Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nun gibt es eine Sonderausgabe – Dr. Norden Aktuell Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. Dicht lag der Nebel über dem Flugplatz. Die riesige Düsenmaschine kreiste schon zwanzig Minuten über der Stadt. Ein anderer Platz hatte nicht angewiesen werden können, denn überall herrschte der gleiche dichte Nebel. In Rom war man bei strahlendem Sonnenschein abgeflogen, und nun das. Die Besatzung wusste schon, dass mit Schwierigkeiten zu rechnen war. Die Passagiere wussten es nicht. Der Winter neigte sich zwar dem Ende zu, aber es wurde sehr früh dunkel, und einige Minuten Verspätung musste man einkalkulieren. München war nicht Rom, wo der Frühling sich schon sehr deutlich bemerkbar machte. »Wenn das nur gut geht«, murmelte die Stewardess Gwendolin, die von ihren Kollegen Wendy genannt wurde. Sie war ein apartes Mädchen mit tiefschwarzem Haar und leuchtend blauen Augen. Sie hatte sich oft gegen mehr oder minder eindeutige Anträge männlicher Fluggäste zu wehren, doch für Wendy gab es nur einen Mann, und der trug jetzt die Verantwortung für einhundertdreißig Menschen. »Du wirst doch nicht nervös werden«, sagte die blonde Anja, die das fröhliche Pendant zu der sanften Gwendolin war. »Die Passagiere werden nämlich schon hektisch. Wir werden zu tun bekommen.« Ja, es machte sich Nervosität breit. Die Stewardessen wurden mit Fragen bestürmt und gaben immer die gleiche beruhigende Antwort, dass man noch auf die Landeerlaubnis warten müsse. Flugkapitän Holger Herwart fluchte leise vor sich hin. »Lange können sie sich jetzt nicht mehr Zeit lassen«
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 151
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dicht lag der Nebel über dem Flugplatz. Die riesige Düsenmaschine kreiste schon zwanzig Minuten über der Stadt. Ein anderer Platz hatte nicht angewiesen werden können, denn überall herrschte der gleiche dichte Nebel. In Rom war man bei strahlendem Sonnenschein abgeflogen, und nun das.
Die Besatzung wusste schon, dass mit Schwierigkeiten zu rechnen war. Die Passagiere wussten es nicht.
Der Winter neigte sich zwar dem Ende zu, aber es wurde sehr früh dunkel, und einige Minuten Verspätung musste man einkalkulieren. München war nicht Rom, wo der Frühling sich schon sehr deutlich bemerkbar machte.
»Wenn das nur gut geht«, murmelte die Stewardess Gwendolin, die von ihren Kollegen Wendy genannt wurde. Sie war ein apartes Mädchen mit tiefschwarzem Haar und leuchtend blauen Augen. Sie hatte sich oft gegen mehr oder minder eindeutige Anträge männlicher Fluggäste zu wehren, doch für Wendy gab es nur einen Mann, und der trug jetzt die Verantwortung für einhundertdreißig Menschen.
»Du wirst doch nicht nervös werden«, sagte die blonde Anja, die das fröhliche Pendant zu der sanften Gwendolin war. »Die Passagiere werden nämlich schon hektisch. Wir werden zu tun bekommen.«
Ja, es machte sich Nervosität breit. Die Stewardessen wurden mit Fragen bestürmt und gaben immer die gleiche beruhigende Antwort, dass man noch auf die Landeerlaubnis warten müsse.
Flugkapitän Holger Herwart fluchte leise vor sich hin.
»Lange können sie sich jetzt nicht mehr Zeit lassen«, sagte er. »In spätestens zehn Minuten müssen wir unten sein.«
»Aber wie«, brummte sein Kopilot Conny Dahm. »Adieu, Fränzi.«
»Halt die Goschen«, fauchte ihn Holger an. »Es ist nicht das erste Mal…« Er sprach nicht weiter, sondern lauschte angestrengt auf die Kommandos.
Unter den Fluggästen befand sich eine schlanke junge Frau, deren tief gebräuntes Gesicht verriet, dass sie aus noch weit südlicheren Gefilden als Rom kommen musste. Sie saß still, mit gefalteten Händen, ganz in sich versunken auf ihrem Platz und zeigte keinerlei Nervosität. Wie es in ihrem Innern aussah, hätte niemand ergründen können.
Vielleicht soll es so sein, dachte Miriam Perez. Vielleicht ist es für mich sogar besser so, wenn alles schnell zu Ende ist. Aber die anderen, dachte sie dann und hob den Kopf, als ein Schluchzen an ihr Ohr drang. Neben ihr saß ein junges Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt.
Sie war während des ganzen Fluges genauso still gewesen wie Miriam, und diese hatte das als sehr angenehm empfunden. Sie selbst war nicht von mitteilsamer Natur und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Manche Menschen waren so geschwätzig, dass sie lästig werden konnten.
Jetzt aber siegte ihr Mitgefühl. Sie griff nach der Hand des Mädchens, die eiskalt und feucht war.
»Nicht aufregen«, sagte sie beruhigend. »Wir werden bald landen.«
»Ich fürchte mich so«, schluchzte das Mädchen. »Es geht schief. Ich werde Papi nie wiedersehen, und ich habe mich doch so auf ihn gefreut.«
»Sie werden Ihren Papi bestimmt wiedersehen«, sagte Miriam tröstend. Sie hatte im Augenblick vergessen, welche Gedanken sie eben noch gehegt hatte.
»Kann ich behilflich sein?«, fragte Wendy leise.
»Vielen Dank«, erwiderte Miriam. »Ich bin Ärztin. Ich kann mich um die junge Dame kümmern.«
Mit tränenfeuchten Augen blickte das Mädchen sie an. »Sie können ruhig du zu mir sagen. Ich bin erst fünfzehn.«
Miriam legte ihren Arm um das zarte Geschöpf und fühlte durch den dünnen Pullover nur Knochen und dann einen Arm, den sie fast mit der Hand umschließen konnte.
Jetzt machte sie sich Vorwürfe. Da bin ich nun schon so lange Ärztin, dachte sie. Eigentlich hätte ich merken müssen, dass da ein krankes Wesen neben mir sitzt. Aber sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, und nun in den Sekunden wirklicher Gefahr erst erwachten ihre Lebensgeister wieder.
»Ich heiße Carolin«, flüsterte das Mädchen. »Papi nennt mich Carry. Er wartet auf mich. Endlich darf ich zu ihm und nun …«
»Pssst«, machte Miriam. »Nicht so schwarz sehen, Kleines. Ich habe schon sehr viel stürmischere Flüge erlebt, und wie du siehst, lebe ich immer noch.« Aber wie, dachte sie für sich. Doch sofort dachte sie dann wieder nur an dieses noch halbe Kind an ihrer Seite, das sich jetzt angstvoll an sie klammerte.
»Nonna wollte mich nicht zu Papi lassen«, sagte Carry stockend. »Oh, sie hat immer so böse von ihm gesprochen, und bestimmt trifft mich ihr Fluch, dass ich ihn nie wiedersehen soll.«
»Kind«, sagte Miriam erschüttert, »denk nicht so was.«
Nonna nannte man in Italien die Großmutter, und für Miriam war ihre Großmutter der Mensch, den sie in liebevollster Erinnerung behalten hatte.
»Sie hat das Flugzeug verflucht«, flüsterte Carry. »Bestimmt hat sie das. Sie wird nie richtig tot sein, ihr Hass bleibt lebendig. Das hat sie selbst gesagt.«
»Meine Damen und Herren, Ladies und Gentlemen«, sagte da Wendys Stimme, »wir setzen jetzt zur Landung an. Wir bitten Sie, Ruhe zu bewahren. Wegen der Schlechtwetterlage haben wir keine guten Bedingungen. Ich bitte Sie, sich vornüberzukauern und die Gurte so fest wie möglich zu ziehen. Bitte, geraten Sie nicht in Panik. Unser Flugkapitän hat sehr viel Erfahrung und wird bemüht sein, alle Schwierigkeiten zu meistern.«
Totenstille herrschte eine Sekunde, dann hörte man Schluchzen, Gebete und Flüche durcheinander, und niemand wusste wohl selbst so recht, was er tat und sagte.
*
Jonas Henneke rannte wie ein gefangener Tiger in der Halle des Flughafens hin und her. Sein flächiges, markantes Gesicht war kreidebleich. Seine Hände zu Fäusten geballt, bohrten sich in die Manteltaschen. Carry, dachte er, Liebling, ich will dich behalten, ich will dich endlich wiedersehen, für mich allein. Es darf nichts geschehen. Herrgott, beschütze mein Kind. Lass es nicht zu, dass ein Unglück geschieht. Ich will Carry nicht verlieren, ich will ihr alle Liebe geben, die ich ihr bisher nicht geben konnte.
Und wie er dachten viele in dieser Halle an andere geliebte Menschen, die sehnsüchtig erwartet wurden.
Und auch anderswo waren Menschen in Sorge. Dr. Daniel Norden war im Schritt durch den Nebel heimgefahren. Man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Als er aus seinem Wagen stieg, hörte er das dumpfe Motorengeräusch des Flugzeuges und blickte unwillkürlich zum Himmel, von dem man aber nichts sehen konnte. Undurchdringlich waren die Nebelschwaden.
Mein Gott, ging es ihm durch den Sinn, da wird doch kein Unglück geschehen. Wie soll sie denn herunterkommen bei diesem gemeinen Wetter?
Seine Frau Fee empfing ihn mit einem erleichterten Lächeln.
»Gott sei Dank, dass du heil da bist«, sagte sie, »und wie bin ich froh, dass vorgestern nicht solch ein scheußlicher Nebel war, als Katja und David aus London kamen.«
»Da oben kreist eine Maschine«, sagte Daniel Norden gedankenvoll. »Hoffentlich kann man sie an einen anderen Platz weiterleiten.«
»Vorhin sagten sie im Radio, dass die Flughäfen Frankfurt und Nürnberg auch gesperrt seien, und wahrscheinlich sieht es auf anderen Plätzen auch so aus«, sagte Fee. »Schrecklich! Ich möchte nicht wissen, was diese Leute für Angst ausstehen, die in solcher Maschine sitzen. Da kann man schon froh sein, wenn man sich nicht um einen Angehörigen sorgen muss.«
»Es ist einfach abscheulich, dass da aller technischer Fortschritt versagt und man nur auf den Allmächtigen die letzte Hoffnung setzen kann«, sagte Daniel. »Wollen wir hoffen, dass wir nicht eine Schreckensnachricht hören müssen, Liebes.«
Er ahnte nicht, dass in jenem Flugzeug eine Frau saß, die in diesem Augenblick an ihn dachte.
Du hast einmal zu mir gesagt, Daniel Norden, dachte Miriam Perez, solange Leben in einem Menschen ist, darf man die Hoffnung nicht aufgeben.
Sie hielt ihren Arm schützend über Carry. Sie dachte nicht an ihr eigenes Leben. Mit diesem hatte sie doch eigentlich schon abgeschlossen. Mit ihrem Körper wollte sie Carry schützen, die sich nach ihrem Vater sehnte und vor Angst bebte. Carry, die den Fluch der Nonna fürchtete und sich an Miriam klammerte, die doch vor wenigen Stunden noch eine Unbekannte für sie gewesen war. Miriam hatte in wenigen Minuten erfahren, dass Carry sich niemals in die liebevollen Arme einer Mutter hatte flüchten können, Carrys Mutter war kurz nach deren Geburt gestorben. Miriam hielt jetzt dieses junge Geschöpf fest an sich gepresst, ohne noch an sich oder irgendjemand zu denken, der ihr selbst nahegestanden hatte und hatte nur einen Gedanken, dass diese junge Carry ihren Vater wiedersehen müsse, nach dem sie sich sehnte, nach dem sie immer wieder rief. »Papi, Papi, liebster Papi.« Ein Kind voller Angst war sie, und doch hörte ihre Stimme nur Miriam, denn in dem Dröhnen der Maschinen und dem Geschrei angstvoller und auch in Hysterie ausbrechender Menschen ging diese zitternde Stimme unter.
Herr, betete Miriam im Stillen, beschütze dieses Kind. Nimm mein Leben für ihres. Mich wird niemand vermissen, und mir kann doch niemand helfen, auch nicht Daniel.
Nein, auch sie wurde sich nicht bewusst, welche Gedanken sie bewegten, als die Maschine nun hart aufsetzte und über die Landebahn holperte. Zusammengekauert hockten sie alle, bis die Maschine zum Stehen kam. So recht begreifen konnte es wohl keiner, dass sie nun aussteigen konnten, zitternd, bleich die meisten, doch manche schon wieder lächelnd, als hätten sie nicht auch gezweifelt und Angst gehabt.
»Na also«, brummte Holger Herwart, »nun kannst du dich mit deiner Fränzi amüsieren, Conny.«
Conny murmelte etwas Unverständliches, aber jetzt mussten auch sie beide zum Ausgang, um den schwankenden Passagieren zu helfen.
Holger warf Wendy nur einen kurzen Blick zu, fing ihr dankbares Lächeln auf und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Eine junge Frau fiel Holger um den Hals und küsste ihn spontan ab. »Danke, tausend Dank«, sagte sie bebend, und manche Hand mussten sie drücken, bevor einer nach dem anderen durch die Nebelschwaden auf das Gebäude zuwankte, dessen helle Beleuchtung nun gewiss machte, dass das Ziel ereicht war.
Miriam und Carry gingen zuletzt die Gangway hinab.
»Bleib bei mir, Miriam«, flüsterte Carry. So nahe waren sie sich in wenigen Minuten gekommen, dass ihr das Du ganz leicht von den blassen bebenden Lippen kam.
»Nun wirst du deinen Papi gleich wiedersehen«, sagte Miriam weich.
»Er muss dich kennenlernen. Ich will ihm sagen, wie du mir geholfen hast. Oh, ich danke dir so sehr.«
Gibt es das, fragte sich Miriam. Da saß man Stunden nebeneinander, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, und nun war es, als würden sie sich eine Ewigkeit kennen. Aber waren diese Minuten der Angst nicht eine Ewigkeit gewesen? Und hatte sie nicht nur Angst um dieses Mädchen gehabt?
In der Halle fielen sich Menschen in die Arme, manche stumm, manche schluchzend, und manche mit erleichtertem Lachen. An sein Gepäck dachte kaum jemand. Und dann war da plötzlich ein großer breitschultriger Mann, der Carry an sich riss und ihr kleines bleiches Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte.
»Mein Liebes, mein Kleines, Herrgott, ich danke dir, dass ich sie wiederhabe.«
Miriam hörte diese tiefe, erregte Stimme, sie sah den Mann, zu dem ein solcher Gefühlsausbruch gar nicht recht passen wollte. Hätte sie Jonas Henneke unter normalen Verhältnissen kennengelernt, hätte sie ihn als einen harten, nüchternen Mann eingeschätzt.
»Miriam hat mir so geholfen, Papi«, sagte Carry. »Ich wäre vor Angst gestorben, wenn sie nicht bei mir gewesen wäre.«
Graue glasklare Männeraugen blickten nun Miriam an, verwundert und ungläubig war ihr Ausdruck. Es war ein ganz eigenartiger Augenblick, als er geistesabwesend seinen Namen sagte, seltsam auch, dass er Miriam sofort im Gedächtnis blieb, obgleich dies ganz selten der Fall war.
»Ich danke Ihnen«, sagte er mit so ernstem Nachdruck, dass sie von einem unerklärlichen Gefühl erfasst wurde. Er sagte es so, als sei er überzeugt, dass sie Carry tatsächlich das Leben gerettet hatte.
»Der Dank gebührt unserem Piloten«, erwiderte sie stockend.
»Nicht allein«, sagte er leise. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«
»Miriam Perez«, entgegnete sie.
»Miriam ist Ärztin«, warf Carry ein, und ihre Stimme klang jetzt schon ein bisschen sicherer. »Bitte, komm mit zu uns, Miriam.«
»Aber das geht doch nicht, Kleines«, sagte Miriam unsicher.
»Sie werden erwartet?«, fragte Jonas Henneke.
Nein, auf sie wartete niemand. Es gab keinen Menschen, der wusste, dass sie sich in dieser Maschine befunden hatte. Wäre diese nicht sicher gelandet…, sie konnte nicht zu Ende denken, denn Jonas sagte: »Ich bitte Sie sehr herzlich, unser Gast zu sein, falls München für Sie nur ein Zwischenaufenthalt sein sollte.«
Ein Zwischenaufenthalt? Guter Gott, dachte Miriam. Sie war am Ende, seelisch und auch finanziell. Es gab hier nur einen Menschen, mit dem sie noch einmal, ein einziges Mal, sprechen wollte, Dr. Daniel Norden.
Deshalb hatte sie für diesen Flug ihr letztes Geld geopfert, bis auf ein paar Dollar, die sie noch in ihrer Tasche hatte.
»Sag doch ja, Miriam«, bat Carry. »Wir konnten doch gar nicht richtig miteinander reden. Ich wagte nicht, dich anzusprechen, weil du so in Gedanken versunken warst.« Carry sah ihren Vater an. »Erst, als es mit der Landung nicht klappte und ich so schreckliche Angst bekam, dass wir abstürzen, hat Miriam mich getröstet.«
Was ist das für eine eigenartige Frau, dachte Jonas Henneke, aber nun hatte er sein Kind wieder, sah es lebend vor sich und fand seine Selbstsicherheit zurück.
»Dann werden wir uns jetzt mal um das Gepäck kümmern und im Schneckentempo heimfahren«, sagte er.
»Bitte, Miriam, sag ja«, bat Carry wieder.
»Unser Haus hat viel Platz«, schloss Jonas sich an.
Und ich brauche keine Pension zu suchen, dachte Miriam, der Tatsache bewusst, dass ihr restliches Geld ohnehin gerade für eine Übernachtung reichen würde.
»Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte sie leise zu Jonas.
»Du hast mir doch so geholfen«, warf Carry ein. »Mein Herz hat schon fast ausgesetzt. Es ist nämlich nicht in Ordnung«, erklärte sie.
»Sie sind Ärztin«, sagte Jonas Henneke. »Sie spürten es wohl.«
Nein, hätte sie erwidern müssen. Denn sie hatte an Carrys Angst gedacht, nicht, dass sie ein krankes Herz haben könnte. Eher noch, dass sie unterernährt wäre. Was hatte sie eigentlich gedacht? Sie hatte geredet und Carry zugehört. Es war alles wie ein Traum gewesen, und sie hatte an ein Weiterleben doch gar nicht mehr geglaubt. Nur instinktiv hatte sie das Mädchen schützen wollen, das sich so vertrauensvoll an sie klammerte. Und sie hatte über Carry nachgedacht, die von ihrer Nonna sprach, als sei sie eine Hexe.
Ja, ich bin Ärztin, dachte sie, aber was für eine. Plötzlich waren die Depressionen wieder da, die verschwunden gewesen waren, als sie dieses angstvolle Kind trösten musste.
Sie war müde, unsagbar müde. Mechanisch griff sie nach ihrer abgeschabten Reisetasche, während Carry auf ihre Koffer deutete, die Jonas an sich nahm.
»Ist das ihr ganzes Gepäck?«, fragte Jonas leicht erstaunt.
Miriam nickte. Es ist alles, was ich noch besitze, hätte sie erwidern müssen. Sie sagte es nicht.
»Es ist schön, dass du mitkommst und Papi dich auch kennenlernt«, sagte Carry. »Wir sind richtige Freundinnen geworden, nicht wahr, Miriam?«
Sie war so naiv, so kindlich, dass es fast ergreifend war. Miriam hatte Mädchen ihres Alters kennengelernt, die schon eifrig Jagd auf Männer machten, die verdorben waren bis auf den Grund ihrer Seele. Sie hatte eines kennengelernt, das nicht viel älter war als Carry, und ihr den einzigen Mann weggenommen hatte, den sie liebte, zu lieben glaubte. Und nicht dies allein. Jenes Mädchen hatte ihr viel mehr angetan.
Jetzt ging sie an der Seite eines Mädchens, das ihr vor wenigen Stunden noch ganz fremd war, hinter einem Mann her, der zielbewusst auf einen hellen Wagen zusteuerte.
Wohin treibt das Schicksal mich jetzt?, fragte sich Miriam. Sie fuhren durch den Nebel, langsam und vorsichtig steuerte Jonas Henneke seinen Wagen. Miriam und Carry saßen auf dem Rücksitz. Unwillkürlich hatte Miriams Hand sich jetzt um das Handgelenk des Mädchens gelegt. Der Puls ging nun beschleunigt. Sie überlegte, an welcher Herzkrankheit Carry leiden könnte, und plötzlich wurde es ihr heiß und kalt, weil sie echte Angst um dieses Mädchen hatte, als würde es zu ihr gehören, als wäre es ihr Kind.
Ein eigentümliches Gefühl war das, da sie doch gemeint hatte, gar nichts mehr empfinden zu können.
»Abscheulich, dieses Wetter«, sagte Jonas. »Ausgerechnet heute.«
Er sprach abgehackt und mehr zu sich selbst und auch so, als denke er dabei an etwas anderes. Und Miriam ging es durch den Sinn, dass sie unter normalen Umständen wohl Carrys Bekanntschaft nie gemacht hätte. Sie wären sich am Ende der Reise so fremd gewesen wie am Anfang, denn Carry hätte ihre Scheu nicht ablegen können, und sie wäre weiter in Erinnerungen versunken geblieben.
»Geht es dir jetzt besser, Liebling?«, fragte Jonas seine Tochter.
»Wir sind ja zusammen«, erwiderte Carry leise. Sie lehnte den Kopf an Miriams Schulter.
»Etwas Gutes hätte alles, habe ich einmal in einem Buch gelesen«, sagte Carry. »Miriam hätte ich nicht anzusprechen gewagt, wenn nicht diese schreckliche Situation eingetreten wäre.«
Nun sprach sie Miriams Gedanken aus.
»Warum eigentlich nicht?«, fragte Jonas.
»Weil sie sich gar nicht rührte. Ich dachte, sie würde schlafen«, sagte Carry. »Sie hatte immer die Augen geschlossen.«
»Ich hatte schon eine weite Reise hinter mir«, sagte Miriam. »Rom war nur Zwischenstation.«
»Woher bist du gekommen?«, fragte Carry zögernd, aber schon viel weniger scheu.
»Aus Beirut.«
»Ist das Leben für eine Europäerin dort nicht ziemlich schwierig?«, fragte Jonas.
»Ich war an einer Klinik tätig. Ich hatte meinen Beruf«, erklärte Miriam. »Eine Europäerin bin ich eigentlich auch nicht. Ich bin in Teheran aufgewachsen und habe nur in Deutschland studiert.«
»In München?«, fragte Jonas.
»Ja, in München«, erwiderte Miriam schleppend.
»Es gefiel Ihnen hier nicht?«, fragte Jonas.
»Doch, es gefiel mir sehr.«
Er spürte an ihrem Tonfall, dass sie nichts mehr sagen wollte. Jonas war ein guter Menschenkenner. Für ihn war Miriam bis jetzt ein unerforschtes Wesen, dem er Sympathie entgegenbrachte, weil sie sich seiner Tochter angenommen hatte. Sie müsste Mitte dreißig sein, dachte er. Jünger bestimmt nicht. Sie sieht auch so aus, als hätte sie eine schwere Zeit hinter sich. Die Bräune täuscht. Aber es konnte auch sein, dass die schwierige Landung nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Er hatte sich ja auch aufgeregt, obgleich er nicht zu jenen Menschen gehörte, die immer gleich das Schlimmste vermuten. Er ließ jetzt den Wagen ausrollen. Von Nebelschwaden verhüllt war auch das Haus, das sie dann betraten, aber er hatte, bevor er wegfuhr, alle Räume erhellt. Wärme hüllte sie ein. Eine gemütliche Diele im bäuerlichen Stil sah Miriam, als sie durch die Tür trat, die er aufgeschlossen hatte. Eine etwa sechzigjährige Frau erschien in der gegenüberliegenden Tür.
»Endlich«, sagte sie erleichtert. »Ich war schon bange.«