nämlich noch fünf Karten in der Hand, die gelegentlich so zitterte, dass er dauernd unfreiwillig Teile seines Blatts auf dem Tisch verstreute. Aber die Tabletten nicht nehmen wollen. Auf diese Weise konnte man gar nicht gewinnen.

Bis er seine Karte hinlegte, war genug Zeit, um sich erneut dem aufsteigenden Fieber, sprich dem »Virus«, hinzugeben. Eingefangen hatte Inge ihn sich in jungen Jahren gleich im ersten Italienurlaub Mitte der fünfziger Jahre. Und zwar auf einem Campingplatz am Gardasee, zu dem man seinerzeit noch durch enge Alpenpässe fast einen Tag lang unterwegs war. Inge hatte sofort den alten weißen Käfer vor Augen, Papa am Steuer, in kurzen Hosen und geblüm­tem Hemd. Ihre Mutter trällerte die »Capri-Fischer« von Schurike, obwohl sie noch nie zuvor dort gewesen war – Folgen des »Infekts«! Die Caprihose musste her. Jahre später trällerte ihre Mutter »Zwei kleine Italiener«. Camping in Cattolica – jahrelang, bis Ende der Sechziger, und es hing einem trotzdem nicht zum Hals heraus.

»Herbert! Ich bitte dich!«, keifte Henriette. Immer wenn sie sich aufregte, zupfte sie am grauen Flaum an ihrer Schläfe herum. Kein Wunder, dass die Stelle unaufhaltsam kahler wurde und nur viel Haarspray etwas Fülle auf ihr Haupt zauberte.

Herbert hatte nichts mehr zu zupfen. Er kratzte sich die Glatze.

»Jetzt leg endlich irgendeine Karte hin«, drängte nun auch Otto.

Dann ging alles ganz schnell. Auf ihre Graszehn folgten Herzzehn, Herzneun, Herzacht und die grüne Acht – die letzte Karte in Inges Hand. Trotz des Farbwechsels, den sie Herbert zu verdanken hatte, beendete Inge siegreich das Spiel.

»Mau-Mau!«

»Schon wieder. Das kommt davon, wenn man mit jungen Küken Karten spielt«, kommentierte Herbert und schmunzelte.

Zehn Jahre jünger, und schon war man ein Küken, amüsierte sich Inge.

»Unsere Inge ist halt noch fitter als du«, stichelte ausgerechnet Otto mit Seitenhieb auf Herbert, der erst letzte Woche seinen Fünfundachtzigsten mit ihnen gefeiert hatte. Dann müsste Otto mit Mitte siebzig ja auch noch ein junges Küken sein.

»Fitter? Von was, frage ich mich«, sagte Herbert, den das zu beschäftigen schien.

»Sie trainiert halt ihr Hirn mehr als du«, erklärte Otto.

»Nur weil sie uns die Steuererklärung macht?«, gab Herbert zurück.

»Rechnen hält fit«, rechtfertigte sich Inge, auch wenn sie sich dessen gar nicht so sicher war.

»So ein Quatsch. Wenn ich mein ganzes Leben lang eine ruhige Kugel beim Finanzamt geschoben hätte, wäre ich auch noch fit«, mischte sich nun Henriette ein, die ihre letzten berufstätigen Jahre, soviel Inge wusste, in der Qualitätskontrolle einer Stofftierfabrik gefristet hatte.

»Ruhige Kugel?« Inges Erinnerung nach hatte sie ziemlich viel Stress gehabt. Es fühlte sich nach fast zehn Jahren aber bereits so an wie ein früheres Leben.

»Ist doch so!« Henriette, die manchmal ein richtiger sturer Griesgram sein konnte, ließ einfach nicht locker.

Inge hoffte, dass ihre Freundin nicht gleich wieder damit anfing, ihr all ihre Zipperlein aufzuzählen und zu dem Schluss zu kommen, dass sie es nicht mehr lange machte. Das Stoßgebet half.

Henriette schwieg, doch dafür fing Herbert mit der üblichen Leier an, wenn es um die Planung von Ausflügen ging: »Meint ihr, die lassen mich meinen klappbaren Rollstuhl mitnehmen?«

»Du hast doch deinen Gehstock. Also, ich schieb dich nicht durch Rom«, erwiderte Otto prompt, was Inge nicht wunderte, weil sie sich noch gut an ihre letzte Gemeindefahrt nach Regensburg erinnern konnte. Sobald Herbert irgendetwas interessiert hatte, war er quicklebendig wie ein Wiesel durch die Gassen der Altstadt gewuselt. Sobald er sich etwas anderes hatte ansehen müssen, war aus dem Wiesel ein träges Faultier geworden, und sie hatten sich mit Otto beim Schieben abwechseln müssen.

»Vielleicht schiebt dich ja Thorsten. Also, ich würde mich von dem ja gerne mal durch Rom schieben lassen«, kommentierte Henriette, diesmal zu Recht.

Thorsten sorgte nicht nur berufsbedingt für das Wohlbefinden ihrer Seelen, auch für Phantasien, die man in ihrem Alter normalerweise gar nicht mehr haben dürfte. Wie bestellt, kam er rein. Federnder Schritt, charmantes Lächeln und eine Mappe mit Reiseführern in der Hand. Auch wenn Inge genau wie Henriette seinem Charme erlag, im Moment interessierte sie sich mehr für Rom. Einmal im Leben den Papst sehen. Das war sowieso wichtiger, als mit jungen Küken wie Thorsten zu flirten.

Inge stand wie angewachsen vor ihrem Kleiderschrank, der die ganze Wand ihres Schlafzimmers füllte und in der Mitte verspiegelt war. Sah sie wirklich aus wie Judi Dench, vielmehr »M«, die ehemalige Chefin des Geheimagenten 007? Thorstens Worte! Durfte ein katholischer Seelsorger älteren Damen überhaupt solche Komplimente machen? Kein Wunder, dass er einen damit um den Finger wickelte und sich mit Ausnahme von Otto und Herbert ausschließlich Frauen für die Fahrt eingeschrieben hatten – angeblich ja nur, um »den Papst« zu sehen. Den gleichen Kurzhaarschnitt, wenngleich ein helleres Grau, und die gleichen blauen Augen wie die Dench hatte Inge jedenfalls. Zumindest in dieser Hinsicht hatte Thorsten recht. Vielleicht ergab sich auch eine gewisse Ähnlichkeit, wenn sie lächelte, was allerdings in den letzten Jahren mangels Gelegenheit nicht mehr so oft vorgekommen war. Inge testete das gleich mal und stellte dabei zu ihrer Ernüchterung fest, dass ihre Mundwinkel in den letzten Jahren erlahmt zu sein schienen. Es kostete richtig Mühe, dem Spiegelbild ein Lächeln zu schenken. Und dann gelang es doch. Ja! Judi Dench stand vor ihr – zumindest mit etwas Phantasie und ohne Lesebrille. In einem unterschieden sie sich jedoch. Judi Dench wusste zumindest in ihrer Rolle als Chefin des britischen Geheimdienstes stets, was zu tun war. Inge wusste es nicht. Wo war nur ihre Entscheidungsfreudigkeit geblieben? Irgendwie eingeschlafen. In diesem Fall beschäftigte sie die Frage, was sie in Rom anziehen sollte. Der geöffnete Kleiderschrank lieferte keine Antwort. Das meiste ihres Bestands an Blusen, Kleidern und Hosen schied sowieso aus – zu warm oder zu langweilig. Inge fragte sich bei der Gelegenheit, warum sie die Trauerbekleidung noch aufbewahrte. Der Tod ihres Mannes lag mittlerweile fünf Jahre zurück. Sicher, man konnte Schwarzes gut kombinieren, doch der Hauptgrund war wohl, dass sich alle paar Wochen ein Gemeindemitglied aus den Seniorenkreisen für immer verabschiedete.

»Dann brauchste die schwarze Uniform doch wieder«, hatte Henriette ihr geraten, als sie im Frühjahr gemeinsam ihren Kleiderbestand unter die Lupe genommen hatten, um für die Altkleideraktion zu sammeln. Im Falle Rom schied Schwarz jedoch aus, weil es, soviel Inge wusste, im Juli brütend heiß sein konnte. Wo waren nur die hübschen luftigen Sommerkleider? Einen auf jung machen? Dolce Vita sommerlich frisch? Gedankengut dieser Art war vermutlich eine Auswirkung des »Infekts«. Aber Italien in Beige oder Grau? Das war kaum vorstellbar. Allerdings war fraglich, ob ihr die verspielt gemusterten Sachen noch passten. Sie lagen in einem luftdicht versiegelten Kleidersack, der sich, flink von unter dem Bett hervorgezogen, mit einem leise vernehmbaren »Pffff« öffnen ließ. Das Rote hatte sie sogar erst kürzlich gekauft. »Kürzlich« war gut. Es war im letzten gemeinsamen Urlaub mit ihrem Mann gewesen, in einer Boutique am Strand von Maspalomas. Inge musste sich sofort mit dem Kleid in der Hand setzen. Obwohl sie es vor dem Vakuumversiegeln gewaschen hatte, schien es immer noch nach der Sonnenmilch zu duften, die er so gern gemocht hatte. Im Nu überfielen sie tausend Erinnerungen an ihn, an sein Lächeln, seine Stimme, die Art, wie er sie in den Arm genommen hatte, seine Hand, wenn er ihr zärtlich über den Rücken gefahren war. Inge seufzte, jedoch ohne lähmende Traurigkeit. Sie dachte gerne an ihn. Die Erinnerungen waren einfach schön, und die konnte ihr keiner nehmen.

Mittlerweile lagen fünf Kleider auf dem Bett. Inge hatte sie alle auf Gran Canaria gekauft, weil sie die letzten Jahre dort ihren Haupturlaub verbracht hatten. Seinetwegen! »Nach Italien kriegen mich keine zehn Pferde«, hatte er getönt, weil ihm das Land zu hektisch und zu laut gewesen war. Dann noch die ganze Autofahrerei, die Abzocke bei der Maut und kilometerlange Staus in Ferienzeiten. Damit hatte er zweifelsohne recht gehabt. Auch mit überfüllten Stränden. Cattolica, Rimini und Riccione? Das war früher mal »Italien«, seit Jahren war es nur noch eine Ansammlung von Sardinen am Strand, von überteuerten Hotels ganz zu schweigen. Florenz, die Toskana, das Veneto – das war Italien, natürlich auch Napoli und der ganze Süden. Zu Ersterem und für die Stadt am Canal Grande hatte es ein paar Mal gereicht – über ein verlängertes Wochenende. Für Rom jedoch nie!

»Ich wäre lieber mir dir gefahren!«, flüsterte Inge ihm leise zu, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob er sie hören konnte. Ein romantisches Dinner in einem der Restaurants im Viertel um die Engelsbrücke mit ihm – davon hatte sie schon so oft geträumt. Stattdessen ging es morgen früh im gemeindeeigenen Sammeltransporter, der Platz für zehn Personen bot, eingepfercht mit ihrer Rentnerclique in einer strapaziösen Fahrt nach Rom und dann im Pulk durch die Stadt auf sieben Hügeln – im Schneckentempo, mit zahlreichen Pinkelpausen und Streit darüber, wer Herbert als Nächstes schieben würde. Schöne Aussichten!

Nina hatte bereits aufgehört zu zählen, wie viele Tassen Kaffee sie sich im Lauf des Tages einverleibt hatte. Dass sie mittlerweile zu viel Koffein im Blut hatte, merkte sie am leicht beschleunigten Herzschlag und an ihren feuchten Händen. Es half aber nichts. Die Seminararbeit musste fertig werden. Dementsprechend hoch war der Bücherturm auf ihrem Schreibtisch – überwiegend juristische Abhandlungen, die sich in ihrer Freiburger Studentenbude stapelten. In solchen Momenten dachte Nina ernsthaft darüber nach, ob es nicht besser wäre, sich auf Scheidungs- oder Strafrecht zu spezialisieren, doch im Vertragsrecht lag nun mal das Geld – und leider auch die größte Mühsal. Sich mit anderen Rechtssystemen über die Grenzen hinaus zu beschäftigen, was die vergleichende Analyse erforderte, die sie sich aufgehalst hatte, brachte gleich noch mehr Frust mit sich. Was war das für eine Pfriemelei durch Paragraphenketten. Wie schön hatten es dagegen die Engländer. Da verschluckte mal jemand eine tote Schnecke, die in eine Bierflasche geraten war, wurde krank, und schon war die englische Variante der »positiven Vertragsverletzung«, kurz »PVV« geboren, die es ermöglichte, Schaden einzuklagen, der aufgrund einer Vertragserfüllung, daher »positiv«, entstanden war. Hierzulande zogen Schadenersatzansprüche, die sich daraus ergaben, einen ganzen Rattenschwanz an Ausnahmen, Kommentaren und höchstrichterlichen Entscheidungen nach sich.

Nur noch die letzten Quellenangaben reintippen und dann erst mal ein Käffchen. Wenn nur nicht ständig irgendwelche Messenger-Nachrichten oder Videochats mit ihrer Uni-Clique sie von der Arbeit abhalten würden.

Schon wieder! Annehmen oder weitermachen? Claudia hatte es schon ein paarmal ohne Erfolg versucht … Also auf den grünen Knopf drücken.

»Hi, Nina …« Weiter kam ihre Kommilitonin nicht, die sich auf Scheidungsrecht spezialisiert und dementsprechend ihre Seminararbeit schon längst fertig hatte. Sie starrte sie nur ungläubig aus dem Chatfenster an.

»Was ist?«, fragte Nina genervt.

»Du schaust so was von scheiße aus!«, stellte Claudia fest. So etwas nannte sich Freundin.

»Ich weiß. Sonst noch was?«

»Kommst du mit? Wir wollen noch was trinken …«

»Vergiss es! Ich brauch noch mindestens zwei Stunden«, gab Nina ihr zu verstehen.

Claudia nickte wissend. In ihren Augen war Nina eine Streberin – aber immer angekrochen kommen, wenn irgendetwas unklar war.

»Morgen?«, fragte Claudia.

»Mal sehen. Grüß mir die anderen.« Nina beschloss, es kurz zu machen.

»Armes Ding. Ich trink einen für dich mit.«

Danke für so viel Mitgefühl und Ironie. Claudia trank so oder so einen für alle mit, auch ohne Grund. Wahrscheinlich kam man so besser durchs Studium. Klick und weg. Die Kamera blieb aber noch an. Im Licht ihrer Halogenlampe stellte Nina fest, dass sie wirklich furchtbar aussah. Augenringe zu haben war ja inzwischen schon völlig normal, aber die hatten sich ihrer Webcam nach zu urteilen bereits bis zu den Wangenknochen ausgebreitet. Der weiße Teint war von der Wand kaum noch zu unterscheiden. Wenn das Haar stumpf wurde, schulterlang schlaff herunterhing und sich zudem erste rote Stressflecken im Dekolleté zeigten, war es allerhöchste Zeit, die Bremse zu ziehen. Oh Schreck! Ich seh ja schon so fertig aus wie Mama in ihren besten Zeiten!

Nur noch dieses dämliche Quellenverzeichnis erstellen, und dann war Ruhe angesagt, Ruhe und nochmals Ruhe. Schon fiel Ninas Blick auf die Fotografie ihrer Großmutter, die neben dem Computer auf dem Schreibtisch stand. Mal für ein paar Tage zu Oma Inge aufs Land fahren? Guten Wein gab’s in Oberkirch sowieso, außerdem stockte ihre Großmutter gelegentlich die chronisch leere studentische Kasse auf – also auch noch Wellness für den Geldbeutel. Vielleicht ein Ausflug nach Straßburg, das ja nicht so weit entfernt lag? Mal wieder ein bisschen den Flair einer Großstadt genießen und von einer internationalen Karriere träumen, die man dort machen konnte? Nina könnte bei der Gelegenheit auch ihre Mutter besuchen, wobei ihr ganz und gar nicht danach war. »Entspannung und Mama« – das ging irgendwie nicht zusammen.

Nina überlegte, ihre Großmutter gleich anzurufen, aber kurz vor Mitternacht war sie sicher nicht mehr wach. Ach was, am besten, sie stattete ihr einen Überraschungsbesuch ab. Oma liebte es, wenn ihre Enkelin spontan vorbeikam. Die Aussicht auf ländliche Idylle mitten im Schwarzwald, auf herrlich erfrischende Spaziergänge durch Weinberge und auf Omas grandiose Küche war beflügelnd.

Natürlich hatte Herbert seinen faltbaren mobilen Reiserollstuhl mit dabei. Otto schaute dementsprechend betreten. Es überraschte Inge auch keineswegs, dass Henriette abermals ihren großen Koffer mitschleppte, in dem man locker zwei Leichen verstauen konnte. Nachdem sie auf der letzten Reise nach Regensburg das Zimmer mit ihr geteilt hatte, wusste sie um ihren Drang, »für alle Fälle« den halben Kleiderschrank mitzunehmen.

Gleich neun Gemeindemitglieder standen abfahrbereit vor dem Transporter, und zwar schon eine Minute vor sieben. Das war sicher einer der Vorzüge des Alters. Man gewöhnte sich an, pünktlich zu sein, weil man körperlich nicht mehr dazu in der Lage war, eventuelle Verspätungen mit Spurts oder stressigen Aktionen wettzumachen. Nur einer fehlte, nämlich der Fahrer.

»Der wird halt verschlafen haben«, mutmaßte Otto.

»Die jungen Leut. Kein Verlass mehr … kein Verlass«, kommentierte eine alterstechnisch in ihrer Liga spielende Frau, von der Inge nur wusste, dass sie sich nach dem Tod ihres Mannes der Seniorengruppe für Bastelarbeiten angeschlossen hatte. Die weiteren Teilnehmer kannte Inge gerade mal vom Sehen, weil Beschäftigungstherapie nicht ihr Ding war, auch wenn sie sich wöchentlich zum Kartenspiel in ihrer Viererrunde traf.

»Kann denn nicht mal jemand nachfragen?«, blökte Herbert mit vorwurfsvollem Unterton in die Runde, was wieder einmal typisch für ihn war. Nichts konnte er selbst machen. Seine arme Frau – Gott hab sie selig – musste an Herberts Seite einen Rund-um-die-Uhr-Job gehabt haben. Eine Nachfrage war aber gar nicht mehr nötig, weil Luise, die Gemeindesekretärin, herauskam. Sonst strahlte Luise wie der Morgenstern und konnte einen selbst an trüben Tagen mit ihrer guten Laune anstecken. Heute schien die Vierzigjährige selbst Trübsal zu blasen. Was um Himmels willen war passiert? Sonst plapperte sie doch auch immer munter drauflos. Stattdessen starrte sie mit betretenem Blick in die Runde und holte erst einmal tief Luft.

»Thorsten hatte einen Unfall. Er ist beim Streichen der Kletterstangen auf dem Kinderspielplatz gestürzt und hat sich den Arm gebrochen«, erklärte sie.

Das saß! Aus vorher noch recht munteren Rentnern wurden Statuen. Inge erging es nicht anders. Nur Henriette gab noch »Der Ärmste« von sich, bevor sie sich ebenfalls wie leblos auf ihren Koffer sinken ließ.

»Die Fahrt kann leider nicht stattfinden«, stellte Luise fest. Klar, denn Thorsten war schließlich ihr Fahrer. Rom und nicht stattfinden? Der Gedanke rüttelte Inge aus ihrer Starre.

»Was ist mit Tobias? Er hat doch auch einen Führerschein«, wagte Inge, die Gemeindesekretärin zu fragen. Den jungen Zivi hatte sie jedenfalls schon mal am Steuer des Gemeindewagens gesehen.

»Der hat Urlaub«, ernüchterte Luise alle, die sie bereits hoffnungsfroh gemustert und Inge einen dankbaren Blick zugeworfen hatten.

»Tja, dann gehen wir halt wieder nach Hause«, resümierte Otto ohne Wehmut.

Die anderen nickten. Inge nicht.

Gehörte das zum Alter, dass man sich so schnell mit Dingen abfand?

»Und wenn Sie …?«, deutete Inge vage an Luise gerichtet an.

»Ich kann doch hier nicht einfach so weg«, meinte Luise.

Die ersten trollten sich bereits in Richtung der Bushaltestelle.

Inge ließ nicht locker: »Aber die Hotels sind doch schon alle gebucht.«

»Ich hab die Zimmer bereits storniert«, stellte Luise klar. Dann erklang aus heiterem Himmel ein stimmgewaltiges Halleluja, gleich mehrfach hintereinander – Luises Handy meldete sich mit dem Klingelton des Kirchenchors zu Wort.

»Der Herr Pfarrer«, erklärte sie. Und weg war sie.

»Im Herbst ist es doch allemal angenehmer, vom Klima her«, überlegte Otto laut.

»Wer weiß, ob wir im Herbst noch leben«, erwiderte Henriette und seufzte. Die alte Leier, weil sie sich vor jedem kommenden Ereignis einbildete, es nicht mehr zu erleben – und das schon seit über zehn Jahren. Auch wenn das nervte und einen gelegentlich herunterzog, in diesem Fall gedachte Inge, das Argument für stichhaltig zu erklären, um die müde Truppe zu mehr Eigeninitiative zu bewegen.

»Ja, Henriette hat recht. Wer weiß das schon«, sagte Inge daher mit Nachdruck.

»Henriette überlebt uns sowieso noch alle«, stellte Herbert fest, womit er womöglich ins Schwarze traf.

»Es gibt doch billige Busfahrten, direkt von Straßburg nach Rom. Zweimal pro Woche. Um die hundert Euro. Das hätten wir hier auch bezahlt, oder wir nehmen den Zug von Offenburg.«

»Mit dem Zug? Das ist doch viel zu anstrengend«, wandte Herbert ein.

»Und wenn wir fliegen? Von Freiburg aus?«, schlug Inge vor, weil sie es war, die im Vorfeld sämtliche Reisealternativen im Internet recherchiert und somit parat hatte. Leider war der gemeindeeigene Transporter dabei pro Kopf gerechnet die billigste und bequemste Lösung gewesen.

»Ich setz mich in meinem Alter doch in keinen Flieger mehr«, protestierte Henriette.

Otto nickte das ab. Ausgerechnet Herbert schien jedoch noch zu überlegen.

»Komm schon, Herbert. Sag du doch auch mal was«, ermutigte Inge ihn, darum wissend, dass er so eine Art Leithammel war. Doch das Alphatier wurde immer nachdenk­licher, die Stirnfalten immer runzeliger.

»Das ist ja alles schön und gut, aber was machen wir dann in Rom? Wir haben doch dann niemanden mehr, der uns herumfährt. Und der Ausflug nach Tivoli? Ohne Auto geht das doch nicht.«

»Da wird’s doch auch eine Bus- oder Zugverbindung geben«, gab Inge zu bedenken.

»Also ich warte lieber, bis Thorsten wieder gesund ist«, beschloss Herbert.

Einhelliges Nicken!

Diese lahmen Enten! Rom war also gestorben.

Heike war felsenfest davon überzeugt, früher oder später ­jemanden von der Stütze vor der Tür stehen zu haben: »Kon­trolle!« Letzte Woche hatte sie sich bereits eine ätzende Bemerkung von der dummen Kuh im ersten Stock anhören dürfen. »Wie Sie das machen. So viele Männer.« Vermutlich hielt sie das halbe Mietshaus bereits für eine Prostituierte. Am Ende stand eines Tages noch die Polizei vor der Tür. Dabei machte Heike doch nichts weiter, als gelegentlich Stammkundschaft zu massieren. Schwarz natürlich. Von Hartz IV allein kann ja kein Mensch leben – jedenfalls nicht gut genug. Wenn einem solche Gedanken durch den Kopf geisterten, konnte man sich kaum noch auf die Massage konzentrieren. Dagegen waren auch die nach Jasmin und Sandelholz duftenden Räucherstäbchen machtlos, deren sinnebetäubender süßer Duft ihr kleines Massagekabinett, sprich eine Pritsche hinter einem Vorhang, durchströmte. Die wachsende innere Anspannung übertrug sich auf ihren Horrorkunden Knut, der aber zugleich lukrativer Stammkunde war und sich zweimal wöchentlich eine Ganzkörpermassage verpassen ließ.

»Ahhhhh«, kam es aus seinem Mund, und das klang heute nicht nach wohliger Entspannung, sondern eher nach einem höflichen »Autsch«. Sie hatte gedankenverloren wohl zu fest zugepackt.

Heike seufzte und versuchte, sich zusammenzureißen. Ein Blick auf den Schreibtisch, der neben der faltbaren Behandlungsliege stand, genügte, um sich zur Entspannung zu zwingen. Dort lagen nämlich die Rechnungen, die sie mit den einhundertzwanzig Euro, die Knut abdrücken würde, bezahlen könnte. Das motivierte augenblicklich, und dementsprechend sanfter wurden ihre Streicheleinheiten. Ein Fehler, denn sein »Ahhhh« nahm wieder die vertraute Klangfarbe an, die ihn zu ihrem Horrorkunden machte. Es klang immer noch nicht entspannt, dafür aber umso lüsterner. Schon bewegte sich etwas in seiner Leistengegend, die bereits das schwerste Frotteehandtuch bedeckte, das Heike hatte. Man sollte ihm ein schweres gusseisernes Tablett auf das Zentrum seiner Lust legen, doch wahrscheinlich würde er es dann auch noch anheben. Rein präventiv und eher en passant zupfte sie das eben nach oben bewegte Handtuch zurück in Form. Straffer ziehen und fest in die Waden kneifen. Das half meistens. Die Wogen der Lust glätteten sich zu Heikes Erleichterung augenblicklich. Jetzt nur noch die Stirn massieren, dann war sie Knut wieder los und sie um einen Hunni plus Trinkgeld reicher.

»Sie machen das wunderbar«, sagte er wie immer, wenn sie zum Ende der Massage kam. Schön für ihn.

»Ich wünschte, eine Frau wie Sie … jammerschade … aber der Markt ab fünfzig, der gibt nicht mehr viel her«, sagte er mit im Takt ihrer Wadenschläge vibrierender Stimme. Er sprach stets vom »Markt«. Knut hatte recht. Genau so war es. Dass Heike dieser Markt nicht mehr interessierte, weil sie keine Nachfrage mehr nach einem Mann hatte, das wusste er aber auch.

»So ein netter Mann wie Sie …«, rang sie sich ab, obwohl ihr etwas anderes auf der Zunge gelegen hatte, denn eine Schönheit war ihr Kunde wahrlich nicht. Die Optik spielte in Sachen Marktwert leider eine nicht zu unterschätzende Rolle, und auch Heike hatte sie bereits vor Jahren das Genick gebrochen. Das ganz in Weiß gekleidete Etwas, das sie im Spiegel vor sich sah, war sicherlich kein Top-Markenprodukt mehr, auch wenn weite T-Shirts nicht mehr ganz so straffe Körperpartien und Pölsterchen passabel kaschierten. Wenn sie wenigstens das Geld hätte, sich beim Friseur die Haare färben zu lassen. Fehlanzeige. Der letzte Rotton, den sie sich mangels Barem hatte selbst verpassen müssen, war leider danebengegangen. Nun hatte sie strähnige, schulterlange Möhrchen auf dem Kopf – und man sah, dass es selbstgefärbt war. Billig! Genau wie die Schminke, die sie sich gelegentlich auflegte, um sich daran zu erinnern, eine Frau zu sein.

»Ich finde, Sie haben wunderschöne Augen«, sagte Knut aus heiterem Himmel. Das ging runter wie Öl. Dieses Kompliment hatten ihr allerdings schon viele Männer gemacht, unter anderem auch ihr Ex. Sie waren nun mal tiefblau und konnten wie Scheinwerfer strahlen, wenn es denn das Innenleben zuließ. Im Moment tat es das zumindest ansatzweise. Gleich noch einen Kontrollblick in den Spiegel werfen.

»Sie sagen ja gar nichts«, merkte Knut an.

»Mir hat es halt die Sprache verschlagen«, erwiderte sie wahrheitsgemäß, woraufhin Knut lachte.

»Zehn Minuten liegen bleiben, dann strecken und erst die Zehen bewegen, bevor Sie aufstehen«, sagte sie routiniert, damit auch der Rest seines Körpers und nicht nur das Teil zwischen seinen Beinen aufs Neue in Schwung kam.

Knut nickte folgsam. Im Grunde genommen ein ganz netter Kerl, räumte Heike ein.

Das Blinken einer Smartphone-App erinnerte Heike ­daran, dass vorhin jemand angerufen hatte. Vielleicht noch ein unverhoffter Kunde? Möglich. Die Rufnummernliste belehrte sie jedoch eines Besseren. Nina hatte angerufen. Nina?! Und sie hatte sogar eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen: »Ich bin’s. Ich komm morgen mal vorbei. Vielleicht probier ich es später noch mal. Bis dann.«

Nina? Sie brauchte bestimmt wieder Geld. Was tun, wenn man selbst keines hatte? Scheiß Leben, wenn man der eigenen Tochter nicht mal mehr unter die Arme greifen konnte. Andererseits: Wer griff ihr unter die Arme? Lüsterne Kunden wie Knut.

Die ganze Zeit davon reden, dass das Leben so kurz war und man »die restlichen Tage« dazu nutzen müsste, noch etwas zu erleben, war letztlich nichts als Geschwätz. Henriette sprach ja schon von »Tagen« und nicht einmal mehr von Jahren. Nun bereits seit über einer Stunde beim Buchen am PC festgewachsen, ärgerte sich Inge noch immer darüber, dass sie ausgerechnet bei Sprücheklopferin Henriette am Telefon auf taube Ohren gestoßen war, obwohl sie auch heute noch ein günstiges Europa-Gruppenticket für alle hätte ergattern können. Angeblich war die Bahnfahrt dann immer noch zu teuer. Kein Geld, hatte es geheißen. Nichts als Ausreden. Für belgische Pralinen, die sich Henriette jede Woche gönnte, reichte es ja auch. Herbert war es selbstredend zu anstrengend … Und mit Otto als Rentnerduo in Rom? Dann lieber gleich allein fahren. Die Wut auf die anderen war beflügelnd, doch kaum war die im Internet gebuchte Fahrkarte gedruckt, wurde aus der verrückten Idee, tatsächlich allein nach Rom zu reisen, eine betonierte Tatsache. Erst kam nur leichte Unruhe auf, ein klitzekleines Kribbeln im Bauch. Aus dem wurde dann Angst vor der eigenen Courage. Sie wich jedoch erneut aufsteigendem Groll, insbesondere auf ihre Freundin, die sie maßlos enttäuscht hatte. Inge machte faktisch ihre gesamte Lebensorganisation, von der Steuer über Amtsschreiben bis hin zu Internetrecherchen, falls ein Arzneimittel in der hiesigen Apotheke mal zu teuer war oder Henriette irgendetwas günstig ergattern wollte. Sogar eine Sterbeverfügung mit allen erforderlichen Unterlagen hatte sie ihr tags zuvor noch aus dem Internet gezogen, weil Henriette ihr Dasein nicht im Pflegeheim zu fristen gedachte und angesichts ihres »nahenden Todes« vorbereitet sein wollte. Inge machte all das gerne, auch Verwaltungskram für Otto oder Herbert, doch wenn dann rein gar nichts zurückkam, war das mehr als nur enttäuschend. Die drei wussten, wie sehr sie sich auf die Papstaudienz am Petersplatz gefreut hatte. Sie wollten ihn doch auch sehen. Und wer hatte sich wieder einmal um alles kümmern müssen? Es war ihre Idee gewesen, Thorsten zu fragen, ob sie mit dem Transporter der Gemeinde fahren durften und ob er Lust hätte, sie zu begleiten. Selbst um ein günstiges Hotel hatte sie sich gekümmert. Thorsten kannte Rom angeblich wie seine Westentasche. Er hatte ihnen versprochen, sie an die schönsten Plätze, die besten Cafés und zu Ecken Roms zu führen, die kein normaler Tourist sah. Alles hätte so schön sein können. Hätte? Inge schnappte sich die ausgedruckten Bahntickets und die Bestätigungsmail eines Hotels ganz in der Nähe des Trevi-Brunnens, das sie über ein Urlaubsportal gebucht hatte. Wer sagte denn, dass es auf eigene Faust und allein nicht trotzdem schön würde? Rumsitzen und wie Henriette auf den Sensenmann warten? Das kam nicht in Frage. Dann schon lieber mitten auf dem Petersplatz in Rom an einem Hitzschlag sterben. So heiß, wie es ihr augenblicklich schon beim bloßen Gedanken an die morgige Fahrt nach Offenburg wurde, war das sogar sehr wahrscheinlich.

Mit dem Auto wäre die Strecke von Freiburg nach Oberkirch ein Klacks. Gerade mal eine Dreiviertelstunde dauerte das. Mit dem Zug und nach zweimaligem Umsteigen war man eine halbe Ewigkeit unterwegs. Nina war trotzdem froh, sich aufgerafft zu haben. In dem kleinen Häuschen mit anhängigem Gewürzgarten, in dem ihre Großmutter lebte, hatte sie ihre halbe Kindheit verbracht, vor allem nach Mamas Scheidung. Der kleine Garten, die ihn umgebende Weinidylle und der schnuckelige Ort – all das war zusammengenommen einfach ideal zum Chillen und um alles zu vergessen, was einen belastete. Sämtliche Paragraphenketten gedachte Nina heute Abend bei einem Gläschen Wein gemeinsam mit ihrer Großmutter runterzuspülen. Oma müsste um die Mittagszeit zu Hause sein. Regelmäßige Mahlzeiten waren ihr wichtig.

Ihr Haus war nicht weit vom Bahnhof entfernt und lag in einer der Seitenstraßen, die auf das hügelige Hinterland zuliefen. In dieser Gegend hatte jedes der Häuser einen kleinen Garten. Grüne Hecken, Obstbäume und eine wahre Blumenpracht aus Trögen und Blumenkästen verliehen den Gärten in Omas Straße einen gewissen Charme.

»Außerdem muss man den Touristen doch etwas bieten«, hatte ihr Großmutter vor Jahren erklärt. Die meisten kamen nämlich des Weins wegen, der im Umland angebaut und in den hiesigen Weinkellern und Gaststätten zu guter, vor allem aber reichhaltiger Küche kredenzt wurde. Auf Omas Kochkünste freute sich Nina jetzt schon. Oma schien allerdings nicht zu Hause zu sein. Noch mal klingeln. Nichts. Halb eins. Vielleicht war sie im Supermarkt. Nina beschloss daraufhin, im Garten auf sie zu warten. Sie hatte beide Schlüssel – für das Gartentor und das Haus – und hätte daher auch drinnen warten können, doch die kleine Bank neben dem Eingang vor einer Rosenhecke war viel zu einladend, um nicht auf ihr Platz zu nehmen. Nina entspannte sich in der Sonne augenblicklich, schloss die Augen und inhalierte den Duft der Rosenblätter. Das machte müde. Arme und Beine wurden bleischwer.

»Hallo, Nina. Bisch oh wieder im Land?«

Nina schreckte hoch. Das war eine bekannte Stimme, jedoch gehörte sie nicht ihrer Großmutter, sondern Tante Rickel. Genau genommen war es gar nicht ihre Tante, sondern die Nachbarin, aber seit ihrer Kindheit nannte Nina sie so.

»Ich dachte, ich schau mal vorbei. Oma besuchen. Ein bisschen abschalten von der Uni«, erklärte Nina immer noch leicht schlaftrunken. Ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte, dass sie gut eine Stunde gepennt hatte.

Tante Rickel, vielmehr Friederike, wie sie richtig hieß, nickte, doch musterte sie sie merkwürdig nachdenklich, fast einen Tick besorgt. Schon war ihr Mann, Onkel Berthold zur Stelle. Auch er lugte neugierig über die Hecke.

»Du hesch aber schon a mol besser usgsehen. Wie geht’s dir?«, fragte Tante Rickel so unverblümt, wie Nina sie kannte.

»Wisst ihr, wo sie steckt?«, wollte Nina wissen.

Warum nur tauschten die beiden erneut betretene Blicke?

»Mir han se mit dem Koffer weggehen sehn«, eröffnete ihr Bertel.

»Was? Hat sie gesagt, wohin sie will?«

Achselzucken – und auch noch synchron. Nina kannte Tante Rickel gut genug, um aus ihrer Mimik herauszulesen, dass sie irgendetwas vor ihr verbarg.

»Ihr wisst also nichts?«, hakte Nina nach.

»Na ja«, fing Tante Rickel an. »Wir machen uns halt Sorje.«

»Warum? Ist was passiert?« Nina spürte, dass ihr Puls augenblicklich anfing zu rasen.

»Sie hätt mich gescht noch’m Anton gfrouht«, sagte Tante Rickel.

»Anton? Ist das nicht der alte Schuhmacher?«, erinnerte Nina sich.

»Er ist schwer krank und will in’d Schwizz.«

»In die Schweiz? Spezialklinik oder so?«, fragte Nina.

»Inge hätt mi noch Sterbehilfe gfrouht«, gab Tante Rickel mit tief besorgtem Blick zurück.

»Oma? Aber die ist doch gesund«, versuchte Nina, sich selbst zu beruhigen.

»Ma steckt hald ned drin«, sagte Berthold trocken.

»Aber das hätte sie mir doch gesagt, wenn sie krank wär.«

Erneut synchrones Schulterzucken.

Nina nahm sich vor, der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Den Hausschlüssel hatte sie ja.

Was hatte ihr Nina letztens gesagt? RTL war Asi-TV? Für die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen und Sozialparasiten? Heike wusste nur zu gut, dass sie dieser Zielgruppe angehörte aber das aus dem Munde der eigenen Tochter zu hören war äußerst verletzend, auch wenn diese Worte kürzlich in einem der üblichen Streitereien über »das Leben an sich« gefallen waren. Für ihre Tochter war alles rosarot, obwohl, wenn man diese Brille mal abnahm, ziemlich viel schwarz war. Insofern tat »Dope« aus der Röhre, sprich anderen beim Problemwälzen auf RTL zuzusehen, sich daran zu ergötzen, wie Leute sich gegenseitig ankeiften und unter die Gürtellinie schlugen – so richtig aus dem Leben gegriffen –, einfach nur noch gut. Man konnte sich dann erfolgreich einreden, dass es ja sogar noch schlimmer kommen konnte. Am besten, man begann den Tag mit Frühstücksfernsehen, sah sich dann endlose Talkshows mit Hohlköpfen an, die einem das Gefühl gaben, selbst keiner zu sein, auch wenn die eigene Tochter das vermutlich von einem dachte. Bügeln konnte man dabei allemal, und die Zeit bis zum nächsten Massagetermin ließ sich damit auch prima totschlagen.

»Du hast mich doch verlassen!«, beschwerte sich ein blondierter kleiner Punk-Verschnitt, eine junge auch noch gepiercte Göre, in einer Gegenüberstellungsshow, in der man seine privaten Probleme vor aller Öffentlichkeit debattierte. Die Moderatorin, eine bekannte TV-Zicke, deren Namen sich Heike nicht einmal merken wollte, versuchte zu vermitteln.

»Aber hat er nicht gesagt, du hättest ihn verlassen?«, fragte sie nach.

Wen interessiert das schon? Sie sollen endlich wieder übereinander herfallen und sich sexuelles Versagen vorwerfen, wie er es vorher getan hatte. Die Buhrufe im Publikum waren einfach göttlich gewesen und die Bügelwäsche dabei fast fertig geworden. Nun fing ihr Macker auch noch an zu heulen.

»Ich liebe dich doch«, presste sich der junge Kerl, der sie angeblich auf Ibiza betrogen und den IQ eines Wellensittichs hatte, heraus. Wie rührend. Krokodilstränchen, aber wirksam, wie ein Schwenk durch das Publikum ergab. Die Buhrufe verstummten augenblicklich. Heike setzte glatt das Bügeleisen ab, um sich dem Spektakel hinzugeben. Der heult ja immer noch. Dann fängt sie an zu heulen, und unter dem Applaus des Publikums liegen sich die beiden wieder in den Armen – der Wellensittich und sein Punk. Aus dem Leben gegriffen war das allerdings nicht, wie sich Heike erinnerte. In ihrer Ehe hatte er sie zwar auch betrogen, aber geheult hatte nur sie, und zwar jahrelang. Eine Tochter allein großzuziehen, wenn man jeden Tag von depressiven Schüben geplagt war und seinen Job verlor, war alles andere als lustig, und dann durfte man sich noch anhören, ein »Sozialparasit« zu sein. Ihr Fräulein Tochter gedachte sie diesbezüglich einmal anzusprechen, vielleicht sogar schon anlässlich ihres Besuchs.

Nina rief erneut an – vermutlich, um den Besuch abzusagen. Das Telefon lag neben der Bügelwäsche in Reichweite. Zeit für ein offenes Wort? Jetzt gleich? Heike war irgendwie danach.

»Hallo, Nina«, begrüßte Heike sie, bevor sie mit der Fernbedienung den Ton etwas lauter drehte, damit Nina auch ja mitbekam, was der »Sozialparasit« gerade machte.

»Was ist denn bei dir los?«, beschwerte Nina sich prompt.

»Ich schau RTL.« Was für eine schöne Überleitung, um das Thema gleich anzusprechen. Erstaunlicherweise ging Nina aber gar nicht darauf ein.

»Oma ist weg. Sie will sich umbringen«, erklärte Nina ganz aufgeregt.

»Mama …? Wieso weg? Umbringen? Was redest du da?« Nina musste vom vielen Studieren ihren Verstand verloren haben.

»Sie hat sich bei Tante Rickel nach Sterbehilfe erkundigt, und neben ihrem Computer, da lag so ein ausgedrucktes Formular … Mama, Oma ist bestimmt schwer krank und braucht unsere Hilfe.«

Nina klang nun hysterisch. Das war sie sonst nie. Die Lage musste also ernst sein.

Heike schaltete sofort den Fernseher aus. Das Thema »Sozialparasit« wurde erst einmal auf Eis gelegt. Hinsetzen. Durchatmen. Ihre Mutter krank? Nee, das hätte sie ihr doch erzählt … Oder vielleicht doch nicht? Wann hatten sie überhaupt das letzte Mal miteinander telefoniert? Ruhe bewahren!

»Nina, Oma ist gewiss nicht krank. Das kann nicht sein. Das wüssten wir«, versuchte sie, Nina zu beruhigen – und sich selbst damit auch.

»Ich hab noch letzte Woche mit ihr telefoniert. Sie klang am Telefon wie immer«, sagte Nina.

»Dann ist sie auch nicht krank.«

»Aber die Nachbarn meinten, sie sei abgehauen. Mit ­einem Koffer.«

»Koffer … Oma?«, überlegte Heike laut und fing nun doch an, sich ernsthaftere Sorgen zu machen. Ihre Mutter würde niemals allein verreisen.

»Vielleicht ist sie ins Krankenhaus gefahren. Da nimmt man für gewöhnlich ein paar Sachen mit«, sagte Heike. Richtig beruhigend war diese Möglichkeit allerdings nicht.

Schweigen in der Leitung.

»Nina?«

Als Antwort kam nur Rascheln aus dem Hörer.

»Rom!« Ninas Stimme aus dem Nichts war so laut, dass Heike erschrak.

»Nina? Was?«

»Sie fährt nach Rom«, tönte es aufgeregt aus dem Telefonhörer.

»Sterbehilfe in Rom? Das gibt’s doch nur in der Schweiz.« So ganz sicher war sich Heike aber nicht.

»Hier liegt ein Ausdruck von einem Hotel in Rom.«

»Oma war noch nie im Rom. Nina, beruhige dich! … Nina?«

Wieder keine Antwort. Heike wusste, dass ihre Mutter ihr Herz an Italien verloren hatte, aber von einer Reise nach Rom hätte sie zumindest Nina erzählt.

»Drei Tage Rom. Mama, wir müssen da hin.«

»Und Oma anrufen? Ach, vergiss es. Sie hat ja kein Handy, obwohl ich ihr schon x-mal gesagt habe, dass sie sich ­eines zulegen soll. Im Hotel anrufen?«, überlegte Heike.

»Ich mach mir echt Sorgen um Oma«, erwiderte Nina mit Nachdruck.

»Na ja, so ganz astrein klingt das nicht …«, gestand Heike. »Komm doch her, oder möchtest du allein in Omas Haus bleiben?«

Die erneute Stille am anderen Ende der Leitung belegte, dass es bei Nina gerade ratterte. Heike überlegte unterdes, ob sie es schaffen würde, die Wohnung in einer halben Stunde auf Vordermann zu bringen.

»Ich komm vorbei. Bis gleich!«

Heike brummte noch zustimmend in das Telefon, bevor sie das Gespräch beendete. Oma in Roma? Wenigstens ein Gutes hatte es. Nina würde mal wieder ihre Mutter besuchen.

Kapitel 2

In Mamas Wohnung herrschte wie so oft das reine Chaos, auch wenn man erkennen konnte, dass sie vermutlich in einer Blitzaktion versucht hatte, alles aufzuräumen. Hinter einem Sofakissen lagen noch zwei Sneakers, die Kissen selbst waren zerknautscht, und auf dem Glastisch vor der Couch könnte man »Saustall« mit dem Finger in die dicke Staubschicht schreiben. Lediglich der von Vorhängen getrennte Behandlungsraum, wie Mama die von zwei Ikea-Regalen flankierte Ecke nannte, war blitzeblank sauber, die Handtücher lagen ordentlich drapiert darin. Im Gegensatz zu Mamas Küche stand dort auch nichts herum.

Es waren Kleinigkeiten, die Nina nervten. Warum konnte Mama Küchentücher nicht einfach ordentlich zusammenlegen? Sie hatte als Langzeitarbeitslose doch die Zeit dazu, alles in Schuss zu halten. Warum stapelten sich im Schlafzimmer Berge mit Bügelwäsche? Wie nicht anders zu erwarten, hatte sich ihre Mutter gleich nach einem herzlichen »Hallo, komm rein« an der Tür für den desolaten Zustand ihrer Wohnung entschuldigt, auch für ihren »Möhrchenlook«, die Tönung, die angeblich danebengegangen war. Nina fand sie aber nicht mal so schlecht. Dieser gesträhnte Rotton fügte sich jedenfalls nahtlos in ihre »Villa Kunterbunt« ein.

Ninas Sorge um Oma wuchs beinahe ins Unermessliche, weil sie mittlerweile auch bei ihrer Mutter auf Resonanz gestoßen war. Ein Blick auf das ausgedruckte Sterbehilfefor­mular, das Nina als Beweis mitgenommen hatte, reichte, um Mutter davon zu überzeugen, dass sie nach Italien fahren mussten. Ihr alter Koffer lag daraufhin in Windeseile ­ge­öffnet auf dem Bett. Die Türen des Kleiderschranks waren offen. Mama stand etwas ratlos davor, während Nina zum x-ten Mal versuchte, im Hotel, das Oma gebucht hatte, anzurufen, um zumindest eine Nachricht zu hinterlassen und zu fragen, ob sie noch ein Zimmer für zwei Personen frei hätten.

»Das ist doch alles der pure Wahnsinn«, stellte ihre Mutter erneut fest, wobei Nina sich nicht sicher war, ob sie damit ihre nicht altersgerechte bunte Kleidung meinte, sprich diese schrecklichen Leggings, die sie gerade in den Koffer legte, oder den Umstand, dass sie beide mit knapp über zweihundert Euro an Bargeldbestand nach Italien fahren wollten. Vermutlich meinte sie Letzteres. Mama hatte noch 153,60 cash, wie sie ihr vorgerechnet hatte und keinen Dispo. Den hatte ihr die Bank schon seit Jahren gestrichen. Nina selbst kam mit dreiundfünfzig Euro daher, hatte aber noch um die einhundert Euro auf ihrem Girokonto – die Lebensreserve für den Rest des Monats.

»Und wovon sollen wir uns was zu essen kaufen? Die Bahntickets allein kosten doch bestimmt schon alles, was wir noch haben«, wandte ihre Mutter ein.

Berechtigte Frage, doch Nina hatte auch dafür eine Lösung parat.

»Wir fahren per Anhalter«, erklärte sie. Ihre Mutter verfiel daraufhin in eine Schreckensstarre.

»Ich fahr doch nicht per Anhalter. Lieber esse ich zwei Tage lang nichts.«

»Mama, das hab ich schon oft gemacht.«

»Dich nehmen sie ja auch mit. Jung und frisch …«, meinte Heike.

»Mit den Leggings und ’ner aufgeknöpften Bluse kommst du eher mit als ich«, konnte sich Nina angesichts des leicht nuttigen Looks ihrer Mutter nicht verkneifen. Wenigstens einen BH hätte sie sich anziehen können.

»Es ist bequem«, rechtfertigte sich Heike, die sogleich prüfend an sich herabsah. »Aber ich kann ja eine Jeans anziehen«, lenkte sie dann doch ein.

Nina atmete auf. Und endlich ging in diesem italienischen Hotel, das sich wohl in der Nähe des Vatikans befinden musste, jemand ran.

»Buon giorno … Sprechen Sie Deutsch?«, fragte sie.

Heike hielt sofort mit dem Packen inne und sah ihre Tochter gespannt an.

Im Hotel sprach man Deutsch! Nina war erleichtert, weil ihre Italienischkenntnisse gerade mal auf Volkshochschulniveau Stufe eins waren. Weitaus weniger erfreulich war aber, was ihr der Mann an der Rezeption zu sagen hatte. Nachdem Nina das Gespräch mit einem »Molto gracie« beendet hatte, reichte sie die »guten Nachrichten« gleich an ihre Mutter weiter: »Das Zimmer wurde storniert. Mehr weiß er nicht.«

Ihre Mutter verfiel in nachdenkliches Schweigen. Nina schloss sich solidarisch an. Wieso stornierte ihre Großmutter das Hotelzimmer? Es wurde immer mysteriöser.

»Aber warum fahren wir dann überhaupt nach Rom?«, fragte ihre Mutter schließlich. »Wie sollen wir sie denn dort finden?«

»Wir fragen bei der Polizei«, erklärte Nina.

»Ja sicher, die werden auch wissen, wo eine Inge Schneider aus Oberkirch ist«, sagte Heike mit unüberhörbar ironischen Unterton.

»In einem italienischen Hotel muss man sich registrieren. Oma wird ja irgendwo schlafen müssen, und soviel ich weiß, kennt sie in Rom niemanden, bei dem sie übernachten kann.«

»Und wenn sie nicht allein unterwegs ist? Vielleicht wurde das Zimmer auf einen anderen Namen gebucht«, überlegte Heike.

»Auch dann wüssten wir das, weil in Italien wirklich jeder Gast seinen Pass an der Rezeption abgeben und sich registrieren muss«, klärte Nina sie auf.

Mama nickte und packte brav weiter.

»Wieso nimmst du eigentlich so viel mit?«, fragte Nina, die sich schon die ganze Zeit darüber wunderte, vor allem über die aus ihrer Sicht viel zu jugendlichen Sachen, die ihrer Mutter der Textilgröße nach zu urteilen mit Sicherheit nicht mehr passten.

»Willst du etwa jeden Tag das Gleiche anziehen? Du hast doch nichts dabei. Außerdem sind wir mindestens drei Tage unterwegs und wenn wir schon mal in Italien sind … vielleicht sogar einen Tag länger.« Erst nur anrufen wollen, um sich nach Oma zu erkundigen, und dann den halben Kleiderschrank mitnehmen.

»Das Geld haben wir doch gar nicht«, stellte Nina klar.

»Dann zelten wir eben«, gab ihre Mutter fast schon trotzig zurück.

»Aber trampen kannst du nicht.«

Mutter schwieg und schien inzwischen in einen Zustand melancholischer Verzückung geraten zu sein. »War immer schön in Italien … die Adria … Rimini. Da wollte ich eh irgendwann mal wieder hin …«, sagte sie verklärt.

»Mama. Rom liegt auf der anderen Seite.«

»Italien ist Italien. Und wenn ich da schon runterfahre, dann möchte ich auch was sehen. Basta!«, stellte Heike mit dem Charme einer italienischen Matriarchin klar.

Nina traute ihren Augen kaum. Hatte sich da eben so was wie ein Lächeln um die Lippen ihrer Mutter geregt? Mama hatte es tatsächlich nicht verlernt, oder war es nur die Aussicht auf Bella Italia, wenngleich sich Nina fragte, ob sie tatsächlich Schönes jenseits des Brenners erwartete.

»Früher war alles besser« – das war auch so ein Standardspruch, den Inge nicht ausstehen konnte. Otto ließ ihn für gewöhnlich vom Stapel, wenn ihm irgendetwas nicht passte. Was die heutigen Fernzüge betraf, so konnte man das aber wirklich nicht sagen. Sie waren bequem, ruhig, und wenn man dann noch das Glück hatte, allein im Abteil zu sitzen, war das an Luxus kaum noch zu überbieten. Beim Blick aus dem Fenster des Zugs stellte Inge fest, dass sich andere Dinge im Lauf der Jahre gar nicht, oder wenn, dann nur sehr langsam änderten. Zwar sah der Baseler Hauptbahnhof, an dem sie umsteigen musste, auf den ersten Blick so aus wie jeder andere, aber anhand der Kleidung hatte man schon früher ablesen können, dass Basel immer noch zu den wohlhabendsten Städten der Welt gehörte.

Der Zug nach Mailand, der dann direkt nach Rom fuhr, wartete bereits am Gleis gegenüber. Inge konnte sich nicht daran erinnern, jemals so viele Leute mit teuren Uhren oder Schmuck, exquisiten Koffern und Designermode an einem Bahngleis gesehen zu haben. Vielleicht ein Betriebsausflug von Louis Vuitton? Aber fliegen die Reichen nicht immer? Anscheinend war es im Zug nach Mailand bequemer, und man war bestimmt auch nicht viel länger unterwegs, wenn man die Anfahrt zum Flughafen und das ganze Gedöns in Sachen Flugsicherheit mit dazurechnete.

»Mal wieder fett shoppen in Milano«, tönte es aus der Richtung einer Gruppe junger Schweizerinnen, die sich wohl vorgenommen hatten, die Modemetropole Italiens unsicher zu machen. Die ließen es sich richtig gutgehen. Es sei ihnen vergönnt. Letztlich ließ sie es sich ja auch im Rahmen ihrer Rente gutgehen. Sogar diese Reise war drin, ohne sie über Gebühr finanziell zu belasten. Sofort befiel Inge ein schlechtes Gewissen. Sie hätte Nina mitnehmen können, doch die steckte, soviel sie wusste, im Prüfungsstress. Normalerweise hätte sie ihr zumindest Bescheid gegeben, dass sie plante, über ein verlängertes Wochenende mit dem Gemeindebus nach Italien zu fahren, aber sie wusste um ihre Finanzmisere, und wenn jemand dann auch noch Stress hatte, dann kam das nicht gut an.

Kaum hatte Inge ein freies Abteil ausfindig gemacht und sich in Fahrtrichtung ans Fenster gesetzt, lugte eine Frau in Heikes Alter herein.

»Ist bei Ihnen noch frei?«, fragte die Mitreisende. Sie war nicht allein. Eine ältere Dame, die vermutlich ihre Mutter war, stand hinter ihr.

»Meine Mutter hat einen Tinnitus, und im Großraumwagen geht unentwegt das Handy. Hier ist es sicher ruhiger«, erklärte die auf den ersten Blick sympathische Frau, die Inge auf Mitte bis Ende fünfzig schätzte.

»Natürlich. Kommen Sie herein.« Inge stand auf, um einen Stapel Zeitschriften vom gegenüberliegenden Sitz nach oben auf die Ablage zu räumen. Die beiden hatten schließlich auch Anrecht auf einen Fensterplatz.

Die Tochter reichte ihrer Mutter die Hand, um sie ins Abteil zu geleiten. Inge schätzte sie in etwa auf Henriettes Alter, auch weil sie ihr ähnlich sah. Und die Frau war zweifelsohne erblindet. Inge überraschte, dass sie trotzdem zum Gruß in ihre Richtung nickte und angesichts ihres Schicksals noch so herzerfrischend lächeln konnte. Inge fand die beiden so sympathisch, dass sie ihnen gleich von den Keksen anbot, mit denen sie sich am Bahnhofskiosk in Offenburg eingedeckt hatte.

»Mögen Sie einen?«, fragte sie und fügte an die blinde Frau gerichtet mit hinzu: »Einen Keks?«

»Sehr gerne, das ist aber nett«, antwortete das Henriette-Double. Ihre Tochter führte die zittrige Hand der Blinden an die Keksschachtel und half ihr dabei, einen Keks herauszunehmen.

»Wohin fahren Sie?«, wollte Inge, neugierig geworden, wissen.

»Nach Verona. Meine Mutter möchte die Stadt unbedingt noch einmal sehen. Na ja …, sagen wir erleben.«

Keine Missstimmung bei der Erblindeten. Ganz im Gegenteil. Die Frau schmunzelte und freute sich, das alles noch »erleben« zu dürfen.

So ein Jammerlappen wie Henriette könnte sich eine Scheibe von ihr abschneiden.

»Stellen Sie sich das mal vor. Vor einer halben Ewigkeit hat mein Mann dort um meine Hand angehalten, direkt unter dem Balkon von Julia«, sagte die Blinde.

Inge erinnerte sich an die Städtetour mit ihrem Mann. Der berühmte Balkon lag irgendwo in der Altstadt.

»Wir wollten unsere goldene Hochzeit feiern, aber der liebe Gott hatte andere Pläne«, erklärte die blinde Frau, jedoch ohne Bitterkeit.

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