Kann Gelato Sünde sein? - Tessa Hennig - E-Book
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Kann Gelato Sünde sein? E-Book

Tessa Hennig

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Beschreibung

Ein kleines Dorf in Kalabrien droht von der Landkarte zu verschwinden: Immer mehr junge Leute ziehen in die Stadt. Um sein schönes Dorf zu erhalten, verbietet der Bürgermeister den Bewohnern kurzerhand das Sterben. Statt Pizza und Gelato gibt es Rohkost und Morgengymnastik. Die älteren Herrschaften sind nicht amüsiert. Doch es naht Rettung, denn ausgerechnet in diesem Dorf will Emilia Bäumle die Italiener von den Vorzügen ihrer Schwarzwälder Kirschtorte überzeugen. Kurz vor der Rente soll der Traum von einer eigenen Konditorei wahr werden. Emilias Tochter Julia, die sich mit einem Agriturismo-Betrieb selbstständig machen will, ist von der Idee allerdings wenig begeistert, der Bürgermeister erst recht nicht. Doch was sich Emilia einmal in den Kopf gesetzt hat, zieht sie auch durch …

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Seitenzahl: 504

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Kann Gelato Sünde sein?

Die Autorin

TESSA HENNIG schreibt seit vielen Jahren große TV-Unterhaltung und Bestseller-Romane mit Herz und Humor, die auch erfolgreich verfilmt wurden. Wenn sie vom Schreiben eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen gern in den Süden. Von Tessa Hennig sind in unserem Hause bereits erschienen: Mutti steigt aus · Elli gibt den Löffel ab · Emma verduftet · Lisa geht zum Teufel · Mama mag keine Spaghetti · Alles außer Austern · Mit Oma in Roma · Bea macht blau · Nie wieder Amore! · Von wegen Dolce Vita!

Das Buch

Jahrelang hat Emilia für Familie und Firma geschuftet, statt ihre Träume zu leben. Nur die Leidenschaft fürs Tortenbacken ist ihr noch geblieben. Und nun? Die Ehe ist zerbrochen, und ihre Tochter meldet sich kaum, seitdem sie in Italien studiert. Um Julia wieder näherzukommen, reist Emilia für zwei Wochen nach Kalabrien. Als sie sich jedoch in dem malerischen Dorf in eine leer stehende Bäckerei verliebt, kommt ihr eine verrückte Idee …Julia fällt aus allen Wolken: Ihre Mutter möchte vor Ort eine kleine Konditorei eröffnen! Eine denkbar schlechte Idee, denn das Dorf ist dem Gesundheitswahn verfallen. Der Bürgermeister hat den Bewohnern das Sterben verboten, damit sein Dorf nicht von der Landkarte verschwindet. Mit täglicher Morgengymnastik hält er die Gemeinde fit. Kuchen und Torten? Gehen gar nicht! Oder vielleicht doch?

Tessa Hennig

Kann Gelato Sünde sein?

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Gerhard GlückE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2273-5

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Leseprobe: Nie wieder Amore!

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

»Buongiorno. Sono Francesca Lombardi«, rief Emilia bereits zum dritten Mal dem in die Jahre gekommenen Laptop zu. Er stand direkt neben ihr auf der Arbeitsplatte, wo sie gerade den Teig für die Schwarzwälder anrührte. »Lombardi« war natürlich glatt gelogen, denn sie hieß Bäumle, doch ihren richtigen Namen kannte das Online-Lernprogramm für Italienisch naturgemäß nicht. Die Stimme aus dem Laptop wiederholte die Frage. Beim ersten Versuch hatte ihre Aussprache wohl nicht ganz gestimmt, beim zweiten Mal war dem Mikrofon das penetrante Hämmern des Schlagbohrers aus dem Erdgeschoss dazwischengekommen. Bald stand dort unten vermutlich kein Stein mehr auf dem anderen, doch damit war zu rechnen, wenn jemand aus einem ehemaligen Versicherungsbüro einen Fachhandel für Scooter machen wollte. Anscheinend musste man bei diesem Sprachprogramm alles mit süditalienischer Inbrunst aussprechen, damit die Software die Wörter schluckte und das Gesagte mit einem grünen Haken versah. Emilia schmunzelte unwillkürlich, denn das mit der Inbrunst war etwas untertrieben. Offen gestanden, hatte sie sich vorhin vorgestellt, die Loren zu sein, eine Sexbombe, die mit Franco Nero auf Flirtkurs war. Gut, dass das Sprachprogramm beim Vokabeltraining nicht auch noch die Webcam dazuschaltete, denn für eine Fast-Sechzigjährige mit grauem Haar und nicht mehr ganz so straffem Rubenslook kam sie höchstens als Synchronsprecherin für die Loren infrage. Besser als nichts!

»Piacere!« kam als Nächstes dran. Diese Vokabel saß bereits sicher und wurde daher gleich beim ersten Versuch als richtig erkannt. Ein »Vergnügen«, sich auf die bevorstehende Italienreise vorzubereiten, war es aber nicht gerade. Emilia hatte sich am Vorabend das Vokabular von gleich fünf Lektionen auf einmal reinprügeln müssen, um das bereits Erlernte parat zu haben. Das strengte an, war aber nötig. Schließlich war ihr Reiseziel nicht der Gardasee, wo man selbst mit schwäbischem Akzent überall verstanden wurde.

»Prima, weiter so«, spuckte der Bildschirm aus. Neun von zehn richtig. Emilia beschloss daher, sich wieder ihrem Kunstwerk zu widmen. Die Schwarzwälder musste bis heute Nachmittag fertig sein, und ihr Anspruch, sich mit jeder Torte selbst zu übertreffen, entsprang dem Herzen einer wahren Künstlerin. Tortenbacken war eine Kunst. Wer das nicht wusste, hatte noch nie eine von ihr gegessen. Liebe ging durch den Magen, und Emilias ganze Liebe steckte nun mal in ihren Torten. Jeder Bissen musste verzaubern, wohlige Schauder vom Gaumen aus durch den Körper jagen und schlicht und ergreifend rundum glücklich machen. Mit »Backen nach Rezept« war Ekstase dieser Art natürlich nicht möglich. Während Emilia genüsslich den Biskuitteig in die Backform fließen ließ, lief ihr beim Gedanken an die Füllung, die sie bereits vorbereitet hatte, das Wasser im Mund zusammen. In einer Schüssel schwammen Sauerkirschen frisch vom Biobauern in der Nachbarschaft. Das war einer der Vorteile, wenn man in Achern lebte. Bauer Meisner machte nicht nur der Badischen Weinstraße Ehre. Sein Kirschwasser versetzte die Seele nach nur wenigen Schlucken in Schwingung. Der Geist seiner Kirschen durfte in Emilias Schwarzwälder genauso wenig fehlen wie der Birkenzucker. Oft waren es Kleinigkeiten wie diese, die selbst einem Tortenklassiker die besondere Note verliehen. Veredelung nannte sich das. Dazu gehörte auch etwas Weizenkleie, die für eine vortreffliche Konsistenz und Standfestigkeit sorgte, eines ihrer Geheimnisse, die sie nicht einmal ihren besten Freundinnen anvertraute. Zufrieden mit sich, strich Emilia den Teig in einer mit Backpapier ausgelegten Form glatt, schob sie in den vorgeheizten Backofen und beschloss, sich in der Wartezeit wieder dem Italienischen zu widmen.

Sie setzte sich auf den Stuhl neben der Anrichte und klickte auf Fortfahren. Aha, nun kamen die Wörter für Familie, Freunde und die Zahlen dran. Mal sehen, was von gestern noch hängen geblieben war. »Mia figlia ha sette anni«, sagte Emilia laut und deutlich ins Mikrofon. Der grüne Haken blieb aus. Kein Wunder, wenn man unentwegt lügen musste, denn Julia war schließlich schon zweiundzwanzig und keine sieben. Emilia fiel dann aber doch ein, warum sich das Programm beschwerte. Das »g« in »gli« war im Italienischen ja stumm. Der zweite Versuch gelang.

Emilia seufzte und lehnte sich für einen Moment gedankenverloren zurück. Sie vermisste ihre Tochter. Entgegen ihrer Annahme, dass sich dieses furchtbare Verlustgefühl mit der Zeit ein bisschen legen würde, schlug es aus den geringsten Anlässen immer wieder mit voller Wucht zu. Emilia tröstete sich mit dem Gedanken, dass Julia ja nur für ein Auslandsjahr in Italien war und in wenigen Monaten wieder zurück sein würde, um ihr Lehramtsstudium in Freiburg zu beenden. Die vielen Fotos per WhatsApp ließen immerhin darauf schließen, dass Julia ihr Studium in Kalabrien in vollen Zügen genoss. Es sei ihr gegönnt. Außerdem war das Leben da unten an der italienischen Stiefelspitze günstiger. Wenigstens musste Emilia sich keine Sorgen machen, dass das Geld aus dem Sparvertrag und ihre monatlichen Zuwendungen nicht reichten. Julia hätte ja auch auf den verwegenen Gedanken kommen können, in Rom ein Auslandsjahr einzulegen.

Die nächste Vokabel zum Thema »Familie« war dran. Und die sorgte auch nicht für gute Laune. Dass sie seit einem Jahr geschieden sei, wäre zudem die nächste Lüge. Acht Jahre waren es! Vokabeln, die mit Emotionen verbunden waren, konnte man sich aber besser merken. »Sono stato divorziato per un anno« saß deshalb bombensicher. Emilia war trotzdem die Lust am Lernen vergangen. Außerdem meldete sich nun eine Fräse lautstark von unten, ihrem alten Büro. Eigentlich seinem Büro, wenn er nicht so viele Hausbesuche bei attraktiven Damen gemacht hätte. Nicht daran denken! Acht Jahre her! Auch das konnte einen nach so langer Zeit immer noch aufwühlen. Jetzt half wirklich nur noch eines. Finger in die Schüssel tunken und von der magischen Füllung probieren. Himmlisch! Ein kleiner Kirschgeist pur könnte auch nicht schaden. Bis die Torte fertig war und die Freundinnen antanzten, war sie bestimmt wieder nüchtern. Das Schnapsgläschen stand sowieso noch griffbereit auf dem Tisch. Ahhh … brannte das gut die Kehle aus. Kirschwasser putzte zudem das Hirn frei. Ein Hoch auf Bauer Meisner, und überhaupt. Mir geht es doch gut, sagte sie sich und goss sich gleich noch einen zweiten Seelenputzer ein.

Julia hatte auf der Fahrt nach Pizzo große Mühe, die gefühlt kilometerlange Einkaufsliste zu lesen. Bei der Schaukelei, dem Rütteln und den gelegentlichen Angriffen auf ihre Schädeldecke war das ein Ding der Unmöglichkeit. Das lag im Moment aber eher an den schlechten Straßenverhältnissen und nicht an der guten alten Ape Piaggio von Francescos Großvater, die superpraktisch war, weil man die Einkäufe nach getaner Arbeit einfach auf die Pritsche packen konnte. Außerdem war die Mischung aus Motorroller und Mini-Laster irgendwie süß und gab Geräusche von sich, die an ein lebendiges Wesen erinnerten. Francesco sprach sogar mit ihr, als wäre sie eine gute alte Freundin. Er behandelte das Fahrzeug mit Sorgfalt und fummelte beim geringsten verdächtigen Geräusch so lange am Motor oder Fahrwerk herum, bis sie wieder schnurrte wie ein Kätzchen. Mehr Fürsorge ging nicht. Angeblich hatte sein Großvater das auch so gemacht – der einzige Grund, warum der Schepperkasten aus den Achtzigern überhaupt noch fuhr. Mit den hiesigen Straßenverhältnissen hatte die Ape aber ordentlich zu kämpfen: Pizzagroße Schlaglöcher zierten die Fahrbahn – manche erweckten den Eindruck, als wäre Godzilla über die Straße getrampelt.

Autsch! Es war nicht das erste Mal, dass ihr Kopf gegen die von Haus aus viel zu niedrige Decke der Ape knallte. Sie war für Piccolinos gemacht, also für Menschen mit süditalienischen Genen.

»Mensch, fahr halt drum rum«, maulte Julia nach inzwischen fast halbstündiger Serpentinenfahrt durch das kalabrische Hinterland.

»Wie denn?« Francescos Frage war berechtigt, denn letztlich hatte er nur die Wahl zwischen Pizza- und Godzillalöchern. Da konnte Italia noch so bella sein. Einmal von einer kalabrischen Haupt- oder Landstraße abgebogen, herrschte anscheinend Krieg. Sonne gegen Asphalt. Wer ihn gewann, war angesichts leerer Staatskassen sichtbar.

»Ich fahr langsamer, okay?«, schlug Francesco nun versöhnliche Töne an und fuhr ihr sanft durchs Haar.

»Autsch!« Eine der Beulen auf der Schädeldecke zu streicheln, war unter diesen Umständen keine so gute Idee.

»Tut mir leid, Bella«, sagte er und grinste verwegen. Seinen verliebten Blick hätte er wohl besser nach vorn gerichtet. Die Ape begann nämlich erneut zu rumpeln. Diesmal erwischte es aber seine Hand, die sich unbeabsichtigterweise schützend auf ihren Kopf gelegt hatte.

»Leg die besser wieder ans Steuer«, riet Julia.

Francesco nickte einsichtig, nicht ohne ihr einen weiteren verliebten Blick zuzuwerfen. So ein verrückter Kerl. An sich ja Italiener, aber alle außerhalb seines Heimatdorfs im Hinterland von Pizzo und Menschen, die ihn nicht kannten, hielten ihn für einen Deutschen. Das lag an seinem Äußeren. Michael-Schulte-Locken, allerdings viel dunkler, hingen ihm bis zu den Schultern. Mit seinem verwaschenen XL-T-Shirt, einer Bootcut-Last-Century-Jeans und Sandalen, die Julia bisher nur an Seniorenfüßen gesehen hatte, wirkte er wie ein Hardcore-Müsli. Dabei waren die längst out. Ökos waren heutzutage schick und hip. Sie verweigerten sich nicht mehr den Annehmlichkeiten des Lebens oder angesagter Mode. Julia überlegte, ob das der Grund war, warum er so an dieser Ape hing. Ein Müsli-Nostalgiker und somit Teil einer Spezies, die es in Italien eigentlich gar nicht geben dürfte. Die gab’s ja nicht einmal mehr in Germania.

»Steht der Draht für den Hühnerstall drauf? Wir müssen den heute flicken, sonst laufen sie uns noch davon, und wir haben keine frischen Eier mehr.«

»Dann kaufen wir halt welche im Supermarkt«, wandte Julia ein, machte sich in dem Moment aber klar, dass dies nicht so einfach war, wenn man mitten in der Pampa saß und ohne das Erbstück seines Opas nicht mal so eben schnell zum Supermarkt fahren konnte. Ihre Fahrräder kamen bei der Hitze und angesichts beachtlicher Steigungen nur für masochistisch veranlagte Hochleistungssportler infrage. Das war der Preis für ländliche Idylle im kalabrischen Hinterland.

»Stell dir vor, unsere Hühner geraten auf die Straße, und jemand fährt sie an. Ich könnte mir das nie verzeihen«, überlegte er laut, was wieder einmal typisch Francesco war. Wenn es nach ihm ginge, hätten sie bis heute noch kein Moskitonetz im Bett, damit die Stechmücken ja nicht am ausgestreckten Arm verhungerten. Insekten waren als wichtiger Bestandteil der Nahrungskette schließlich wichtig für den Fortbestand der Menschheit. Ob ihre Gäste ein Klo hatten, auf dem sie sich im Sitzen erleichtern konnten, erschien Julia im Moment aber wichtiger. Bis morgen musste alles zumindest bewohnbar sein, ohne dass man sich wie in einem Bootcamp für Alternativurlauber fühlte. Agriturismo nannte sich das heutzutage, doch der sah Julias Ansicht nach anders aus als Francescos Idee von glücklichen Menschen, die im Urlaub gerne mal selbst Hand anlegten und sich frühmorgens mit Wonne ihre Eier aus dem Hühnerstall holten. Landstil ja, aber bitte mit mehr Komfort und Schick.

Julia fand endlich den Draht auf ihrer Liste, die sie nun wieder lesen konnte, weil sie auf eine normal geteerte Landstraße bogen, die direkt nach Pizzo führte. Nägel, Schrauben, ein Klo mit Deckel, der nicht knallte, wenn man ihn schloss, Badvorleger, einen Duschvorhang und ein Spiegelschrank standen auf dem Einkaufszettel für den am Ortsrand befindlichen Baumarkt. Nichts vergessen? Nein. Julia schaffte es daher, sich für einen Moment zu entspannen und die Aussicht zu genießen. In die Küstenstraße nach Pizzo konnte man sich immer wieder aufs Neue verlieben. Ein Ferienklub nach dem anderen pflasterte den Weg. Dazwischen mannshohes Schilf, blühende Sträucher und ein Blumenmeer, das sich bis zum feinen weißen Sandstrand zog, an dem sich Touristen vor azurblauem Meer tummelten. Andere machten Urlaub, während sie und Francesco schufteten, wobei sich Julia eingestehen musste, dass diese Touristen wahrscheinlich nie in den Genuss eines Lebens im Paradies – da hatte Francesco schon recht – kommen würden. Wer brauchte schon die Hektik einer Stadt? Landluft und Liebe – das reichte dicke. Julia überfiel trotz dieser Einsicht der Wunsch, sich ein bisschen für den Kontakt mit der Außenwelt herzurichten. Ihr Handy diente dabei als Spiegel, weil die Ape keinen für Beifahrer hatte. Schnell mal durchs Haar wuscheln. Seitdem sie es nicht mehr tönte, weil Francesco ihr natürliches Mittelblond so gut gefiel, peppte sie ihren Look zumindest mit Lippenstift auf, obwohl er Schminke für gänzlich überflüssig hielt, weil sie ja ohnehin seine »Bella« war. Dass sie ihre Lippen schminkte, bekam er mit.

»Da ist Walfett drin. Die armen Tiere müssen sterben, damit sich Frauen …«

Julia schnitt ihm sofort das Wort ab. »Das war vor hundert Jahren. Da ist Öl drin. Erdöl«, erklärte sie ihm.

»Auch nicht besser«, gab er trotzig zurück.

»Und mit was fahren wir? Oder frisst die Ape etwa Olivenöl?«

Wenn er grinste, wusste Julia, dass er ihr recht gab.

»Wir könnten doch danach noch nach Pizzo reinfahren und Tartufo essen«, schlug er vor. Mit diesen Eisbomben, die ihren Namen der Trüffelpraline verdankten, konnte man Julia kaufen. Es gab auf der ganzen Welt keine besseren als in der Fußgängerzone von Pizzo. Das war auch kein Wunder, denn die mit flüssiger Schokolade gefüllten und nahezu tennisballgroßen Kugeln hatte man dort erfunden.

»Meinetwegen«, gab sie betont unbeeindruckt zurück. Er durchschaute sie, weil er sie neckisch gegen den Arm boxte.

»Autsch!« Julias Ausruf war nicht besonders glaubhaft, weil sie dabei grinste. Auf einen blauen Fleck mehr oder weniger kam es jetzt sowieso nicht mehr an.

Es war in Emilias Tortenkreis über die Jahre zum Ritual geworden, sich den ersten Bissen des Kunstwerks aus Teig, Füllung und Belägen erst einmal genüsslich wie bei einem guten Wein auf der Zunge zergehen zu lassen. Und das nicht nur im übertragenen Sinn, denn eine Schwarzwälder von Emilia war besonders cremig und saftig. Dass es hierbei nichts zu beißen gab, schätzte Friederike besonders, weil sie nicht mehr so viele Zähne hatte, kein Geld für Implantate und sich keine Prothesen in den Mund kleben wollte. Emilia betrachtete die wohlig verdrehten Augen ihrer Freundinnen, die es sich in den Baststühlen ihres Balkons mit Weitblick auf den Schwarzwald gemütlich gemacht hatten. Mehr Anerkennung gab es nicht. Dazu Kaffee. Hier unterschieden sich allerdings die Geschmäcker. Rotschopf Sigi, eigentlich Siglinde und Lehrerin im Frühruhestand, weil die Witwenrente ihres Mannes reichte, trank grundsätzlich Cappuccino. Friederike, Ex-Verwaltungsangestellte und die Älteste in der Runde, war schon seit drei Jahren regulär in Rente. Sie nahm grundsätzlich einen aufgebrühten Kaffee mit Milch. Brigitte, zeitlebens Hausfrau, spindeldürr und mit militärisch anmutendem Kurzhaarschnitt, trank Espresso, während Emilia ihren schwarz bevorzugte, aber mit viel Zucker. Genau genommen war es ein Witwenkreis. Sigi, die Emilia an Blanche von den »Golden Girls« erinnerte, zählte als mehrfach Geschiedene mit zwei inzwischen verstorbenen Ex-Ehemännern mit dazu.

»Ein Traum. Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen.« Diesmal war es Friederike, die als Erste Worte fand. Sie hatte das Kompliment mit noch vollem Mund ausgesprochen. Vermutlich ignorierte sie gute Tischmanieren nur, weil sie sich bei Emilia wie zu Hause fühlte. Sie wohnte einen Stock über ihr. Aus der langjährigen Nachbarin war über die Jahre eine Freundin geworden, mit der man Freud und Leid teilen konnte.

»Das ist, wie wenn du einen Mann küsst«, warf Siglinde urplötzlich in die Runde. Drei verblüffte Augenpaare richteten sich daraufhin auf sie.

»Meine Lippen werden immer ganz geschmeidig, und ich kann gar nicht genug davon kriegen«, erklärte Siglinde augenzwinkernd.

Emilia atmete erleichtert auf. Sie hatte nämlich befürchtet, dass Siglinde die Füllung nicht cremig genug sein könnte und die Weizenkleie, die vorhin auf Sigis Gabel verklumpt war, Anlass zu einer kritischen Bemerkung geben würde. Das scheuerte auf den Lippen bestimmt wie der Bart eines Mannes. Emilia musste bei diesem Gedanken unwillkürlich schmunzeln. Vermutlich kam man nur in Sigis Gegenwart auf so einen Unsinn – und wenn man selbst nur noch vage Erinnerungen an das Gefühl hatte, wie sich ein Kuss anfühlte. Sigi war zurzeit wie ein Stachel, der Emilia schmerzhaft an ihr Leben vor der Menopause erinnerte. Ihre Freundin war nämlich seit zwei Wochen Mitglied eines Dating-Portals für Senioren und liebte es, ihnen Fotos von einem Sahnestückchen nach dem anderen zu präsentieren. Alles Bärtige. Immer noch ihr altes Beuteschema.

Natürlich lugten nun alle auf Sigis Smartphone, das sie nach Verzehr des letzten Bissens auf dem Tisch drapiert hatte.

»Manfred. Hat mich gestern kontaktiert. Mein Gott! Dass es solche Männer überhaupt noch gibt«, schmachtete Siglinde.

Brigitte schaute sich als Einzige den Mann näher an, der Mario Adorfs Zwillingsbruder hätte sein können, schwieg aber und aß in aller Gemütsruhe weiter. Emilia und Friederike taten es ihr gleich. Essen und genießen, auch wenn Sigi nach Anerkennung und Komplimenten heischte.

Friederike brach das sinnliche Schweigen dann als Erste, sicher, um Sigi zu erlösen.

»Und was ist mit diesem Robert? Haste den denn nicht auch getroffen?«, wollte sie von Siglinde wissen. Friederike nahm direkt Bezug auf Manfreds Vorgänger. Der hatte auch sehr gut ausgesehen. Irgendetwas war doch da schiefgelaufen.

Sigi blickte peinlich berührt in die Runde. »Lockvogel …«, brummelte sie und klaubte dann mit der Kuchengabel verlegen die letzten Krümel ihrer Schwarzwälder auf.

»Wie? Mann aus dem Katalog und dann Fake?«, fragte Brigitte.

Siglinde nickte und spülte die letzten Kuchenkrümel mit Cappuccino herunter.

»Ich hab’s dir ja gleich gesagt. Tolle Männer in unserem Alter … Mangelware«, sagte Emilia.

»Aber ich bin doch noch jünger«, wandte Siglinde fast schon verzweifelt ein.

»Danke, dass du uns daran erinnerst«, warf Friederike ihr prompt vor.

»Noch ein Stück?«, fragte Emilia in die Runde.

»Natürlich. Eine der wenigen Freuden im Leben, die uns noch geblieben sind«, stellte Brigitte fest und hielt ihr sogleich den Teller hin. Die anderen nickten solidarisch, denn wie Emilia wusste, war es um »Freuden« im Leben ihrer Golden-Girls-Clique nicht gerade gut bestellt. Sie teilten sich das Gefühl wachsender Einsamkeit bereits seit zwei Jahren, als Emilia den Tortenkreis ins Leben gerufen hatte. Wenigstens einmal in der Woche konnten sie sich das Leben versüßen. Emilia hievte nun auch noch ein weiteres Stück auf ihren eigenen Kuchenteller.

»Gestern hat mich diese Anna so was von runtergezogen«, erzählte Brigitte.

»Du meinst die aus dem Reformhaus?«, hakte Emilia nach.

»Ich hab Blumen auf Franz’ Grab gelegt. Sie kommt und fängt an zu heulen.«

»Warum das denn? Ihr Mann ist doch auch schon seit mindestens drei Jahren …« Emilia vermied das böse Wort.

»Wird ihren Melancholischen gehabt haben. Meinte, dass wir doch alle nur noch warten, bis wir unseren Männern folgen.«

»Also, ich nicht!«, beteuerte Siglinde.

Emilia sah das genauso wie Siglinde, weil ihr Mann sie gleich zwei Mal verlassen hatte. Erst die eigene Frau gegen eine Jüngere eintauschen, dann zu Kreuze kriechen, weil das Flittchen ihn in den Wind schießt. Kurz danach auch noch den Löffel abgeben und Emilia mit dem ganzen Versicherungskram alleinlassen. Nee! Ernst konnte ruhig weiterhin allein die Radieschen von unten zählen.

»Mensch. Uns geht’s doch gut. Wir sind frei … haben uns … und …« Brigitte musste gar nicht mehr weitersprechen. Es genügte, bedeutungsschwanger auf Emilias Torte zu blicken. Was für ein schönes Kompliment.

»Nächste Woche bin ich dran. Aprikosentorte, aber natürlich wieder etwas ganz Neues«, kündigte Friederike geheimnisvoll lächelnd an.

»Da kann ich nicht«, erklärte Emilia kleinlaut. Von ihren Reiseplänen hatte sie noch nichts verlauten lassen.

»Fährst du weg? Aber du hast doch Geburtstag? Sag bloß, den feierst du ohne uns«, entrüstete sich Brigitte.

»Julia hat mich eingeladen.« Emilia saß nicht vor ihrem Laptop und wiederholte auch keine Vokabeln. Belogen hatte sie ihre Freundinnen trotzdem, um einen gedachten grünen Haken zu erhaschen. Emilia war sich nämlich sicher, dass Julia sie lediglich zu ihrem Geburtstag anrufen würde. Sie konnte ja nicht erwarten, dass ihre Tochter nur deswegen anreiste und somit ihr Studium gleich für mehrere Tage sausen ließ. Dennoch tat der Gedanke daran weh. Emilia hatte daher beschlossen, Julia einen Spontanbesuch abzustatten.

»Das ist doch toll«, kommentierte Siglinde, nachdem sie sich von der Überraschung erholt hatte. Sie wusste ja genau wie die anderen, dass Julia sich nur selten bei Emilia meldete. Oft genug darüber geklagt hatte sie ja.

»In Italien den Sechzigsten feiern. Dafür würde ich sogar die beste Sacher stehen lassen«, schwelgte Brigitte.

Friederike sah immer noch etwas betreten drein. Anscheinend hatte sie fest mit einer gemeinsamen Feier gerechnet.

»Du hast ja noch Enkelkinder. Ich hock hier die ganze Zeit allein rum«, jammerte sie, rang sich dann aber doch ein aufmunterndes Lächeln ab.

»Wird bestimmt schön. Wann fliegste?«, wollte Siglinde wissen.

»Morgen. Direkt von Karlsruhe. Billigflug«, erklärte Emilia.

»Hat dich das Finanzamt so gerupft?«, hakte Siglinde nach.

»Der Kundenstamm war um die hunderttausend wert … So viel bleibt da nach der Steuer nicht mehr. Wird ja bei meiner Rente und den Provisionen draufgerechnet«, erklärte Emilia. Die vielen Jahre, in denen sie sich den Kundenstamm mühsam aufgebaut hatte, rauschten daraufhin wie ein Film im Zeitraffer an ihrem geistigen Auge vorbei.

»War hart, alles aufzugeben, oder?«, fragte Brigitte vorsichtig nach. Sicher war ihr nicht entgangen, dass Emilia bereits mit glasigem Blick auf die Torte starrte.

»Lief doch eh nicht mehr. Heut geht alles nur noch online, und ’ne Lebensversicherung, vergiss es. Da hat man früher gut dran verdient. Die will doch keiner mehr haben. Da schufteste dein ganzes Leben, und dann auf einmal …«, sagte Emilia.

»Oh, oh. Bald sechzig und Lebenskrise«, merkte Brigitte süffisant an.

Emilia zuckte ratlos mit den Schultern, obwohl sie wusste, dass Brigitte da bestimmt nicht so ganz unrecht hatte. Was außer ihrem Tortenkreis war ihr denn noch geblieben? Gelegentlicher Small Talk beim Metzger oder Bäcker war nicht lebensfüllend. Das merkte man leider erst, wenn man die Routinen des Arbeitsalltags abgestreift hatte oder man ihrer beraubt worden war.

»Jetzt feierste erst mal schön mit Julia und genießt Dolce Vita. Und vom Aprikosenkuchen heben wir dir einfach ein Stück auf«, versuchte Friederike, sie aufzuheitern.

Die Runde nickte einhellig, doch komischerweise baute Emilia das im Moment weniger auf als sonst.

Wenn die Sonne am Horizont sich bereits den Baumkronen der Olivenplantage näherte, saß Julia normalerweise mit Francesco auf der Sternjasmin-umrankten Terrasse des uralten Steinhauses seines Großvaters, um bei einem Glas Wein nach dem Abendessen den Tag in romantischer Stimmung ausklingen zu lassen. Die Sonne färbte wie fast jeden Abend die Kronen der Olivenbäume golden und den Himmel darüber in einen pastellfarbenen Apricot-Ton, der auch die schroffen Felsen des Hinterlands in warmes Licht tauchte. Die letzten langen Schatten der Olivenbäume fielen auf ihren Anbau, umgebaute Scheunen, aus denen in den letzten Wochen zwei Lofts mit viel Platz für ihre Gäste entstanden waren.

Das Glas Wein mit Francesco in trauter Zweisamkeit zu genießen, konnte Julia heute allerdings vergessen. Während sie die Bettwäsche für ihre ersten Gäste von der quer über den Hof gespannten Leine nahm, mühten sich Alberto und Giuseppe mit dem Verlegen von Kabeln ab. Die beiden Handwerker versuchten seit Stunden, das Bad in einem der beiden »Lofts« funktionsfähig zu machen. Das Schwierige daran war, dass die Kanalisation zu weit entfernt lag und sie ohne Häcksler das Abwasser nicht über normale Wasserleitungen abtransportieren konnten. Der brauch­te wiederum Strom, und das Kabel dafür musste auf dem Weg zum Haupthaus verbuddelt werden, damit niemand darüber stolperte.

Alberto und Giuseppe kamen ihr bei dieser Tätigkeit vor wie zwei Totengräber. Hoffentlich schaufelten sie nicht Francescos Grab, denn er beschäftigte sie schwarz. Nach einer Genehmigung für die Umbauarbeiten hatte er sich erst gar nicht erkundigt. Angeblich war das kein Problem, denn sein Vater war schließlich der Bürgermeister des Dorfs. Nerven hatte ihr Liebster ja, und Mut zum Improvisieren. Eine saubere Lösung, also komplett neue Abflussrohre zu verlegen, war für Francesco nicht infrage gekommen, weil sie dafür gleich vier Olivenbäume hätten fällen müssen. Ein klares »no«, denn Opa hatte die Bäume in seiner Jugend eigenhändig gepflanzt. Von den Kosten für einen Bagger ganz zu schweigen. Das Geld für diesen Monat hatte gerade noch gereicht, um das Nötigste für ihre ersten Gäste zu besorgen. Julia hoffte, dass die beiden noch vor Einbruch der Dunkelheit fertig wurden und die wetterfeste Außensteckdose, die Alberto gleich als Erstes montiert hatte, auch Strom abgab. Francesco befestigte das Kabel bereits mit Klemmen an einem Stromstecker. Bald würde wenigstens einer der beiden Häcksler funktionieren. Der andere hatte sich als defekt erwiesen. Billigware aus China, die sie im Internet erworben hatten.

»Wir haben’s gleich«, rief er ihr zu.

Julia überlegte, ob sie die Tagliatelle nun auf den Herd stellen sollte. »Gleich« war bei Francesco eher relativ – italienische Zeitrechnung. Es sah diesmal jedoch tatsächlich nach »gleich« aus, denn das Kabel war endlich eingebuddelt. Alberto glaubte wohl auch fest daran, weil er bereits nach drinnen ging, vermutlich, um den Häcksler nun zu testen. Giuseppe verteilte mit der Schaufel noch etwas Erde an der Stelle und stampfte sie fest. So auf den ersten Blick sah das Ganze nun wieder aus wie auf der Webpage, die Julia für ihr Agriturismo-Paradies entworfen hatte. Mr Photoshop hatte allerdings ein bisschen nachgeholfen, um den einen oder anderen Riss im Mauerwerk des Hauptgebäudes und an der Terrasse zu vertuschen. Na und? Welches Hotel sah schon in Wirklichkeit so aus wie im Katalog? Hauptsache, das Ambiente stimmte. Vor ihrem geistigen Auge sah Julia bereits glückliche und entspannte Gesichter auf der Terrasse ihres angepriesenen romantischen Restaurants mit ausschließlich Bio-Küche sitzen. Ein blubbernd-saugendes Geräusch, das aus dem Loft kam, riss Julia abrupt aus ihren Gedanken. Dann drang Albertos Freudenschrei nach draußen. Das Klo. Es ging. Halleluja! Also alles paletti. Julia blickte dennoch etwas betreten drein, denn so richtig schalldicht waren die neu errichteten Wände des »Lofts« nicht gerade. Holzwände eben. Vielleicht hätte sie auf ihrer Internetseite doch besser von einer umgebauten Scheune sprechen sollen.

»Unsere ersten Gäste. Schon morgen. Ich kann es noch gar nicht glauben«, freute sich Francesco, der sich zu ihr gesellt hatte und sie in den Arm nahm. In einer Mischung aus Stolz und Erleichterung betrachtete sie die Früchte ihrer Arbeit. Giuseppes Versuche, mit seinem festen Schuhwerk die letzten Erdklumpen auf dem Boden zu verteilen, wirkten wie ein Freudentanz.

Julia ging es wie Francesco, denn so recht glauben konnte sie es auch noch nicht, dass von nun an ein gänzlich anderes Leben auf sie warten würde und sie sich von ihrem ursprünglichen Berufswunsch »Lehramt« definitiv verabschieden durfte. Für einen Moment kamen ihr erneut Zweifel, ob ihre Entscheidung, zusammen mit Francesco einen Agriturismo-Betrieb hochzuziehen, richtig gewesen war. Ja, schoss es ihr spontan durch den Kopf. Kontakte mit Gästen aus aller Welt zu haben, war wunderbar. Unabhängig sein. Das Leben selbst in die Hand nehmen zu können, und all dies an der Seite eines Mannes, den sie liebte, noch dazu in einem der schönsten Landstriche Italiens. Das hieß ab jetzt aber noch mehr Arbeit und keine Zeit mehr für die Uni. Nur noch zweimal pro Woche hatte sie sich in den letzten beiden Monaten dort blicken lassen, eigentlich nur, um sich eine Tür offen zu halten, falls sich Francescos Pläne als undurchführbar erwiesen hätten, und natürlich, um Mama nicht verrückt zu machen, bevor nicht zu einhundert Prozent sicher war, dass sie diesen radikalen Schritt in ihrem Leben tatsächlich gehen wollte. Andererseits: Was gab es da noch großartig zu überlegen? Lehramt in Deutschland? Sich von Schülern fertigmachen lassen wie bereits beim Probeunterricht erlebt? Nee! Und was, wenn ihr Vorhaben doch scheiterte? Von Luft und Liebe allein beziehungsweise den monatlichen Zuwendungen ihrer Mutter fürs Studium ließ sich nicht leben. Das angesparte Geld für ihre Ausbildung steckte ja bereits in den Gebäuden vor ihr. War das nicht alles etwas zu schnell gegangen? Francesco kannte sie schließlich erst seit der Weihnachtsfeier an der Uni, also gerade mal fünf Monate.

»Was hast du, Bella?«, fragte Francesco feinfühlig. Diesmal sorgten weder seine Nähe noch seine Streicheleinheiten dafür, dass sich alle Sorgen im Nu in Luft auflösten.

»Und wenn es nicht läuft?«

»Sieh dich doch um. Es gibt kein schöneres Fleckchen Erde. Die Leute wollen keinen Massentourismus mehr. Sie suchen Ruhe, Besinnlichkeit, spirituelle Klarheit inmitten der Kraft von Mutter Natur«, schwärmte er. War das jetzt das Wort zum Sonntag? Als Priester würde er sich gut machen. Julia lächelte unwillkürlich. Seine Euphorie war immer wieder ansteckend. Hoffentlich übertrug sie sich auch auf die Gäste, die das erste Geld in die leeren Kassen spülen sollten, denn auch Francescos Ersparnisse waren mittlerweile aufgebraucht.

Kapitel 2

Emilia blickte aus dem Fenster der mit Touristen vollgestopften Boeing, die sich unaufhaltsam auf die Startbahn zubewegte. Schon trieb es ihr den ersten Angstschweiß auf die Stirn. Billigflieger! Hoffentlich kam sie heil an. So, wie das jetzt schon in der Kabine rumpelte, keimten Zweifel in ihr auf. Wobei »billig« relativ war. Der Koffer kostete fast genauso viel wie der Flug. Beim Buchen hatte sie leichtsinnigerweise die Handgepäckoption gewählt, nur um dann beim Packen festzustellen, dass man mit den lausigen sechs Kilo nicht sehr weit kam. Dazu kam das Problem mit den Flüssigkeiten, die bestimmte Mengen nicht überschreiten durften. Zu blöd, wenn man sich immer Maxigrößen bei Zahnpasta kaufte. Das Parfüm daheim lassen, weil mehr drin war als hundert Milliliter? Nee! Der Ärger über die Abzocke am Gate übertünchte momentan noch die Flugangst, doch die blühte erneut auf, als der Pilot beschleunigte. Nun wackelten auch noch die Gepäckfächer. Hielten eigentlich die Nähte an den Tragflächen den Fliehkräften stand? Mein Gott! Das sah ja so aus, als wären die nur angenietet. Bleib ruhig, sagte sich Emilia. Du hast Tausende von Lebensversicherungspolicen verkauft, und keine einzige musste ausbezahlt werden, weil eine Maschine vom Himmel gefallen war.

Der Gedanke beruhigte Emilia augenblicklich, doch schon kam der nächste, und der war wenig hilfreich. Früher, als Lebensversicherungen noch wie geschnitten Brot liefen, hatte es nämlich noch keine Billigflieger gegeben. Für neunundvierzig Euro nach Italien? Das Ding konnte zu dem Preis doch gar nicht fliegen. Emilias Knöchel wurden weiß, so sehr krallte sie sich mittlerweile am Metallende der Armlehne fest.

»Keine Sorge. Wir sitzen schließlich nicht in einer Maschine der Regierung oder der Bundeswehr«, witzelte der sympathische ältere Herr neben ihr. So verkrampft, wie sie mittlerweile dasaß, war ihm ihre Flugangst sicher nicht entgangen. Die Frau neben ihm, offenbar seine Gattin, hatte die Augen auch schon zu und bemühte sich um ruhige, gleichmäßige Atmung.

Emilia rang sich ein zaghaftes Lächeln ab. So richtig beruhigend war das nämlich nicht. Sich anderen auszuliefern war ihr generell unangenehm, ob beim Arzt oder in so einem Blechvogel. Was man nicht selbst machte, hatte man nicht unter Kontrolle, und wenn andere etwas machten, dann ging es meist schief. Das sagte ihr die bisherige Lebenserfahrung.

»Wenn Ihre Zeit rum ist, dann ist sie halt rum«, fuhr ihr Sitznachbar aus der Dreierreihe fort, sichtlich darum bemüht, sie aufzumuntern.

»Und was, wenn die Zeit des Piloten um ist?«, gab Emilia noch rechtzeitig zurück, bevor es ihr die Kehle zuschnürte. Das tonnenschwere Teil hob der Schwerkraft trotzend ab, wackelnd, ächzend, aber es flog. Ihr Sitznachbar kriegte sich über ihre Bemerkung gar nicht mehr ein. Warum war der nur so entspannt? Trug er einen Fallschirm unter seinen Klamotten? Seine Frau verharrte immer noch stoisch in meditativer Starre.

Auf einmal brummte es infernal von unten. Als es dann auch noch laut rumste, zuckte Emilia vor Schreck zusammen.

»Ist nur das Fahrwerk. Die klappen die Räder ein, und die Tragflächen werden jetzt verkleinert«, erklärte der ältere Herr.

»Verkleinert? Aber dann hat das Flugzeug doch nicht mehr so viel Halt.« Wie konnte der Pilot dem Vogel nur freiwillig die Flügel stutzen?

»Im Gegenteil. Es fliegt dann schneller und besser«, erwiderte er.

»Das stimmt. Mein Bruder war erst Pilot beim Bund und dann bei der Lufthansa. Ich hab ihn mal genau das Gleiche gefragt«, mischte sich seine Frau nun mit ein. Aber beim Start erst so tun, als ob ihre letzte Stunde geschlagen hätte.

Emilia beruhigte das. Noch viel mehr allerdings, dass das höllische Brummen der Triebwerke merklich nachließ. Ihre bislang vor lauter Aufregung getrübte Wahrnehmung der Kabine, seiner Besatzung und der Mitreisenden klärte sich. Sie nahm die beiden daher genauer in Beschau. Näherte man sich im Alter etwa an? Gut, er war ein Mann und sie eine Frau, doch irgendwie sahen die beiden aus wie aus einem Holz geschnitzt. Gleiche rundliche Gesichtszüge und farblich aufeinander abgestimmte Freizeitklamotten mit hellblauen Oberteilen auf dunkelblauer Hose machten aus ihnen fast schon Zwillinge. Die Einheit wurde in Emilias Augen perfekt, als er nach ihrer Hand griff. Zwei Eheringe funkelten ihr entgegen.

»Norbert und Charlotte«, stellte er sich und seine Frau vor.

»Emilia, angenehm.« Dass sich ihr Puls wieder im grünen Bereich bewegte, schrieb sie auch der herzerwärmenden Ausstrahlung der beiden zu.

»Machen Sie Urlaub in Kalabrien?«, fragte Emilia. Etwas Small Talk konnte sicher nicht schaden, bis die Maschine die Flughöhe erreicht und die Schaukelei beim Pflügen des Wolkenfelds ein Ende hatte.

»Wir sind immer ein paar Wochen da unten. Haben uns vor fünf Jahren eine Wohnung mit Blick aufs Meer gekauft, am Stadtrand von Tropea. Erst meinte mein Mann, dass der Strand viel zu umständlich zu erreichen sei. Tropea liegt ja oben auf riesigen Felsen, aber mit dem Auto ist’s ein Katzensprung, und offen gestanden hält Treppensteigen auch fit, nicht wahr, Norbert?« Sie lächelte verschmitzt, während sie ihm mit einer Hand über seinen Wohlstandsbauch strich. Die beiden waren richtig süß. Manche hatten einfach Glück in der Liebe. Allein diese kleine Geste von eben sprach Bände. Emilia hielt sich in diesem Moment erneut vor Augen, dass sie damals wohl die A-Karte gezogen hatte, genau wie ihre Freundin Sigi. Kaum wurden die Herren fünfzig, glaubten sie, dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können, indem sie sich mit einer Jüngeren vergnügten. Ein gemeinsames Leben wurde mir nichts, dir nichts in die Tonne gehauen – hormongesteuerte Scheißkerle. Man tröstete sich darüber hinweg, weil es ein Klassiker war. Emilia erinnerte sich noch genau daran, wie viele ihrer Kundinnen das Gleiche erlebt hatten. Die Scheidungsquoten waren in den letzten Jahren sowieso dramatisch gestiegen. Da sagte man sich: »Ist doch normal, was regste dich auf.« Dass es auch anders ging und wie schön das sein musste, bewies das Paar neben ihr.

»Möchten Sie einen Schluck Wasser? Wir haben am Gate noch zwei Flaschen gekauft. Der Service dauert ja immer so lange«, fragte Charlotte sie mit besorgtem Blick.

»Danke. Ich hab noch gar keinen Durst.« Emilia versuchte, dabei zu lächeln.

»Und Sie? Das erste Mal? Machen Sie Urlaub?«, fragte der Mann.

»Ich besuche meine Tochter«, erwiderte Emilia knapp. Sie hatte keine Lust, auch noch auszubreiten, dass sie Julia so sehr vermisste und sich einsam fühlte, sah man mal vom wöchentlichen Tortentreff ab. Daher stellte sie ihm gleich eine Gegenfrage.

»Wie sind Sie denn eigentlich darauf gekommen, sich ausgerechnet in Tropea eine Wohnung zu kaufen?« Diese Frage interessierte sie auch im Allgemeinen, denn die meisten ihrer Kunden hatten sich, soweit sie sich erinnern konnte, für den Gardasee entschieden, weil man da relativ schnell auch mit dem Auto hinkam. Einige hatte es immerhin bis an die Adriaküste verschlagen. Die wenigsten machten Urlaub unten am Stiefel. Selbst Julia war eher zufällig aufgrund deutsch-italienischer Studienabkommen an die kalabrische Uni geraten.

»Wir sind im Urlaub hängen geblieben und haben uns sofort in Kalabrien verliebt. Es ist traumhaft. Wissen Sie, wir sind aus Karlsruhe. Die Stadt wird immer voller. Mein Mann und ich haben unser ganzes Leben lang hart gearbeitet. Handwerk hat zwar goldenen Boden, aber es war kein Zuckerlecken, und der Lebensabend in Deutschland … Es ist halt nicht das Gleiche«, erklärte die Frau.

»Was hatten Sie denn für einen Betrieb?«

Ihr Sitznachbar streckte ihr die rechte Hand entgegen. Die Fingerkuppen des Zeige- und Mittelfingers fehlten. Weil er dabei grinste, wagte sie es nachzuhaken.

»Säge? Schreiner?«

Er nickte.

»Und ich saß den ganzen Tag im Büro«, jammerte seine Frau.

»Wir waren ein gutes Team. Hat sich doch gelohnt, oder?«, wandte er ein.

Emilias Lächeln fror prompt ein. Die beiden hatte nicht nur Amors Pfeil erwischt, sondern sie hatten auch noch beruflich Schwein gehabt. Viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben, aber mit umgedrehten Vorzeichen. Emilia hatte nämlich auch den ganzen Tag im Büro gesessen, während er sich ein locker-luftiges Leben gemacht hatte. Dabei hatte doch eigentlich er das Versicherungsbüro seines Vaters übernommen.

»Wir haben uns fürs Alter gut mit einer Lebensversicherung abgesichert und hatten, wie Sie sehen, das Glück, die Rente noch zu erleben«, fuhr die Frau fort. Alles richtig gemacht. Wenigstens legitimierte das ihr jahrelanges Dasein als Versicherungskauffrau. Zu blöd aber auch, dass es keine Lebensversicherungen für Herzen gab. Die hätte Emilia sich auch gerne auszahlen lassen.

Julia kontrollierte mittlerweile bereits zum dritten Mal, ob im Gästeloft wirklich alles in Ordnung war. Seife, Duschgel, frische, strahlend weiße Hand- und Badetücher. Alles da. Der Handtuchstapel könnte es allerdings noch vertragen, ein klein wenig gerade gerückt zu werden. Passt. Julia betätigte sicherheitshalber die Klospülung. Noch nie hatten sie Wasserrauschen und Gluckern einer Toilette so beglückt. Die Unterkunft sah jetzt aus wie auf den Fotos ihrer Webseite: geschmackvoll eingerichtet und einladend. Und die frei stehende Badewanne mit Deko-Füßen auf graubraun melierten Fliesen war ein echter Hingucker. Die zusätzliche begehbare Dusche mit Milchglaswand könnte komfortabler nicht sein. Die Betten waren frisch bezogen. Ein Raumduftfläschchen mit ätherischen Ölen verströmte sanft Limettenduft und erfüllte den Raum mit angenehmer Frische. Ein Wunder, dass Francesco sich zu alldem hatte hinreißen lassen. Außen Öko und Back to Nature, innen Luxus – zumindest im Badezimmer.

Wenn die Gäste doch nur schon da wären! Um elf hätten sie eintreffen sollen. Obwohl alles wirklich perfekt aussah, wurde Julia das Gefühl nicht los, irgendetwas vergessen zu haben. Sie setzte sich auf einen der beiden Korbsessel neben der Anrichte und starrte in den Raum. Als Gast würde ihr ja ein Fernsehgerät fehlen, aber nein, das passte Francescos Ansicht nach nicht zu ihrer Klientel, die die Ruhe suchte, ein Kontrastprogramm zum Alltag. Die Kommode sah nackt aus, weil man es nun mal gewohnt war, dass dort ein Fernseher stand. Dem war aber nicht so, was ihr keine Ruhe ließ. Als die Tür aufging, verfolgte Julia diesen Gedanken nicht mehr weiter. Sie traute ihren Augen nicht. Ihr Müsli-Landei hatte sich doch glatt in Schale geworfen – jedenfalls für seine Verhältnisse. Weißes Hemd über der neuen Jeans, die sie ihm letzte Woche in einem Einkaufszentrum nahegelegt hatte. Zum Anbeißen!

»Bella. Sie müssten jeden Moment hier sein. Haben sich verfahren«, sagte er.

»Milch!«, schoss es aus ihr heraus.

Es wunderte Julia nicht, dass er sie fragend ansah.

»Wir haben vergessen, Kaffeemilch einzukaufen.« Das war es also.

»Dann trinken die Leute halt einen Americano und zur Not … Wir haben doch noch Emma …«

»Ziegenmilch?« Julia konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die den Kaffee in irgendeiner Weise verfeinerte.

»Das merkt doch keiner«, sagte er mit der für ihn typischen unfassbaren Seelenruhe.

Julia kam gar nicht mehr dazu, die Augen zu verdrehen, denn das Geräusch eines sich nähernden Fahrzeugs war nicht zu überhören. Autoreifen knirschten im Kies vor der Scheune. Dass ausgerechnet Francesco nun an seinem Hemdkragen herumzupfte und sich dabei im Spiegel des Kleiderschranks betrachtete, belustigte Julia und nahm ihr augenblicklich einen Teil ihrer Nervosität. Er ging zu ihr und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen.

»Was für ein schöner Moment. Unsere ersten Gäste«, sagte er nahezu entrückt, bevor er sie innig umarmte und küsste.

»Hallo? Niemand da?«, tönte es auch schon vom Hof. Die hatten es aber eilig.

Julia folgte Francesco nach draußen. Die Zielgruppe, also Ruhe suchende Städter, war gerade dabei, aus der Familienkutsche, einem weißen Renault, zu steigen.

Francesco eilte dem Familienoberhaupt, ein Mittdreißiger mit Wohlstandsbäuchlein namens Rudolf Hansen, entgegen. Francescos Buongiorno klang so herzlich, dass es einem warm ums Herz wurde.

»Ich freue mich so sehr. Sie sind unsere ersten Gäste. Herzlich willkommen in der Albergo Oliva. Ich bin Francesco, und das ist Julia«, fuhr er fort und reichte seinem Gegenüber die Hand, die der Familienvater eher gedankenverloren annahm. Sein Blick wanderte nämlich bereits über ihre »Albergo«. Seine etwa gleichaltrige frisch blondierte Frau, die ihrem Outfit und Schmuck nach zu urteilen normalerweise bestimmt in Fünfsterneschuppen abstieg, tat es ihm gleich. Ihre beiden Söhne, die Julia alterstechnisch auf Pubertät und noch nicht lange eingeschult schätzte, standen wie angewurzelt und mit leicht verstörtem Blick da.

»Ja, das ist doch mal was völlig anderes«, sagte der Herr Papa. Meinte er das jetzt abfällig oder positiv? Julia war sich nicht ganz sicher.

Der Blick der Blondine bestätigte Ersteres. Julia spürte Unbehagen in sich aufsteigen. Francescos guter Laune tat dies allerdings keinen Abbruch. Hoffentlich steckte sie auch ihre Gäste an.

»Weg von der Stadt. Die frische Luft und inmitten eines der schönsten Geschenke von Mutter Natur. Die Olivenbäume hat bereits mein Großvater gepflanzt. Und hinter dem Haus sind noch Obstbäume und ein Gemüsegarten. Nehmen Sie sich, was immer Sie möchten. Nichts ist gesünder als ein frisch gepflückter Apfel. An apple a day keeps the doctor away.« Francesco kam Julia mittlerweile so vor wie der abgefahrene junge Inder im Kinostreifen The Best Exotic Marigold Hotel, und ihre Gäste sahen mindestens so skeptisch drein wie die Gruppe alter Menschen, die sich in diesem indischen Hotel für den Ruhestand hatten einquartieren wollen.

»Was sagt der Mann, Mama? Apple heißt doch Apfel?«, wollte der anscheinend wissbegierige Pubertierende wissen.

Francesco nahm der Mutter die Arbeit ab. »Wenn man jeden Tag einen Apfel ist, dann muss man nie zum Onkel Doktor gehen«, erklärte er, nachdem er die beiden Jungs mit einem breiten Lächeln bedacht hatte.

»Ich mag keine Äpfel«, wandte der Kleinere ein.

»Gibt’s hier einen Spielplatz?«, wollte Herr Hansen wissen.

»Hinter dem Haus ist eine Schaukel«, erklärte Francesco.

»Sonst nix?«, fragte der ältere der beiden Brüder. Allerdings richteten sich nun auch die fragenden Augenpaare der Eltern auf Francesco.

»Das alles hier ist euer Spielplatz. Hier könnt ihr euch so richtig austoben«, schritt Julia ein.

»Auch auf die Bäume klettern?«, fragte der Kleine.

»Kommt nicht infrage«, grätschte seine Mutter dazwischen.

»Gibt’s hier einen Pool?«, fragte der Größere.

Julia und Francesco tauschten Blicke. Einen Pool wollte er nicht, weil der zu teuer war. Außerdem würde so ein Teil den Olivenhain zerstören und die Welt in ein ökologisches Desaster führen, weil dazu einige Bäume gefällt werden mussten.

»Leider nein«, sagte Julia.

»Braucht ihr auch nicht. Einfach mal entspannen. Lesen. Oder Mama liest euch Geschichten vor«, sagte der Vater der beiden zu Julias Erleichterung.

Und wie begeistert die Mama da dreinsah.

»Tja, dann laden wir mal die Koffer aus«, fuhr er fort. Francesco ging ihm dabei zur Hand.

Was wollte der größere Junge mit seinem Handy in der Hand?

»Mama. Hier ist kein Empfang«, nölte er.

»Das weiß ich. Deshalb sind wir auch hier«, sagte seine Mutter resolut und fast ein wenig sadistisch grinsend. Aha, der Urlaub hier war anscheinend eine Art Therapieaufenthalt. Bootcamp für die Jungs, um sie von der Handysucht zu befreien. Auch der kleine Bruder starrte nämlich schon enttäuscht auf sein Smartphone.

»So ein Scheiß, ey«, kommentierte der prompt.

»Eine Ziege. Mama, die haben eine Ziege«, sagte der kleinere der beiden Brüder mit wachsender Begeisterung. Emma war wohl auch neugierig auf die Gäste geworden und lugte aus dem Stall. Tiere eigneten sich hervorragend für therapeutische Zwecke. Emmas Fell statt das Display seines Handys zu streicheln, würde dem Jungen sicher guttun.

»Tja, dann zeige ich Ihnen mal Ihr Zimmer. Und wenn Sie irgendetwas brauchen. Wir sind rund um die Uhr für Sie da«, versicherte Julia Frau Hansen.

Francesco schnappte sich zwei große Koffer und ging schon einmal vor.

»Na ja. Schauen wir mal …«, sagte sie wenig begeistert und folgte Julia dann die wenigen Schritte zu ihrer Unterkunft. Julias Nackenhaare stellten sich auf, als alle vier hinter ihr herliefen. Hoffentlich gefiel es dieser Familie hier. Eine miese Bewertung bei Tripadvisor, und sie konnten die zwei Lofts gleich wieder zu einer Scheune machen.

Heil angekommen! Emilia bezog das nicht nur auf den Flug, der angesichts ihrer netten Sitznachbarn und deren praktischer Tipps für Kalabrien gefühlt nur die Hälfte der Reisezeit gedauert hatte. Das galt auch für die gut zweistündige Busfahrt von Lamezia Terme nach Cosenza. Die Klimaanlage des rappelvollen Busses war nämlich ausgefallen. Da half es auch nichts, wenn malerische Küstenabschnitte und blühende Bergwelten an einem vorbeizogen. Man konnte sie im Inneren eines Backofens auf Rädern nicht genießen. Dass die Klimaanlage kurz vor Cosenza wieder angesprungen war, grenzte an ein Wunder, könnte aber auch daran gelegen haben, dass die Busgesellschaft schlicht und ergreifend Treibstoff sparen wollte – so lautete zumindest die Theorie ihres englischsprachigen jungen Sitznachbarn im Bus, der ebenfalls an der Uni ihrer Tochter studierte und für ein paar Tage seine Eltern in Neapel besucht hatte. Er könnte recht haben, denn Emilia wusste, wie viel ihr Wagen schluckte, wenn sie im Sommer die Hitze mit Gewalt aus dem Auto vertrieb. Wenigstens war es ihr nun vergönnt, das weitläufige Tal zwischen Hügel- und Bergketten, in das Cosenza eingebettet war, zu genießen. Ein Fluss mit saftig grünen Ufern und Spazierwegen, über den sich mehrere Brücken spannten, teilte die Stadt. Sie verliehen Cosenza den Charme von Florenz, auch wenn es hier weit weniger Prachtbauten gab und letztlich nur eine Brücke aus altem Gestein, die zur malerischen Altstadt passte.

Die Busstation lag mitten in einem Neubauviertel. Emilia gönnte sich in einem Café nahe dem Busbahnhof erst einmal einen Espresso. Ein leckeres Tortenstück wäre jetzt gerade recht, um sich zu stärken, doch in der gläsernen Vitrine neben der Theke lag nichts Ansprechendes herum, nur Muffins und ein wenig appetitanregender Sandkuchen, angeblich mit Limone. Fliegen tanzten darauf herum. Dann lieber gleich ganz darauf verzichten. Das nette Paar im Flugzeug hatte sie darüber aufgeklärt, dass es in Italien eine völlig andere Café-Kultur gab als in der Heimat. Bei Kaffee und Kuchen gemütlich am Nachmittag zusammensitzen? Gab’s nicht. Jedenfalls so gut wie nie und im Süden Italiens erst recht nicht. Üblicherweise nahmen die Einheimischen frühmorgens einen Espresso zu sich und später am Vormittag einen Cappuccino mit irgendeinem Kleingebäck. Das war’s. Cappuccino deshalb, weil die Milch darin satt machte. Nachmittags gab es dann als Muntermacher einen Espresso – wieder ohne Kuchen und am besten noch im Stehen, ruckzuck. Torten aß man nach dem Abendessen zum Nachtisch. Dabei gab es doch nichts Schöneres als ein Kaffeekränzchen am Nachmittag in einem wunderschönen Café. Also in dieser Hinsicht konnte man wahrlich nicht von Dolce Vita sprechen. Das magere Angebot in diesem Straßencafé war der Beweis dafür. Angeblich würde man hierzulande auch vergeblich nach Tortenspezialitäten suchen. »Alles irgendwie gleich, nur mit verschiedenem süßen Pappzeugs drin oder drauf.« Emilia hatte die Worte des Schreinermeisters noch im Ohr. Wie konnte man nur in so einem Land leben, in dem sich die Leute nicht einmal Zeit für ein Stück Torte nahmen? Kein Wunder, dass alle so gehetzt herumliefen.

Das galt im Übrigen auch für das riesige Unigelände in Renda, wie sich nach kurzer Taxifahrt durch die Randbezirke der Stadt herausgestellt hatte. Weitläufige moderne Gebäude mit Flachdach erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Und dazwischen lag jede Menge Grün. Genauso hatte Julia ihr den Campus beschrieben. Angeblich war die hiesige Uni ja eine der modernsten und größten Universitäten Italiens mit unzähligen Fakultäten. Konzertsaal, Kino, Theater, Fitnessstudio, mehrere Mensen und Grünflächen zum Relaxen in den Pausen – alles vorhanden. Sogar solarbetrieben. Es war ein Privileg, hier studieren zu dürfen. Julia konnte von Glück sagen, dass ihr das sogenannte »Centro Residenziale« eine Bleibe ganz in der Nähe besorgt hatte. Ein Zimmer auf dem Campus war naturgemäß günstiger als eines in der Stadt. Emilia kannte die Adresse. Nun war es an der Zeit, ihre in den letzten Tagen frisch hineingeprügelten Italienischkenntnisse auszupacken. »Scusi. Dov’è la casa per gli studenti?« Emilia achtete diesmal darauf, das »g« von »gli« wegzunuscheln, als sie die nächstbeste Passantin, eine junge Schönheit etwa im Alter ihrer Tochter, nach dem Weg fragte.

»Quale« war das Einzige, was Emilia verstand. Die junge Frau wusste also nicht »welches Haus für Studenten« Emilia meinte. »Aspetta …« Emilia gab ihr zu verstehen, sich einen Moment zu gedulden. Julia hatte ihr doch ein Foto des Gebäudes geschickt. Flink scrollte sie durch ihren Fotobestand des Messengers. Da war es. Ein weißer Bau. Die Studentin erkannte ihn offenbar sofort. Weil Emilia nur die Hälfte von dem verstand, was sie sagte, fasste sie die ellenlange Wegbeschreibung, die wie eine Maschinengewehrsalve auf sie hereingeprasselt war, sicherheitshalber zusammen: erst »destra«, also rechts, dann »dritto«, ein gutes Stück geradeaus, und dann »sinistra«, also links. Das mit dem »guten Stück« hatte sich Emilia zurechtgelegt, weil die junge Frau nach der ersten Anweisung, rechts abzubiegen, unentwegt in nur eine Richtung gewinkt hatte.

»Mille grazie.« Die Studentin schenkte ihr daraufhin ein Lächeln und eilte hinüber zu den Treppen eines der modernen Gebäude.

Nett waren sie ja hier und äußerst hilfsbereit, aber auch ziemlich neugierig. Anscheinend verirrte sich hier nicht so oft eine ältere Touristin mit Koffer im Schlepptau. Emilia gab es auf, die unzähligen Augenpaare zu zählen, die sie auf ihrem Weg durch das Unigelände musterten. Das waren hier ja regelrechte Völkerwanderungen. Emilia fiel auch auf, dass auf diesem Campus ordentlich geflirtet wurde. Kein Wunder, sie war schließlich in Italien. Händchenhalten hier, ein frecher Kniff in den Po da, und es wurde geknutscht, was das Zeug hielt, vor allem während der Darbietung eines jungen Kerls mit Gitarre, der sich im Schatten eines Baums niedergelassen hatte, um das Publikum mit seinem Gesang zu erfreuen. Gab es in der Menschenmenge überhaupt ein einziges Paar, das nicht knutschte oder knuddelte? Was taten sie denen denn ins Essen? Emilia schob es dann doch auf diese wunderschöne Ballade, von der sie zwar kein Wort verstand, die aber doch irgendwie ans Herz ging. Sie musste sich förmlich losreißen, denn die »Dritto-Dritto-Phase« war länger als gedacht. Gute fünfzig Meter lagen noch vor ihr. Dann nach links, hatte es geheißen. Emilia zwängte sich durch die Menge und ging den Rest des Wegs mit diesem wunderschönen Lied im Ohr. Und da war es auch schon, das weiße, auf den ersten Blick sehr gepflegte Haus, in dem ihre Tochter residierte. Vierter Stock, Zimmer 403. Emilia machte sich keine großen Hoffnungen, Julia anzutreffen. Wahrscheinlich steckte sie gerade in einer Vorlesung oder machte sonst was. Hauptsache, sie konnte ihr eine Nachricht hinterlassen, sei es im Briefkasten oder indem sie einen Zettel unter der Tür durchschob. Das war sicherer, als nur eine Nachricht per Messenger zu versenden, denn Emilia erinnerte sich daran, wie lang es oft dauerte, bis aus den grauen doppelten Haken für »zugestellt« endlich zwei blaue für »gelesen« wurden. Vielleicht war sie ja doch auf ihrem Zimmer. Es wäre so schön zu sehen, wie sie sich freute, dass die Mama plötzlich vor der Tür stand, um abends mit ihr groß auszugehen. Daraus schien nichts zu werden, denn nach mehrmaligem Klingeln blieb das Summen am Türschloss aus. Stattdessen kamen drei junge Kerle heraus. Mit dem Koffer in der Hand sah sie wohl aus wie jemand, der hier einziehen wollte. Dementsprechend irritiert waren ihre Blicke. Sie hielten ihr trotzdem die Tür auf und stellten keine weiteren Fragen, nachdem sie »visitare figlia« von sich gegeben hatte. Sie wussten ja nun, dass sie ihre Tochter besuchen wollte. Die WhatsApp-Nachricht an Julia schrieb Emilia, während sie im Aufzug war, und beendete sie im Gang des vierten Stockwerks. »Lass uns groß ausgehen. Geburtstag feiern. Ja, deine Mama ist da! Überraschung!« Das Gleiche schrieb sie auf einen Zettel, allerdings ohne Emoji wie Herzchen- und Küsschen-Smiley. So gesehen war der Messenger praktischer. Emilia riss den Zettel von ihrem Notizblock mit dem süßen Tortenmotiv, den Julia ihr geschenkt hatte, und faltete ihn zusammen. Unten durchschieben ging nicht, da die Tür fugengenau mit dem Türrahmen abschloss. Ob der Zettel wohl zwischen Tür und Rahmen passte? Fehlanzeige. Mit bloßen Händen nicht machbar, aber mit der kleinen Nagelfeile, die sie immer dabeihatte, könnte es klappen. Emilia musste nicht lange danach kramen. Aber vorsichtig reinschieben, nicht, dass noch die Tür verkratzte. So ein Schaden ließe sich ihrer Haftpflichtversicherung nicht ohne Vorsatzvermutung erklären. Auf Höhe des Schlosses schien der Spalt etwas größer zu sein. Also gleich noch einmal probieren.

»Cosa stai facendo?« Die weibliche Stimme aus Richtung des Aufzugs war so laut und schneidend, dass Emilia zusammenzuckte und vor Schreck die Nagelfeile fallen ließ. Zwei junge Dinger im Alter ihrer Tochter, die von ihr wissen wollten, was sie da gerade machte, eilten im Stechschritt auf sie zu. Die mussten denken, dass sie versuchte einzubrechen.

»Figlia … Sono Mama di Julia«, erklärte sie und war dabei so aufgeregt, dass sie diesmal glatt vergaß, das »g« zu verschlucken. Wenigstens hielt man sie dann sicher für eine Deutsche, was ihre Aussage glaubhaft machte.

»Julia ist nicht hier«, sagte eine der beiden jungen Frauen auf Englisch. Eine italienische Schönheit mit makelloser gebräunter Haut, langem mittelblond gesträhntem Haar und einer Traumfigur. Bei Letzterem machte ihre Begleiterin ihr aber Konkurrenz. Die hatte vielleicht Kurven.

»Ich wollte sie überraschen und eine Nachricht hinterlassen.« Emilia deutete dabei auf den Zettel, der mittlerweile in der Tür steckte, und hob ihre zu Boden gegangene Nagelfeile auf.

»Können Sie sich sparen. Sie ist nur noch selten hier, und wenn, dann nur donnerstags oder freitags.«

»Hat man hier so wenig Unterricht?«, fragte Emilia verdattert nach.

Die beiden tauschten Blicke.

»Ist alles in Ordnung mit Julia?«

Nun gab die Prallbusige einen bemerkenswert verächtlichen Laut von sich.

Das verwirrte Emilia nur noch mehr. »Wo ist sie denn?«, wollte sie wissen.

»Dille!«, sagte die Frau, die wohl kein Mann von der Bettkante stoßen würde. »Dille«? War das nicht der Imperativ von »sagen«?

»Sagen Sie es mir«, verlangte Emilia nun.

Die Englischsprechende schien für einen Moment zu überlegen.

»Sie wohnt in der Nähe von Pizzo. Aber das wissen Sie nicht von mir.«

»Pizzo? Wo ist Pizzo?« Emilia kannte nur Pizza und hatte noch nie etwas von diesem Ort gehört.

»Auf dem Weg nach Tropea.«

»Was macht sie denn in Pizzo?«

Die eine schwieg, die andere stieß erneut einen abfälligen Laut aus.

»Amore, tutto il giorno.« Weil sie mit dem Zeigefinger und dem Daumen einen Kreis bildete und den Mittelfinger der anderen Hand darin in schnellen Bewegungen rein und raus schob, sich dabei lasziv mit der Zunge über ihre Oberlippe fuhr, wurde Emilia augenblicklich schlecht. Ging ihre Tochter etwa in diesem Pizzo auf den Strich?

Das Busenwunder handelte sich daraufhin von ihrer Begleiterin einen ordentlichen Rüffel ein – eine maschinengewehrähnliche Verbalsalve. Um die zu verstehen, reichte vermutlich nicht einmal ein Magister in Italienisch. Dann stritten die beiden auch noch miteinander.

»Sie sind wirklich Ihre Mama?«, wollte die mit den Englischkenntnissen wissen.

»Ich hab meinen Ausweis dabei«, sagte Emilia, immer noch völlig von der Rolle, und begann schon, in ihrer Handtasche danach zu kramen.

»Sie hat sich verliebt. In Francesco. Hat hier studiert, und jetzt leben sie zusammen. In der Nähe von Pizzo.«

»Putta!« Warf die andere verächtlich ein. Was das hieß, wusste Emilia. Dass Julia sich in einen Italiener verliebt hatte, schien ja angesichts des Dauerknutschens hier auf dem Campus eher normal zu sein. Der Gedanke beruhigte sie aber nicht wirklich.

»Perché putta?«, wandte sie sich an die sprechende XXL-Oberweite.

»Ich habe ihn geliebt, Francesco, aber Ihre Tochter …«

Oh, die sprach ja doch Englisch. Und nun kämpfte sie auch noch tapfer mit ihren Tränendrüsen.

»Julia?« Emilia suchte nun Halt an der Wand. Kein Wort davon per WhatsApp. Kein Sterbenswort.

»Ich bin Cecilia, ihre Nachbarin. Sie schuldet mir noch fünfzig Euro. Hat sie sich geliehen, doch sie ist seit zwei Wochen nicht mehr aufgetaucht«, erklärte die Gesträhnte. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie so redselig gewesen war. Aber wieso musste Julia sich Geld leihen? Sie schickte ihrer Tochter doch jeden Monat per Dauerauftrag Geld, zusätzlich zur Kohle aus dem Ausbildungssparvertrag, der als Reserve gedacht war.

»Wissen Sie, wo genau sie steckt?«

Nun nickten beide.

»Sie haben doch einen Stift …«, begann Cecilia.

Emilia zog ihren Tortenblock erneut aus der Tasche, riss einen Zettel ab und reichte ihn ihr zusammen mit ihrem Kugelschreiber. Cecilia kritzelte eine Adresse darauf.

»Ich weiß nicht, wie man in dieses Kaff kommt. Sie müssen sich durchfragen«, sagte Cecilia und reichte ihr den Zettel.

»Und grüßen Sie mir Francesco, von Alexandra«, sagte Francescos offenkundig Verflossene. Es klang eher wie »Verpassen Sie ihm eine Tracht Prügel!«. Julia hatte sicher auch eine Abreibung verdient.

Kapitel 3

Julia saß vor ihrem Laptop im kleinen Büro neben der Küche des Haupthauses und freute sich über ihre zweite Buchung. Diesmal ein kinderloses Ehepaar Mitte dreißig. Halleluja, denn, wie sie nun wusste, nicht alle Kinder standen so sehr auf Agriturismo. Vielleicht hätte Francesco besser einen Streichelzoo anlegen sollen. Emma, die Ziege, war nämlich das Einzige gewesen, was die Jungs für kurze Zeit hatte ruhigstellen können. Vor allem der Kleinere von beiden konnte sich für ihre Emma begeistern.

»Darf ich die mal streicheln?« Julia hatte ihn dazu ermutigt.

»Beißt die auch nicht?« Die Frage der Mutter amüsierte Julia noch immer. Ihre nächsten Gäste schienen auf den ersten Blick kompatibler zu Francescos Vorstellungen von Alternativurlaub zu sein. Der Link in der Signatur ihrer Buchung per E-Mail verwies auf einen Landgasthof inmitten unzähliger Obstbäume. Das war ja schon fast das Gleiche. Die fühlen sich hier bestimmt wie zu Hause, sagte sie sich und klickte zufrieden lächelnd und voller Zuversicht auf den »Send«-Button, um die Anfrage zu bestätigen. Schnell war die Buchung für immerhin drei Tage im Kalender eingetragen. Dort leuchtete nun ein einziges, rosa markiertes Feld einsam vor sich hin, neben dem in Grün, die Farbe für bereits angereiste Gäste. Vielleicht kamen ja auch mal Zeiten, in denen die ganze Woche grün markiert war. Wer erst seit zwei Wochen online, also überhaupt erst sichtbar war, sollte mit zwei Buchungen sowieso mehr als zufrieden sein, sagte sie sich. Angeblich ging in diesem Business ohnehin viel über Mundpropaganda. Fraglich war allerdings, ob ihnen die ersten Gäste eine positive Bewertung hinterließen.

Bing! Julias Kalenderprogramm erinnerte sie mit einem Signalton an den Geburtstag ihrer Mutter, aber dieses To-do war ja bereits erledigt. Julia hatte ihr sicherheitshalber vor drei Tagen eine total süße Geburtstagskarte geschickt. Aber was, wenn sie nicht rechtzeitig ankam? Doch noch einmal nach Pizzo fahren, um sie anzurufen oder zumindest einen Geburtstagsgruß per Messenger schicken zu können? Heute Morgen hatte sie einfach keine Zeit gehabt, mit der Ape in eine Gegend zu tuckern, in der ihr Handy mit dem Billiganbieter Empfang hatte. Man konnte hier schon froh sein, einen Internetanschluss zu bekommen. Ach, warum sich Sorgen machen? Die Post war ja bisher immer bei Mama angekommen.