Marco sehnt sich nach Mutterliebe - Patricia Vandenberg - E-Book

Marco sehnt sich nach Mutterliebe E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Eine Uhr schlug mit zarten Tönen acht Mal. Beim letzten Ton erwachte Marco und rieb sich die Augen. Ganz still blieb er liegen und blinzelte verschlafen. Er sah die Umrisse eines Schrankes und eines Bücherregals, dann die eines Pferdes, das ein wenig kleiner war als das kleinste Pony auf Sophienlust. Sofort war Marco hellwach. Er wusste nun, dass er nicht geträumt hatte. Seine heißen Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Seine Mutti und sein Vati hatten ihn, zusammen mit Onkel Bob, in Sophienlust abgeholt. Nun war er hier in dem wunderschönen Haus, in einem Zimmer, das groß und hell und so schön war wie Dominiks Zimmer. Ganz rasch kam Marco jetzt alles wieder ins Gedächtnis zurück. Das Kinderheim Sophienlust, die Familien Schoenecker und Wellentin und die Kinder, mit denen er gespielt hatte. Doch insgeheim hatte er immer davon geträumt, dass seine liebe Mutti kommen und ihn holen würde, dass sie gar nicht im Himmel sei, wie man ihm immer erzählt hatte. Ja, und dann war seine Mutti gekommen. Ein seliges Lächeln lag auf Marcos Gesicht, als er auf nackten Füßchen zu dem kleinen Pferd schlich. Er bewegte sich auf und nieder, weil es ein Schaukelpferd war und kein lebendiges Pony. Marco hätte sich am liebsten sofort darauf gesetzt und geschaukelt, aber eine innere Scheu hielt ihn davon ab. Ganz langsam ging er durch das Zimmer und betastete die schönen Möbelstücke. In den Regalen standen viele Plüschtiere. Ein Eselchen, ein Löwe, ein Tiger, eine Giraffe, ein Eichhörnchen, ein Hund, der fast so aussah wie eines von Sentas Jungen, ein Hase, ein Äffchen und ein großer weicher Teddybär. Den nahm Marco, drückte ihn an sich und huschte wieder ins Bett.

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Sophienlust – 476 –

Marco sehnt sich nach Mutterliebe

Patricia Vandenberg

Eine Uhr schlug mit zarten Tönen acht Mal. Beim letzten Ton erwachte Marco und rieb sich die Augen. Ganz still blieb er liegen und blinzelte verschlafen.

Er sah die Umrisse eines Schrankes und eines Bücherregals, dann die eines Pferdes, das ein wenig kleiner war als das kleinste Pony auf Sophienlust.

Sofort war Marco hellwach. Er wusste nun, dass er nicht geträumt hatte. Seine heißen Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Seine Mutti und sein Vati hatten ihn, zusammen mit Onkel Bob, in Sophienlust abgeholt. Nun war er hier in dem wunderschönen Haus, in einem Zimmer, das groß und hell und so schön war wie Dominiks Zimmer.

Ganz rasch kam Marco jetzt alles wieder ins Gedächtnis zurück. Das Kinderheim Sophienlust, die Familien Schoenecker und Wellentin und die Kinder, mit denen er gespielt hatte. Doch insgeheim hatte er immer davon geträumt, dass seine liebe Mutti kommen und ihn holen würde, dass sie gar nicht im Himmel sei, wie man ihm immer erzählt hatte. Ja, und dann war seine Mutti gekommen.

Ein seliges Lächeln lag auf Marcos Gesicht, als er auf nackten Füßchen zu dem kleinen Pferd schlich. Er bewegte sich auf und nieder, weil es ein Schaukelpferd war und kein lebendiges Pony. Marco hätte sich am liebsten sofort darauf gesetzt und geschaukelt, aber eine innere Scheu hielt ihn davon ab.

Ganz langsam ging er durch das Zimmer und betastete die schönen Möbelstücke. In den Regalen standen viele Plüschtiere. Ein Eselchen, ein Löwe, ein Tiger, eine Giraffe, ein Eichhörnchen, ein Hund, der fast so aussah wie eines von Sentas Jungen, ein Hase, ein Äffchen und ein großer weicher Teddybär. Den nahm Marco, drückte ihn an sich und huschte wieder ins Bett.

»Ich nenne dich Nick«, sagte er zu dem Teddy. »Der Nick in Sophienlust hat es nie richtig geglaubt, dass meine Mutti kommt, aber dann hat er auch gestaunt. Warst du auch mit am Nordpol, Nick?«

Der Teddy gab einen Brummton von sich, den Marco als Ja deutete. Der Junge lebte immer noch in dem Glauben, dass seine Mutter am Nordpol gewesen sei, viel weiter von ihm entfernt als der Himmel. Irgendwann einmal hatte er es sich eingeredet und war dann dabei geblieben.

Aber nun waren sie in einem schönen Haus, das zwischen vielen Bäumen an einem Hang stand. Es war spät gewesen, als sie gestern hier angekommen waren. Da er müde und glücklich in Muttis Armen eingeschlafen war, hatte ihn wohl Vati ins Haus getragen. Vielleicht auch Onkel Bob, der ihm seine Mutti gesucht hatte.

So jedenfalls dachte es sich Marco, nicht ahnend, welchen dramatischen Umständen er es verdankte, dass er zu der Familie Henning van Droemen gekommen war.

*

Benommen wachte Ingrid van Droemen auf. An ihrem Bett saß ihr Mann im dunkelblauen Hausmantel und hielt ihre Hände.

»Nun hast du wenigstens ein paar Stunden geschlafen, Liebes«, sagte er warm. »Du musst frisch sein, damit du den vielen Fragen des Jungen standhalten kannst.«

»Unseres Jungen, Henning«, flüsterte sie. »Der liebe Gott hat mir Marc zurückgegeben. Wenigstens seine Seele.«

Es schnürte ihm die Kehle zu. Sollte sie glauben, was sie wollte, wenn sie nur wieder lebte und nicht nur dahinvegetierte.

Viele Monate quälender Angst, dass seine geliebte Frau in geistige Umnachtung versinken könnte, lagen hinter ihm. Der Tod ihres kleinen vierjährigen Sohnes, der an einer Blutvergiftung gestorben war, hatte sie so maßlos erschüttert, dass sie in Schwermut verfallen war. Nichts und niemand hatte sie aufmuntern können. Nicht er, nicht Robert Quirin, ihr Bruder, und auch nicht die beiden älteren Kinder Daniel und Evelyn.

Nein, es war immer schlimmer geworden. Sie hatte sich ganz in sich zurückgezogen, sich von ihm und den Kindern immer mehr entfernt und nur noch der Erinnerung an Marc gelebt.

Dann war Robert Quirin im Kinderheim Sophienlust zufällig dem kleinen Marco begegnet, der ebenso alt war, wie Marc es bei seinem Tode gewesen war, und der außer dem Namen noch manche andere Ähnlichkeit mit ihm hatte.

Ein Fingerzeig des Schicksals? Damals, als Bob ihm von Marco berichtet hatte, hatte Henning van Droemen nicht daran gedacht. Aber er hatte nichts unversucht lassen wollen. Und nun war das Experiment in seinem ersten Stadium bereits glücklich abgelaufen. Der kleine Marco war auf Ingrid zugegangen, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit, dass seine Mutti käme. Wie aber würde es jetzt weitergehen?

Henning van Droemen war ein nüchtern denkender Geschäftsmann. Er liebte seine Frau und war bereit, alles für sie zu tun, aber er blickte auch den Tatsachen ins Auge.

Marco war Vollwaise. Sein Vater war der Spross eines italienischen Adelsgeschlechtes, dessen Ehe nicht die Billigung seiner Angehörigen gefunden hatte. Das Kind war von frühester Kindheit an in Heimen aufgewachsen, nachdem seine Eltern tödlich verunglückt waren. Eine Adoption würde kaum Schwierigkeiten bereiten, wie Frau von Schoenecker ihm versichert hatte.

Ein reizendes und liebes Kind war der kleine Junge, davon hatte er sich gestern selbst überzeugen können. Aber wie würden Evelyn und Daniel den kleinen Fremdling aufnehmen? Mit fünfzehn und siebzehn Jahren hatte man schon eigene Vorstellungen. Außerdem hatten die beiden zu lange hinnehmen müssen, dass sie durch den Nachkömmling Marc viel von der Zuneigung ihrer Mutter verloren hatten. Aber Marc war immerhin ihr leiblicher Bruder gewesen, während Marco ein fremdes Kind war.

Henning van Droemen fürchtete sich vor dem Augenblick, wo er seine beiden Großen über die neue Situation informieren musste. Zur Zeit waren sie in einem Internat. Das war die beste Lösung gewesen für alle Beteiligten, da Ingrid die beiden großen Kinder mitverantwortlich an Marcs Tod gemacht hatte.

»Ich möchte aufstehen«, sagte Ingrid leise. »Marc soll nicht allein sein, wenn er aufwacht.«

Sie sagte schon Marc, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.

Henning van Droemen wurde von einer quälenden Unruhe erfasst. Er verfolgte aufmerksam, wie Ingrid sich ankleidete. Sie bürstete ihr Haar nicht mehr so streng zurück wie in den vergangenen Monaten. Locker fiel es in glänzender, silbrig schimmernder Fülle auf die schmalen Schultern. Kindhaft jung sah sie aus, trotz ihrer achtunddreißig Jahre. Die feinen Falten, die sich in ihren Augenwinkeln und um ihren Mund eingenistet hatten, schienen wie durch Zauberhand weggewischt. Mit leichten graziösen Schritten huschte sie durch das Zimmer, das sie noch vorgestern geistesabwesend und schleppend durchquert hatte.

Henning legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Mein Liebes, wenn du nur wieder lachen lernst«, sagte er zärtlich.

In ihren schönen veilchenblauen Augen war ein tiefes warmes Leuchten.

»Ich habe dir wohl viel Kummer bereitet, Henning?«, fragte sie leise.

»Es soll vergessen sein, wenn du glücklich bist«, antwortete er.

»Ich gehe jetzt zu Marc. Hast du noch Zeit? Kannst du mit uns frühstücken?«

»Leider nicht, Liebes. Dringende Konferenzen warten.«

Es war eine Ausrede. Er wollte sie an diesem ersten Morgen allein lassen mit dem Kind. Nicht nur, damit sie das Beisammensein voll auskosten konnte, sondern auch, weil er selbst eine gewisse Scheu davor hatte, mit dem Jungen zu sprechen. Vielleicht war es gut, wenn er sich zuvor noch einmal mit Bob beriet. Für seinen Schwager war es wesentlich einfacher, mit den Gegebenheiten fertig zu werden. Erstens hatte er ein unkompliziertes Naturell, und dann standen ihm Daniel und Evi auch nicht so nahe wie ihm als Vater.

Henning van Droemen küsste seine Frau zärtlich auf den Mund. Heute wich sie ihm nicht aus wie früher. Sie schmiegte sich sogar an ihn.

»Du bist so lieb, Henning«, flüsterte sie. »Ich danke dir.«

Sie ist dem Leben wiedergegeben, dachte er, als er zur Fabrik fuhr. Das ist wichtiger als alles andere.

*

Auf Zehenspitzen betrat Ingrid van Droemen das Kinderzimmer. Es war Marcs Zimmer. Hier hatte er gespielt und geschlafen und manchmal auch getrotzt.

Marco schloss rasch die Augen, als sich die Türklinke bewegte. Dann berührten weiche Lippen seine Stirn. Zarte, leichte Hände streichelten sein ­Gesicht. Es war so wundervoll, dass Marco wünschte, es sollte gar nicht aufhören.

»Du schläfst ja gar nicht mehr, Marc«, sagte Ingrid zärtlich. »Du warst ja schon mal auf.«

»Woher weißt du das, Muttilein?«, wisperte er.

Muttilein hatte Marc nie gesagt. Ingrid wurde es ganz heiß. Die Kinder nannten sie Mutschi, wenn sie besonders lieb sein wollten. Aber dieses Muttilein klang noch viel liebevoller.

»Du hattest den Teddy nicht im Bett«, erwiderte sie.

»Er heißt Nick«, sagte Marco.

Marc hatte ihn Hermann getauft. Nun hieß er also Nick. Ingrid fand es hübsch.

»Nick in Sophienlust war immer sehr lieb zu mir«, erklärte Marco. »Alle waren lieb. Aber ich habe immer nur an dich gedacht.«

Tränen stiegen in Ingrids Augen. Sie konnte sie nur mühsam zurückhalten. »Ich habe dich sehr lange allein gelassen, Marc«, raunte sie. »Bist du mir böse?«

»Du hattest sicher etwas ganz Wichtiges zu tun«, meinte er. »Jetzt ist es doch auch egal. Du bist ja da. Es war nur schlimm, als alle sagten, du wärest im Himmel. Aber da wusste ich ja noch nicht, dass es auch einen Nordpol gibt, der so weit weg liegt.«

»Nun wirst du erst einmal aufstehen«, lenkte sie ab. »Du hast doch bestimmt Hunger, mein Liebling.«

»Ich glaube schon. Wie spät ist es denn?«

»Halb neun Uhr.«

»Da waren wir in Sophienlust schon fertig mit dem Frühstück. Zuerst muss ich duschen und Zähne putzen, nicht wahr?«

Als er unter der Dusche stand, ging Ingrid zu Marcs Kleiderschrank. Ihre Hände zitterten, als sie einige Kleidungsstücke herausnahm, aber sie bewahrte ihre Fassung.

»Wir wollen doch einmal sehen, ob dir das passt«, sagte sie.

Die lange graue Hose schien wie für ihn gemacht. Der bunte Pullover gefiel Marco.

»So richtig kuschelig ist er«, stellte er mit leuchtenden Augen fest.

Ingrid betrachtete ihn und vergaß, dass Marc die hellen Augen seines Vaters gehabt hatte.

»Frühstückt Vati nicht mit uns?«, fragte Marco schüchtern, als sie das Bauernzimmer mit seinen schönen Eichenmöbeln betraten.

»Er musste in die Fabrik«, antwortete Ingrid.

»Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich erst mit dir allein sein kann«, gab Marco freimütig zu. »An Vati konnte ich mich nicht mehr so gut erinnern. Ich will aber nicht, dass er traurig darüber ist.«

»Er versteht das schon«, entgegnete Ingrid mit belegter Stimme.

»Da ist ja der junge Herr«, tönte es durch den Raum, und eine grauhaarige Frau mit schwarzer Schürze erschien. »Guten Morgen, Marc, hast du gut geschlafen?«

»Danke, sehr gut«, erwiderte Marco höflich. »Wer bist du?«

»Millie«, kam die Antwort.

Er schaute sie prüfend an. »Ich kann mich leider nicht erinnern, Mutti. Ist es schlimm?«

»Nein, es ist gar nicht schlimm«, erwiderte Ingrid und schenkte Millie einen dankbaren Blick, weil sie so unbefangen sprach.

»Wen gibt es noch hier?«, erkundigte sich Marco. »Und warum sagt ihr alle Marc zu mir?«

»Weil wir dich immer so genannt haben, wenn du auch Marco getauft bist«, sagte Millie rasch, weil Ingrid vergeblich nach Worten suchte.

»War ich auch ganz klein, als ich getauft wurde?«, wollte er wissen.

»Ja, ganz klein«, antwortete Ingrid mit bebender Stimme.

»Deshalb kann ich mich wohl auch nicht daran erinnern. Aber du darfst keine traurigen Augen machen, Muttilein. Du musst lachen. Das habe ich gern. Jetzt sind wir ja wieder zusammen.«

Millie schneuzte sich laut und verschwand.

*

Dr. Quirin warf seinem Schwager einen nachdenklichen Blick zu. »Du bist zerstreut, Henning«, bemerkte er, »mit Mühe und Not habe ich dich vor einem argen Patzer bewahrt. Es hätte dich Hunderttausende kosten können.«

»Vielen Dank, Bob«, erwiderte Henning van Droemen müde, »aber ist das ein Wunder? Ich muss dauernd an Ingrid denken. Jetzt redet sie sich womöglich ein, Gott habe Marcs Seele in den Körper dieses Jungen versetzt.«

»Das wäre doch nur gut. Lass doch alles an dich herankommen, alter Junge. Die Hauptsache ist doch, dass sie ihn nicht ablehnt.«

»Ich fürchte eher, sie wird ihn noch mehr vergöttern als Marc und ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen.«

»Es wird sich bestimmt alles normalisieren. Marco ist ein gesundes, widerstandsfähiges Kind und ein sehr anpassungsfähiges dazu, wie ich feststellen konnte. Ob er wirklich überzeugt ist, dass Ingrid seine Mutter ist, oder ob er es nur so sehen will?«

»Er ist vier Jahre alt. Da vermischen sich noch Fantasie und Wirklichkeit. Ich denke aber auch an Dan und Evi, die ihr ganz vergessen zu haben scheint. Ich muss sie informieren.«

»Soll ich es übernehmen?«, bot Robert Quirin an.

»Traust du es dir zu?«

»Ich stehe gut mit den beiden und bin nicht befangen. Ich bin halt Jurist.«

»Und ich bin ihr Vater. Bob, ich habe niemals Unterschiede zwischen meinen Kindern gemacht. Du weißt, wie glücklich ich über Marcs Geburt war, aber von Anfang an war er ein Mutterkind.«

»Das ist nun mal so, wenn die Frau die dreißig schon überschritten hat. Aber du darfst nichts dramatisieren, Henning. Es kommt jetzt nur darauf an, dass Ingrid wieder gesund wird. Sie war krank, das weißt du so gut wie ich. Professor Martin hat das Schlimmste befürchtet und dann wäre sie uns allen verloren gewesen. Ich finde den Kleinen einfach putzig. Er ist auch bedeutend reger, als Marc es war. Das kommt wahrscheinlich auch daher, dass er unter älteren Kindern aufgewachsen ist, die sich sehr viel mit ihm beschäftigt haben. Dan und Evi haben sich dagegen kaum mit Marc abgegeben.«

»Ingrid hat die beiden ja auch nicht an den Kleinen herangelassen. Sie war doch auf alles und jeden eifersüchtig, und das wird jetzt auch nicht anders sein.«

»Verlassen wir uns also auf den gesunden Instinkt eines Kindes, das ohne Mutter aufgewachsen ist«, meinte Robert Quirin zuversichtlich. »Das Geschäft haben wir unter Dach und Fach. Am Wochenende fahre ich nach Schloss Heidern und besuche die Kinder. Bis zu den Ferien haben sie Zeit, sich mit den neuen Umständen vertraut zu machen, und wenn sie renitent sind, schicken wir sie zu meinen Eltern.«

»Ob die Verständnis für unseren Entschluss haben werden?«, fragte Henning van Droemen niedergeschlagen.

»Meinst du, es wäre ihnen angenehmer, wenn ihre Tochter in einem Nervensanatorium dahinvegetierte?«, fragte Robert Quirin zurück.

»Du machst mir wirklich Hoffnung, Bob«, sagte Henning dankbar. »Bring die Geschichte mit der Siedlung für kinderreiche Familien in Ordnung. Frau von Schoenecker soll wissen, dass es keine leeren Versprechungen waren. Dass ich noch mal Mäzen werden würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.«

»Es wird dir hundertfach gedankt werden, Henning«, erwiderte Robert Quirin herzlich. »Was gibt es Schöneres, als Kindern ein freundliches Zuhause zu geben und Eltern die Genugtuung, nicht als Menschen dritter Klasse betrachtet zu werden. Dieses blöde Gewäsch von asozialer Einstellung, wenn man mehr als drei Kinder hat, hat mich schon immer geärgert. Wenn ich mal heirate, will ich ein halbes Dutzend.«

»Dann halte dich aber ran. Du bist bereits am Anfang des vierten Jahrzehnts, mein Lieber.«

»Aber leider habe ich die Richtige noch nicht gefunden und bin sehr wählerisch. So eine wie Denise von Schoen­ecker hätte ich auf der Stelle geheiratet.«

»Aber sie ist vergeben.«

Robert Quirin seufzte tief. »Das ist es eben. Ich bin ein Spätzünder.«

»Dafür bekommt die Frau, die du einmal zum Standesamt schleppst, einen Goldschatz«, spottete Henning.

»Mach mich doch nicht verlegen«, brummte Robert Quirin.

*

Marco hatte ausgiebig gefrühstückt und sich ebenso ausgiebig mit seiner Mutti unterhalten. Alles, was Ingrid über den Nordpol wusste, hatte sie sich ins Gedächtnis zurückgerufen. Marco gab sich zum Glück bald zufrieden, weil der Nordpol für ihn sowieso ein gräßliches Ungeheuer war.

»Vati hätte nicht erlauben dürfen, dass du dort so lange bleibst«, meinte er. »Du hättest sehr krank werden können in dieser Kälte.«

»Vati trifft keine Schuld«, erwiderte Ingrid gedankenverloren. »Es war mein eigener Entschluss.«

Ich war so weit entfernt von allem, was mir lieb und teuer war, dass man es schon mit dem Aufenthalt in einer Eiswüste vergleichen könnte, ging es ihr durch den Sinn. So gesehen fiel es ihr gar nicht schwer, sich in Marcos Gedankenwelt zu versetzen.

Nun gingen sie durch das Haus, denn Marco musste sich mit allen Räumen vertraut machen.

Ein stechender Schmerz durchzuckte Ingrid, als sie ihr kleines Wohnzimmer betraten. Auf dem Schreibtsich stand Marcs Bild. Dass sie daran nicht gedacht hatte!

»Wer ist der kleine Junge?«, fragte Marco auch sofort.

Was sollte sie sagen? Ihre Lippen bebten.

»Benedikt«, antwortete sie zögernd, Marcs zweiten Namen nennend. »Er war dein Bruder, Marc«, fügte sie überstürzt hinzu.

Der Junge schaute sie verwundert an. »Er war mein Bruder? Ist er es nicht mehr?«

»Er ist tot«, flüsterte Ingrid.

»Tot«, wiederholte Marco, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hätte gern einen Bruder gehabt.«

»Dan und Evi sind ja auch noch da«, sagte Ingrid leise und wunderte sich, dass sie überhaupt ein Wort herausbrachte.

»Dan und Evi?«, staunte Marco.

»Sie sind schon groß, deshalb kannst du dich nicht an sie erinnern.«

»So groß wie Sascha und Andrea?«

»Wie alt sind sie denn?« Langsam gewann sie ihre Fassung zurück.

Marco überlegte. »Ich weiß nicht genau. Sascha geht ins Gymnasium und kann schon Latein und Englisch, und Andrea kommt dieses Jahr auch auf die Oberschule. Sie freut sich gar nicht. Warum habe ich Dan und Evi noch nicht gesehen? Sind sie auch in der Schule?«

»Sie sind im Internat. Dan ist siebzehn und Evi fünfzehn.«

»Ein Internat ist auch so was wie ein Kinderheim, nur für größere Kinder, hat Sascha gesagt. Er und Andrea waren auch mal in einem, aber es hat ihnen nicht gefallen. Sie sind froh, dass sie jetzt zu Hause sein dürfen. Aber das war so …« Er geriet ins Stocken.

»Wie war es?«, fragte Ingrid mechanisch.