Alles ist möglich - Elizabeth Strout - E-Book

Alles ist möglich E-Book

Elizabeth Strout

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Beschreibung

In ihrem neuen Roman erzählt Elizabeth Strout unvergessliche Geschichten über die Menschen einer Kleinstadt, die sich nach Liebe und Glück sehnen, aber oft Kummer und Schmerz erleben.

Da sind zwei Schwestern: Die eine gibt für die Ehe mit einem reichen Mann ihre Selbstachtung auf, während die andere sich von einem Buch dazu inspirieren lässt, ihr Leben zu ändern. Der Hausmeister der Schule will einem Außenseiter helfen und stürzt dabei in eine Glaubenskrise; eine erwachsene Frau sehnt sich immer noch wie ein Kind nach der Liebe ihrer Mutter. Und eine in New York erfolgreiche Schriftstellerin kehrt nach siebzehn Jahren zum ersten Mal in ihre Heimat zurück, um ihre Geschwister zu besuchen.

Die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle, von Hass und Neid, Einsamkeit und Wut bis zu innigster Menschenliebe entfaltet sich in diesen Familiengeschichten. Es sind Geschichten über die Natur des Menschen in all seiner Verletzlichkeit und Stärke, über die unendliche Vielfältigkeit des Lebens.

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Seitenzahl: 328

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Zum Buch

In Amgash, einem kleinen Kaff zwischen Mais- und Sojabohnenfeldern in Illinois, ist Lucy Barton in tiefster Armut aufgewachsen. Heute lebt sie als Schriftstellerin in New York, doch die Leute in Amgash haben sie auch zwei Jahrzehnte danach nicht vergessen. Ihr Bruder Pete verfolgt Lucys Karriere mit einem gewissen Stolz, obwohl er selbst in der armseligen Bruchbude von damals wohnt, allein, ein geächteter Außenseiter; ihre Schwester Vicky hingegen, die als Altenpflegerin arbeitet, hegt immer noch einen tiefen Groll gegen sie. Eine Pensionsbesitzerin, ein traumatisierter Kriegsveteran, eine Kunsthändlerin, eine verwitwete Lehrerin – sie alle verbindet die Bekanntschaft mit Lucy Barton, sie alle kommen aus dieser Kleinstadt, wo das Leben weitergegangen ist, wo Geschichten entstehen, die einem das Herz zerreißen, Geschichten von Neid und Missgunst, von Angst und Einsamkeit, aber auch Geschichten, in denen Momente des Glücks leuchten und eine tiefe Liebe zu den Menschen durchscheint.

Zur Autorin

ELIZABETH STROUT wurde 1956 in Portland, Maine, geboren und wuchs in Kleinstädten in Maine und New Hampshire auf. Nach dem Jurastudium begann sie zu schreiben. Inzwischen hat sie mehrere Romane veröffentlicht, die alle Bestseller waren. Für ihren Roman »Mit Blick aufs Meer« bekam sie 2009 den Pulitzerpreis, »Die Unvollkommenheit der Liebe« kam auf die Shortlist des Man Booker Prize 2016. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.

Zur Übersetzerin

SABINE ROTH, geb. 1963 in München, Literaturstudium in München, Toronto, Canterbury und Oxford, hat Werke von u. a. Jane Austen, John le Carré, Hilary Mantel und V. S. Naipaul übersetzt.

Elizabeth Strout

Alles ist möglich

Roman

Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth

Luchterhand

Für meinen Bruder Jon Strout

Das Zeichen

Tommy Guptill hatte früher ein Milchbetrieb gehört, den er von seinem Vater geerbt hatte, gut zwei Meilen außerhalb von Amgash, Illinois. Das war jetzt viele Jahre her, aber noch heute schreckte Tommy manchmal aus dem Schlaf hoch, wenn ihn wieder die Bilder der Nacht bedrängten, als sein Hof abgebrannt war. Das Haus war mit abgebrannt; der Wind hatte die Funken zum Haus hinübergetragen, das nicht weit von den Ställen stand. Es war seine eigene Schuld gewesen – etwas anderes wäre ihm nie eingefallen –, weil er sich an dem Abend nicht vergewissert hatte, dass die Melkmaschinen alle ordnungsgemäß abgeschaltet waren, und bei den Melkmaschinen war das Feuer ausgebrochen. Und nachdem es einmal ausgebrochen war, hatte es in Windeseile um sich gegriffen. Sie hatten alles verloren, bis auf den Messingrahmen des Wohnzimmerspiegels, den er am nächsten Tag in den Trümmern entdeckt und einfach liegen gelassen hatte. Die Leute sammelten für sie, etliche Wochen gingen seine Kinder in den Kleidern ihrer Klassenkameraden zur Schule, bis er seine Sinne und das wenige Geld, das er besaß, halbwegs beisammenhatte; das Land verkaufte er dem Besitzer der Nachbarfarm, aber viel brachte es nicht ein. Dann kauften er und seine Frau, eine kleine, hübsche Frau namens Shirley, neue Kleider, und er kaufte auch ein Haus; Shirley hatte das alles bewundernswert gut verkraftet. Es reichte nur zu einem Haus in Amgash, einem heruntergewirtschafteten Ort, und seine Kinder mussten die Schule wechseln; zuvor hatten sie die Schule in Carlisle besuchen können, denn die Farm lag genau an der Grenze zwischen den beiden Landkreisen. Tommy nahm eine Stelle als Hausmeister in der Schule an; es war etwas Beständiges an dem Job, das ihm zusagte, und auf der Farm eines anderen hätte er nicht arbeiten können, das hätte er nicht ertragen. Er war zu der Zeit fünfunddreißig Jahre alt.

Die Kinder waren inzwischen erwachsen, sie hatten eigene Kinder, die auch schon erwachsen waren, und er und Shirley lebten noch immer in ihrem Häuschen; Shirley hatte rundherum Blumen gepflanzt, was man in dieser Stadt sonst nicht oft sah. Tommy hatte sich zur Zeit des Feuers große Sorgen um seine Kinder gemacht: Eben noch hatten sie ein Zuhause gehabt, zu dem Schulausflüge unternommen wurden – jedes Frühjahr waren die Fünftklässler aus Carlisle für einen Tag zu ihnen herausgekommen, um auf den Holzbänken draußen ein Picknick zu machen und dann durch die Ställe zu trappeln, wo die Kühe gemolken wurden und wo durchsichtige Plastikschläuche die weiße, schäumende Flüssigkeit zur Decke hinaufpumpten und dort über ihren Köpfen entlangbeförderten –, und nun mussten sie zuschauen, wie ihr Vater, in grauer Hose und einem weißen Hemd, auf dem ein rotes Tommy eingestickt war, das »Zauberpulver« wegfegte, das über das Erbrochene gestreut wurde, wenn ein Kind sich im Gang übergeben hatte.

Nun gut. Sie hatten es alle überlebt.

An diesem Vormittag war Tommy nach Carlisle unterwegs, um Besorgungen zu machen; es war ein sonniger Samstag im Mai, und bis zum zweiundachtzigsten Geburtstag seiner Frau blieben nur noch ein paar Tage. Er fuhr langsam; ringsum breiteten sich Felder aus, der Mais war frisch gepflanzt, die Sojabohnen ebenso. Eine Reihe von Äckern lag noch brach, gepflügt und bereit für die Saat, aber hauptsächlich war da der hohe blaue Himmel mit ein paar vereinzelten weißen Wölkchen nahe dem Horizont. Tommy fuhr an dem Schild an der Stichstraße vorbei, auf der man zu den Bartons kam; SCHNEIDER- UNDÄNDERUNGSARBEITEN stand da immer noch, obwohl die Frau, die das Schneidern und Ändern besorgt hatte, Lydia Barton, schon seit vielen Jahren tot war. Die Bartons waren Ausgestoßene gewesen, selbst in einem Städtchen wie Amgash, was an ihrer extremen Armut und ihrem merkwürdigen Verhalten lag. Das Älteste der Kinder, ein Mann namens Pete, lebte jetzt allein in dem Haus, die mittlere Tochter wohnte zwei Ortschaften weiter, und die Jüngste, Lucy Barton, war vor Jahren schon von hier geflohen und schließlich in New York gelandet. Tommy hatte viel über Lucy nachdenken müssen. Sie war nach dem Unterricht immer in der Schule geblieben, allein in einem der Klassenzimmer, von der Vierten bis in ihr Abschlussjahr; es hatte mehrere Jahre gedauert, bis sie ihm auch nur ins Gesicht schauen konnte.

Aber jetzt näherte sich Tommy der Stelle, wo früher sein Hof gestanden hatte – nur noch Äcker jetzt, nichts deutete mehr auf die Farm hin –, und dachte, wie so oft, an sein damaliges Leben. Es war ein gutes Leben gewesen, aber er bedauerte nicht, was geschehen war. Es lag nicht in Tommys Wesen, Vergangenem nachzutrauern, und in der Nacht des Feuers – inmitten seiner wahnsinnigen Angst – hatte er begriffen, dass alles, was auf dieser Welt zählte, seine Frau und die Kinder waren, und er dachte, dass andere ihr ganzes Leben lebten, ohne sich dessen so klar und so konstant bewusst zu sein wie er. Insgeheim sah er das Feuer als Gottes Zeichen an ihn, dieses Geschenk gut zu hüten. Insgeheim, denn er wollte nicht als der Typ Mensch dastehen, der sich eine Tragödie schönredete, und niemand, nicht einmal seine innig geliebte Frau, sollte solche Anwandlungen bei ihm vermuten. Aber während seine Frau in jener Nacht mit den Kindern vorn bei der Straße stand – er hatte sie alle aus dem Haus gescheucht, sowie er das Feuer im Stall entdeckte – und er die gewaltigen Flammen in den Nachthimmel emporschlagen sah und dann das furchtbare Brüllen der darin gefangenen Kühe hörte, da hatte er alles Mögliche gefühlt, doch in der Sekunde, als das Dach des Wohnhauses einstürzte, einfach in das Haus selbst stürzte, in ihre Schlafzimmer und in das Wohnzimmer darunter mit all den Fotos seiner Kinder und seiner Eltern, in dieser Sekunde hatte er etwas gespürt, unbestreitbar, das er nur als die Nähe Gottes begreifen konnte, und er hatte plötzlich gewusst, warum Engel immer mit Flügeln dargestellt wurden, denn genauso hatte es sich angefühlt, wie ein Rauschen von Schwingen, und dann war es, als rückte Gott, der kein Gesicht hatte, aber ganz klar Gott war, dicht an ihn heran und übermittelte ihm ohne Worte – so kurz, so flüchtig – eine Botschaft, die Tommy erreichte als: Es ist gut, Tommy. Und da begriff Tommy: Ja, es war gut. Es überstieg seine Vernunft, aber es war gut so. Und tatsächlich dachte er später oft, dass seine Kinder vielleicht zu mitfühlenderen Menschen herangewachsen waren, weil ihre Mitschüler aus armen Elternhäusern stammten statt aus solchen, wie sie es selbst einmal gewohnt gewesen waren. Seither hatte er zwar vereinzelt Gottes Gegenwart gespürt, eine Empfindung, als wäre ihm ein goldenes Leuchten sehr nahe, aber nie wieder empfing er eine Botschaft von Gott wie in dieser Nacht, und er wusste nur zu gut, was die Leute dazu sagen würden, weshalb es auch bis an sein Lebensende ein Geheimnis bleiben musste – sein Zeichen von Gott.

Dennoch, an einem Frühlingsmorgen wie diesem erinnerte ihn der Geruch nach Erde an den Geruch seiner Kühe, an ihre feuchten Mäuler und warmen Leiber, seine Ställe (er hatte zwei Ställe gehabt), und er überließ sich ein Weilchen den versprengten Szenen, oder Bruchstücken von Szenen, die ihm durch den Sinn trieben. Vielleicht weil er eben an der Einfahrt der Bartons vorbeigekommen war, fiel ihm der Mann ein, Ken Barton, der Vater dieser armen, unglücklichen Kinder, der ab und zu auf der Farm ausgeholfen hatte, und dann dachte er – wie er es manchmal tat – an Lucy, die aufs College gegangen und zuletzt in New York gelandet war. Sie schrieb jetzt Bücher.

Lucy Barton.

Tommy schüttelte ganz leicht den Kopf beim Fahren. In den mehr als dreißig Jahren, die er in der Schule dort Hausmeister gewesen war, hatte er so einiges mitbekommen. Er wusste von den Schwangerschaften einzelner Schülerinnen, von betrunkenen Müttern und fremdgehenden Vätern, denn er hörte, was die Schüler redeten, wenn sie in Grüppchen vor den Toiletten oder bei der Cafeteria standen; in gewisser Weise war er unsichtbar, das begriff er gut. Aber Lucy Barton hatte ihn am stärksten beschäftigt. Sie und ihre Schwester Vicky und Pete, der Bruder, waren von den anderen Kindern und sogar einigen der Lehrer grausam verspottet worden. Aber da Lucy so viele Jahre hindurch nach dem Unterricht noch geblieben war, schien sie ihm (auch wenn sie selten den Mund aufmachte) am vertrautesten. Einmal, sie war in der Vierten gewesen und er in seinem ersten Jahr an der Schule, hatte er die Tür zu einem der Klassenzimmer geöffnet, und da lag sie auf drei aneinandergeschobenen Stühlen dicht vor der Heizung, ihre Jacke als Decke über sich, fest schlafend. Er hatte sie angestarrt, ihre Brust, die sich leicht hob und senkte, hatte die Schatten unter ihren Augen bemerkt und die Wimpern, die sich auffächerten wie kleine, blinkende Sterne, denn ihre Lider glänzten feucht, als hätte sie vor dem Einschlafen geweint, und dann hatte er sich fortgeschlichen, so leise er nur konnte; es war ihm fast ungehörig vorgekommen, dass er sie so sah.

Aber ein andermal, daran musste er jetzt denken – in der Mittelstufe musste sie damals gewesen sein –, war er ins Klassenzimmer gekommen, und sie stand an der Tafel und malte etwas. Als er eintrat, hörte sie auf. »Lass dich nicht stören«, sagte er. An die Tafel war eine Rebe mit vielen kleinen Blättchen gemalt. Lucy machte einen Schritt von der Tafel weg und öffnete dann plötzlich den Mund. »Ich hab die Kreide zerbrochen«, sagte sie. Nicht schlimm, sagte Tommy. »Mit Absicht«, fügte sie hinzu, und er meinte ein winziges Lächeln aufblitzen zu sehen, bevor sie den Blick abwandte. »Mit Absicht?«, wiederholte er, und sie nickte, wieder mit diesem Anflug eines Lächelns. Also nahm er selbst ein Stück Kreide, ein ganz langes, noch unbenutztes, und brach es mittendurch und zwinkerte ihr zu. In seiner Erinnerung entschlüpfte ihr darauf fast ein Kichern. »Hast du das gemalt?«, fragte er und zeigte auf die Rebe mit den vielen Blättchen. Und sie zuckte die Achseln und drehte sich weg. Aber normalerweise saß sie einfach an einem Pult und las oder machte ihre Hausaufgaben, er konnte sehen, dass es Hausaufgaben waren.

Jetzt hielt er an einem Stoppschild und sagte sich leise seinen kleinen Reim vor: »Lucy, Lucy, Lucy B., wie hast du’s raus geschafft hier, wie?«

Er wusste, wie. Im Frühling ihres Abschlussjahres war er ihr nach dem Unterricht auf dem Gang begegnet, und sie hatte zu ihm gesagt, mit staunendem Blick, die Züge plötzlich so offen, so gelöst: »Mr Guptill, ich darf aufs College!« Und er hatte gesagt: »Ach, Lucy. Das ist ja wunderbar.« Und sie hatte die Arme um ihn geworfen, richtig fest hatte sie ihn gehalten, also hatte er sie ebenfalls gedrückt. Er vergaß diese Umarmung nie, weil das Mädchen so dünn war, er konnte die Knochen und den kleinen Busen spüren, und auch weil er sich hinterher gefragt hatte, wie oft – wie selten – dieses Kind in seinem Leben umarmt worden war.

Tommy fuhr wieder an, hier begann Carlisle, und gleich dort vorn war eine Parklücke. Er stellte den Wagen ab, stieg aus und blinzelte gegen die Sonne an. »Tommy Guptill!«, rief eine Männerstimme, und als er sich umdrehte, sah er Griff Johnson mit seinem unverkennbaren Humpeln, denn Griffs eines Bein war kürzer als das andere, so dass selbst der erhöhte Schuh das Hinken nicht ganz verhindern konnte. Griffs Arm war schon ausgestreckt. »Griffith!«, sagte Tommy, und sie schüttelten sich kräftig die Hände, während auf der Main Street langsam die Autos vorbeirollten. Griff war der Versicherungsvertreter hier in Carlisle, und er war Tommy gegenüber enorm fürsorglich gewesen; als er feststellte, dass Tommys Betrieb nicht über die volle Höhe versichert war, hatte er gesagt: »Ich hab Sie zu spät kennengelernt«, und das stimmte. Aber Griff mit seinem freundlichen Gesicht und dem inzwischen doch recht kugeligen Bauch hatte Tommy auch später nach Kräften geholfen, überhaupt kannte Tommy eigentlich keinen einzigen Menschen, der ihm nicht geholfen hätte. Eine kleine Brise wehte um sie herum, während sie einander von ihren Kindern und Enkelkindern berichteten; ein Enkel von Griff war drogenabhängig, was Tommy aufrichtig leidtat, er hörte schweigend zu und nickte und sah hinauf in die Bäume entlang der Main Street mit ihrem glänzenden jungen Laub, und dann erzählte Griff von einem anderen Enkel, der jetzt Medizin studierte, und Tommy sagte: »Mann, das ist ja großartig, Hut ab«, und sie klopften sich noch einmal auf die Schulter und gingen ihrer Wege.

Im Kleidergeschäft mit seinem bimmelnden Glöckchen über der Ladentür traf er Marilyn Macauley, die gerade ein Kleid anprobierte. »Tommy! Was bringt Sie denn hierher?« Marilyn wollte das Kleid zur Taufe ihrer Enkelin in ein paar Wochen tragen, sagte sie, während sie am Rock zupfte. Es war ein beiges Kleid mit einem wirbelnden Muster aus roten Rosen; sie hatte die Schuhe ausgezogen und stand in Strümpfen da. Natürlich sei das übertriebener Luxus, ein neues Kleid für so einen Anlass, aber irgendwie sei ihr danach. Tommy – der Marilyn seit vielen Jahren kannte, schon als Highschool-Schülerin in Amgash – spürte ihre Verlegenheit und versicherte ihr, dass er es kein bisschen übertrieben fand. Und dann fragte er: »Wenn Sie noch kurz Zeit haben, Marilyn, könnten Sie mir vielleicht helfen, etwas für meine Frau auszusuchen?« Sofort war sie ganz Effizienz und sagte, sehr gern, und verschwand in der Umkleidekabine und kam in ihren normalen Kleidern wieder heraus, schwarzer Rock, blauer Pullover, dazu ihre flachen schwarzen Schuhe, und führte Tommy geradewegs zu den Schals hinüber. »Da«, sagte sie und zog einen roten Schal heraus, der mit einem Muster aus Goldfäden durchwebt war. Tommy nahm ihn, griff aber mit der freien Hand nach einem geblümten. »Oder den hier?«, sagte er. Und Marilyn sagte: »Ja, der passt vielleicht sogar besser zu Shirley«, und da war Tommy klar, dass Marilyn den roten Schal gern selbst gehabt hätte, ihn sich aber niemals leisten würde. Damals, in seinem ersten Jahr als Hausmeister, war Marilyn ein bildhübsches Mädchen gewesen, das Tommy immer mit Namen grüßte, »Hi, Mr Guptill«, und nun war sie eine ältere Frau, nervös, mager, mit vergrämtem Gesicht. Wie alle anderen schob auch Tommy es darauf, dass ihr Mann in Vietnam gekämpft hatte und danach nie wieder der Alte gewesen war. Tommy begegnete Charlie Macauley manchmal in der Stadt, und er wirkte jedes Mal weit weg, der Ärmste, und die arme Marilyn auch. Also behielt Tommy den roten Schal mit den Goldfäden ein Weilchen in der Hand, als würde er ihn in Betracht ziehen, und sagte dann: »Ja, Sie haben recht, der hier passt noch besser zu ihr«, und trug den Blümchenschal zur Kasse und dankte Marilyn sehr für ihre Hilfe.

»Da freut sie sich bestimmt«, sagte Marilyn, und Tommy sagte, ja, das glaube er auch.

Vom Kleidergeschäft ging Tommy weiter in die Buchhandlung. Er dachte, es könnte vielleicht ein Gartenbuch geben, das seiner Frau gefallen würde, und als er sich in dem Raum umsah, erblickte er – ganz zentral aufgestellt – ein eigenes Tischchen mit Lucy Bartons neuestem Buch. Er nahm es in die Hand – vorn auf dem Umschlag war ein Hochhaus abgebildet – und drehte es um zu der Rückseite mit ihrem Foto. Wenn sie ihm heute über den Weg liefe, dachte er, würde er sie wahrscheinlich nicht erkennen, und nur weil er wusste, dass sie es war, entdeckte er in ihren Zügen Spuren von früher, in ihrem Lächeln, in dem noch immer etwas Schüchternes lag. Wieder fiel ihm dieser Nachmittag in der Schule ein, das seltsame kleine Aufblitzen in ihrem Gesicht, als sie sagte, sie habe die Kreide mit Absicht zerbrochen. Sie war jetzt eine nicht mehr junge Frau, das Bild zeigte sie mit zurückgebundenem Haar, und je länger er es ansah, desto stärker kam das Mädchen von damals zum Vorschein. Tommy machte einer Mutter mit zwei kleinen Kindern Platz, die an ihm vorbeimanövrierte und dabei »’tschuldigung, danke« sagte, und er sagte: »Nichts zu danken«, und dann fragte er sich – wie er es manchmal tat –, wie Lucys Leben wohl verlaufen war, so fern von hier in der großen Stadt New York.

Er stellte ihr Buch zurück auf das Tischchen und ging die Verkäuferin suchen, um sie nach einem Gartenbuch zu fragen. »Da hätte ich was für Sie, das hier haben wir ganz frisch reingekriegt«, und das Mädchen – das natürlich kein Mädchen war, aber heutzutage kamen sie Tommy alle wie Mädchen vor – brachte ihm ein Buch mit Hyazinthen auf dem Einband, und er sagte: »Oh, das sieht fabelhaft aus.« Ob sie es ihm einpacken solle, wollte die Verkäuferin wissen, und er sagte, ja, das wäre wunderbar, und schaute ihr zu, wie sie es in das Silberpapier einschlug, mit ihren blau lackierten Fingernägeln, so konzentriert, dass die Zungenspitze zwischen den Zähnen hervorlugte; sie klebte einen letzten Streifen Tesa auf das Päckchen und streckte es ihm lächelnd hin. »Fabelhaft«, sagte er noch einmal, und beide wünschten sie sich einen schönen Tag. In dem hellen Sonnenschein draußen überquerte er die Straße; er musste Shirley das von Lucys Buch erzählen, dachte er; sie hatte immer großen Anteil an Lucys Schicksal genommen, weil Tommy Anteil daran nahm. Dann stieg er ins Auto, stieß aus der Parklücke und fuhr aus der Stadt hinaus.

Der Johnson-Junge fiel Tommy wieder ein, der nicht von den Drogen loskam, und dann wanderten seine Gedanken zu Marilyn Macauley und ihrem Mann Charlie und von ihnen weiter zu seinem älteren Bruder, der vor ein paar Jahren gestorben war, und er dachte daran, dass sein Bruder – der im Zweiten Weltkrieg gewesen war, der die Befreiung der Konzentrationslager miterlebt hatte –, er dachte daran, dass auch sein Bruder als ein anderer Mensch aus dem Krieg heimgekehrt war; seine Ehe war zerbrochen, die Kinder hatten sich von ihm abgewandt. Kurz vor seinem Tod hatte er Tommy von den Dingen erzählt, die er im Konzentrationslager gesehen hatte, von den Stadtbewohnern, die er und die anderen Soldaten durch das Lager führen mussten, damit auch sie sahen, was sich in ihrer nächsten Nachbarschaft abgespielt hatte. Einmal hatten sie eine Gruppe von Frauen aus der Stadt durchs Lager geführt, und obwohl einige von ihnen weinten, hätten andere das Kinn vorgereckt und zornig gewirkt, sagte Tommys Bruder, so als dächten sie gar nicht daran, sich schlecht zu fühlen. Das Bild hatte sich Tommy eingeprägt, und er fragte sich, warum es ihm ausgerechnet jetzt in den Sinn kam. Er ließ das Fenster ganz herunter. Ihm schien, je älter er wurde (und langsam wurde er wirklich alt), desto klarer sah er, wie wenig er diesen verwirrenden Widerstreit zwischen Gut und Böse begriff, und vielleicht waren die Menschen ja schlicht nicht dafür gemacht, dass sie die Dinge hier auf Erden begriffen.

Aber als das Schild in Sicht kam, SCHNEIDER- UNDÄNDERUNGSARBEITEN, bremste er und bog in die lange Stichstraße ein, die zum Haus der Bartons führte. Nach dem Tod von Ken – Petes Vater – hatte Tommy es sich angewöhnt, dann und wann nach Pete zu schauen, der inzwischen natürlich kein Kind mehr war, sondern ein älterer Mann. Pete war allein in dem Haus wohnen geblieben, und Tommy hatte ihn mehrere Monate nicht mehr gesehen.

Die Straße zog sich, es war einsam hier draußen, darüber hatten Shirley und er im Lauf der Jahre immer wieder gesprochen, eine solche Abgeschiedenheit tat Kindern nicht gut. Nach der einen Seite hin wuchsen Sojabohnen, nach der anderen Mais. Den einsamen Baum, der inmitten der Maisfelder stand – riesig –, hatte vor einigen Jahren der Blitz getroffen, er lag jetzt auf der Seite, seine langen Äste, kahl und geborsten, ragten zum Himmel hinauf.

Der Pick-up war da, neben dem kleinen Haus, das so viele Jahre nicht mehr gestrichen worden war, dass es verwaschen aussah, die Schindeln ausgebleicht, lückenhaft. Die Rollos waren heruntergelassen wie immer, und Tommy stieg aus und klopfte an die Tür. Während er in der Sonne wartete, musste er wieder an Lucy Barton denken, wie dünn sie immer gewesen war, erschreckend dünn, mit langen blonden Haaren, und so gut wie nie erwiderte sie seinen Blick. Einmal, mein Gott, wie klein sie da noch gewesen war, kam er nach der Schule in ein Klassenzimmer, wo sie saß und las, und sie fuhr hoch – sprang richtiggehend in die Höhe vor Angst –, als die Tür aufging. Er sagte hastig: »Nein, nein, alles gut.« Aber dieser Anblick – das Aufspringen, die nackte Angst in ihrem Gesicht – machte ihm zum ersten Mal klar, dass sie daheim geschlagen wurde. Es konnte nicht anders sein, warum sonst sollte das Aufgehen einer Tür sie dermaßen in Furcht versetzen. Von da an beobachtete er sie genauer, und an manchen Tagen meinte er einen Bluterguss, gelblich oder bläulich, an ihrem Hals oder einem Arm auszumachen. Er erzählte es seiner Frau, und Shirley sagte: »Oh, Tommy, was können wir nur tun?« Und er grübelte, und sie grübelte, und sie kamen zu dem Schluss, dass sie sich heraushalten mussten. Aber bei dieser Gelegenheit erzählte Tommy seiner Frau auch, wobei er Ken Barton, Lucys Vater, ertappt hatte, Jahre zuvor, als es die Farm noch gab und Ken ihm manchmal etwas an den Maschinen reparierte. Tommy war um einen der Ställe herumgegangen, und da stand Ken Barton, die Hose um die Knöchel, und fummelte an sich rum, fluchend – was für eine Vorstellung, einen Menschen bei so etwas zu erwischen! Tommy sagte: »Das lassen wir hier schön bleiben, Ken«, worauf sich der Mann umdrehte und mit seinem Pick-up wegfuhr und sich eine Woche lang nicht mehr blicken ließ.

»Tommy, warum hast du mir das nie gesagt?« Shirleys blaue Augen starrten ihn schreckgeweitet an.

Und Tommy sagte, er sei selbst zu schockiert gewesen.

»Tommy, wir müssen etwas tun«, sagte seine Frau wieder. Und sie sprachen es nochmals durch und kamen erneut zu dem Schluss, dass es nichts gab, was sie tun konnten.

Das Rollo wackelte ganz leicht, und dann ging die Tür auf, und Pete Barton stand da. »Tag, Tommy«, sagte er. Pete trat hinaus ins Sonnenlicht, zog die Tür hinter sich zu und stellte sich neben Tommy, und Tommy wurde klar, dass der andere ihn nicht im Haus haben wollte; schon jetzt drang Tommy ein dumpfer Geruch entgegen, vielleicht von Pete selbst.

»Ich war zufällig in der Nähe und wollte kurz schauen, wie’s dir geht.« Tommys Tonfall war beiläufig.

»Danke, alles in Ordnung. Danke dir.« In dem hellen Sonnenschein wirkte Petes Gesicht blass, und sein Haar war inzwischen fast vollständig grau, aber es war ein fahles Grau, passend zu den ausgebleichten Schindeln der Hauswand.

»Du arbeitest zurzeit drüben bei den Darrs, oder?«, fragte Tommy.

»Im Moment schon noch«, sagte Pete, wobei er dort so gut wie fertig war, aber danach wartete bereits der nächste Auftrag in Hanston auf ihn.

»Sehr gut.« Tommy blinzelte zum Horizont hin, nichts als Sojabohnenfelder vor ihm, ihr Grün leuchtend vor dem Braun des Bodens. Ganz hinten am Horizont zeichnete sich Pedersons Scheune ab.

Sie unterhielten sich über verschiedene Landmaschinen und dann über den Windpark, der vor einiger Zeit zwischen Hanston und Carlisle entstanden war. »Man muss sich wohl einfach an den Anblick gewöhnen«, sagte Tommy. Und Pete sagte, da habe Tommy wahrscheinlich recht. Der eine Baum, der neben der Einfahrt wuchs, trieb schon kleine Blätter, und die Zweige schwankten einen Moment lang im Wind.

Pete lehnte sich an Tommys Auto, die Arme vor der Brust verschränkt. Er war ein großer Mann, aber so mager, dass sein Brustkasten fast eingedellt schien. »Warst du im Krieg, Tommy?«

Die Frage überraschte Tommy. »Nein«, sagte er. »Nein, ich war zu jung, ganz knapp nur. Aber meinen älteren Bruder haben sie eingezogen.« Auf und ab wippten die Zweige des Baums, einmal nur, als hätte der Baum einen Windzug gespürt, den Tommy nicht spürte.

»Wo war er?«

Tommy zögerte. Dann sagte er: »Er war für die Konzentrationslager eingeteilt, bei Kriegsende, er war bei der Einheit, die nach Buchenwald kam.« Tommy blinzelte in den Himmel hinauf, griff dann in die Tasche und setzte die Sonnenbrille auf. »Es hat ihn verändert. Ich kann nicht sagen, wie, aber danach war er nicht mehr derselbe.« Er lehnte sich neben Pete an sein Auto.

Nach einem Augenblick drehte sich Pete ihm zu. Ohne eine Spur von Kampflust in der Stimme, eher leicht entschuldigend, sagte er: »Hör mal, Tommy, mir wär’s lieber, wenn du nicht mehr herkommst.« Petes Lippen waren blass und rissig, und er fuhr sich mit der Zunge darüber, den Blick zu Boden gerichtet. Im ersten Moment war sich Tommy nicht sicher, ob er sich nicht verhört hatte. »Ich wollte nur …«, setzte er an, aber Pete streifte ihn mit einem Blick und sagte dann: »Du machst das, um mich zu quälen, und ich finde, inzwischen ist genug Zeit vergangen.«

Tommy stieß sich von seinem Wagen ab und stellte sich vor Pete hin, musterte ihn durch die Sonnenbrille hindurch. »Um dich zu quälen?«, fragte er. »Pete, ich komme doch nicht, um dich zu quälen!«

Ein kleiner Windstoß fuhr über die Straße und blies den Staub um ihre Füße zu winzigen Wirbeln auf. Tommy setzte die Sonnenbrille ab, damit Pete seine Augen sehen konnte, die Betroffenheit in seinem Blick.

»Tut mir leid, vergiss es.« Pete zog den Kopf ein.

»Ich schau zwischendurch ganz gern mal nach dir«, sagte Tommy. »Von Nachbar zu Nachbar. Du wohnst ganz allein hier draußen. Da schaut man als Nachbar einfach manchmal vorbei, finde ich.«

Pete verzog den Mund und sagte: »Da bist du aber der Einzige, der das findet.« Er lachte; es klang unfroh.

So standen sie voreinander, Tommy jetzt mit hängenden Armen; er steckte die Hände in die Taschen, Pete ebenso. Pete kickte einen Stein, dann schaute er über das Feld hinaus. »Dass die Pedersons diesen Baum da nicht endlich mal wegschaffen, keine Ahnung, worauf die warten. Um ihn rumpflügen, als er noch stand, war schon nervig genug, aber jetzt ist es echt saublöd.«

»Sie haben’s vor, das haben sie neulich erst wieder gesagt.« Tommy war ratlos, ein Gefühl, das er bei sich sonst nicht kannte.

Den Blick noch immer auf den umgestürzten Baum gerichtet, sagte Pete: »Mein Vater war im Krieg. Und er ist daran zerbrochen.« Jetzt drehte er sich zu Tommy um, die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. »Er lag schon im Sterben, als er mir zum ersten Mal davon erzählt hat. Von all den grauenvollen Dingen, die ihm passiert sind, und dann … dann hat er diese beiden Deutschen erschossen, keine Soldaten, das konnte er sehen, sie waren fast noch Kinder, aber danach hat er an jedem Tag seines Lebens gedacht, zum Ausgleich hätte er sich selbst auch erschießen müssen.«

Tommy, die Hand mit der Brille immer noch in der Hosentasche, ließ den Jungen – den Mann – nicht aus den Augen. »Das tut mir leid«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass dein Vater im Krieg war.«

»Mein Vater« – Pete kamen die Tränen, Tommy sah es deutlich –, »mein Vater war ein anständiger Mensch, Tommy.«

Tommy nickte langsam.

»Er hatte manchmal diese Zwänge, gegen die er nicht ankonnte. Und deshalb ist er …« Pete drehte sich weg und gleich darauf wieder halb zu Tommy hin: »Und deshalb ist er in der Nacht damals rüber und hat die Melkmaschinen angeschaltet, so dass alles abgebrannt ist, und ich hab’s nie aus dem Kopf bekommen, Tommy, nie, ich hab gewusst, dass er das war. Und du weißt es auch, das weiß ich.«

Tommys ganzer Kopf überzog sich mit einer Gänsehaut, er spürte, wie überall die kleinen Huckel hervorbrachen. Obwohl die Sonne hell am Himmel stand, schien sie als Punktstrahler auf ihn allein gerichtet. Nach einer Pause sagte er: »Junge« – ganz unwillkürlich –, »so etwas darfst du nicht denken.«

»Schau …«, Petes Gesicht hatte ein wenig Farbe bekommen, »er wusste, dass die Melkmaschinen Probleme verursachen konnten, das hab ich ihn sagen hören. Es wäre kein besonders hochwertiges System, meinte er, sie könnten sehr schnell überhitzen.«

Tommy sagte: »Da hatte er recht.«

»Er hatte eine Wut auf dich. Er hatte immer eine Wut auf irgendwen, aber zu der Zeit warst du es. Warum genau, weiß ich nicht, aber er hatte bei dir auf der Farm gearbeitet, und dann ging er plötzlich nicht mehr hin. Irgendwann dann doch wieder, glaube ich, aber ab da hatte er ein Problem mit dir.«

Tommy setzte die Sonnenbrille wieder auf. Bedächtig sagte er: »Ich hab ihn erwischt, wie er an sich rumgespielt hat, Pete, an sich rumgefummelt hat er, hinter den Ställen, und ich hab ihm gesagt, dass ich so was bei mir nicht dulde.«

»Ach, Scheiße.« Pete wischte sich über die Nase. »Scheiße.« Er sah zum Himmel hinauf. Dann warf er einen Blick zu Tommy hinüber und sagte: »Auf jeden Fall hatte er irgendwie was gegen dich. Und am Abend vor dem Feuer, da ist er losgezogen, das hat er manchmal gemacht, spät noch losziehen, er war kein Trinker, aber manchmal ist er einfach raus und irgendwo hingefahren, und an dem Abend damals fuhr er los und kam gegen Mitternacht zurück, das weiß ich, weil meine Schwester nicht einschlafen konnte, ihr war zu kalt zum Schlafen, und meine Mutter …« Pete unterbrach sich, als müsste er Atem holen. »Ja, also meine Mutter war auch noch wach, und ich weiß noch, wie sie sagte: ›Lucy, schlaf endlich, es ist Mitternacht.‹ Und da kam mein Vater heim. Und am nächsten Tag in der Schule … alle haben über das Feuer geredet. Und da wusste ich es einfach.«

Tommy stützte sich mit einer Hand am Auto ab. Er schwieg.

»Und du wusstest es auch«, sagte Pete nach kurzem Warten. »Und deshalb kommst du hier immer vorbei, um mich zu quälen.«

Eine Zeitlang sprach keiner. Der Wind hatte aufgefrischt, er zerrte an den Ärmeln von Tommys Hemd. Schließlich drehte Pete sich um und ging zur Tür, die knarzte, als er sie aufzog. »Pete«, rief ihm Tommy nach. »Pete, hör mir zu. Ich komme nicht her, um dich zu quälen. Und was du mir gerade erzählt hast – ich glaube nicht unbedingt, dass das wahr ist.«

Pete blieb stehen, drückte nach kurzem Zögern die Tür wieder zu und kam zu Tommy zurück. Seine Augen waren feucht, aber das konnte auch der Wind sein, der jetzt heftig blies. Mit müder Stimme sagte er: »Ich wollte es dir einfach sagen, Tommy. Niemand sollte solche Sachen machen müssen, wie er sie im Krieg machen musste. Ein Mensch sollte keine anderen Menschen umbringen müssen. Und er hat es getan, er hat grauenvolle Dinge getan, und ihm sind grauenvolle Dinge angetan worden, und er konnte nicht mehr leben mit sich, Tommy. Verstehst du? Andere Männer konnten das, aber er nicht, er ist daran zerbrochen, und …«

»Und deine Mutter?«, fragte Tommy unvermittelt.

Petes Ausdruck veränderte sich, in seine Züge trat eine Leere. »Wie, meine Mutter?«

»Wie war das alles für sie?«

Die Frage schien Pete zu überfordern. Er schüttelte den Kopf, langsam. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß nicht, was für ein Mensch meine Mutter war.«

»Ich hab sie gar nicht richtig gekannt«, sagte Tommy. »Ich bin ihr nur immer mal auf der Straße begegnet.« Aber jetzt wurde ihm klar: Er hatte die Frau nie lächeln sehen.

Pete zuckte die Achseln, den Blick gesenkt. »Über meine Mutter kann ich nichts sagen.«

Tommys Gedanken, die wild im Kreis gewirbelt waren, kamen jetzt allmählich zur Ruhe; er fand zu sich selbst zurück. »Hör zu, Pete. Ich bin froh, dass du mir das erzählt hast – was dein Vater im Krieg erlebt hat. Ich hab dich verstanden. Er war ein anständiger Mensch, sagst du, und das glaube ich dir.«

»Aber es stimmt ja auch!« Das »stimmt« kam fast als Wimmern heraus, Petes blasse Augen starrten beschwörend. »Er hat sich hinterher jedes Mal hundeelend gefühlt, und nach dem Feuer bei euch war er so – so aufgewühlt, Tommy, wochenlang ging das, so schlimm hatten wir es vorher noch nie erlebt.«

»Lass gut sein, Pete.«

»Das kann ich nicht!«

»Doch, das kannst du«, sagte Tommy fest. Er trat zu Pete und legte ihm einen Moment lang die Hand auf den Arm. Dann fügte er hinzu: »Außerdem glaube ich nach wie vor nicht, dass er es war. Ich glaube, dass ich an dem Abend die Maschinen nicht richtig abgestellt hatte, und dein Vater war wütend auf mich, und wahrscheinlich hatte er nach allem, was passiert war, ein schlechtes Gefühl. Er hat dir nie gesagt, dass er es war, oder? Als er im Sterben lag und dir von diesen Männern erzählt hat, die er im Krieg getötet hat, da hat er nichts davon gesagt, dass er meine Ställe niedergebrannt hat. Oder?«

Pete schüttelte den Kopf.

»Dann würde ich sagen, du vergisst es einfach, Pete. Ihr hattet auch so schon genug, womit ihr euch herumschlagen musstet.«

Pete strich sich durchs Haar, so dass einzelne Strähnen für einen Moment in die Höhe standen. Ganz verwundert fragte er: »Herumschlagen?«

»Ich hab ja gesehen, wie ihr von den Leuten behandelt worden seid, Pete. Du und deine Schwestern. Das hab ich gesehen, als ich Hausmeister war.« Tommy fühlte sich eine Spur schweratmig.

Pete zuckte kurz die Achseln. »Wenn du meinst«, sagte er dann, immer noch in diesem verwunderten Ton. »Wenn du meinst.«

Einige Augenblicke blieben sie im Wind stehen, dann sagte Tommy, dass es langsam Zeit für ihn wurde. »Sekunde«, sagte Pete. »Nimmst du mich mit bis vor zur Straße? Ich sollte endlich mal dieses Schild von meiner Mutter wegmachen. Das will ich schon eine Ewigkeit, und jetzt mach ich’s. Sekunde«, sagte er noch einmal. Tommy wartete neben dem Auto, während Pete im Haus verschwand und gleich darauf mit einem Vorschlaghammer zurückkam. Tommy setzte sich hinters Steuer, Pete auf den Beifahrersitz, und zusammen fuhren sie das Stück bis zur Straße; der muffige Geruch, den Tommy zuvor schon wahrgenommen hatte, war jetzt, wo der Mann neben ihm saß, noch stärker. Im Fahren erinnerte sich Tommy plötzlich daran, wie er einmal einen Vierteldollar neben das Pult gelegt hatte, an dem Lucy sitzen würde; damals war sie in der Mittelstufe gewesen. Sie ging immer in den Klassenraum von Mr Haley, der ein Jahr lang an der Schule Sozialkunde unterrichtet hatte. Danach war er eingezogen worden, aber der Mann musste nett zu Lucy gewesen sein, denn sein ehemaliges Klassenzimmer war es, das Lucy allen anderen vorzog, auch, als es schon längst zum Chemiesaal umfunktioniert worden war. Und so legte Tommy eines Tages einen Vierteldollar in die Nähe des Pults, an dem sie immer saß. Die Schule hatte vor kurzem einen Süßigkeitenautomaten angeschafft, und für einen Vierteldollar bekam man ein Eiskrem-Sandwich, deshalb legte er die Münze so hin, dass Lucy sie sehen musste. Am Abend, nachdem Lucy nach Hause gegangen war, schaute Tommy nach, und der Vierteldollar lag unberührt da.

Fast hätte er Pete nach Lucy gefragt, ob sie Kontakt hatten, aber da hielt er schon vor dem Schild, auf dem SCHNEIDER- UNDÄNDERUNGSARBEITEN stand, und so sagte er nur: »Also dann, Pete. Mach’s gut.« Und Pete dankte ihm und stieg aus.

Als Tommy wenige Sekunden später einen Blick in den Rückspiegel warf, sah er Pete Barton mit dem Vorschlaghammer auf das Schild eindreschen. Etwas an der Art, wie er zuschlug – die Gewalt –, ließ Tommy aufmerksamer hinschauen. Immer wieder schlug der Junge – der Mann – gegen das Schild, mit zunehmender Wucht, so schien ihm, und als das Auto durch eine kleine Straßensenke fuhr, so dass er ihn kurz aus den Augen verlor, dachte er: Hoppla. Und als die Senke hinter ihm lag, schaute er wieder in den Rückspiegel und sah wieder diesen Mann, diesen Jungen, auf das Schild einprügeln, mit einer Wut, einer Wildheit, die Tommy verblüffte, es war nicht zu fassen, mit welcher Wut der Mann über dieses Schild herfiel. Tommy kam es fast obszön vor, Zeuge eines solchen Ausbruchs zu werden, der in seinem Ingrimm kaum weniger intim anmutete als das, was der Vater des Jungen damals hinterm Stall getrieben hatte. Und dann fiel es ihm, mitten im Fahren, wie Schuppen von den Augen: Es muss die Mutter gewesen sein. Die Mutter war es. Die wahrhaft Gefährliche war sie!

Er bremste, wendete. Pete hatte von seinem Zerstörungswerk abgelassen, er trat jetzt mit der Schuhspitze resigniert gegen die Trümmer. Als Tommy herankam, blickte er auf, erstaunt. Tommy ließ das Beifahrerfenster herunter und sagte: »Steig ein, Pete.« Der andere zögerte. Auf seinem Gesicht glitzerte Schweiß. »Steig ein«, sagte Tommy noch einmal.

Pete gehorchte, und Tommy fuhr die Stichstraße entlang, zurück zum Haus der Bartons. Er stellte den Motor aus. »Pete, hör mir jetzt gut zu.«

Ein Erschrecken zuckte über Petes Gesicht, und Tommy legte ihm kurz die Hand aufs Knie. Mit exakt diesem Ausdruck war Lucy hochgeschreckt, als er sie damals in dem Klassenzimmer überrascht hatte. »Ich sage dir jetzt etwas, was ich eigentlich niemandem erzählen wollte, so lange ich lebe. In der Nacht, als die Farm abgebrannt ist …« Und Tommy erzählte ihm, ausführlich, wie ihm in dieser Nacht Gott erschienen war und wie Gott ihm zu verstehen gegeben hatte, dass alles gut war. Als er endete, sah ihn Pete, der stumm zugehört hatte, den Blick manchmal zu Boden gerichtet und manchmal auf Tommy, groß an.

»Und du glaubst da richtig dran?«, fragte er.

»Daran glaube ich nicht«, sagte Tommy, »das weiß ich.«

»Und du hast es nicht mal deiner Frau erzählt?«

»Nein, nie.«

»Aber warum nicht?«

»Weil es einfach Dinge im Leben gibt, die wir keinem Menschen erzählen.«

Pete sah hinab auf seine Hände, und Tommy sah ebenfalls auf sie hinab. Ihr Anblick verblüffte ihn, sie waren kräftig und groß, die Hände eines erwachsenen Mannes.

»Dann sagst du also, dass mein Vater Gottes Werkzeug war?« Pete wiegte zweifelnd den Kopf.

»Nein. Ich sage dir lediglich, was ich in dieser Nacht erlebt habe.«

»Ich weiß. Ich hab gehört, was du sagst.« Pete starrte durch die Windschutzscheibe. »Ich weiß nur nicht, was es zu bedeuten hat.«

Tommy betrachtete den Pick-up, der neben dem Haus geparkt war. Der Kotflügel glänzte in der Sonne. Der Pick-up war alt und graubraun. Er hatte fast den gleichen Farbton wie das Haus. Es schien Tommy, dass er viele Minuten so dasaß und auf Petes Pick-up schaute, der dort stand, Ton in Ton mit Petes Haus.

»Erzähl mir, wie’s Lucy geht«, sagte er dann, und die Steinchen auf der Bodenmatte knirschten unter seinen Füßen, als er sie seitwärts stellte. »Ich hab gesehen, dass sie ein neues Buch geschrieben hat.«

»Lucy geht’s gut.« Petes Miene hellte sich auf. »Lucy geht’s gut, und das Buch ist auch gut, sie hat mir ein Vorabexemplar geschickt. Ich bin echt stolz auf sie.«