Alles fing so harmlos an - Patricia Vandenberg - E-Book

Alles fing so harmlos an E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Dr. Norden wollte gerade seine Praxis verlassen, da stand eine aparte junge Frau vor ihm. »Ein paar Minuten zu spät«, sagte sie mit einem Anflug von Enttäuschung. »Ist es dringend?«, fragte Dr. Norden. »Sie erkennen mich nicht«, sagte die Fremde leise. »Sie haben sich nicht verändert. Sagt Ihnen wenigstens der Name Clarissa Gollin noch etwas?« Er sah sie an und schlug sich an die Stirn. »Guter Gott, Sie waren doch ein kleines Mädchen. Vor wie viel Jahren?« »Etwas mehr als zehn«, erwiderte sie, aber ein freudiger Schein erhellte ihr schmales Gesicht. »Sie sind wieder im Land«, sagte Dr. Norden. »Ich allein. Wann haben Sie mal Zeit für mich?« »Wenn es nicht allzu dringend ist, nachmittags gegen fünf Uhr, oder morgen halb drei?« »Dann morgen halb drei. Wenn ich Sie erinnern darf, vor zehn Jahren war ich sechzehn und ein später Fall von Röteln. War ich wirklich ein kleines Mädchen?« Ein mageres, trauriges kleines Mädchen war sie gewesen, besonders traurig, weil sie nach den überstandenen Röteln mit ihren Eltern weggehen musste von hier. Daran erinnerte sich Dr. Norden, weil er in der Gegend einen Hausbesuch machen musste, in dem Clarissas Elternhaus stand. Und es stand noch immer da, eine alte Villa mit Erkern und Türmchen. Ein Überbleibsel aus vergangener Zeit, da drumherum moderne Häuser gebaut worden waren. »Erinnerst du dich noch an die Gollins, Fee?«, fragte er seine Frau, als sie nach dem Abendessen beisammensaßen. Die Kinder schliefen schon. »Die Collins? Wie kommst du denn nur darauf, Daniel?«, fragte Fee Norden. »Weil Clarissa Gollin mittags vor meiner Tür stand, erwachsen und sehr attraktiv.« »Warst du

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Dr. Norden Bestseller –223–

Alles fing so harmlos an

Patricia Vandenberg

Dr. Norden wollte gerade seine Praxis verlassen, da stand eine aparte junge Frau vor ihm.

»Ein paar Minuten zu spät«, sagte sie mit einem Anflug von Enttäuschung.

»Ist es dringend?«, fragte Dr. Norden.

»Sie erkennen mich nicht«, sagte die Fremde leise. »Sie haben sich nicht verändert. Sagt Ihnen wenigstens der Name Clarissa Gollin noch etwas?«

Er sah sie an und schlug sich an die Stirn. »Guter Gott, Sie waren doch ein kleines Mädchen. Vor wie viel Jahren?«

»Etwas mehr als zehn«, erwiderte sie, aber ein freudiger Schein erhellte ihr schmales Gesicht.

»Sie sind wieder im Land«, sagte Dr. Norden.

»Ich allein. Wann haben Sie mal Zeit für mich?«

»Wenn es nicht allzu dringend ist, nachmittags gegen fünf Uhr, oder morgen halb drei?«

»Dann morgen halb drei. Wenn ich Sie erinnern darf, vor zehn Jahren war ich sechzehn und ein später Fall von Röteln. War ich wirklich ein kleines Mädchen?«

Ein mageres, trauriges kleines Mädchen war sie gewesen, besonders traurig, weil sie nach den überstandenen Röteln mit ihren Eltern weggehen musste von hier. Daran erinnerte sich Dr. Norden, weil er in der Gegend einen Hausbesuch machen musste, in dem Clarissas Elternhaus stand. Und es stand noch immer da, eine alte Villa mit Erkern und Türmchen. Ein Überbleibsel aus vergangener Zeit, da drumherum moderne Häuser gebaut worden waren.

»Erinnerst du dich noch an die Gollins, Fee?«, fragte er seine Frau, als sie nach dem Abendessen beisammensaßen. Die Kinder schliefen schon.

»Die Collins? Wie kommst du denn nur darauf, Daniel?«, fragte Fee Norden.

»Weil Clarissa Gollin mittags vor meiner Tür stand, erwachsen und sehr attraktiv.«

»Warst du sehr beeindruckt?«, fragte Fee mit einem schrägen Blick.

»Sehr überrascht. Es ist komisch, wenn plötzlich eine fertige Frau vor einem steht, die man früher mal an einer Kinderkrankheit behandelt hat.«

»Hast du sie gleich erkannt?«, fragte Fee.

Er lachte leise auf. »Bei Gott nicht, mein Schatz, aber sie meinte, dass ich mich nicht verändert hätte.«

Fee lächelte schelmisch. »Du warst ja vor zehn Jahren auch schon ein fertiger Mann.«

»Wieso erinnerst du dich denn so genau, dass es zehn Jahre her ist?«, fragte er.

»Weil wir damals erst jung verheiratet waren«, erwiderte Fee gedankenvoll, »und weil du da immerhin noch so viel Zeit hattest, über alle wichtigen Fälle mit mir zu sprechen. Da hatten wir ja auch noch keine fünf Kinder, und manchmal konnte ich dir sogar in der Praxis helfen.« Sie machte eine kleine Pause. »Und an Clarissa erinnere ich mich sehr gut. Sie wollte nicht fort von hier. Sie war so unendlich traurig, dass ihr Vater das Haus verkaufte.«

»Er wird es wohl manchmal bereut haben. Heute würde er das Vielfache allein für den Grund bekommen«, sagte Daniel.

»Und nun wird es wohl auch der Spitzhacke zum Opfer fallen, wie all die anderen schönen alten Villen.«

»Warum?«, fragte Daniel.

»Dieser Borrentin, der es gekauft hatte, hat es doch nur vermietet gehabt, und die Mieter sind ausgezogen. Und nun hat er es seinem Enkel vererbt. Meinst du, dass ein junger Mann dieses alte Haus behält?«

»Was du alles weißt«, staunte Daniel.

»Das weiß ich von Jenny. Borrentin ist ja in der Behnisch-Klinik gestorben. Pietät hin, Pietät her, sie hätten sich auch für das Haus interessiert und sie sagt, dass die Verlobte von dem jungen Borrentin die Hosen anhat und sehr clever ist.«

»Wenn wir unsere Frauen nicht hätten, alles Geschehen würde an uns vorbeigehen«, sagte Daniel mit leisem Lachen.

»Das ist doch kein Tratsch, darüber redet man mal. Mir würde es verflixt leidtun, wenn dieses wunderschöne Haus auch verschwinden würde. Es gehört unter Denkmalschutz.«

»Und wer setzt sich dafür ein?«, fragte Daniel.

»Wenn es unser Haus wäre, würde ich es verteidigen«, sagte Fee.

»Unser Haus wird uns niemand nehmen, mein Schatz«, sagte er.

»Es hatte ja auch nie kulturellen Wert, aber denkst du nicht manchmal darüber nach, was wir daraus gemacht haben, Daniel? Wie viel Geld wir reingesteckt haben.«

»Es hat sich doch gelohnt, oder?«

»Ich möchte jedenfalls nicht in einem Fertighaus wohnen, das man an einem Tag zusammenbaut.«

Für Clarissa Gollin war dieses Haus immer ein Stück Heimat geblieben in Gedanken, und nach diesem Haus hatte sie Heimweh gehabt. Sie hatte es nicht verwunden, dass ihre Eltern es verkauft hatten, dass sie dann nirgendwo lange blieben. Marcel Gollin hatte als Diplomat Karriere gemacht und war in der Welt herumgeschickt worden.

Clarissa hatte keine Freundinnen gefunden und sich in den so großartigen Häusern, in denen sie residierten, nie heimisch gefühlt.

Ihrer Mutter gefiel das Leben, und sie hatte auch nichts dagegen, dass Clarissa in Amerika auf ein College ging und später in England studierte.

Clarissa war Architektin geworden, von dem Wunsch beseelt, Häuser zu bauen, die Atmosphäre hatten, aber sie hatte nun schon einen Vorgeschmack bekommen, dass dies gar nicht so einfach sein würde, da es zu teuer war.

Es hatte sie nach München gezogen, und sie war glücklich gewesen, als ihre Annonce, Teilhaberin eines Architektenbüros zu werden, so rasch Erfolg gehabt hatte. Sie war in jeder Beziehung unabhängig. In Gelddingen war ihr Vater nie kleinlich gewesen, und dann hatte sie von ihrem Großvater mütterlicherseits auch noch ein ganz hübsches Vermögen geerbt.

Mit dem neuen Partner hatte sie auch Glück. Er war verheiratet mit einer reizenden Frau und hatte zwei Kinder. Jürgen Hausmann war alles andere als sein Name aussagte. Er war ein Künstler, ungeheuer creativ und ganz so, wie Clarissa sich einen Partner wünschte. Vor allem einen Partner, der kein privates Interesse an ihr zeigte.

Sie hätte ganz zufrieden sein können, wenn ihr das Haus am Akazienweg nicht im Kopf herumspuken würde. Die wunderschöne alte Villa, in der ihre Wiege gestanden hatte.

Und sie hatte lange davorgestanden an diesem Nachmittag und die leeren Fenster gesehen, auch die Zeichen der Zeit, die an den Mauern genagt hatten. Sie hatte den verwilderten Garten betrachtet, und heiße Tränen waren ihr in die Augen gestiegen. Wie oft hatte sie ihren Vater gefragt, warum er es verkauft hatte, und Marcel Gollin hatte nur den Kopf geschüttelt.

»Was willst du denn mit dem alten Gemäuer, Clarissa?«, hatte er gefragt. »Du wohnst doch wahrhaftig in den schönsten, modernsten Häusern.«

Ja, sie wohnten darin, aber es war eben nicht das, wonach sie sich sehnte. Sie hatte sich später manchmal gefragt, ob sie sich da nicht doch hineinsteigerte, aber als sie es dann wiedergesehen hatte, als sie emporblickte zu dem Erker, der zu ihrem Kinderzimmer gehörte, da wusste sie wieder, dass sie das Haus liebte.

Ein alter Herr war des Weges gekommen und hatte sie nachdenklich angeschaut.

»Sie interessieren sich für das Haus?«, fragte er. »Es steht zum Verkauf, aber man wird es abreißen, wie die andern auch, und dann werden gleich wieder ein paar hineingebaut werden. Der Grund ist knapp und teuer.«

Schütter war sein Haar und faltig sein Gesicht, aber die Stimme weckte Erinnerungen in Clarissa.

»Sind Sie nicht Studienrat Brechtel?«, fragte sie leise.

»Ja, der bin ich und jetzt – ja, jetzt kommt es mir. Sie sind Clarissa Gollin.«

Am liebsten hätte sie ihn umarmt, so sehr freute sie sich. »Wir haben hier gewohnt«, sagte sie bebend.

»Ja, ich erinnere mich. Und Sie waren eine so gute Schülerin, ein so liebes Mädchen, die den alten, verknöcherten Brechtel nicht tratzte.«

»Sie waren ein so guter Lehrer«, sagte sie leise. »Man weiß das erst richtig zu schätzen, wenn man erwachsen ist.«

Er blinzelte ein bisschen, aber dann lächelte er. »Seit acht Jahren bin ich ja schon in Pension. Ja, jetzt kommen manchmal noch welche von den früheren Schülern und reden so wie Sie, Clarissa. Nun, wenn Sie etwas Zeit haben, kommen Sie doch auf ein Tässchen Tee mit zu uns. Meine Frau wird sich bestimmt freuen. Und von unserem Wohnzimmer aus können Sie auch die Rückseite Ihres Hauses betrachten.«

»Es ist nicht mehr mein Haus«, sagte Clarissa leise. »Kannten Sie die Leute, die darin gewohnt haben? Mein Vater hatte es ja verkauft.«

Dr. Brechtel nickte. »An den Fabrikanten Borrentin. Aber der hat es dann vermietet. Wir, meine Frau und ich, gehören ja zu den wenigen Alten, die noch hier wohnen. Nun, wie ist es, kommen Sie mit, Clarissa, oder wartet ein Ehemann?«

»Nein, ich bin nicht verheiratet. Ich habe mich hier als Architektin niedergelassen, allerdings in einem anderen Stadtteil. Aber ich würde gern hören, was sich hier so alles getan hat.«

Dann gingen sie nebeneinander durch die Straße, durch die Nebenstraße, in der Reihenhäuser standen, und dann standen sie vor dem Häuschen, das von Efeu umrankt war.

»Hier hat sich nichts verändert«, sagte Dr. Brechtel, »und wir verlassen es erst, wenn man uns hinausträgt, komme, was da wolle.«

Da stand seine Frau in der Tür, mit frischem Gesicht und blitzenden Augen, die verrieten, dass man sie nicht sobald heraustragen würde.

»Ja, wer kommt denn da«, rief sie aus, »wenn das nicht Clarissa ist …«

Doch da lief Clarissa schon ganz spontan auf sie zu und griff nach den ausgestreckten Händen. »Sie ist es, Frau Brechtel. Sie haben mich gleich erkannt.«

»Ich habe halt noch bessere Augen als mein Mann«, erwiderte Ilse Brechtel. »Wie mich das freut. Ich weiß noch genau, wie Sie uns die letzten Rosen aus dem Garten brachten, als Sie wegzogen. Zehn Jahre muss das her sein.«

»Ja, zehn Jahre«, bestätigte Clarissa, und es war ein unendlich beglückendes Gefühl in ihr.

Es blieb nicht bei einer Tasse Tee. Bis in den Abend hinein saßen sie beisammen, betrachteten alte Klassenfotos, und unendlich viele Erinnerungen wurden wach.

»Dr. Norden hat mich auch nicht gleich erkannt«, so hatte Clarissa begonnen.

»Sie waren bei ihm?«, fragte Ilse Brechtel. »Sie sehen nicht aus, als würde Ihnen etwas fehlen.«

»Ich wollte einfach nur jemanden sehen, an den ich mich erinnerte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie sich noch an mich erinnern würden. Und es hat sich so viel verändert hier, da bekommt man schon Herzklopfen.«

»Ein neues Gymnasium ist auch gebaut worden. Das andere wurde zu klein. An den Neubau hätte ich mich auch nicht mehr gewöhnen können«, sagte Dr. Brechtel, »aber erinnern Sie sich noch an Susi Lange?«

»Der Wirbelwind? Lebt sie auch noch hier?«

»Sie ist Studienreferendarin am Gymnasium. Sehr tüchtig, und auch eine von denen, die ihren alten Pauker nicht vergessen hat«, lächelte Dr. Brechtel.

»Dr. Norden ist übrigens auch unser Hausarzt«, warf Ilse Brechtel ein.

»Goldige Kinder haben sie. An der Volksschule ist der Toni Stadler Klassenlehrer von Danny Norden.«

»Toni Stadler?« Clarissa überlegte.

»Er war doch nicht in Clarissas Klasse«, sagte Dr. Brechtel. »Zwei Klassen höher.«

»Der Meisterschwimmer«, sagte Clarissa, »ich erinnere mich.« Ganz gelöst war sie jetzt.

»Wir werden mal alle zusammentrommeln«, sagte Ilse Brechtel resolut. »Das wäre doch nett. Schade, dass die kleine Schilling nicht mehr lebt. Sie hätte sich bestimmt sehr gefreut, Sie wiederzusehen, Clarissa.«

»Janni Schilling, sie lebt nicht mehr?«, fragte Clarissa bestürzt.

»Knochenkrebs«, sagte Dr. Brechtel düster.

»Sie war ja immer so zart. Dr. Norden hat sie auch behandelt. Aber da konnte selbst der beste Arzt nicht helfen.«

»Janni Schilling«, sagte Clarissa leise, »unsere Klassenbeste.«

»Neben Clarissa Gollin«, murmelte Dr. Brechtel. »Aber Sie so gesund wiederzusehen tut einem wohl. Erzählen Sie doch ein bisschen von sich, Clarissa.«

»Japan, Amerika, England, nirgendwo waren wir richtig zu Hause«, sagte sie leise. »Ich habe in England Architektur studiert und immer habe ich zurückgedacht, an meine Kindheit, meine Jugend, an das Haus da drüben.«

»Es hat dreimal den Mieter gewechselt«, sagte Ilse Brechtel. »Kennengelernt hat man die Leute nicht. Was nun wird, weiß niemand. Das Riesengrundstück kann doch nur ein Millionär kaufen, und der will dann natürlich auch verdienen. Es ist so traurig. Es müsste unter Denkmalschutz gestellt werden. Eines der allerschönsten Häuser weit und breit. Frau Dr. Norden sagt das auch.«

»Hätte es Vater doch nie verkauft. Ich wüsste genau, wie man es renovieren kann«, sagte Clarissa.

»Setzen Sie sich doch mal mit dem jungen Borrentin in Verbindung«, sagte Dr. Brechtel. »Geld genug hat er doch, ist Alleinerbe seines Großvaters.«

»Aber da ist doch schon so ein Makler eingeschaltet«, sagte Ilse Brechtel.

»Wissen Sie den Namen?«, fragte Clarissa.

»Im Kopf habe ich ihn nicht, aber ich habe ihn notiert. Einen Augenblick.«

Sie kam bald zurück. »Leidl heißt er. Da ist auch die Telefonnummer«, sagte Ilse Brechtel. »Aber die Leute sagen, dass mehr als eine Million verlangt wird.«

»Sie haben doch schon für unseren Grund siebenhunderttausend geboten«, sagte Dr. Brechtel. »Man kommt nicht mehr mit, aber uns bringt hier keiner raus. Das wollen auch unsere Kinder nicht.«

Ganz erschrocken blickte Clarissa dann auf, als die Uhr zehnmal schlug.

»So spät ist es geworden«, sagte sie leise.

»Schön war es. Besuchen Sie uns doch wieder, Clarissa«, sagte Ilse Brechtel.

»Gern, sehr gern, und es wäre schön, wenn ich auch ein paar von den Mitschülern wiedertreffen könnte.«

»Das werden wir schon arrangieren.«

Beide blickten ihr nach und schauten sich dann an. »Sie hatte Heimweh«, sagte Ilse Brechtel leise. »Ich weiß noch genau, wie sehr sie geweint hat, als sie von hier fortgehen musste. Und wenn das Haus da drüben vom Erdboden verschwindet, wird etwas in ihr zerstört werden, was man ihr nicht wiedergeben kann.«

»Dann bleibt nur noch Erinnerung.«

»Aber die wird schmerzhaft sein. Sie war so empfindsam wie wenige junge Mädchen, Walter.«

»Es ist eine große Freude, dass sie so eine tüchtige junge Frau geworden ist«, sagte er gedankenvoll.

*

Clarissa konnte noch lange nicht einschlafen. Wie Filme rollten Begebenheiten aus ihrer Schulzeit an ihrem geistigen Auge vorüber. Sie sah Janni Schilling vor sich, dieses zarte blonde Mädchen, und ein Frösteln kroch durch ihren Körper bei dem Gedanken, dass sie nicht mehr lebte. Und sie dachte auch daran, wie oft Dr. Brechtel geärgert worden war und wie er dann doch so ruhig sagte: »Nicht für die Schule, für das Leben sollt ihr lernen. Beherzigt es.«

Aber dann wurde sie ruhig bei den Gedanken, dass sie zu Menschen gehen konnte, die ein besinnliches Leben in ihrem alten Haus verbrachten, die es hegten und pflegten und liebten.

»Man muss ein Haus lieben können«, hatte sie zu ihrem Vater gesagt, als sie zum letzten Mal durch die Räume ging, die schon leer waren. »Warum gibst du es her? Ich würde gern mit euch mitkommen, wenn ich eines Tages hierher zurückkehren könnte.« Aber er hatte dafür kein Verständnis gehabt. »Denk doch mal daran, was ich da draufzahlen würde«, hatte er erwidert.

Ich werde ihm schreiben, wie viel Geld er jetzt dafür bekommen könnte, dachte sie trotzig, aber ich hätte es für keinen Preis der Welt hergegeben. Und als sie am Morgen erwachte, war ihr Kopfkissen nassgeweint von den Tränen, die im Traum geflossen waren.

*

Jürgen Hausmann blickte Clarissa überrascht an, als sie fragte: »Was muss man hier eigentlich unternehmen, um ein Haus unter Denkmalschutz stellen zu lassen, Jürgen?«

Da beiderseits von Anfang an Sympathie bestand, war es ihnen auch ganz leichtgefallen, sich beim Vornamen und du zu nennen, und Ingrid Hausmann war auch sofort dazu bereit gewesen.

»Na ja, da gibt es so allerhand Auflagen und Schwierigkeiten, aber wenn das zuständige Amt zustimmt, bekommt man auch Subventionen. Was hast du denn im Auge?«

»Wenn ihr am Wochenende mal einen kleinen Ausflug mit mir machen wollt, werde ich es euch zeigen, und dann lade ich euch zu einem duften Essen ein.«

»Da bin ich nicht abgeneigt«, sagte Jürgen lächelnd, »und für meinen Anhang zählt das Gleiche.«

»Fein, heute habe ich einen Termin beim Arzt.« Das sagte sie ganz nebenbei.

»Fehlt dir was? Bekommt dir der Klimawechsel nicht, Clarissa?«, fragte er besorgt.

»Alles in Ordnung, nur eine alte Bekanntschaft auffrischen.«

»Na, na, na, werde mir nicht gleich wieder untreu«, sagte er scherzend.

»Blödsinn. Dr. Norden ist verheiratet und Vater von mittlerweile fünf Kindern, wie ich gestern erfahren habe. Als ich von ihm Abschied nehmen musste, war noch nicht mal das erste Kind ganz da.«

»Als du Abschied nehmen musstest?« Er sah sie forschend an.

»Wir haben früher schon mal im Westen gewohnt. Darüber können wir später reden. Den Entwurf für den Dreispänner habe ich fast fertig. Wird ganz schön teuer werden, und wenn das Mittelhaus zwei ekelhafte Nachbarn bekommt, wird es den Käufer ganz schön reuen.«

»Das ist dann aber wahrhaftig nicht unser Bier, Clarissa«, sagte Jürgen Hausmann. »Wie man sich bettet, so liegt man. Meine Mutter hat immer gesagt: Entweder ein Haus, um das ich herumgehen kann, oder gar keins. Und sie haben sich nichts gegönnt, bis sie das Haus abbezahlt hatten. Davon profitieren wir jetzt.«

»Und ihr würdet es auch nicht hergeben«, sagte Clarissa.

»Kein Gedanke daran. Die supermodernen Bungalows entwerfen wir nur für andere, und was die manchmal für Vorstellungen haben, könnte einem graue Haare wachsen lassen.«