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Es ist eine außergewöhnliche Verbindung: In 53 Jahren als verheiratetes Paar erschaffen Alfred Hitchcock und seine Frau Alma ein unvergleichliches Werk – 53 Filme, darunter zeitlose Klassiker wie Rebecca, Das Fenster zum Hof, Psycho oder Die Vögel. Doch Almas so erheblicher Anteil am Erfolg ihres weltberühmten Ehemanns wurde bislang kaum gewürdigt. In Los Angeles hat Autor Thilo Wydra sich nun auf die Spuren dieses Jahrhundertpaares begeben und in den Archiven der Oscar Academy Zugang zu unzähligen, teils unausgewerteten Quellen erhalten. Er besuchte in Kalifornien zwei der drei Enkelinnen von »Hitch« und Alma, die bewegend und ganz unmittelbar von ihren Großeltern berichten.
Diese international erste Doppel-Biographie über Alma und Alfred Hitchcock erzählt von ihrem gemeinsamen Leben sowie von Almas maßgeblicher Mitarbeit am Werk des legendären Regisseurs. Alma war »Hitch« ein Leben lang liebender Halt und Stütze. Sie war die kluge, früh emanzipierte Frau neben dem erfolgreichen Genie, die bereits in den 1920er Jahren in den Londoner Filmstudios noch vor ihm zu arbeiten begann. Fünf Jahrzehnte lang war die namhafte Drehbuchautorin und Cutterin stets seine wichtigste Beraterin: Almas Wort galt.
Hitchcock-Enkelin Tere Carrubba sagt heute im Gespräch mit dem Autor: »They were one«. Sie waren eins.
Als Alma Hitchcock am 6. Juli 1982 in Los Angeles starb – zwei Jahre nach ihrem Mann –, schrieb die Los Angeles Times in ihrem Nachruf: »Der Hitchcock-Touch hatte vier Hände – zwei davon gehörten Alma.«
»Endlich ein Buch, das Alma, ›die Frau an seiner Seite‹, als Hitchcocks ebenbürtige und wichtigste Mitschöpferin erkennt und beschreibt.« Margarethe von Trotta
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Seitenzahl: 612
THILO WYDRA
EINE LIEBE FÜRS LEBEN
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Redaktion: Evelyn Boos-Körner
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München
unter Verwendung der Fotos von: AGIP | Bridgeman (vorne) und Philippe Halsman | Magnum Photos (hinten)
Bildredaktion: Heike Jüptner
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN: 978-3-641-31643-3V002
www.heyne.de
Inhalt
VorspannAlmas scharfes Auge
TEIL I
ENGLANDDIEFRÜHENJAHRE
Alma
Nottingham und London 1899 – 1923
Alfred
London 1899 – 1923
Gemeinsam
1924–1938
TEILII
AMERIKAGOLDENAGE
Übersiedelung nach Amerika – Ein neues Zuhause, eine zweite Heimat1939 – 1949
Die großen Meisterwerke und eine Zäsur1950 – 1963
Von kreativen Misserfolgen und persönlichen Krisen1964 – 1970
TEILIII
DERAUSKLANG
Die letzten Jahre1971 – 1979
Los Angeles7. März 1979
Farewell Hitch –Madam geht1980 – 1982
Abspann
Das zeitlose Vermächtnis von Mrs. & Mr. Hitchcock
ANHANG
Anmerkungen
Zeittafel
Filmographie
Dokumentationen
Spielfilme
Bibliographie
Register
Dank
Bildnachweis
BILDTEIL 1
bildteil 2
Quelle: Paramount Pictures / Archive Photos / Getty Images
Almas scharfes Auge
»The lady had a very sharp eye.«
JANET LEIGH
Quelle: © Universal / Sunset Boulevard / Corbis / Getty Images
Draußen scheint die Sonne über den Hügeln Hollywoods, als sich an diesem frühsommerlichen Tag des Jahres 1960 auf dem weiten Gelände der Universal Studios einige nicht ganz unbedeutende Herren versammeln, um in einem der diversen Vorführräume einen soeben fertiggestellten neuen Film anzusehen. An diesem strahlend hellen Tag steht ein äußerst dunkler, düsterer Film an. Es ist die erste Vorführung der vorläufig finalen Fassung und damit jener Moment vor der Freigabe eines Films, bevor er ans Kopierwerk geht, dorthin, wo all die vielen Zelluloid-Kopien gezogen werden, die später einmal zunächst zur Premiere und anschließend zum Kinostart in die über das ganze Land verstreuten Filmtheater verschickt werden. Doch noch ist es nicht so weit, noch gilt es, dem kritischen Blick all jener standzuhalten, die sich Studiobosse und Produzenten nennen.
Der Film, der an diesem Tag vorab intern gezeigt wird, trägt einen scheinbar schlichten, denkbar knappen Titel: Psycho.
Der Regisseur ist selbstverständlich ebenfalls anwesend. Und wie immer bringt er die Person mit, die die einzige ist, der er blindlings vertraut. Ohne sie findet keine Vorführung statt. Ohne sie gibt es keine Abnahme der sogenannten Null-Kopie und auch keine Freigabe für das Kopierwerk.
Alfred Hitchcock bringt auch an diesem Tag seine Frau Alma mit. Alles andere wäre vollkommen undenkbar, ja unvorstellbar.
Alle begrüßen sich, tauschen Freundlichkeiten und Höflichkeiten untereinander aus. Es ist das Übliche, hier, in Hollywood, Mekka des Films und des schönen Scheins. Die Anspannung, die an diesem Tag in der Luft des Vorführraums liegt, ist dabei für alle deutlich spürbar. Denn der Film, der nun gleich erstmals auf der Leinwand zu sehen sein wird, ist schon im Vorfeld unter den Studiobossen hochumstritten, ist es doch nach all den vorausgegangenen Arbeiten dieses Regisseurs sein erster Film seit über zehn Jahren, der nicht in Farbe, sondern in reduziertem Schwarz-Weiß gehalten ist und mit einem Budget von lediglich 807 000 Dollar eine für ihn ganz untypische low budget-Produktion darstellt. Erschwerend kommt hinzu, dass man sich die ganze Zeit über bei Paramount, für die er den Film aus Eigenmitteln zwar noch produziert, aber bereits auf dem Gelände der Universal dreht, doch sehr wundert, warum »Hitch« – wie ihn hier alle Welt unter Freunden und Kollegen nur nennt – sich ausgerechnet dieses Stoffes annehmen musste. Niemand weiß, warum. Niemand versteht es.
Nach all den farbenfroh leuchtenden Filmen der letzten Jahre, nach Rear Window (Das Fenster zum Hof, 1954) und To Catch a Thief (Über den Dächern von Nizza, 1955), nach Vertigo (Vertigo – Aus dem Reich der Toten, 1958) und North by Northwest (Der unsichtbare Dritte, 1959) – allesamt mit großen Stars wie Grace Kelly und Kim Novak, Cary Grant und James Stewart besetzt –, nun also ein kleiner unaufwendiger Schwarz-Weiß-Film über einen noch bei seiner Mutter wohnenden Betreiber eines heruntergekommenen Motels, der mitunter Frauenkleider zu tragen pflegt und auch sonst an Neurosen und Ambivalenzen nicht arm ist. Beinahe klingt das nach billigem trash. Alle sind skeptisch, alle zweifeln.
Dann gehen die Lichter aus, der Projektor fängt hinten im Projektionsraum an zu rattern, und der Film beginnt.
*
Der Film läuft eine Dreiviertelstunde, als jene Sequenz beginnt, in der die Frau ihren Kimono ablegt und in die Badewanne ihres kleinen Motel-Zimmers steigt. Sie zieht den Duschvorhang zu und dreht das Wasser auf, die Duschstrahlen prasseln auf sie nieder. Sie greift zu einem Stück Seife und seift sich beide Arme ein. Immer wieder blickt sie nach oben, hin zum Duschkopf. Das alles ist zunächst diagonal von oben zu sehen, aus der Aufsicht, der Vogelperspektive, sowie frontal und von der Seite.
Der Mensch, nackt und allein, in Duschkabinen und Badewannen schutzlos und wehrlos, dabei ganz auf sich selbst zurückgeworfen.
Die Frau heißt Marion Crane – dargestellt von Schauspielerin Janet Leigh –, und eigentlich ist sie die Protagonistin des Films. Mit ihr identifizieren sich die Zuschauer. Sie ist ihre Projektionsfläche.
Dann geschieht abrupt etwas Unvorhersehbares: Die Tür von Marions Badezimmer geht plötzlich auf, und ein Schatten ist jenseits des Duschvorhangs zu erkennen, der sich langsamen Schrittes der Badewanne nähert. Nur die Zuschauer können dies sehen. Marion nicht. Die horizontale Perspektive ist nun eine jenseits der Badewanne, in der sie steht, und auch jenseits des realen Zimmers – die Kamera steht hinter der sogenannten »vierten Wand«.
Daraufhin wird der Duschvorhang zur Seite gerissen, und allem Anschein nach handelt es sich offenbar um eine alte Frau, die sich zuvor durch das Motel-Zimmer in das Bad geschlichen hat. Mit einem Dutzend Messerstichen sticht sie immer wieder auf die vollkommen ausgesetzte Marion ein, die sich anfangs noch zu wehren versucht. Es ist eine Sequenz von ungeheurer, abrupt einsetzender Brutalität. Von nackter Gewalt. Das Messer berührt dabei nie sichtbar den Körper, die Einstiche sind lediglich auf der Tonspur zu hören.
Nach der Attacke verschwindet die alte Frau wieder, und es mutet wie ein Huschen an, ein Gleiten, als sie das Badezimmer verlässt. Aus dem Duschkopf läuft unvermindert das Wasser, während Marion Crane entlang der gekachelten Wand zusammensackt, mit ihrem rechten Arm nach dem Duschvorhang greift, schließlich mit Kopf und Oberkörper vornüber über den Wannenrand fällt und dabei den Duschvorhang herunterreißt. All dies geschieht nun sehr langsam. Ihr Kopf kommt schließlich auf dem gekachelten Boden des Badezimmers auf. Ihre Augen, aus denen jedes Leben gewichen ist, sind weit geöffnet und blicken ins Leere, fast erscheint es so, als blickten sie die Zuschauer direkt an. Einen ganzen Moment lang ist dieses eindrückliche, nachklingende Bild auf der Leinwand zu sehen.
Die gesamte Dusch-Sequenz dauert insgesamt etwa zweieinhalb Minuten, der Duschmord selbst lediglich 45 Sekunden. Diese 45 Sekunden werden in 78 Kameraeinstellungen in einer extrem schnellen Abfolge von 52 Schnitten gezeigt, wodurch – ergänzt von den stakkatohaft peitschenden und schreienden Streichern aus Bernard Herrmanns bezwingender musikalischer Komposition – die Gewalt erst als Synthese im Kopf des Zuschauers entsteht. Der Dreh allein dieser Sequenz dauerte im vorausgegangenen Jahr eine ganze Woche – vom 17. bis zum 23. Dezember 1959.
Der Duschmord geschieht noch vor der Mitte des Films. Es ist etwa um die 47. Minute herum, als der Moment erreicht ist, in dem die Zuschauer ihrer Hauptfigur, mit der sie sich doch gerade zu identifizieren begonnen haben, beraubt sind: »Hitchcock raubt einem jeden Halt, indem er seinen Star umbringt.«1
Jetzt erst beginnt überhaupt die zweite, zumal längere Hälfte von Psycho.
Als der Film nach 109 atemraubenden Minuten Laufzeit schließlich zu Ende ist, gehen die Lichter im Vorführraum wieder an, und Alfred Hitchcock wendet sich nicht etwa den Produzenten zu oder seinem Cutter, sondern wie immer ihr, der Person mit der ihm wichtigsten, alles entscheidenden Stimme.
Seiner Alma. Seinem Ein und Alles.
*
»Du kannst den Film nicht rausgeben, Hitch!«2
Alfred Hitchcock vermag seinen Ohren nicht zu trauen, als er die Worte seiner neben ihm sitzenden Frau Alma vernimmt. »Warum nicht?«, fragt er sie beunruhigt. Vor nahezu nichts anderem hat er so viel Angst wie vor dem Unvorhersehbaren, dem nicht zu erkennenden klaren Horizont.
»Na, weil Janet Leigh noch atmet, als sie bereits tot ist«, antwortet Alma ihm.
Niemand sonst hat es zuvor, bei der Arbeit im Schneideraum, gesehen. Weder Hitchs gewissenhafter Cutter George Tomasini noch Saul Bass, der die Titel-Sequenz auch zu diesem Hitchcock-Film entworfen hat und überdies als visueller Berater fungiert. Ja, und auch er selbst, Hitchcock, nicht. Bei einem akribischen Perfektionisten par excellence, wie er es nun einmal ist, ein für ihn selbst nahezu unverzeihlicher faux pas.
»Niemandem außer ihr war es aufgefallen«3, erzählte Tochter Patricia Hitchcock einmal Jahre später im Gespräch, und der Stolz auf ihre Mutter Alma ist ihr, während sie auf dem Sofa sitzt und überaus angeregt über ihre Eltern spricht, deutlich anzusehen.
Bis heute wird dieser Alma-Moment tradiert, allerdings in mehreren leicht voneinander differierenden Versionen. So bekundet Psycho-Hauptdarstellerin Janet Leigh, die in der Rolle der Marion Crane zu sehen ist: »Es war eigentlich ein Blinzeln. Mrs. Hitchcock sagte zu ihrem Mann, dass sie mich in der Einstellung, die groß mit meinem Auge beginnt, blinzeln sah. Der Cutter und ich schauten uns die Einstellung an, und keiner von uns hat es bemerkt. Die Dame hatte ein scharfes Auge.«4
Hitchcocks script supervisor Marshall Schlom muss seinerzeit ebenfalls mit Erstaunen einräumen: »Obwohl wir die Sequenz sicher ein paar Hundert Mal in der Movieola5 vor und zurück laufen ließen, hatten wir das komplett übersehen. Wir mussten es herausnehmen und eine zweite Einstellung vom Duschkopf einfügen.«
Ob nun ein Blinzeln, ein Schlucken oder eben doch ein Atmen – es mag weniger der Vorgang auf der Leinwand sein, der hier, einen kurzen Moment lang, entscheidend ist, sondern jener vor der Leinwand, der immerzu von größter Bedeutung ist: wie sie da im Vorführraum des Studios einträchtig nebeneinandersitzen, Mrs. and Mr. Hitchcock, von allen Freunden beinahe zärtlich nur Alma and Hitch gerufen, und einander blind vertrauen, miteinander alles besprechen, aufeinander bauen. Auch in diesem Moment hier im Studio.
»They were one.«6
Eins seien sie gewesen.
So formuliert es heute Hitchcock-Enkelin Tere Carrubba im Gespräch über ihre Großeltern in ihrem kalifornischen Zuhause, ihrer Wohnung nahe der weiten Bucht von San Francisco.
Von dieser Einheit – die 53 Ehejahre lang währte und 53 Kinofilme kreierte – erzählt diese wahre Geschichte.
ENGLAND DIE FRÜHEN JAHRE
Nottingham und London 1899 – 1923
»I was film mad.«
ALMA REVILLE
Quelle: RGR Collection / Alamy Stock Photo
In genau viereinhalb Monaten ist es so weit, das Jahr 1900 wird anbrechen und ein neues Jahrhundert einläuten – das 20. Jahrhundert. Eine historische Zäsur, ein Wandel. Ein Umbruch, der zugleich einen Aufbruch bedeuten wird, in eine neue Zeit. Die Moderne klopft unüberhörbar an, der technische Fortschritt schreitet voran, bringt Neuerungen mit sich, die den Menschen zunächst fremd sind. Das Zeitalter der Industrialisierung hat gerade hier, in Großbritannien, einen seiner Ursprünge – ab der Mitte des 19. Jahrhunderts positioniert sich Großbritannien als die führende Weltmacht auf der globalen Landkarte, das britische Empire stützt sich ebenso auf seine Herrschaft zur See wie auf die weltweiten Märkte, die ihm in seinen vielen Kolonien zur Verfügung stehen.
Britannia rules the World.
Die britische Hauptstadt London gehört zur Jahrhundertwende mit ihren stattlichen sechseinhalb Millionen Einwohnern zu den größten Städten der Welt. Nur binnen eines Jahrhunderts, von 1800 bis 1900, wuchs die Londoner Bevölkerung von einer Million auf das nunmehr über Sechsfache an, und die historischen Stadtkarten skizzieren überdies, wie stark und wie rasant parallel die flächenhafte Ausdehnung der britischen Metropole im Verlauf der letzten Jahrhunderte zunahm und immer weiter zunimmt: Rund um die ursprünglich verhältnismäßig kleine City of London, direkt an der Themse gelegen und diese nördlich und südlich flankierend, wächst die Metropol-Region als Zentrum des weltweit agierenden britischen Empires. So ändern sich durch den Bau des Eisenbahnnetzes ab dem Jahr 1836 die Strukturen der Stadt maßgeblich, entstehen neue Außenviertel und neue Vororte, die durch die Eisenbahnlinien mit dem Zentrum der City verbunden werden.
Ohnehin ist es hier, in London, wo ganz maßgebliche Elemente des Fortschritts die bevorstehende Zeitenwende markieren: Hier nimmt bereits im Jahr 1861 die erste Straßenbahn ihren Betrieb auf, hier fährt seit einigen Jahren schon die erste U-Bahn der Verkehrsgeschichte, die Metropolitan Line, die zu Jahresbeginn 1863 eingeweiht wird und von Paddington Station nach Farringdon Street geht, hier wird 1870 der erste U-Bahn-Tunnel der Welt eröffnet, der Tower Subway, der gleich unter der Themse verläuft und beide Ufer miteinander verbindet. Eine seinerzeit viel bewunderte technische Innovation.
London, so hat es den Anschein, ist um das Jahr 1900 anderen Metropolen Europas, der Welt auch, durchaus weit voraus. Es ist größer, es ist industrieller, es ist fortschrittlicher. Zugleich geht das Viktorianische Zeitalter, das mit der Thronbesteigung Queen Victorias im Juni 1837 begann, nach über sechs Dekaden seinem Ende entgegen. Der Tod der britischen Monarchin am 22. Januar 1901 bekräftigt so die historische Zäsur, die das Vereinigte Königreich zu dieser Zeit erfährt.
Zuvor, im August des Jahres 1899, werden in diesem aufstrebenden innovativen Land Großbritannien zwei Menschen im Abstand nur eines einzigen Tages geboren, die sich gut zwanzig Jahre später, 1921, zum ersten Mal begegnen und fortan miteinander durchs Leben gehen sollen – über fünf Jahrzehnte lang. Ununterbrochen.
*
In diese unruhige, bewegte wie bewegende Zeit der Jahrhundertwende, des Anbruchs einer neuen Moderne, wird Alma Lucy Reville hineingeboren.
Am 14. August 1899, einem für britische Verhältnisse überraschend wenig verregneten, gar sonnigen Tag im Hochsommer, kommt sie als zweite Tochter von Matthew Edward Reville und seiner Frau Lucy Reville, geborene Owen, im in der nordenglischen Grafschaft Nottinghamshire gelegenen Nottingham zur Welt, im Zuhause der Revilles, in der 69 Caroline Street, im zentralen Viertel St Ann’s. Alma folgt auf ihre nur wenig ältere Schwester Eveline.
Matthew und Lucy Reville gehören in Nottingham der working class an, der Arbeiterklasse. Sie sind das, was man gemeinhin als »einfache Leute« bezeichnet, als ordinary people. Sie sind glücklich mit ihrem kleinen, bescheidenen Leben.
Matthew Reville, Jahrgang 1863, ist der Sohn des Eisenarbeiters und Schmieds George Edward Reville und dessen Frau Jane Bailey Reville, einer Arbeiterin im Strumpfwarenhandel. Matthew wächst zusammen mit zwei weiteren Geschwistern auf, und es ist mit Beginn des Jahres 1881, dass Almas Vater als Lehrling in verschiedensten Jobs als Handwerker arbeitet. Später einmal, in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, soll er Handlungsreisender werden. Und er wird, eine ganze Zeit lang zumindest, in der eigentlich für die Revilles so entlegenen, so fernen und so ganz anderen Welt des Films Arbeit finden und damit seiner jüngeren Tochter Alma unwissend den Weg bereiten.
Lucy Owen wird als Tochter von Hugh und Ann Dance Owen im November 1866 geboren, sie hat zwei Geschwister, die Schwestern Clara und Alma. Letztere soll es sein, Tante Alma, so heißt es, die zugleich einmal die Namensgeberin von Alma Lucy Reville sein wird.
Als Matthew und Lucy am 25. August 1891 schließlich in der Castle Gate Independent Chapel in der 74 Union Road heiraten, ist Lucy vierundzwanzig und Matthew siebenundzwanzig – ein junges Paar, das das Leben nun vor sich hat: Es wird die Geburt zweier Töchter und eine einschneidende geographische Veränderung für sie bereithalten.
Die ersten Jahre des neu angebrochenen Jahrhunderts verbringt die junge Familie noch in der ihr vertrauten Heimatstadt. Doch diese Jahre sind überschaubar, denn ein Umzug steht bald schon bevor, die vierköpfige Familie zieht zu Beginn der zehner Jahre in den Süden des Landes, in die große pulsierende Metropole: London.
Vater Matthew Reville, der in Nottingham, der city of lace, bislang als Lagerarbeiter mit Stoffen, vor allem der Spitze gearbeitet hat, kann in den im südwestlichen Londoner Vorort Twickenham gelegenen Twickenham Film Studios eine Stelle in der Kostüm-Abteilung antreten. Diese Studios sind die zu dieser Zeit größten Filmstudios Großbritanniens, vor Kurzem erst neu gegründet und eröffnet. Es ist ein großer Schritt für die kleine junge Familie Reville, die Nottingham hinter sich lässt, und damit alles, was sie mit der nordenglischen Stadt, der Stadt Robin Hoods, verbindet.
Und es ist, in vielerlei Hinsicht, auch eine Initialzündung nicht zuletzt und gerade für die heranwachsende Alma, die bald schon, nur wenige Zeit nach dem Umzug, von ihrem Vater mitgenommen wird ins Filmatelier und dort mit großen Augen staunend durch die Hallen läuft. Dort, wo Kulissen an ihr vorbeigetragen werden, schwere klobige Kamerageräte und hohe Lichter verschoben werden und die stark geschminkten Schauspieler und Schauspielerinnen des expressionistischen Stummfilms an ihr vorbeischreiten.
Alma in Wonderland.
Das Mädchen entdeckt die berufliche Welt ihres Vaters, die Welt des Stummfilms. Immer öfter kommt Alma auf dem Fahrrad rasch herübergefahren. Die Besuche in den nahegelegenen Twickenham Film Studios, die ums Eck ihres neuen Zuhauses in dem zwanzigtausend Seelen zählenden Londoner Vorort liegen, hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck bei ihr, da ist etwas, was sie sogleich anspricht. Das umtriebige Geschehen in diesen großen, hohen, weiten Hallen fasziniert sie. Es ist, als beträte sie eine neue, ihr noch gänzlich fremde Welt. Eine Welt, die ihr bald schon immer weniger fremd, immer vertrauter und schließlich zur beruflichen Heimat werden wird. Die junge Alma kann gar nicht anders, als fortan nach der Schule von zu Hause regelmäßig rüberzuradeln und ihrem Vater bei seiner Arbeit im costume department zuzusehen.
Die Filmstudios ziehen Alma geradezu magisch an. Ein Funke springt über. Er wird bis an ihr Lebensende 1982 hell leuchten.
Zugleich nimmt Lucy Reville ihre Tochter immer öfter mit ins Kino, und Alma entdeckt nicht nur die Innenwelt der Filmstudios, sondern auch das, was dort entsteht und schließlich für das Publikum, die Außenwelt, sichtbar und erfahrbar ist: Sie sieht die ersten Bewegtbilder ihres Lebens auf der Leinwand des neuen Filmtheaters. Sehr früh schon beginnt Almas Mutter mit diesem gemeinsamen Gang ins Lichtspielhaus – Mutter und Tochter, wie sie zu zweit im Dunkel des Theatersaales sitzen, vor ihnen die flackernden Schwarz-Weiß-Bilder frühester englischer Stummfilme. Welch ein eindrückliches und in ihr stark nachwirkendes Erlebnis dies für das Mädchen sein muss, das, so scheint es, sehr früh sehr schnell eine wachsende Affinität zu dem so jungen Medium Film entwickelt. Ein Medium, das zu dieser Zeit wahrlich noch in seinen Kinderschuhen steckt und noch anderthalb Jahrzehnte warten muss, bis der Ton, diese so unerhörte technische Revolution, Einzug halten und alles verändern soll.
Zum Glück hört Mutter Lucy nicht auf die kritischen Stimmen einiger allzu neunmalkluger Verwandter, die der Ansicht sind, es sei aus vielerlei Gründen doch wirklich unverantwortlich, das Mädchen jetzt schon ins Filmtheater mitzunehmen, dorthin, wo man ohnehin vorher nicht wissen könne, was man wirklich zu sehen bekomme, sondern wo auch noch ganz andere, ungleich größere Gefahren lauern würden: »Oh, you shouldn’t take Alma there – she’ll only pick up fleas«7, entfährt es einer frommen Tante der überaus besorgten Reville’schen Verwandtschaft. Flöhe würde sich das Mädchen dort doch bloß holen.
Lucy Reville ignoriert die Ratschläge – und Alma entdeckt das Kino.
Almas spätere einzige Tochter Patricia Hitchcock wird ihre Mutter einmal als film mad bezeichnen8, und auch Alma selbst wird in einem ihrer ersten Interviews überhaupt, das am 26. Februar 1927 unter der Überschrift »Making Good In The Film Trade« erscheint, gleich zu Gesprächsbeginn einräumen: »When I was sixteen, I was film mad.«9
Die vielen Besuche in den Filmstudios und den Filmtheatern mögen neben der rasch erwachenden Faszination für den frühen Stummfilm zugleich noch etwas anderes bedeuten im Leben der jungen Alma Reville: Sie kompensieren letztlich den Mangel an Freunden. Alma ist ein Kind, scheu und zurückhaltend, das nur sehr wenige Freunde hat, ein Umstand, der einerseits mit dem Wegzug aus der Heimat Nottingham und dem dadurch bedingten Abbruch dort einmal geknüpfter Freundschaften zu tun haben mag. Andererseits ist Alma so sehr das Kind ihrer Mutter Lucy, steht ihrer geliebten Mutter sehr nahe, ebenso auch der älteren Schwester Eveline, dass ihr diese familiäre Nähe allein schon völlig auszureichen scheint. Sehr früh schon steht die Familie an erster Stelle, ist die Familie der Ort, an dem sich die scheue Alma am wohlsten fühlt.
*
Als King Edward VII im Jahr 1910 stirbt, fasst Matthew Reville den folgenreichen Entschluss, zum Trauerzug zu gehen und seine Tochter Alma mitzunehmen. King Edward, ältester Sohn von Queen Victoria und Prince Albert, vormals Prince of Wales, ist seit dem Jahr 1901 König Großbritanniens. Nun, in seinem achtundsechzigsten Lebensjahr und nach lediglich neun Jahren Regentschaft, ist der König, dessen Rufname Bertie ist, am 6. Mai gestorben. Das ganze Vereinigte Königreich trauert, ganz London trauert.
Vater Reville fährt mit Alma in die Stadt, dorthin, wo der Trauerzug vorbeikommen wird, den an diesem 20. Mai zwischen drei und fünf Millionen Menschen vor Ort verfolgen. Als die beiden an einer der Stellen angelangt sind, von denen aus man die Prozession, die vom Buckingham Palace zur Westminster Hall führt, gut verfolgen kann, nimmt der Vater Alma huckepack auf seine Schultern, damit das Mädchen von dort oben alles besser sehen kann. Alma, zu diesem Zeitpunkt elf, ist noch immer recht klein, und auch später als Erwachsene wird sie mit ihren dann ausgewachsenen einen Meter fünfzig Körpergröße meist überall die Kleinste sein. Die, die man, was ihre körperliche Statur anbelangt, gerne schnell übersieht.
In dem Moment, in dem der Trauerzug schließlich an ihnen vorbeikommt, kann Alma alles gut von oben sehen – all die Pferde, die dekorierten Militäreinheiten, die elf royalen Kutschen, das gesamte höfische Geleit, das linker wie rechter Hand der Route von etwa 35 000 Soldaten flankiert wird. Der Londoner Trauerzug und die sich auf Schloss Windsor anschließende Beerdigung markieren seinerzeit mit Staatsrepräsentanten aus siebzig Ländern ohnehin die größte Zusammenkunft europäischer Königshäuser, die jemals stattfand, und zugleich auch die letzte vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges.
Bei einem erst elfjährigen Mädchen muss dies einen großen Eindruck hinterlassen – ein verstorbener aufgebahrter König wird auf einer Kutsche an ihr vorbeigefahren. Mit allem Pomp, mit allem Zinnober. Als alles vorbei ist, setzt Matthew Reville seine Tochter wieder ab, und es geschieht etwas, was Alma geradezu traumatisieren wird.
Sie hat zu dieser Zeit sehr langes, gelocktes Haar. Auf ganz frühen Schwarz-Weiß-Fotografien von ihr ist zu sehen, wie ihr welliges, sehr volles dunkles Haar weit über die Schultern fällt. Später, als erwachsene Frau, wird sie ein Leben lang einen von ihren vielen rotbraunen Locken durchwirbelten Kurzhaarschnitt tragen, doch jetzt, als Mädchen, wachsen ihr die Haare so lang, dass sie den halben Rücken bedecken.
Als Vater Matthew seine Tochter also wieder absetzt, verfangen sich einige ihrer wilden Locken im Mantelknopf eines danebenstehenden Herren, der jedoch, da er diesen unglückseligen Umstand nicht mitzubekommen scheint, frohgemut Anstalten macht, nun ebenfalls zu gehen, und das Mädchen so regelrecht mitschleift. Matthew Reville kann schnell in das haarige Geschehen einschreiten und Almas Haare vom Knopf des Mantels befreien, doch bleibt bei dem Mädchen mehr als nur der akute Schreck über die Situation – es bleibt eine ausgeprägte Angst und Scheu vor Menschenmengen, ein Gefühl auch, sie könne in größeren Ansammlungen verloren gehen, untergehen. Dieses Gefühl wird sie begleiten, ihr Leben lang.
Das Scheue, das Zurückgezogene ist ein ganz wesentlicher Charakterzug, wie so manches andere mehr, den Alma einmal mit ihrem zukünftigen Mann, einem überaus scheuen, gehemmten Jungen, dessen Londoner Kindheit im Stadtteil Leytonstone eine mit keinerlei Freunden ist, teilen wird. Beide verbindet sie eine Kindheit, die eine eher einsame war.
*
Früher war hier einmal eine Eislaufbahn. Auf dem weitläufigen Gelände des Viertels St Margaret’s in Twickenham entsteht nun in den frühen 1910er Jahren ein Filmstudio, nicht irgendeines, sondern das größte, das zu dieser Zeit in England überhaupt gebaut wird. 1913 ist Einweihung, zugleich wird das Studio Sitz der noch im selben Jahr von Dr. Ralph T. Jupp begründeten London Film Company. Jupp ist zu dieser Zeit nicht nur Direktor der Provincial Cinematograph Theatres, sondern einer der Ersten, die in England Filmtheater erbauen lassen. Noch im Jahr 1913 entsteht der erste Film, der aus den Twickenham Film Studios kommt – The House of Temperley ist die literarische Adaption des historischen Romans Rodney Stone aus der Feder des legendären Sherlock-Holmes-Schöpfers Sir Arthur Conan Doyle. Produziert hat diesen britischen Stoff, der im Milieu der Faustkämpfer im England des frühen 19. Jahrhunderts angesiedelt ist, dennoch ein Amerikaner, Harold M. Shaw. Im September gelangt The House of Temperley in die englischen Filmtheater und wird just in Alma Revilles Geburtsstadt Nottingham uraufgeführt, ein halbes Jahr später, im Mai 1914 startet er auch in den USA.
In den folgenden Jahren werden die Twickenham Film Studios, bedingt durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die zunehmende Anzahl US-amerikanischer Produktionen, die auf den Weltmarkt gelangen, zusehends in eine wirtschaftliche Schieflage geraten. Ralph T. Jupp verkauft die Studios schließlich 1920 an die Alliance Company, die mit den Produktionen The Bohemian Girl (1922) und Carnival (1922) zwei überaus erfolgreiche Filme herstellt. Dennoch müssen die Studios nur zwei Jahre später Konkurs anmelden und werden daraufhin bis 1928 an verschiedene Filmgesellschaften weitervermietet, bis sie schließlich von Regisseur Henry Edwards und Produzent Julius Hagen mit der Neugründung der Twickenham Film Studios Limited übernommen und weiter betrieben werden. So kommt es, dass hier 1931 die erste Agatha-Christie-Verfilmung eines Hercule-Poirot-Romans entsteht, Alibi, basierend auf Christies Vorlage The Murder of Roger Ackroyd, der daraufhin zwei weitere, Black Coffee (1931) und Lord Edgware Dies (1934), folgen sollen, alle drei mit Austin Trevor in der Rolle des exzentrischen belgischen Detektivs. Nachdem im Jahr 1937 die Westminster Bank die Studios übernimmt, werden sie nur ein Jahr später geschlossen. Von 1938 bis 1946 wird hier kein einziger Film produziert – die Welt steht am Abgrund, London steht in Flammen.
Leben kehrt erst ab 1946 wieder in die Twickenham Film Studios zurück, The Alliance Film Studios Limited wird gegründet, in den Studiohallen entstehen fortan nun auch zahlreiche Fernsehproduktionen, zudem wird Twickenham zu einem jener Studios, in denen die Arbeiten der sogenannten New Wave produziert werden. Twickenham entwickelt als Studioadresse internationales Renommée und wird nicht zuletzt durch den überaus populären Beatles-Film A Hard Day’s Night (1964) immer bekannter. Im Verlauf der 1980er Jahre entstehen hier große Kinoproduktionen wie etwa The French Lieutenant’s Woman (1981) unter der Regie von Karel Reisz, Charles Crichtons A Fish Called Wanda (1988) oder auch Shirley Valentine (1989) von Lewis Gilbert. Und es schließt sich letztlich auch ein Kreis, einer, der 1931 mit Alibi geöffnet wurde, sind die traditionsreichen Studios doch partiell mit an der Produktion der ab 1989 über einen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren bis 2013 laufenden Fernseh-Serie Agatha Christie’s Poirot beteiligt, in deren siebzig Episoden David Suchet durchgehend als Hercule Poirot zu sehen ist.
Bis heute existieren die Twickenham Film Studios im Londoner Südwesten, bis heute werden hier Kino- und Fernsehfilme gedreht – dort, wo für Alma Lucy Reville Mitte der 1910er Jahre alles beginnen soll.
*
Im Alter von sechzehn Jahren verlässt Alma die private Mädchen-Schule im Londoner Vorort Twickenham. Es ist nicht ganz klar, warum sie diesen Schritt geht und damit zugleich auf einen höheren Abschluss verzichtet, sei es ein mögliches Abitur, sei es ein darauffolgendes weiterführendes Studium. Aller Wahrscheinlichkeit nach mag es noch mit ihrer Sydenham-Chorea-Erkrankung aus Kindheitstagen zu tun haben. Es ist einer dieser weißen Flecke auf der Landkarte ihres Lebens, von denen es noch mehrere geben wird. Sie hat später, im Verlauf der Jahre, ihrer einzigen Tochter Patricia gegenüber auch hierüber nie wirklich gesprochen. Wie über so vieles nicht. Alma ist nicht nur scheu, sie ist auch bescheiden. Sie wird auch später nie viel Aufhebens um sich machen, sich nie in den Mittelpunkt stellen, es vorziehen, im Hintergrund zu bleiben. »Über ihre bescheidenen Anfänge in der Branche hat sie nie viel gesprochen«10, sagt ihre Tochter Patricia Hitchcock einmal.
In den Jahren zuvor, als Alma noch ein Kind war, ist die Schule schon einmal ein sensibles Thema: Das Mädchen erkrankt an Sydenham-Chorea, auch Saint Vitus Dance genannt, dem Veitstanz, einer neurologischen Krankheit, die mit akutem rheumatischem Fieber, schnellen, unkoordinierten, zuckenden Bewegungen hauptsächlich im Gesicht, an Händen und Füßen auftritt, im Idealfall nur einige Monate anhält und schließlich vorübergeht. Diese Bewegungsstörungen betreffen vor allem Kinder im Alter zwischen etwa sechs und vierzehn Jahren, so wie die kleine Alma sind es insbesondere Mädchen.
Es werden am Ende zwei ganze Jahre sein, die Alma die Schule nicht besuchen kann, eine sich in der Wahrnehmung eines heranwachsenden Kindes geradezu unüberschaubar lang ausnehmende Zeit – eine halbe Ewigkeit.
Zeit ihres Lebens wird Alma Reville, geht es um Schulausbildungen und Abschlüsse, ihr krankheitsbedingtes zwischenzeitliches Fehlen sowie den frühen und zugleich endgültigen Abgang von der Schule als etwas ansehen, worauf sie selbstkritisch blickt, als Mangel, als ein Versäumnis. Sie, die sich in den nun bevorstehenden Jahren so vieles selbst beibringen wird, eine Autodidaktin par excellence, mit ihrer schnellen Auffassungsgabe alsbald an ganz anderer Stelle in ihrem Leben stehen soll. Es ist eine ihrer Widersprüchlichkeiten, oder aber, vielleicht ist es auch nur Reville’sche Konsequenz.
Es ist das Jahr 1915. Ein für die jüngere der beiden Reville-Töchter ganz entscheidendes Jahr, wird sie doch von der London Film Company für zunächst sehr einfache Arbeiten in den Studios eingestellt. Twickenham ist letztlich der einzige Platz, an dem sie Arbeit finden kann, verfügt sie doch über keinerlei Erfahrung. Es ist ein allererster, bescheidener Anfang. Vater Matthew hat sich in den Studios erkundigt, hat auch mit Produzent und Regisseur Harold Shaw gesprochen und sich dafür eingesetzt, dass man seiner Tochter eine erste Arbeit gibt. Als tea girl beginnt die lange Karriere Alma Revilles im Filmgeschäft – an den Filmsets in den Studiohallen von Twickenham bringt sie den Crews, den Technikern und den Schauspielern: Tee.
Sie wird also eingestellt als ein »Teemädchen, die einzig mögliche Arbeit für eine Sechzehnjährige ohne Ausbildung«11, erinnert sie sich.
Beim Kochen und Bringen englischen Tees soll es nicht lange bleiben, Alma wird bald schon innerhalb der Hierarchie des Studios aufsteigen und erste, mit wesentlich mehr Verantwortung betraute Tätigkeiten übernehmen. Anfangs nimmt sie zwar noch die unterschiedlichsten, eher untergeordneten Jobs an, so arbeitet sie eine Zeit lang etwa auch als floor secretary zwischen den Sets, und ihre ersten Schritte im Schneideraum macht sie zunächst auch noch als rewind girl und ist so also für das Umspulen, das Vor- oder Zurückspulen der großen schweren Filmrollen zuständig. Alsbald aber geht es in den ungleich kreativeren Bereich, und sie beginnt mit der Zeit, sukzessive zu lernen, wie man im Schnitt mit dem belichteten Zelluloid richtig umgeht.
Alma ist auf dem Weg, Cutterin zu werden.
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In dieser Frühzeit des Films, des Stummfilms, in der der Ton und die Farbe noch weit weg und vollkommen unvorstellbar sind, sind die Arbeitsvorgänge im Schneideraum äußerst schwerfällig und grob. Das Schneiden und Einmontieren geschehen mit der Hand, ohne jede Elektrizität. Es ist eine anstrengende, mühsame Arbeit, die äußerste Präzision und Konzentration erfordert. Alles ist neu, alles ist ob des erst kurzen Bestehens des jungen Mediums Film noch unerprobt, experimentell. Alles ist manuell, mechanisch, materiell. Für die junge Alma Reville stellt die Arbeit im cutting room ohnehin die erste veritable Herausforderung in der Filmindustrie dar, der Schnitt ist die Disziplin, in der sie es früh zu einer beachtlichen technischen Fertigkeit bringt.
»Ich wollte natürlich unbedingt ›zum Film‹«, erklärt Alma Reville in ihrem ersten Interview. »Mein Vater fand, ich sollte besser zuerst einmal die Schattenseiten dieses Lebens kennenlernen, deshalb hat er mich bei einer Produktionsfirma als ›Cutterin‹ untergebracht. Das hieß nicht, den Film auch zu editieren: Als Cutterin schneidet man nur die kaputten Ränder des Filmmaterials zurecht und fügt sie wieder ordentlich zusammen.«12
Bei Schnitt und Montage allein wird es nicht allzu lange bleiben, das Studio betraut die junge, engagierte Frau nach einiger Zeit mit einer weiteren Tätigkeit, in der es nicht minder auf präzises Timing und akribisches Hinsehen ankommt: Alma ist nicht mehr nur als cutter respektive in späterer Zeit schließlich auch als editor beschäftigt, sie ist als continuity girl nun auch für die Anschlüsse am Set und das exakte Protokollieren der einzelnen takes zuständig. Continuity girl – »Das klang ein klein wenig hübscher, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was das sein sollte. Ich hatte keinen Schimmer. Also sagte ich ja.«13
Sich im Schnitt und bei der Continuity binnen kürzester Zeit zu bewähren und seitens des Studios mit verantwortungsvollen Aufgaben versehen zu werden, lässt zugleich erkennen, welche Neugier Alma antreibt, welche ausgeprägte Wissbegier und welch anhaltend großes Interesse sie an dem hat, womit man sie fordert und fördert.
Alma, the film mad girl.
Es ist der erste Film, bei dem Alma im Schneideraum mitarbeitet, bei dem ihr, wie sie mehrere Jahrzehnte später selbst einmal in einem Interview für eine britische Filmzeitschrift bekunden wird, grobe Fehler unterlaufen. Fehler einer Anfängerin. Ein früher Kostümfilm, bei dem es nicht zuletzt naturgemäß umso mehr darauf ankommt, dass die Schauspieler in den Anschlüssen dieselben Kleider und Accessoires tragen wie in den unmittelbar vorhergehenden Sequenzen.
Alma erzählt:
»Als ich den fertigen Film sah, merkte ich, wie viele Fehler ich mit der Kleidung gemacht hatte. Da kam eine Frau in den Flur und trug Handschuhe, dann ging sie weiter ins Nebenzimmer und hatte keine mehr an, und als sie wieder hinausging, war es umgekehrt. Ein Wunder, dass ich nicht sofort rausgeworfen wurde!«14
Alma Reville wird nicht hinausgeworfen. Vielleicht ist sie sogar die Einzige, die die Anschlussfehler bemerkt.
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Die Zeit, die die beiden Jahre 1917 und 1918 markiert, kann durchaus als eine besondere in Alma Revilles Leben bezeichnet werden. In ihrem angehenden achtzehnten Lebensjahr wird sie nicht nur in einer HGroßproduktion eines der bald schon legendärsten Regisseure der Filmgeschichte mitarbeiten, wenngleich, wie es Tochter Patricia später einmal formulieren wird, »in a very modest position«. Sondern sie wird auch zum ersten Mal vor der Kamera stehen – und spielen.
Es ist eher unklar, in welcher besagten bescheidenen Position Alma an der Produktion von Hearts of the World mitwirkt, klar hingegen ist, dass sie hier am Set von keinem Geringeren als D. W. Griffith steht, der nach dem überragenden Erfolg des Epos The Birth of a Nation (1915) und des zunächst gefloppten, später zum Klassiker avancierten Intolerance (1916) schon zu Lebzeiten einen herausragenden Ruf genießt. Bei dem US-Propagandafilm Hearts of the World, einem Liebes-Melodram vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, zeichnet Griffith wie so oft zugleich als Drehbuchautor, Produzent und Regisseur in Personalunion verantwortlich und besetzt in der weiblichen Hauptrolle Lillian Gish. Gish, in den Filmen Griffiths wiederholt zu sehen, zählt zu den größten weiblichen Stars des Stummfilms, vielleicht ist sie auch der erste veritable weibliche Filmstar überhaupt.
Für die junge Alma muss es ein unbeschreibliches Gefühl sein, am Set einer solch monumentalen Produktion arbeiten zu können, zeitweise zumindest, und zugleich einen der bedeutendsten Filmkünstler seiner Zeit bei der Arbeit zu beobachten. Für sie kann dies nur Ansporn und Inspiration heißen, sowie, ebendiesen eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen. Immer weiter.
Die ohne Zweifel beeindruckende Zeit, die Alma am Set von D. W. Griffith verbringt, geht mit einer weiteren, nicht minder spannenden Erfahrung einher, die durchaus überraschen mag: Immer mal wieder werden der doch eher scheuen, zurückhaltenden jungen Frau Kleinstauftritte in verschiedensten Produktionen angeboten, small parts – in Filmen etwa der amerikanischen Regisseure George Loane Tucker oder Harold Shaw, auch unter der Regie von Herbert Brenon.
Schließlich ist es der britische Regisseur Maurice Elvey, an dessen Sets Alma in den vergangenen zwei Jahren bereits mehrfach in verschiedenen Funktionen gearbeitet hat – als Cutterin einiger seiner Filme über die Aufgabe als studio floor assistant bis hin zur zweiten Regie-Assistentin –, der ihr eine bemerkenswerte Nebenrolle in seinem nächsten Film anträgt, in The Life Story of David Lloyd George (1918).
Unter Elveys Regie spielt die erwachsene Alma die noch junge Tochter Megan des britischen Premierministers Lloyd George. Angesichts ihrer überschaubaren Körpergröße stellt der Altersunterschied zwischen Rolle und Darstellerin kein Hindernis dar. In dem Part des Walisers Lloyd George, der von 1916 bis 1922 im Amt ist und bis heute als der erste und einzige Amtsinhaber gilt, der aus Wales stammt, ist der Theater-Schauspieler Norman Page zu sehen.
Obgleich, zu sehen ist eigentlich niemand, wird The Life Story of David Lloyd George, der ursprünglich den Titel The Man Who Saved The Empire trug, doch unmittelbar vor seinem Kinostart konfisziert, kaum dass der Film in London abgedreht und die Post-Produktion abgeschlossen ist. Sogar das Original-Negativ des Films wird zerstört. Die genaueren Umstände der offenbar rätselhaften Konfiszierung scheinen unbekannt – es heißt, sie seien angeblich politischer Natur –, und über Dekaden wird es zu keiner Premiere von Elveys Film kommen, der selbst davon überzeugt ist, dass sein Film zerstört wurde und somit für alle Zeit unsichtbar bleibt.
Doch es soll anders kommen, das Schicksal des Films, in dem Alma ihre größte kleine Rolle innehat, geht seltsame, eigene Pfade: Im Jahr 1994 übergibt Lloyd Georges Enkel, William Lloyd George, der 3. Viscount Tenby, eine Sammlung an Erinnerungsstücken an das Wales National Film and Television Archive. Der Enkel, selbst Politiker und dem House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments, bis 2015 angehörend, hat keinen blassen Schimmer, was sich in dieser Ansammlung seines namhaften Großvaters David verbirgt, und erst recht nicht davon, dass sich eine einzige übrig gebliebene Zelluloid-Kopie von The Life Story of David Lloyd George darin befindet. Niemand wusste es. Über all die Jahre schlummerte der verloren geglaubte Film ungesehen in einer Kiste, einem kostbaren Schatz gleich, der verschüttet lag und nicht gehoben wurde.
Daraufhin begibt man sich in Wales an die Restaurierung von Maurice Elveys zweieinhalbstündigem Stummfilm, der im Rahmen der Veranstaltungen zum einhundertjährigen Jubiläum des internationalen Kinos gezeigt werden soll.
Es ist der 5. Mai 1996, an dem The Life Story of David Lloyd George schließlich doch noch seine Weltpremiere erlebt, im MGM Cinema im walisischen Cardiff, begleitet von Live-Musik – achtundsiebzig Jahre nach seiner Entstehung 1918, in London. Elveys verschollener Film wird daraufhin von Kritikern und Filmhistorikern als einer der besten Stummfilme gefeiert, die jemals in Großbritannien entstanden sind. So schließen sich manchmal Kreise, auch wenn ein ganzes Dreivierteljahrhundert dazwischenliegt.
Maurice Elvey, der ganz ähnlich wie D. W. Griffith ein Vielfilmer ist und in späteren Jahren einmal auf über dreihundert Filme zurückblicken kann, wird The Life Story of David Lloyd George stets als seine ihm wichtigste Arbeit bezeichnen. Es mag dabei umso tragischer anmuten, dass der Regisseur, der 1967 im Alter von neunundsiebzig Jahren in Brighton starb, die Uraufführung seines ihm so teuren Films nicht mehr miterleben kann.
In einer der längeren Sequenzen des heute wieder zugänglichen Stummfilms ist Alma Reville zu sehen, wie sie in einer Parkanlage unweit von Trafalgar Square spielt. Die Nelson’s Column ist aus der Ferne zu sehen, und die bei Stummfilmen üblichen Texttafeln beschreiben in weißer Schrift auf schwarzem Grund, dass es sich bei der Grünanlage um jene hinter dem Regierungssitz handelt, 10 Downing Street. Das Mädchen, Megan heißt es, schlendert erst durch den Park und eilt daraufhin ins Haus, um ihren Vater im Arbeitszimmer zu besuchen. Prime Minister Lloyd George sitzt an seinem Schreibtisch, in Dokumente vertieft, abwesend, und seine quirlige Tochter rennt um den schweren Tisch herum, um sich kurzerhand auf eine Armlehne zu setzen. Megan kann ihren Vater alsbald überzeugen, etwas mit ihr zu unternehmen. So schreiten sie gemeinsam aus dem Amtssitz und gehen durch den angrenzenden Park spazieren. Aus der Ferne ist die am Trafalgar Square rechter Hand gelegene Kirche St Martin-in-the-Fields im Hintergrund zu sehen, bevor sie an einen Teich gelangen, an dem einige wenige Menschen stehen, die Kraniche füttern. Vater und Tochter sehen diesem Idyll eine ganze Weile lang zu, plauschen dabei. Dann wird schwarz abgeblendet, eine andere Szenerie folgt.
Die Vorstellung, dass es sich bei dem Mädchen Megan um die bereits erwachsene achtzehnjährige Alma Reville handelt, die dieses aufgeweckte, fröhliche und umhertänzelnde Kind spielt, einer Elfe gleich in ihrem weißen Kleid, ist eine ganz eigene, vielleicht auch etwas skurrile. Umso mehr, als dass hier eine aufstrebende Cutterin und zukünftige Drehbuch-Autorin zu sehen ist. Mit ihren einen Meter fünfzig Größe und den auch zu dieser Zeit noch ausgesprochen langen Haarzöpfen, die ihr über den ganzen Rücken reichen, wirkt sie nahezu wie eine andere Person. Und doch ist es Alma. Jene Alma, die in drei Jahren schon eine folgenreiche Begegnung erleben soll, die ihr Leben für immer prägen wird.
In einem noch zu seinen Lebzeiten publizierten Text hat Regisseur Maurice Elvey an einer Stelle einmal notiert:
»Die Rolle des kleinen Mädchens, Megan Lloyd George, wurde von Alma Reville gespielt, dieser charmanten Lady, die später dann Mrs. Alfred Hitchcock wurde und damals meine Filme für mich schnitt.«15
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Maurice Elveys restauriertes und rehabilitiertes Politiker-Biopic The Life Story of David Lloyd George ist, nach den noch schmaleren Rollen in der Zeit zuvor, allem Anschein nach der letzte Film, in dem Alma Reville vor der Kamera steht. Doch warum bleibt es lediglich bei einem kleinen, recht überschaubaren Exkurs vor die Kamera, warum hat sie diesen Weg nicht auch weiterverfolgt? Ganz abwegig erscheint dies nicht, schließlich befinden sich in ihrem Nachlass in den Fotoalben, die sie »Snaps« betitelt, Schnappschüsse: nicht nur frühe Schwarz-Weiß-Fotografien, die zeigen, wie sie – gekleidet in ein weißes wehendes Gewand und mit weißer Kappe auf dem Kopf – für die Kamera posiert und Figuren nachstellt – auf einem mutet sie geradezu wie ein Engel an –, sondern auch eine Art inoffizielles Bewerbungsschreiben für mögliche Castings. Sie hat es selbst mit ihrer schwungvollen Handschrift verfasst.
In dem Schreiben sind neben anderen, wie etwa der aktuellen Adresse in St Margarets on Thames, folgende Angaben zu lesen: »Age 20, height 4 feet 11 inch (without shoes), hair: light brown (curly), eyes: light brown.«
Des Weiteren führt Alma ihre eigenen qualifications auf: »Dance, stage, ballroom, row, cycle, billiards.« Sowie, auch dies ist ihr eine Zeile wert: »Good wardrobe.«
Schließlich listet Alma noch ihre bisherigen Erfahrungen auf und lässt dabei bemerkenswerterweise ihre ersten Schritte als Cutterin sowie in der Continuity nahezu vollständig weg.
So ist unter experience unter anderem zu lesen: »Small parts«, ergänzt um die Namen der vier Regisseure, bei denen sie gespielt hat. Sowie: »Played Megan Lloyd George in The Life Story of David Lloyd George fromthe age of 9 to presentday.«Dabei unterstreicht sie die Altersspanne, die ihre Rolle der Tochter des Prime Ministers umfasst. Der letzte Satz ihres kleinen persönlichen Casting-Schreibens erwähnt immerhin kurz eines ihrer mannigfachen Arbeitsfelder, die sie bislang in den Studios ausübte: »Also has been producer’s assistant to Maurice Elvey for 2years.«
Dennoch soll es keine Fortsetzung dieses Weges geben, den sie kurz, ganz en passant, beschreitet, auch erwähnt sie gegenüber der Familie nichts davon, dass sie gerne eine Karriere als Schauspielerin einschlagen wolle. Wie es ihre Art ist, spricht sie auch später nicht darüber.
Einen kleinen Hinweis gibt sie immerhin während ihres ersten Interviews, als sie zu ihren ersten Gehversuchen im Studio, in dem Vater Matthew sie unterbekommt, sagt: »Ich war keineswegs entmutigt, aber ich merkte doch, wie interessant es war, mit einem festen Gehalt in einem Filmstudio zu arbeiten, und auch längst nicht so unsicher wie die Arbeit als Filmschauspielerin.«16 Es mag, wenn auch nur ein nebensächlicher, doch einer ihrer Beweggründe sein, lieber hinter als vor der Kamera zu stehen.
Alma kehrt bald schon zu den Tätigkeiten jenseits der Kamera zurück, die sie vor ihrem Ausflug ins darstellerische Metier ausübte, die sie perfektionieren und um weitere, letztlich ganz essenzielle, etwa der des Drehbuch-Schreibens, ergänzen und komplettieren wird.
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Es ist das Jahr 1921, in dem sie sich erstmals begegnen.
Zugleich ist es jenes Jahr, in dem Alma Reville bei der Produktionsfirma Famous Players-Lasky eine Beschäftigung findet. Sie wechselt damit auch die Studios, geht von den ihr inzwischen so vertrauten Twickenham Film Studios nahe ihres Wohnortes St Margarets zu den im Londoner Norden gelegenen Islington Studios. Es mag für sie durchaus eine kleine Zäsur darstellen. Vor allem aber ist es ein weiterer Schritt auf jenem Weg, den sie vor inzwischen fünf Jahren eingeschlagen hat. Einem Weg, der ihr Weg sein soll.
Hier, in Islington, arbeitet Alma im Verlauf dieses Jahres als Cutterin etwa an Appearances und an Beside the Bonnie Brier Bush, die der schottische Regisseur Donald Crisp in Szene setzt, sowie, etwas später, an Crisps Tell Your Children. Im Jahr darauf, 1922, sitzt sie an The Man from Home sowie an Three Live Ghosts, die beide wiederum unter der Regie des Franko-Amerikaners George Fitzmaurice entstehen, wie Crisps Filme auch als britisch-amerikanische Co-Produktionen für Famous Players-Lasky. Bei ersterer dieser beiden Produktionen ist sie wieder für den Schnitt verantwortlich, bei letzterer ebenfalls auch für den Schnitt, fungiert aber überdies als second assistant director, als zweite Regie-Assistentin.
Alma hat sich rasch in Islington eingelebt und etabliert. Sie lernt unentwegt dazu und fühlt sich überaus wohl in den Studiohallen und an den Sets – das hier ist ihre Welt.
Die Mitarbeiter im Studio begegnen ihr, die eine von nur wenigen Frauen ist, die hier arbeiten, mit Respekt und Anerkennung. Die meisten Frauen stehen zu dieser Zeit eher als Schauspielerin vor der Kamera, und nicht dahinter, in den herstellenden verantwortungsvollen Gewerken. Einzig einige Drehbuch-Autorinnen bilden in der britischen Stummfilmzeit eine Ausnahme. Nicht nur respekteinflößend, sondern auch ein wenig einschüchternd muss Alma wohl auf ihr Umfeld wirken, ohne dass sie selbst sich dessen auch nur im Ansatz bewusst wäre. Scheu und schüchtern auf der einen Seite, hat sie andererseits im Laufe der vergangenen Jahre mit zunehmender Berufserfahrung an Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein hinzugewonnen.
»To my mother, the studio was like home.«
Ein aussagekräftiger Satz, den Tochter Pat Hitchcock Jahre später über Alma Reville äußert, der in gleichem Maße ebenso auf ihren Vater zutrifft und einmal essenzieller Teil der gemeinsamen Grundfesten einer ganz und gar außergewöhnlichen Lebens- und Arbeits-Verbindung sein soll.
Dieses Zuhause sind die Islington Studios – auch als Gainsborough Studios bekannt –, die im Jahr 1919 errichtet werden. Dort, wo ein stillgelegtes Elektrizitätswerk der Great Northern & City Railway war, gehen diese Studios im Jahr darauf in Betrieb und gehören in der folgenden Zeit, unter anderem mit durch den Krieg bedingten Unterbrechungen und mehreren Betreiberwechseln, zu den maßgeblichen Filmstudios Großbritanniens.
Das ehemalige Eisenbahn-Elektrizitätswerk an der Poole Street befindet sich, zwischen Islington und Shoreditch gelegen, unweit des südlichen Ufers des Regent’s Canal – die City of London liegt nur wenige Kilometer weiter südwärts. Zunächst ist es die amerikanische Firma Famous Players-Lasky, die die neuen Studios betreibt, die zu diesem Zeitpunkt mithin nicht nur zu den größten, sondern auch zu den technisch fortgeschrittensten zählen: Neben diversen Atelier-Werkstätten und Büroräumen sowie drei Bühnen verfügen sie seinerzeit zudem über einen versenkten Betontank mit Fenstern, der sich etwa für Unterwasser-Szenen gut eignet.
Die Poole Street soll bald schon als Hollywood by the Canal Bekanntheit erlangen.
Zwischen 1920 und 1922 dreht Famous Players-Lasky elf Filme dort, von denen jedoch keiner ein veritabler Erfolg wird, weder bei der Kritik noch beim Publikum, und so vermietet man die Studioräume stattdessen an andere Produktionsfirmen. Bereits im Januar 1924 gibt Famous Players-Lasky schließlich ganz auf und kehrt wieder in die USA zurück.
Einige der unabhängigen Filme aus den Studios verzeichnen aber durchaus Erfolge, darunter auch Flames of Passion (1922) und Paddy the Next Best Thing (1923), für die Regisseur Graham Cutts und Produzent Michael Balcon verantwortlich zeichnen. Die beiden Filmemacher gründen schließlich ihre eigene Produktionsfirma, deren Name letztlich zum Synonym der Islington Studios werden soll: die Gainsborough Pictures.
Michael Balcon kauft die Islington Studios für einen erheblich reduzierten Preis von 14 000 Pfund, den Balcon zudem in Raten entrichten kann. Der erste Gainsborough-Film ist The Passionate Adventure (1924), mit dem zweiten, The Rat (1925), kann die junge Produktionsfirma einen beachtlichen Erfolg für sich verbuchen. Verfasst von Ivor Novello, der zugleich auch die Hauptrolle spielt, handelt The Rat, unter der Regie von Graham Cutts gedreht, von einer Liebesgeschichte in der Pariser Unterwelt. Gainsborough nimmt Novello unter Vertrag und etabliert mit zwei weiteren von Cutts inszenierten Rat-Filmen – The Triumph of the Rat (1926) und The Return of the Rat (1929) – sowie etlichen weiteren Liebes- und Abenteuerfilmen den Ruf des Studios. Es ist Ivor Novello, den Hitchcock 1926 in seiner dritten eigenen Regiearbeit, The Lodger – A Story of the London Fog (Der Mieter, 1927), in der Hauptrolle besetzen wird.
Als im so unseligen September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, herrscht die Angst vor, feindliche Luftangriffe könnten die Produktionen behindern und Bombenexplosionen womöglich auch dazu führen, dass der Schornstein des Gebäudes – zu dieser Zeit ist es immerhin der dritthöchste von ganz London – einstürzen und durch das Dach der Studios schlagen könnte. Die Studios schließen daher vorübergehend, doch da keine der Befürchtungen eintritt, werden die Filmarbeiten alsbald wiederaufgenommen.
Noch während des Krieges werden die Gainsborough Pictures von der Rank Organisation 1941 aufgekauft, und es folgt eine Reihe historischer Melodramen, die sich als allen Beteiligten überaus willkommene Kassenschlager erweisen sollen: Die Filme, darunter The Man in Grey (1943), Fanny by Gaslight (1944) und Madonna of the Seven Moons (1945), dienen allesamt vor allem dem Zweck, den Härten an der Heimatfront zu entfliehen. Weitere beachtenswerte Produktionen, eine Mischung aus Komödien und Kriegsfilmen, umfassen unter anderem Shipyard Sally (1939), They Came by Night (1940), It’s That Man Again (1943), We Dive at Dawn (1943) und Waterloo Road (1945).
Trotz der Erfolge des Studios in den 1940er Jahren gehen die Publikumszahlen in den Kinos jedoch generell merklich zurück, und es erweist sich als zusehends kostspielige Angelegenheit, ein Filmstudio zu führen. So ist nach beinahe 170 Filmen Here Come the Huggetts (1948), ein leichtgewichtiges Drama um eine Familie, die sich ihr erstes Telefon zulegt, die finale Gainsborough-Produktion.
Das Jahr 1949 wird nach dreißig Jahren dann das Ende der Studios markieren: Die Hallen schließen, der Betrieb wird endgültig eingestellt. Eine für die britische Filmgeschichte wahrlich nicht unbedeutende Ära der Filmproduktion neigt sich ihrem Ende entgegen.
Im Oktober desselben Jahres kommen das gesamte Studio-Inventar und alle Filmrequisiten zur Versteigerung, schließlich wird das Gebäude zum Verkauf angeboten. Erst erwirbt es die schottische Whisky-Brennerei James Buchanan and Co., die das Studio zur Lagerhalle umfunktioniert, dann macht die Firma Kelaty ein Teppichgeschäft daraus.
Eine ganze Zeit lang erinnert nichts mehr daran, dass hier einmal die mithin größten Filmstudios Großbritanniens standen, dass hier Hollywood by the Canal war.
Als das ehemalige Elektrizitätswerk und Studiogelände schließlich Teil eines prosaischen Neubaukomplexes wird, der aus Wohnungen, Penthouses, Büros und Geschäften besteht, wird diesem Komplex jener Name verliehen, den er damals, in den frühen 1920er Jahren, schon einmal trug: Gainsborough Studios.
Im Innenhof dieses weit angelegten Neubaus wird im Jahr 2003 eine überdimensional große, von Antony Donaldson geschaffene Skulptur von Alfred Hitchcocks Kopf aufgestellt – eine unübersehbare Reminiszenz an den Londoner Regisseur, dessen lange Filmkarriere genau hier an diesem Ort begann. Wenige Jahre später beschließt der lokale Hackney Council zudem, eine blue plaque des English Heritage, eine der in Großbritannien bekannten historischen blauen Gedenkplaketten, an der Fassade zur Poole Street anzubringen. Auch sie soll, zusammen mit Hitchs Kopf, an die legendären Gainsborough Studios erinnern.
Es ist ebendort, an diesem ebenso film- wie zeithistorischen Ort, viele Jahrzehnte zuvor, als sie sich eines schönen Tages im Jahr 1921 begegnen – in Islington, in einer der Hallen der Filmstudios.
Wo auch sonst?
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Die erste Begegnung von Alma Reville und Alfred Hitchcock nimmt sich wenig spektakulär aus: Als Alma sich, wie an so vielen anderen Tagen auch, in einer der Studiohallen aufhält, wird sie plötzlich auf einen jungen Mann aufmerksam, den sie hier, in Islington, noch nie gesehen hat. Er scheint neu hier zu sein. Eilig und geschäftig geht er mit Tunnelblick durch das Studio, mit einer Mappe an selbst angefertigten Entwürfen für Zwischentitel unterm Arm, blickt nicht nach rechts, blickt nicht nach links, sieht nichts und niemanden – während Alma ihn wahrnimmt, kurz innehält, ihm nachsieht.
Das Bild dieses Mannes geht ihr nach.
Er soll einmal der wichtigste Mensch in ihrem Leben werden.
»Ich weiß noch, dass da ein junger Mann hereinkam, mit einem großen Paket unter dem Arm und einem ziemlich spießigen grauen Mantel«,17 erinnert sich Alma Reville mehrere Jahrzehnte später an jenen Moment. Dabei kichert sie, während sie diese Bilder und Eindrücke, die ganze Dekaden her sind, in sich wachruft. Almas keckes Kichern wird in diesen Anfängen noch eine nicht ganz unerhebliche Rolle spielen.
Mit der großen, flachen Mappe, die der emsige Mann unterm Arm trägt, hat es eine besondere Bewandtnis auf sich, enthält sie doch ausgerechnet die von ihm designten neuen Zwischentitel-Skizzen für ebenjenen Film, an dem Alma zu dieser Zeit gerade im Schneideraum sitzt – Donald Crisps Appearances. Wie einfach wäre es da, hierüber miteinander ins Gespräch zu kommen! Doch im Studio ein noch nicht eingeführter Neuling zu sein, der lediglich die Zwischentitel entwirft, ist etwas ganz anderes, als bereits als eine zusehends etablierte Cutterin zu arbeiten.
Die Begegnung, die in diesem Moment zunächst wie ein einseitiges Wahrnehmen erscheinen mag – später soll sich herausstellen, dass dem natürlich keineswegs so ist –, bleibt für eine ganze Weile folgenlos. Immer mal wieder sieht Alma den jungen, überaus geschäftig wirkenden Mann, der eilig an allem und jedem vorbeizieht, doch sie sprechen nicht miteinander, gehen nicht aufeinander zu, tauschen sich nicht untereinander aus, so, wie es für Studio-Angestellte auch ganz unterschiedlicher departments zwar nicht unbedingt zwingend, aber doch durchaus gang und gäbe ist.
Dann kommt jener Moment, in dem die Amerikaner mit ihrer Produktionsfirma Famous Players-Lasky beschließen, sich allmählich aus der britischen Produktion, die sich für sie letztlich als ein zu volatiles Risikogeschäft erwiesen hat, wieder zurückzuziehen und die Islington Studios nicht länger unter ihrer Ägide zu betreiben. Islington wird vorerst noch weitervermietet, schließlich ganz verkauft, an die neu gegründeten Gainsborough Pictures. Es ist eine Zäsur. Auch für Alma, noch eine. Sie verliert ihre Arbeit in den Islington Filmstudios und steht buchstäblich auf der Straße.
Als sie schon nicht mehr weiterweiß, da sie bereits seit mehreren Monaten ohne Anstellung ist und auch sonst keine neuen Angebote hat, sich zunehmend Sorgen darüber macht, die sie natürlich nicht offen zeigt, diskret und zurückhaltend, wie sie ist, klingelt eines Tages unverhofft das Telefon. Alma geht ran und nimmt ab, und am anderen Ende des Fernsprechapparates hört sie zum ersten Mal seine Stimme.
Das Gesicht dazu kennt sie schon. Es ist die Stimme des jungen Mannes, der sie all die Zeit über stets geflissentlich zu ignorieren schien, und dies betont kühl und distanziert. Zwei Jahre lang.
»Miss Reville?«, fragt die etwas steif und gehemmt klingende Stimme förmlich am Hörer. »This is Alfred Hitchcock.« Nun nennt er ihr gegenüber also seinen Namen, den sie zwischenzeitlich im Studio in den vergangenen zwei Jahren natürlich längst in Erfahrung gebracht hat. Dann fährt er schließlich fort: »I am assistant director for a new film. I wonder if you would accept a position as a cutter on the picture.«
Es ist der Beginn von allem.
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London 1899 – 1923
»This is what we do to naughty boys.«
ALFRED HITCHCOCK
Der 13. August des Jahres 1899 ist ein Sonntag. Es kann gar nicht anders gewesen sein. Geht dieser Sonntag doch in die Annalen jener kleinen britischen Familie ein, in der an diesem Tag ihr drittgeborenes Kind zur Welt kommt, ein Junge, der später einmal eine nahezu globale Berühmtheit erlangen soll. Es sei schließlich der einzige Sonntag jemals gewesen, an dem seine Mutter nicht in die Kirche gegangen sei, wird der an diesem Tag geborene Alfred Joseph Jahre später einmal bekunden. Alle in der Familie haben sich stets daran erinnern können – an diesem einen Sonntag blieb Mutter Emma der wichtige, durch nichts zu ersetzende und von nichts und niemand zu verhindernde Kirchgang verwehrt.
Die Ausnahme dieser eisernen Regel bildet die Geburt des kleinen properen Alfred.
Als der Londoner Obst- und Gemüsehändler William Hitchcock und seine Angetraute Emma einen Sohn bekommen, sind es nur noch einige wenige Monate bis zur Jahrhundertwende. In diesem letzten Jahr des bald ausklingenden Jahrhunderts wird Alfred Joseph Hitchcock an besagtem Ausnahme-Sonntag, dem 13. August, im seinerzeit nordöstlich von London gelegenen Dorf Leytonstone in der alten Grafschaft Essex geboren. Das heutige Leytonstone befindet sich in einem der zweiunddreißig Londoner Stadtbezirke, dem London Borough of Waltham Forest. Die Geburt des jüngsten Kindes findet zu Hause statt, im oberen Stockwerk in der oberhalb des Warenladens gelegenen Wohnung in der High Road Nr. 517.
Das drittgeborene ist zugleich das letzte der drei Hitchcock-Geschwister. Es wird das stille, schweigsame Kind sein.
Lediglich einen Tag später – und im Laufe all der vielen noch kommenden Jahre sollen sie beide manchmal verschmitzt bekunden, und sie mag dabei ihr keckes Kichern an den Tag legen, beim zeitlichen Abstand ihrer beiden Geburten habe es sich ja eigentlich ohnehin nur um einige wenige Stunden gehandelt – wird im nordenglischen Nottingham eine gewisse Alma Lucy Reville geboren.
William Hitchcock und Emma Jane Whelan haben vor dreizehn Jahren, 1886, geheiratet, er ist vierundzwanzig, sie ist gerade einmal ein Jahr jünger – beide entstammen sie einer Generation. Beide, Emma wie William, kommen sie zudem aus demselben Bezirk West Ham, der, ähnlich wie Leytonstone, zu dieser Zeit noch zur historischen Grafschaft Essex außerhalb Londons gehört und noch nicht zur erst 1965 etablierten Verwaltungsregion Greater London. Die Hochzeit des jungen Paares findet in der Kirche des Heiligen Antonius von Padua in Upton statt. Es ist eine katholisch ausgerichtete Heirat, und erst durch ihre Eheschließung gehören die Hitchcocks nun auch wieder der katholischen Religion an.
Alfred Hitchcocks Urgroßvater Charles lebte als einfacher Fischer in Stratford, West Ham, sein Sohn Joseph heiratete im Jahre 1851 die arbeitslose Hausangestellte Ann Mahoney, Tochter eines aus Irland ausgewanderten Tagelöhners namens Silvester Mahoney. Die Heirat zwischen Joseph Hitchcock und der Katholikin Ann Mahoney fand jedoch nicht in einer katholischen, sondern vielmehr in einer anglikanischen Kirche statt. Es sind seinerzeit gesellschaftliche Gründe, die dazu führten. Bis zu dieser Ehe gehörten die Hitchcocks somit der anglikanischen Kirche Englands an und nicht, wie Alfred Hitchcock es dennoch in späteren Jahren immer mal wieder gerne erzählen soll, seit jeher der katholischen: »Meine Familie war katholisch, in England ist das schon etwas Exzentrisches.«18
Neun Söhne und Töchter zeugten Joseph Hitchcock, der Gemüsehändler, und seine Ann, darunter auch Alfred Hitchcocks Vater William, der am 4. September 1862 in Stratford zur Welt kommt. Von all den Söhnen Joseph Hitchcocks ist es William, der nach 1880 den Obst- und Gemüsehandel seines Vaters weiterführt, dort, in Forest Gate, das dem Distrikt West Ham, Essex, angehört.
Es ist ebendort, in West Ham, wo Emma Jane Whelan als Tochter irischer, katholischer Einwanderer groß wird. Emmas Vater, John Whelan, war nicht nur Ire und Katholik, sondern auch Polizist. Ein Umstand, der ihn in seinem sozialen Umfeld nicht unbedingt beliebter machte, handelt es sich dabei doch um einen Berufsstand, der unter den Cockneys, der Arbeiterschicht des East End, nicht nur keinerlei Ansehen genießt, sondern geradezu dem Spott ausgesetzt ist.
Die frisch vermählten Hitchcocks beziehen zunächst eine gemeinsame Wohnung in Stratford, wo William Hitchcock wiederum seinen eigenen Laden eröffnet und sie alsbald eine kleine Familie gründen werden. Diese Hitchcocks nun sind sehr katholisch und fromm und gehören im England dieser Zeit als Katholiken auch einer Minderheit an. Sie sind stolz auf ihren Katholizismus, und so leben sie ihn auch ganz bewusst. In die Gemeindekirche St. Francis in Stratford geht es allwöchentlich sonntags auch dann noch zum Gottesdienst, als die Hitchcocks schon Jahre nicht mehr dort leben. Ein Leben lang wird Alfred Hitchcock von alledem geprägt sein.
Seit dem Jahr 1896 wohnen die Hitchcocks nun in Leytonstone, in einem bescheidenen kleinen Backsteinhaus in der High Road Nr. 517, nachdem sie in den Jahren zuvor schon zweimal umgezogen sind.
Der Vater ist zumeist abwesend – die Mutter ist stets anwesend.
»Mein Vater war nie da.«19
Vater William Hitchcock ist streng und autoritär – »er war ein leicht erregbarer Mann«20 –, ein Mensch, der jegliche Art an Emotionalität verdrängt. Ängstlich wacht er über das Wohlergehen seiner Kinder. Er arbeitet fast nur, ist von morgens früh bis abends spät im Laden, auf dem Markt oder in den sich hinter dem Haus anschließenden Gewächshäusern.
Ohnehin ist die strenge Atmosphäre im Hause Hitchcock von Arbeit durchzogen. Arbeit und Glaube.
Mutter Emma Hitchcock ist ebenso pflichtbewusst wie ordnungsliebend, sie ist stets da, kümmert sich, sorgt sich. Es mag daher wenig verwundern, dass der Junge Alfred von Beginn an sehr auf seine Mutter fixiert ist. Von seiner Mutter wird er erzogen, von ihr wird er geprägt. Mutter Emma scheint geradezu allgegenwärtig im Leben des kleinen Alfred.
Jahrzehnte später, im Juni 1972, wird Hitch vor laufenden Kameras und vollbesetztem Studio in The Dick Cavett Show