Ingrid Bergman - Thilo Wydra - E-Book

Ingrid Bergman E-Book

Thilo Wydra

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Beschreibung

Ingrid Bergman (1915–1982) zählt zu den wenigen weiblichen Weltstars des Kinos. Zu ihren bekanntesten Filmen gehören Klassiker wie "Berüchtigt" von Alfred Hitchcock, "Das Haus der Lady Alquist", "Casablanca", "Wem die Stunde schlägt", "Die Kaktusblüte" oder "Herbstsonate". Im Lauf ihrer fast 50-jährigen Karriere erhielt sie drei Oscars.

Ihr Leben hingegen war für die Tochter eines schwedischen Vaters und einer deutschen Mutter, die beide früh starben, eines ohne festen Boden. Als Johanna von Orleans verehrt, entfachte ihre Beziehung mit Regisseur Roberto Rossellini vor allem in Amerika einen Skandal, der sie über Jahre die Sympathien des Publikums kostete. Auf der Basis neuer Quellen und zahlreicher Gespräche mit der Familie – u. a. mit den Töchtern Isabella Rossellini und Pia Lindström – sowie mit Weggefährten – u. a. mit Schauspiellegende Liv Ullmann – schildert Thilo Wydra in dieser ersten neuen Biographie seit vielen Jahren das beeindruckend vielfältige Schaffen und leidenschaftliche Leben der großen Schauspielerin, die in sich zerrissener war, als ihr öffentliches Bild es nahelegt.

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Seitenzahl: 1204

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THILOWYDRA

Ingrid Bergman

Ein Leben

Deutsche Verlags-Anstalt

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1. Auflage 2017

Copyright © 2017 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Regina Carstensen, München

Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: Cecil Beaton Studio Archive at Sotheby’s

Gestaltung und Herstellung: DVA/Andrea Mogwitz

Layout und Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Gesetzt aus der Adobe Garamond Pro

Bildbearbeitung: Helio Repro GmbH, München

ISBN 978-3-641-15010-5V001

www.dva.de

Im Andenken an meine Eltern – Ursel Wydra & Siegfried Wydra

Inhalt

Vorspann

Die vielen Leben der Ingrid B.

1915 –1934. Schweden

»Diese Tage und Jahre voller Einsamkeit«

Kindheit und Jugend in Stockholm und Hamburg

1934–1938. Schweden

Erste Ehe, erstes Kind, erste Rollen

Walpurgisnacht (Valborgsmässoafton, 1935) – Auf der Sonnenseite (På solsidan, 1936) – Intermezzo (1936) – Das Gesicht einer Frau (En kvinnas ansikte, 1938)

1938. Deutschland

Vorkriegserfahrungen: Ein UFA-Film in Berlin

Die vier Gesellen

1939 –1944. Amerika

Hollywood I.

Reise ohne Wiederkehr: Ein Lockruf des Produzenten David O. Selznick, ein Kultfilm und ein erster Oscar – Intermezzo. A Love Story (1939) – For Whom the Bell Tolls (Wem die Stunde schlägt (1943) – Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Arzt und Dämon, 1941) – Casablanca (1942) – Gaslight (Das Haus der Lady Alquist, 1944)

1945 –1949. Amerika

Ingrid – Blondine des »Master of Suspense« Alfred Hitchcock

Spellbound (Ich kämpfe um dich, 1945) – Amour fou in Deutschland 1945: Robert Capa und Larry Adler – Notorious (Berüchtigt, 1946) – Under Capricorn (Sklavin des Herzens, 1949)

1947–1948. Amerika

Die Lebensrolle

Joan of Lorraine (Johanna aus Lothringen) im Theater und Joan of Arc (Johanna von Orléans) im Kino

1948 –1949. Zwischen den Welten

Amerika – Italien

Zwischen Hitchcocks Under Capricorn und Rossellinis Stromboli

1949 –1955. Italien und Deutschland

Roberto Rossellini: Amour fou – »Der Skandal« – Zweite Ehe

Stromboli (1950) – Europa ’51 (1952) – Der Prozess: Lindström gegen Bergman – Bergman gegen Lindström – Viaggio in Italia (Reise in Italien, 1954) – Giovanna d’Arco al rogo (Johanna auf dem Scheiterhaufen, 1954) – Film noir im Nachkriegs-München: Angst (La paura, 1954)

1955–1965. Frankreich, England und Amerika

Hollywood II.

Comeback und Rehabilitation: ein zweiter Oscar, eine neue Liebe und erste US-Produktionen – Tea and Sympathy (1956) – Anastasia (1956) – Indiscreet (Indiskret, 1958) – Aimez-vous Brahms? (Lieben Sie Brahms?, 1961) – Hedda Gabler (1962) – The Visit (Der Besuch, 1964) – Smycket (Das Halsband, 1964/1967)

1965 –1977. Frankreich, England und Amerika

Die Zeit der Übergänge und der dritte Oscar

The Human Voice (Die menschliche Stimme, 1966) – Cactus Flower (Die Kaktusblüte, 1969) – Murder on the Orient Express (Mord im Orient-Express, 1974) – A Matter of Time (Eine Frage der Zeit, 1976)

1977–1978. Schweden

Letzte Rückkehr in die Heimat

Bergman und Bergman – Ingmar und Ingrid –

Höstsonaten (Herbstsonate)

1978 –1982. England und Amerika

»Und auch am Ende meines Lebens bin ich da und bereit«

Die letzten Jahre: Krankheit, Alleinleben – und der Abschied von Hitchcock – A Woman Called Golda (Golda Meir, 1982)

Abspann

Die Eindeutigkeit der Ingrid B.

Eine persönliche Nachbemerkung

Dank

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Filmographie

Bibliographie

Personenregister

Filmtitelregister

Ein Vogel, der nirgends zu Hause ist, der immer fliegt, und zwar nicht kleine Strecken, sondern Flüge von einem Kontinent zum andern. Ja, das bin ich auch jetzt noch, und nicht nur im geographischen Sinn. Flygande fågel… ein Vogel, der nicht eingeschlossen sein kann… Ich wollte nicht nur eine schwedische Schauspielerin sein, ich wollte die Welt und die Menschen kennenlernen, viele Orte und viele Leute… Flygande fågel… Als ich mich in den Mauern jenes wundervollen Gefängnisses, das Hollywood heißt, eingeschlossen fand, nicht mehr fliegen konnte– leben… lieben und verstehen…

Ingrid Bergman (1963)[1]

Vorspann

Die vielen Leben der Ingrid B.

Die Kamera hat mir nie Angst gemacht.

Ingrid Bergman[1]

Es mag der Mythos eines einzigen Filmes sein, dessen schwarz-weiße klare Strahlkraft ungebrochen bis in die Gegenwart hineinwirkt und gemeinhin als Erstes mit ihrem Namen verbunden wird: Casablanca (1942).

Diese weltumspannende, zeitlos wirkende Liebesgeschichte um Rick und Ilsa, die sich in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in der Stadt an der Nordküste Marokkos wiederbegegnen, hat längt ikonographischen Charakter erlangt. Das tröstliche »Wir haben immer noch Paris« ist ebenso zum allbekannten geflügelten Wort geworden wie »Schau mir in die Augen, Kleines« und nicht zuletzt »Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft«.

Herman Hupfelds weltbekannter Song As Time Goes By, gesungen von Dooley Wilson, ist von einem geradezu globalen Wiedererkennungseffekt.

Casablanca ist in das kollektive Gedächtnis eingegangen.

Ingrid Bergman selbst war über den Erfolg dieses Films – dem zum Zeitpunkt der nicht einfachen Dreharbeiten niemand größere Bedeutung beimaß und der beinahe in dieser Besetzung mit ihr und Humphrey Bogart überhaupt nie gedreht worden wäre –, Zeit ihres Lebens immer sehr verwundert.

»Während der Dreharbeiten hatten wir absolut kein Vertrauen in den Film, weil das Drehbuch so schlecht war. Es wurde ja auch Tag für Tag geschrieben. Nichts daran war klar, und wir wussten überhaupt nicht, wo es hinging. Ich wusste nicht einmal, welchen Mann ich wirklich lieben sollte. Bis zum Schluss wusste also niemand, wie der Film werden würde. Und dann, als alles geschnitten war, nach all den Schwierigkeiten und den Streitereien und dem Umschreiben – da kommt dieser absolut wunderschöne Film dabei heraus«, sagt sie einmal in einem ihrer selteneren Fernsehinterviews der CBC im Jahr 1971, selbst immer noch ganz entgeistert.[2] Man glaubt es ihr.

Ingrid Bergman – Ikone der Kinogeschichte, zeitloser Weltstar, moderne, emanzipierte Weltenbürgerin – ist so viel mehr als nur die blutjunge Protagonistin aus dem Welterfolg Casablanca. Vor allem: Sie hat so viel mehr Filme gedreht, die ihr eher entsprechen, die ihr persönlich wichtiger waren. Intermezzo.Gaslight (Das Haus der Lady Alquist). Dr. Jekyll and Mr.Hyde. Notorious.Cactus Flower (Die Kaktusblüte). Herbstsonate. Die drei wichtigsten Regisseure ihrer fünf Jahrzehnte umspannenden Karriere sind Gustaf Molander, Alfred Hitchcock und Roberto Rossellini.

Alfred Hitchcock hat Ingrid Bergman in dreien seiner Filme besetzt, damit ist sie zusammen mit Grace Kelly die einzige Schauspielerin, die der gewichtige Master of Suspense mehrfach wiederholt einsetzt. In den drei Hitchcock-Filmen Spellbound (Ich kämpfe um dich, 1945), Notorious (Berüchtigt, 1946) und Under Capricorn (Sklavin des Herzens, 1949) ist sie so schön, so einzigartig von der Kamera fotografiert, wie wohl in nahezu keinem anderen ihrer Filme. Bei Hitchcock ist sie anmutig und apart, ist sie verführerisch und verrucht, ist sie Engel und Vamp. Es sind mithin ihre komplexesten Filme. Notorious – in dem sie an der Seite Cary Grants zu sehen ist und Hitchcock mit ihnen beiden den längsten Kuss der Filmgeschichte inszeniert und wider die US-Zensur durchsetzt – ist wahrscheinlich Ingrid Bergmans beste darstellerische Leistung, ihr Meisterstück. Hitchcock sah Ingrid Bergman, er erkannte sie. Sie bleiben ein Leben lang Freunde, bis zum Tod Hitchcocks im Jahr 1980, nur zwei Jahre vor ihrem eigenen.

Ingrid Bergman, 1915 als Tochter eines schwedischen Vaters und einer deutschen Mutter in Stockholm geboren, hat es von Anfang an nicht leicht in ihrem Leben. Ihre Mutter, die in Hamburg geborene Friedel Adler, stirbt 1918, da ist die kleine Ingrid gerade einmal zweieinhalb Jahre. Es bleibt ihr nur der Vater Justus. Und auch Justus Bergman stirbt, da ist Ingrid dreizehn. Sie ist mal bei der einen Tante, mal bei der anderen, verbringt den Sommer immer in Hamburg bei der deutschen Verwandtschaft, die restliche Zeit des Jahres in ihrer Geburtsstadt Stockholm. Früh schon ist da eine erste Zerrissenheit. Früh schon ist da das Fehlen von Halt, von Stabilität, von Sicherheit. Und die tiefe Sehnsucht nach den Künsten, besonders dem Film und dem Theater. Spielen und Träumen als Lebensersatz. Sie sei wirklich besessen davon gewesen, sich bekannt zu machen und berühmt zu werden, erzählen selbst Freunde von ihr.[3] Ingrid hat Zeit ihres Lebens keinen festen Boden unter den Füßen. Als sie im Alter von siebzehn Jahren auf der Schauspielschule des Stockholmer Königlichen Dramatischen Theaters aufgenommen wird, sagt sie: »Dies war meine Heimat, mein Zuhause.«[4]

Einem roten Faden gleich zieht sich dies durch ihr ganzes Leben und Arbeiten. Ohne das Filmen, ohne die Arbeit, ohne die Kamera kann sie nicht sein. Sie geht drei Ehen ein, die am Ende alle scheitern. Die ihr das geben sollen, wonach sie ihr Leben lang seit der unbehüteten Kindheit sucht: Liebe, Geborgenheit, Halt. Den Boden unter ihren Füßen. Mit ihren vier Kindern versucht sie, so etwas wie ein Nest zu errichten. Doch auch hier ist es die Ambivalenz der Künstlerin und Mutter, die sich immer wieder entscheiden muss zwischen ihrer Familie und ihrer anderen großen, größeren Liebe, dem Kino, dem Theater. Leben oder Spielen? Oft ist es die Arbeit, für die sie sich entscheidet. Auch für Ingrid Bergmans eigene Kinder ist das Aufwachsen nicht leicht, ist die häufige Abwesenheit der Mutter schmerzlich und prägend.

Die Rolle der Johanna von Orléans ist lange Zeit ihre Lieblingsrolle. Die will sie unbedingt spielen, nein, die muss sie spielen. Schon als siebenjähriges Kind hat sie diesen Wunsch. Einer der Beweggründe, warum sie sich trotz Ehemann und kleiner, kaum einjähriger Tochter bereits 1939 vom mächtigen Hollywood-Produzenten David O. Selznick (Vom Winde verweht,Rebecca) nach Amerika holen lässt, allein zunächst, ohne ihre junge Familie, da dort die Verfilmung eines Johanna-Stoffs angedacht ist. Mit ihr, versichert der Mogul Selznick. Das Projekt verschiebt sich mehrfach. Dann, endlich, 1948, inszeniert Victor Fleming den Kinofilm Joan of Arc mit ihr in der Titelrolle.

Aus der Rolle ihres Lebens wird, unfreiwillig, ihre Lebensrolle.

In den USA der Vierzigerjahre wird Ingrid Bergman gleichgesetzt mit der Jungfrau von Orléans. Tugendhaft, rein, anständig. In den Kirchen werden Marienstatuen mit Ingrid Bergmans Konterfei aufgestellt. Sie wird von den Menschen angehimmelt und verehrt, zu einer Heiligen glorifiziert: Aus der heiligen Johanna wird die heilige Ingrid. Doch stimmt dieses überhöhte öffentliche Bild überhaupt nicht mit dem Menschen überein, der dahintersteht. Erlebten die Menschen sie schließlich, waren sie erstaunt angesichts ihrer Normalität und Natürlichkeit, die sie meist ausstrahlte.

Dann kommt das Jahr 1949: Aus der Begegnung mit dem italienischen Regisseur Roberto Rossellini wird eine Liebesbeziehung. Beide sind anderweitig verheiratet, beide haben sie Kinder. Es ist der große internationale Gesellschaftsskandal der Fünfzigerjahre, wenn nicht des 20. Jahrhunderts. Die Medien stürzen sich auf das Paar und verfolgen es, US-Senatoren wollen Ingrid Bergman nicht mehr in ihrem Land sehen. Es ist der Hochverrat der Johanna von Orléans am prüden US-amerikanischen Volk und seinen moralischen Werten. Nichts mehr ist so wie zuvor in Ingrid Bergmans Leben. Sieben Jahre betritt sie keinen amerikanischen Boden mehr. Acht Jahre sieht sie ihre erste Tochter Pia nicht.

Ingrid Bergman hat ein volles, »ein reiches Leben gehabt«, mit vielen Hochs und nicht minder vielen Tiefs.[5]

Und, sie ist all das: Da ist einerseits ihre Geradlinigkeit, ihre Natürlichkeit, ihre Bescheidenheit. Ihr Frohsinn und ihr lautes Lachen. Auch ihr Geerdet-Sein, ihre Bodenständigkeit, ihr Familiensinn. Und ihre eiserne, beinahe preußisch-deutsche Disziplin, ihre Entschlossenheit. »Ich arbeite sehr hart, das ist wahrscheinlich die Basis von allem. Ich habe keine Angst davor, viel zu tun. Ich muss wohl ziemlich viel Courage haben, dass ich mich immer so aus dem Fenster lehne. Ich habe so viel Glück gehabt«, sagt sie 1973 einmal.[6]

Und da ist andererseits ihre nahezu obsessive Abhängigkeit von der Arbeit, vom Spielen, ihr vehementes zielbewusstes Vorantreiben der Karriere, ganz gleich, welche Opfer es koste. Ihre Unnahbarkeit, ihre Gebrochenheit. Ihre ausgeprägte Scheu vor Menschen und ihre Angst. Und ihre tiefe, teils unerfüllte Liebessehnsucht. »Meine Triebkraft war immer die Arbeit gewesen… Mein Leben wird nun einmal durch meine Arbeit bestimmt… Und immer wieder stand ich vor dem alten Dilemma: Was war wichtiger, was war stärker– der Wunsch, meine Ehe aufrechtzuerhalten, oder der Wunsch, wieder zu spielen?«, sagt sie ein anderes Mal.[7]

Es ist die Ambivalenz und die Vielschichtigkeit der Ingrid Bergman.

»Ich erinnere mich an eine Person, die glücklich war und einen großartigen Sinn für Humor hatte, aber auch eine melancholische Seite. Daran erinnere ich mich bei meiner Mutter sehr stark«, so Tochter Ingrid Isotta Rossellini über ihre Mutter.[8]

Am 29. August 1982, ihrem siebenundsechzigsten Geburtstag, stirbt Ingrid Bergman in London. Acht Jahre hat sie mit ihrer schweren Krebserkrankung gelebt, hat dagegen angekämpft, hat noch zwei für sie sehr wichtige Kinofilme gedreht – die starbesetzte Agatha-Christie-Verfilmung Murder on the Orient Express (Mord im Orient-Express, 1974), die ihr ihren dritten Oscar bringt, und Ingmar Bergmans dramatisches Mutter-Tochter-Kammerspiel Herbstsonate (1978) – sowie einen letzten Fernsehfilm – A Woman Called Golda (Golda Meir, 1982) –, bis die Krankheit schließlich stärker ist.

Auf der Kinoleinwand, auf dem Fernsehbildschirm, in ihren fünfzig Filmen, lebt sie weiter. So wie ihr ikonographisch gewordener Mythos. Doch wer war diese außergewöhnliche, von aller Welt bewunderte Frau und Schauspielerin?

Der Mensch hinter dem Mythos – auch davon erzählt Ein Leben.

Ich habe mir das Schauspielen nicht ausgesucht– es hat mich ausgesucht.

Ingrid Bergman

1915 –1934. Schweden

»Diese Tage und Jahre voller Einsamkeit«

Kindheit und Jugend in Stockholm und Hamburg

Ich war so glücklich, der Realität entkommen und in meiner Fantasiewelt angekommen zu sein, in der ich schon seit meiner Kindheit lebte, in der ich mich zu Hause fühlte.

Ingrid Bergman[1]

Es ist vormittags um kurz nach elf Uhr. Ein Sommertag im sehr späten, noch sehr warmen August. Auf der anderen Straßenseite der Uferpromenade Strandvägen, an der Nybroviken-Bucht, beginnt das Meer. Von den hohen Prachtbauten des Strandvägen aus – Stockholms ebenso breitem wie elegantem Boulevard, der zugleich die südlichste Straße des zentralen Stadtteils Östermalm darstellt – bietet sich ein einzigartiger Blick auf Inseln und Gewässer der schwedischen Hauptstadt.

Linkerhand die grüne Insel Djurgården, rechterhand ein Platz, der zentrale Nybroplan. Dahinter, etwas weiter entfernt, befindet sich die Insel Gamla Stan mit der malerischen Altstadt und ihren schmalen engen Gassen, dem Königlichen Palast sowie der evangelisch-lutherischen Tyska kirka, der ältesten deutschen Kirche im Ausland, deren Turmspitze als höchster Punkt von überallher zu sehen ist. Alles hier liegt in Gehweite.

Stockholm erscheint vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs weitgehend unberührt, das gesellschaftliche Leben ist bunt und lebendig. Die Menschen gehen viel aus, die Theater und Museen sind gut besucht. Der schwedische Film erfährt just während der Kriegsjahre und auch hernach großen Aufschwung, sind es doch die verschiedenen Filmstudios in und um die Hauptstadt, etwa das legendäre 1919 erbaute Filmstaden Råsunda in dem Vorort Solna, die im ersten und zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts einen regelrechten Boom erleben. Die hiesige Filmproduktion wird eine ganze Zeit lang zu einer der größten und bedeutendsten weltweit – ein Jahrzehnt vor Anbeginn des das Kino revolutionierenden Tonfilms in den Jahren 1928/29.

Das politische Schweden verhält sich bis Kriegsende 1918 konsequent neutral – den Thron auf Gamla Stan hat der sehr zurückhaltende, außenpolitisch klug agierende König Gustav V. inne, der in der längsten Regentschaft Schwedens über vier Jahrzehnte zugleich als parlamentarischer Monarch verantwortlich zeichnet. Einzig der Austausch von Waren- und Materiallieferungen mit dem Wirtschaftspartner Deutschland wird in Mitleidenschaft gezogen und hat im Verlauf der Kriegsjahre primär Auswirkungen auf den weniger wohlhabenden Teil der schwedischen Bevölkerung.

Hier, im pulsierenden, vornehmeren Zentrum Stockholms, in einer Atelierdachwohnung im sechsten Stock des 1902 erbauten Gründerzeitgebäudes, in der Strandvägen 3, bringt Friedel Adler Bergman an diesem Sommertag des 29. August 1915 ihr Kind zur Welt.

Alles sei gut verlaufen, kann die Hebamme dem im Nebenzimmer wartenden ungeduldigen Vater Justus Bergman mitteilen.

Es ist ein Mädchen.

Heißen soll es wie die junge zweijährige schwedische Prinzessin: Ingrid.

Ingrid Bergman ist bereits das dritte Kind von Friedel und ihrem Mann Justus. Acht Jahre zuvor stirbt das Erstgeborene gleich bei der Geburt, das zweite 1908, nur wenig später nach der ersten Lebenswoche. Sieben Jahre bleibt das Paar kinderlos. Umso größer ist nun, in diesen späten Sommertagen das Glück des jungen Paares über das kleine Töchterchen.

Am 26. November 1915 schreiben die stolzen Eltern den Adlers – dem Vater und der Mutter von Friedel, die in Hamburg leben. Es ist der erste erhaltene Brief überhaupt, in dem Ingrid Bergman Erwähnung findet, verfasst in Deutsch:

Geliebtes Elternpaar,

…Ihr seht, geschäftlich geht es gut…

Unser Babilein ist ein richtiges Idealkind daß man aufessen könnte. Gut daß sie nicht kaputt geht, von all dem Knutschen womit Mami u. Papi sie quälen.

Elsa ist wohl in Haiti wieder, habe nichts gehört.

Schreibt bald Ihr Lieben.

Innige Umarmung & Küsse von

Friedamami, Just u. Babilein [2]

Ingrids Vater Justus Samuel Bergman hat es mit dem geregelten Arbeiten, überhaupt, mit dem geregelten Leben nicht so. Damit steht er konträr zum sonst so pragmatisch veranlagten und ausgerichteten vielköpfigen Bergman-Clan. Geboren wurde er am 2. Mai 1871 in Hössjö, Slätthög, in der südschwedischen Provinz Kronoberg, als Sohn des Musiklehrers und Organisten Johan Peter Bergman (1823–1908) und dessen Ehefrau Brita Sophia Samuelsdotter (1830–1912). Der familiäre Außenseiter verließ das Elternhaus, als er gerade einmal fünfzehn war. Als das elfte von insgesamt dreizehn Kindern fiel Justus seit jeher aus dem Rahmen, war er doch der Einzige aus der großen Bergman-Familie, der eine künstlerische Ader hatte und dieser, soweit es die Umstände zuließen, auch nachzugehen versuchte. Seine Passion war und ist schon früh die Malerei. Lange hängt er dem Traum nach, Kunstschaffender oder vielleicht auch Sänger zu werden. Die Malerei und die Oper, das ist seine Welt.

Nach seinem Auszug schlägt er sich mit verschiedenen Hilfsarbeiten durch, und er malt, immer wieder. 1889, erst achtzehn, wandert Justus wie so viele seiner Zeitgenossen nach Amerika aus, in das Land der Verheißungen und der unbegrenzten Möglichkeiten. In Chicago lässt er sich nieder, dort, wo bereits einige seiner Geschwister leben sowie die Schwester seiner Mutter. Er findet Arbeit in Hotels. 1899 schließlich kehrt er nach zehn Jahren wieder nach Stockholm zurück. Später wird Justus Bergman im Erdgeschoss des Hauses Strandvägen 3 einen Fotoladen an exponierter Stelle betreiben. Nur zwei Häuser weiter, kaum einhundert Meter entfernt, befindet sich das renommierte Königliche Dramatische Theater, kurz »Dramaten«.

Die Malerei ist es und ein damit einhergehender Zufall, im Nachhinein gewiss eine glückliche Fügung des Schicksals, der den brotlosen Künstler und die um dreizehn Jahre jüngere Deutsche Frieda zusammenführt.

Frieda Henriette Auguste Louise Adler, geboren am 12. September 1884 am Schlossgarten in Kiel, dann in Hamburg aufgewachsen und stets von allen nur Friedel genannt, ist die mittlere von drei Schwestern. Sie wird eingerahmt von Elsa und Luna. Elsa, die jüngste von ihnen, wird später eine Zeit lang mit ihrem Mann nach Haiti gehen und schließlich nach Europa zurückkehren. Die drei Mädchen sind die Töchter des hanseatischen Stellmachers und Privatiers Christian Friedrich Ludwig Adler und seiner Gattin Marie Auguste Adele Adler, geborene Schneider.

»Sie kamen aus zwei grundverschiedenen Welten«[3]: Frieda ist durchaus hübsch, sanftmütig mit dunklen Augen, dabei mütterlich wirkend. Eine geerdete Frau, eine ordentliche und disziplinierte zumal. Mit typisch deutschen Tugenden. Justus ist ein Träumer und Romantiker, ein Maler und Ästhet, für den ein selbstständig zu führendes Fotogeschäft einer der Kompromisse des Lebens ist, die es in Kauf zu nehmen gilt. In ihrer ausgeprägten Unterschiedlichkeit ergänzen sie sich wunderbar.

1900– das Jahrhundertwendejahr. In einem der Stockholmer Parks begegnen sie einander. Für beide ist es ein Glückstag. Sie ist sechzehn, er neunundzwanzig. Er ist hier, um zu malen. Sie, um die Sommerferien zu verbringen. Mit den Eltern aus Hamburg.

Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein– Friedel Adler wartet sieben lange Jahre, bis sie ihren über alles geliebten Justus endlich heiraten darf. Denn Justus, in den Augen von Friedels wohlhabenden Eltern respektive von Vater Christian Friedrich Adler ein der brotlosen Kunst frönender armer Tunichtgut, muss erst einmal ein halbwegs anständiges Leben führen und einen halbwegs einträglichen Beruf ausüben, bevor die gestrengen Eltern ihre Tochter freigeben. Hinzu kommt, dass Justus Bergman Schwede ist, kein Deutscher, und überdies dreizehn Jahre älter als Friedel. Die Adlers stehen dieser Verbindung mehr als skeptisch gegenüber.

Doch Tochter Friedel ist geduldig. Einen Verlobungsring von Justus trägt sie bereits nachts heimlich am Ringfinger, tagsüber an der Kette um den Hals. Von ihrer strengen Mutter eines Nachts erwischt, mit dem Ring am Finger, bekundet Friedel, sie würde, wenn es sein müsse, auch ihr ganzes liebes langes Leben auf diesen Mann warten.

Selbstporträt von Mutter Friedel Adler und Vater Justus Bergman, 1903

Wesleyan Cinema Archives

In den Jahren 1900 bis 1907, bis es zur Hochzeit kommen soll, schreiben sich Friedel Adler und Justus Bergman. Postkarten, Telegramme und Briefe. Insbesondere die beiden Jahre 1905 und 1906 sind sehr reich an Korrespondenz. Seitenlange Briefe, immerzu und immerfort. Auf Englisch, auf Schwedisch und viel auf Deutsch. Ihr äußerst umfangreicher Briefwechsel ist vollständig erhalten, da sich nach beider Tod Justus’ ältere Schwester Ellen Bergman der Schriftstücke annimmt und diese bei sich auf dem Speicher in einer Kiste verwahrt. Als auch Ellen Bergman verstirbt, wird es Ingrid Bergman selbst sein, die eines Tages die Wohnung ihrer Tante Ellen auflöst und auf dem Speicher unverhofft auf die erhaltenen Liebesbriefe ihrer Eltern stößt. Sie setzt sich hin und liest, was sich Mutter Friedel und Vater Justus sieben lange Jahre geschrieben haben. Eine ganze Nacht lang liest Ingrid alle Briefe hintereinander weg. Sie wird die Kiste mit den Briefen und Dokumenten sorgsam aufheben.

Eine lange Reise haben auch diese Briefe hinter sich, schließlich finden sie in den Vereinigten Staaten ihre letzte Station, im Wesleyan Archive in Connecticut. So sind sie bis heute erhalten geblieben.[4]

Die Beziehung von Ingrid Bergmans Eltern ist eine komplexe, vielschichtige, von Höhen und Tiefen geprägt. Die Verbindung der beiden, die sich nur sporadisch wechselseitig in Stockholm und in Hamburg besuchen können, spiegelt sich in den Briefen wider: Es ist eine innige tiefe Liebe, die insbesondere von der temperamentvollen Friedel oftmals leidenschaftlich beschworen wird. Friedel ist es allerdings auch, die an sich selbst zweifelt, die den Vorbehalten ihrer strengen Eltern manches Mal nachzugeben versucht ist und die ihrem Justus immer wieder schreibt, dass sie es gar nicht wert und würdig sei, von ihm geliebt zu werden. Und er beschwichtigt, beruhigt, versucht, alle Zweifel und Ängste und Sorgen aus der Welt zu schaffen.

»Justus, dear, älskade, I am not worthy to be loved so much from you«, schreibt sie ihm einmal im November 1905. Ein anderes Mal: »My foolish little boy! … here we are two kleine Menschenkinder, welche stark, treu u. fest sind in Liebe, Glaube und Hoffnung … in innigster Liebe u. Dankbarkeit! Dein tapferes kleines Mädchen.« Sie spricht von ihrem großen »Hunger nach Liebe« und von der völligen »Verausgabung der Gefühle«. Und, immer wieder, in all ihren Briefen an ihn – »I adore you«, »Oh, my boy!«, »the little german girl«. Sie schreiben sich in allen drei Sprachen, vermischen englische, deutsche und schwedische Satzteile und Worte miteinander, als ob es diese Melange ihrer beider Sprachen wäre, die nur sie allein verstehen. Das hat etwas sehr Anrührendes.

Immer wieder geht es auch um Friedels Vater, der den Kontakt gänzlich unterbinden will, um die Gespräche, die sie mit ihrem »strong father« führen muss – »I have to stand many hard minutes, when I have to listen to injustice and badness. Why always such a terrible Strenge, so cruel hart.« Dabei ist er derjenige, der sich doch um die Erziehung ihrer Schwestern und der ihren gekümmert und jeden Pfennig für sie gespart hat: »… we have a strong sure Beschützer and a good Erzieher für das reale Leben.« Und immer bekundet sie ihre Liebe zu Justus, schreibt oft mit roter Tinte, bezeichnet sich als seine Frau, obgleich sie bisher lediglich heimlich verlobt sind: »You are mine – I am yours. In happiness and sorrows, yours little wife Friedel.« Und, Ende Juli 1905: »Be reasonable, Justus, and prove me first from all sides I am a little ›Satan!‹ you know – – – How I am longing for the moment I can show you how I love you!«

Ingrid Bergmans in Norddeutschland geborene Mutter Friedel Adler

Wesleyan Cinema Archives

Auf einer im Dezember 1905 aus Kiel abgeschickten Postkarte, die auf der Vorderseite den Schlossgarten zeigt, von Friedel mit einem Pfeil versehen, der auf eines der die Gartenanlage flankierenden Häuser zeigt, notiert sie: »This is the house where I was born … You know, Justus, that a lustiges Amüsieren mit anderen Herren has nothing to do with the sure unveränderlichen Gefühl zu Dir. I am yours, all my inner thought and feelings are yours, only the Maske and Maskenspiel belongs still to the world like always.« Es sind Briefe, die, obschon während des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts verfasst, dennoch sehr modern, fast zeitlos wirken.

Friedel und Justus sind ein ungleiches Paar. Er ist der reiselustige, freigeistige Künstler und Bohemien, sie die bodenständige, streng erzogene, so gar nicht weltläufige Frau, wenn sie auch gern von den Künsten und von Literatur spricht. Überraschenderweise ist sie die Emotionale, Temperamentvolle, dabei labil in ihrer inneren Verfassung, eher nach Halt suchend. Ihre innere Ambivalenz kommt in diesen Briefen und Karten deutlich zum Ausdruck. Friedel hat, trotz solider Herkunft, stark divergierende Charakterzüge. So erweckt sie den Eindruck, eine Frau der Widersprüche zu sein, die durchaus das Gefühl innerer Zerrissenheit kennt. Ein Lebensgefühl, das auch ihre später weltberühmte Tochter Ingrid begleiten wird.

Im Juni 1905 setzt sich Friedel hin und schreibt einen Abschiedsbrief an ihren Justus. Zu stark sind ihre Bedenken, zu groß ihre Ängste. Sie schreibt diese Zeilen am 25. und 26. Juni in Adolfsberg, einem Ort, aus dem Justus Bergman des Öfteren Post bekommt:

Justus– dear friend,

…I am sorry– I can give you neither happiness nor– money.

I would be more fond of building a rich happiness in a poor cabin than a poor happiness in a rich palast–…

Leb wohl, Justus, thanks, thanks for all, that I could enjoy for a short happy time. Because it was too sweet, too nice, we have to loose it for it is impossible to be happy– too happy for a long time on this bad elende Jammerthal– earth. Goodbye– Goodbye!– I kiss for you for the last time and am in friendly thoughts. Yours poor little foolish girl Friedel [5]

Doch lange soll die Zeit, in der Friedel und Justus keinerlei Kontakt haben, nicht währen. Bereits am 18. Juli 1905, drei Wochen später, erhält Justus Bergman erneut Zeilen von seiner »Verlobten« – es ist ein über viele Seiten gehender Brief, in einer geradezu ästhetisch schönen Handschrift gehalten, der viel über Friedel Adlers Charakter offenbart; ein Brief, in dem sie von Flirts mit anderen Männern berichtet, nachdem sie wenige Wochen zuvor erst die Trennung ausgesprochen hat; ein Brief, in dem sie ihn wiederholt auffordert, ihre Muttersprache Deutsch zu lernen; ein Brief, in dem sie letztlich ihr labiles, wechselhaftes Naturell skizziert.

Ein Brief, der auch Offenbarung und Bekenntnis ist:

Lieber Freund,

…Für Deinen lieben letzten Brief sowie Karte und »Justus– Garnitur«, lass mich Dir recht herzlich danken. Du hast mich durch alles sehr erfreut. Die Auswahl an hübschen Männerköpfen kommt meiner »Abwechslungsliebe« sehr zu Gute. Guter Justus wird nicht böse mit mir oder eifersüchtig, wenn ich mit den letzten 4 Gentlemen abwechselnd tüchtig flirte, poussiere und sie– küsse, nicht wahr? Es ist ja nun einmal meine schönste Tugend (?!) so lebhaft changierenden Geschmack zu besitzen!–

…wer mich lieb hat, muß in meiner schönen Muttersprache zu mir reden können. In anderen Sprachen glaube ich es nicht. Also, großer Bösewicht, wenn du mich wirklich lieb hast, lerne deutsch!Bitte, lieber Justus, lerne deutsch und schreibe deutsch!

…Laß Dir die Laune nicht über mich stets unverstehbares Individuum verderben, denke nicht soviel an mich, träume nicht soviel von mir und wundere Dich nicht zu viel über das größte Weltwunder– Liebe!

Ich grüße, küsse, herze, streichle, liebkose Dich in undefinierbaren Gefühlen als Dein böses törichtes tapferes hoffendes-liebendes Friedalinchen [6]

Obgleich Justus sich als Freigeist versteht, so ist es doch Frieda, die in ihren Tagebüchern Gedichte in durchaus libertärer, durchaus auch melancholischer Form niederschreibt. Es sind zwei gebundene Bücher aus den Jahren 1900 und 1901, in braunem Ledereinband eingefasst, mit Goldrand und mit einem grünen vierblättrigen Glücksklee auf der Einbandvorderseite versehen. Auf der ersten Seite steht unter ihrem eigenen Namen handschriftlich mit blauer Tinte: »Charackter: Tieffühlendes Herz, zum Grübeln u. denken neigend, leicht erregt, empfindlich.«

An einer Stelle notiert sie sich kurze Auszüge aus Friedrich Schillers Historiendrama Wallenstein: »Lager: Das Wort ist frei. Die Tat ist stumm. Der Gedanke blind. Des Menschen Wille, das ist sein Glück. Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt.« Im zweiten Band folgen verschiedene eigene Texte und Gedichte, betitelt mit »Sehnsucht«, »Einsamkeit«, »Leben«, »Mädchenlied«, »Zauberklänge«, »Gedankenqual« oder »Stille Liebe«. Die Gedichte sind im zweiten Jahr ihrer Liebe zu Justus Bergman entstanden:

Gedankenqual

Die Worte lassen mich nicht los

Ein Fluch scheint’s mir zu sein

Und Deine Schönheit quält mich jetzt

Denn Du bist nicht mehr mein.

Denk nicht soviel an mich

Ich kann nicht schlafen –

Weil deine dunkle Sehnsucht bei mir ist

Auch gieb von deinem leiden

Mir nicht Kunde

Lieb’ ist ein Traum, der unsere Nächte stört –

Ich seh’n mich auch nach einem Friedenshafen

Doch darf ich rasten, wenn Du ruhlos bist?

Denk nicht soviel an mich

Ich kann nicht schlafen –

Weil deine dunkle Sehnsucht bei mir ist.

Stille Liebe

Ich bin ein Weib – u. mit gebundenen Händen

Kann ich für meine Liebe nicht zu kämpfen wagen.

Darf keinen Strahl aus meinem Herzen senden

Ich bin ein Weib – was ist mir denn geblieben

Nichts – als ihn lieben – still – doch ewig lieben!

Im zweiten Band ihrer Tagebücher notiert sich Ingrid Bergmans Mutter:

Ich liebe wen ich will,

u. keinen geht’s was an

Selbst den nicht, den ich

Liebe u. der mich fassen kann.

Friedel ist zwanzig, als sie diese Zeilen aufschreibt, und sie mag dabei an Justus denken.

Der Kampf um das Bestehen und Leben der Liebe zwischen Friedel Adler und Justus Bergman dauert Jahre. Zu den Selbstzweifeln und Stimmungsschwankungen von Friedel kommen immer wieder die Vorbehalte ihrer Familie, die eine mögliche Beziehung weiterhin partout verhindern möchte. Einer der Briefe der Familie Adler an Justus Bergman, stets geschrieben von Friedels Mutter Marie Auguste, ist auf den 29. April 1906 datiert:

Lieber Justus!

…Mein guter Mann hat ja nichts gegen Sie, doch ist er nicht mit dem Geschäft zufrieden, da er meint, solche Geschäfte bleiben nur eine kurze Zeit bestehen, da die Mode auch hierin wechselt. Solche Sicherheit geht meinem Mann über alles, da er doch will, das sein Kind gut versorgt wird und keine Nahrungssorgen kennen lernen soll. Alle anderen Sorgen kommen überall vor, wie Gott Euer Schicksal lenkt.

Würden Sie sich mit meinem Mann verständigen können, würden Sie sich aussprechen können, so wäre manches Unangenehme verhindert, aber so müssen wir uns den Wünschen unseres Vaters fügen, der doch nur das Beste seines Kindes will.

…Nun lieber Justus Glück auf für die Zukunft, möge der liebe Gott Ihr Schicksal führen, so wie Sie es sich wünschen. Mit innigen Grüszen, Ihre Frau Adler [7]

Sieben Monate nach diesem für Justus Bergman sehr ernüchternden Brief aus Hamburg – die beiden Liebenden kommunizieren, zwar mit Unterbrechungen, weiterhin untereinander –, wendet sich Marie Auguste Adler am 25. November 1906 erneut an den Mann, der ihre Tochter nicht loslässt. Das Schreiben leitet eine Kehrtwende im Verhältnis zueinander ein und lässt ein grundlegendes Umdenken erkennen. Ab November 1906 scheint eine gemeinsame Zukunft für Friedel und Justus näher und greifbarer als jemals zuvor:

Lieber geehrter Justus,

…Mit fröhlichem Herzen ist unsere Frieda abgereist, da ihr guter Vater ihr ihren sehnlichsten Wunsch erfüllte– die Erlaubnis, den kleinen Justus kommen zu lassen.

Wenn Sie und Frieda auch vielleicht erzürnt auf den bösen Vater waren, so konnte ich meinen guten Mann wohl verstehen, ein Kind ist uns schon genommen, nun sollte er gleich das zweite hergeben. Sie Beide können es nicht verstehen lernen, auch nie unseren Schmerz kennen, doch lieber Justus, zürnen Sie nicht, es ist nur die grosze Liebe zu den Kindern, die uns so traurig macht…

Unsere kleine Frieda hofft ja das gröszte Glück auf Erden mit Ihrem Justus zu finden und wollen wir Eltern Euch nicht mehr entgegen seien, das heiszt, wenn der Justus überhaupt noch seine Frieda haben will, so darf er Weihnachten zu uns kommen. Möge der liebe Gott Euren Bund segnen und Euch behüten, alle treuen Mutterwünsche begleiten Euch.

Mehr kann ich heut nicht schreiben, wir hatten heut einen Brief von unserer Elsa, der mich sehr traurig gemacht hat. Ich schreibe in Namen meines lieben Mannes. Auf Wiedersehen– Weihnachten, bis dahin herzliche Grüsze Ihre Mutter Adler [8]

Und Justus antwortet Frau Adler auf ihre Einladung zum gemeinsamen Weihnachtsfest 1906. Auf edlem Papier der Svenska Konstindustri Anstalten bekräftigt er am 29. November 1906, wiederum auf Deutsch, seine Liebe zur Adler-Tochter Frieda und seine Geschäftstüchtigkeit und wirtschaftliche Stabilität:

…Ich verstehe wohl ein Vather und Mutter Liebe zu Ihren Kinder. Ich bin selbst ein Sohn zu Lieben Eltern welche Ich gelernt zu… für Ihre grosse Liebe zu mir. Nichts grösseres giebt auf unserer Erde Ihre liebe Tochter habe ich gelernt zu lieben, für Ihre eigene schuld. Und soll es bleiben mein erster und letzter Wunsch und Gebeht, Ihr glücklich zu machen. Und soll ich sein der glücklichste Mensch auf der Welt an Ihre Seite.– Mein Geschäft geht gut und auch… für die Zukunft. Welche Traurichkeiten in und für mein Geschäft sollen nicht vorkommen… Die herzlichsten Grüsse an Herrn Adler, Kleine Lulu und an Ihn Liebe Mutter. Eurer lieber Justus [9]

Friedel Adler spricht in diesen für alle wieder hoffnungsfroheren Novembertagen erstmals konkret von ihrer Verlobung, von der sie sich wünscht, dass sie nach deutschem Brauch stattfindet. Vom schwedischen Örebro aus schreibt sie am 22. November 1906 an Justus:

My little boy… Our engagement-wine on german ground, in a german home, in german manners! Our engagement-feast in german language, with german friends and in äkta german glädje. O darling, darling mine, pray to God! He will help us. He only knows, how I love you, how you love me and what we desire most of all.[10]

Das auf diesen Austausch folgende gemeinsame Weihnachtsfest 1906 wird im Leben von Friedel und Justus letztlich zur Weichenstellung für ihre nunmehr bevorstehende Zukunft. Sie haben den ersehnten Segen von Vater Christian Friedrich Adler, das stille Einverständnis von Mutter Adler hatten sie seit ehedem. Das Fotogeschäft am Strandvägen 3 floriert, und Justus Bergman kann nunmehr nachweisen, dass er zwischenzeitlich sein wirtschaftliches Auskommen erlangt hat.

Viele Briefe tauschen die beiden Verliebten noch in den verbleibenden Wochen aus, bevor sie in Stockholm zusammen eine Wohnung beziehen: »Now, darling, how is it with the german lessons? Is your teacher straight with you?«, fragt Friedel, oder: »Farväl, dear good boy. Many thousand kisses, hälsningar, und Umarmungen. From your girl in kär !!« Einmal schreibt sie ihm: »Die erste Liebe gleicht einem Gewitter im Frühling.« Es ist ihre erste und einzige Liebe.

Als Friedel Adler und Justus Bergman schließlich am 14. Juni 1907 in der Gemeinde »St. Johannis zu Harvestehude der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate« kirchlich getraut werden, wird ihr lang gehegter gemeinsamer Traum Wirklichkeit. Sie dürfen nun endlich miteinander leben, werden endlich akzeptiert von beider Familien. Friedel Adler Bergman gibt daraufhin in Deutschland alles auf und siedelt nach Stockholm über.

Das neue Glück der Bergmans, das mit der Geburt von Tochter Ingrid in diesen späten Augusttagen 1915 einkehrt, soll nur von kurzer Dauer sein. Keine drei Jahre später legt sich bereits ein erster großer Schatten über das junge Paar. Friedel Adler Bergman ist offenbar an einer schweren Form der Gelbsucht, an einem ernsten Leberleiden erkrankt. Der Befund ist nur vage, die Ärzte äußern sich gegenüber der Familie widersprüchlich. Die Geschwister von Friedel sowie ihre Eltern machen in Briefen an Justus Bergman ihrem Unmut darüber Luft, dass die ärztliche Pflege wohl unzureichend und fragwürdig sei. Doch der Krankheitsverlauf ist relativ schnell. Binnen weniger Wochen verschlechtert sich Friedels Zustand rapide.

Am 19. Januar 1918, im Alter von nur dreiunddreißig Jahren, stirbt Ingrid Bergmans Mutter im Stockholmer Krankenhaus Sophiahemmet.

Nach dem Austausch erster Telegramme zwischen Stockholm und Hamburg, in denen Justus Bergman der Familie Adler in Hamburg den Tod von Tochter Friedel mitteilt, schreibt er am 23. Januar 1918, vier Tage nach dem Ableben seiner Frau, einen vier Schreibmaschinenseiten umfassenden Brief in noch ungelenkem, recht unbeholfenem, dabei umso anrührender wirkendem Deutsch, in dem er detailliert den genauen Hergang dieser persönlichen Tragödie schildert.

Er erzählt seinen Schwiegereltern, wie seine Frau Ende Oktober 1917 begann, sich müde zu fühlen und »ein wenig gelb« wurde. Wie sie mit der Zeit stets gelber wurde und »rechts an der Gallenblase etwas empfindlich«. Wie ein Gallenstein diagnostiziert und »sie immer dunkler in der Farbe wurde«, die Ärzte von einer Operation aufgrund eines Gallenstaus zunächst dringend abrieten, Friedel dann schließlich doch operiert wurde, und er, Justus, hernach an ihrer Seite saß, zwischendurch »eine Weile nach Hause ging um nach Ingrid zu sehen, aber gleich zurück kam«. Wie seine Frau sich nach unruhiger Nacht darüber freute, dass die »Krankenwärterinnen« morgens um sieben ein Lied sangen, sie mit ihnen redete, »immer lächelnd«, keine Schmerzen gehabt habe, nur immerzu sehr müde gewesen sei. Dann sei der Puls schwächer geworden. Gunnar Spångberg, Justus Bergmans bester Freund, sei hinzugekommen, und sie, Friedel, habe Justus gebeten, ein Lied zu singen, wofür er jedoch zu erschöpft und nicht bei »Geisteskräften« gewesen sei: »Ich nahm da Ihre Hand und die Krankenwärterin nahm die Andere. Da verstand ich, dass Sie vom Leben Abschied nähme.«

Friedel habe ihn noch im Sterben gebeten, ihre Eltern und ihre beiden Schwestern zu grüßen, und sie habe für sie alle zu Gott gebetet. Auch versucht Justus Bergman, soweit es ihm auf Deutsch möglich ist, seine eigene Gefühlslage zu beschreiben – und die seines kleinen Töchterchens, Ingrid:

Gute, treue, liebe Eltern.

Meine Gefühle in diesem Augenblicke, als ich jetz allein nebst meiner kleinen Ingrid sitzt, können Sie sich schon denken. Mit dem Ableben unserer Didi [Rufname von Frieda Adler, neben Friedel, innerhalb der Familie] erlöschte eine Sonne, die aus meine und manche Herzen nimmer weggeht. Diese zehn Jahren sind schnell weggelaufen… Unsere Liebe ist von die echte Sorte gewesen, die die Feste bei Gott hat…

Heute sind Gunnar und ich mit Blumen da gewesen. Sie lag als Braut gekleidet, wisse in weissem Sarge… Meine schwester Ellen kommt jetzt und bleibt an mir zurück, damit die kleine Ingrid eine gute und kinderliebe Stiefmutter erhielt. Die kleine Ingrid fragt ja nach Mama, kann aber das Leitwesen nicht fassen, um so besser… Ja, meine geliebte Eltern, Gott gebe uns Kräfte in dieser Prüfungszeit… ›Er ist so nahe, dass ich Ihn greifen kann‹, sagte Friedel…

Ingrid sagt: ›Mama ist bei guten Gott im Himmel.‹

Besten dank für die Telegramme: Ich erhielt gleichzeitig eine Postkarte von Mutti an Didi. Gott mit uns! Einen grossen Kuss von Ingrid und Justus [11]

Die traurigen Nachrichten Justus Bergmans lösen in Hamburg tiefe Bestürzung und Fassungslosigkeit in der Familie Adler aus. Den Briefen zufolge, die auf jenen von Justus folgen, trifft die Neuigkeit aus Stockholm Mutter und Vater Adler sowie Friedels Schwestern Elsa und Luna vollkommen unvorbereitet, es ist ein Schlag aus heiterem Himmel. Als sie auf dem Postamt in Altona stehen, erfahren Mutter und Vater Adler vom Tod ihrer Tochter.

Friedels Mutter ist es, die im Namen der Familie Adler schreibt, manches Schreiben umfasst etliche Seiten, aufgesetzt mit Tinte in feiner, klarer Schrift. Stets in der Goethestraße 22 in Hamburg-Altona abgefasst, gehen sie in diesen Januar- und Februarwochen des noch so jungen und doch schon so düsteren letzten Kriegsjahrs 1918 in Stockholm ein. Die Wirren des Ersten Weltkriegs verhindern auch, dass die Familie Adler aus Hamburg nach Stockholm zur Beerdigung anreisen kann, um von Tochter Friedel Abschied zu nehmen. In allen ihren Briefen kommt Mutter Adler immer auch besorgt auf das Mädchen Ingrid zu sprechen:

Mein guter, lieber, armer Justus,

Welch eine entsetzliche Botschaft brachte uns Deine Depeschen. Unsere süsze Didi, unser aller Liebling ist nicht mehr. Der liebe Gott hat sie Dir, hat sie uns genommen. Ist dieses zu fassen, zu begreifen, dasz dies süsze Menschenkind uns entriszen ist. War sie zu gut für diese Welt?

Unsere kleine Ingrid hat nun ihre Herzensmami verloren, das kleine Wesen ahnt ja nicht, welch eine gute Mutter sie gehabt hat.

…Unsere Depesche, mein Justus wird Dir schon gesagt haben, dasz unser Kommen nach dort gänzlich ausgeschloszen ist. Wir würden unter all diesen schweren Verhältniszen, die augenblicklich durch den Krieg hier herrschen, gar nicht so rasch unsern Pasz bekommen, um den Tag der Beerdigung dort erreichen zu können. Doch was die gröszte Hauptsache ist, unser guter Vater würde in seinem Zustand gar nicht die Reise überstehen, könnte das unendlich Schwere dort nicht überleben… Du kannst Dir unseren Schreck, unsern groszen Schmerz denken, solche Nachricht zu empfangen, wo wir nichts vorher ahnten, dasz Didi diese Krankheit hatte. Sie selber hat nie von Schmerzen erwähnt, sonst wäre uns doch wohl mal der Gedanke gekommen. Hatten Ihr den richtigen Arzt? Schreibe ausführlich darüber mein Justus…

Nun sei innigst umarmt mein guter Justus küsze unsere süsze Ingrid, gieb Friedel unsern letzten lieben Grusz.

Deine unglücklichen tieftraurigen Eltern. Deine Mutti. Vater.[12]

In diesen Januartagen des unglückseligen Jahres 1918 verfestigt sich im Hause Adler die Haltung, ihre Tochter sei in Stockholm von den falschen Ärzten behandelt worden, Diagnosen seien falsch gestellt, Friedel Adler Bergman könnte noch am Leben sein, wären bessere Ärzte konsultiert, wäre korrekter diagnostiziert worden. Vor allem »der Vater« scheint gleichermaßen in Zorn und Schmerz zu versinken. Seiner Frau Marie Auguste Adler kommt die sensible Aufgabe zu, in seinem Namen Briefe an den Schwiegersohn Justus Bergman aufzusetzen und mit ihren eigenen, liebevolleren Formulierungen einen möglichen Familienzwist weitestgehend abzuwenden.

Einer dieser Briefe, verfasst am 8. Februar 1918, lautet:

Mein lieber Justus,

Von Vater, der krank ist, soll ich Dir schreiben, dasz Du weitere ärztliche Berichte nicht mehr einzusenden brauchst, da sie doch nur gemacht sind und meistens der Wahrheit nicht entsprechen…

Unser armes Kind, meint Vater, ist während ihrer längeren Krankheit nicht genügend beobachtet und dann, als es vielleicht schon zu spät war, in schlechte ärztliche Hände gekommen, die durch Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit das Unglück über unsere arme, gute Didi gebracht haben, denn die ersten Ärzte hätten doch klar sehen müszen, dasz es sich nicht um eine einfache Gelbsucht, wie Didi leider immer schrieb, handelte, sondern um ein schweres Gallen oder Leberleiden, namentlich weil die Farbe nicht abgenommen und sich immer mehr verdunkelt hat. Hätte man die Operation 3 Wochen früher vorgenommen, wäre sie kräftig genug gewesen, später war sie wohl zu schwach… Unser Vater hat in seiner furchtbaren Traurigkeit diese Bemerkung nicht unterdrücken können, lieber Justus.

Dann läszt Vater Dich fragen, ob er Dir die 3000 Mark die für klein Ingrid in Kriegsanleihe hier auf der Sparkasse liegen, hinschicken soll. Er meinte, Du könntest sie dort auf einer Bank bombardiren und würdest wohl 2000 Kronen darauf bekommen. Die Sache liegt jetzt bedeutend anders als 16 (1916). Damals hatte es seine Schwierigkeiten, jetzt aber wird jedes schwedisches Bankgeschäft einsehen, dasz uns nichts mehr passiren kann, was die Valuta drücken könne…

In Deinem lieben Brief schreibst Du, lieber Justus, dasz Didi Dir für uns Grüsze aufgetragen hat. Ja, hat sie dann Ahnung gehabt, dasz sie nicht wieder besser werden würde?

Küsze unsere kleine Ingrid, Dir einen lieben Händedruck und herzlichen Grusz von Deinem unglücklichen Vater.[13]

Als Justus Bergman seiner Schwiegermutter im Februar schließlich letzte Familienfotografien von Ingrid, Friedel und ihm nach Hamburg schickt, da antwortet sie ihm am 20. Februar 1918 umgehend, bedankt sich, sagt eine Erhöhung »der Summe auf der Sparkasse«»für klein Ingrid« zu, für die sie doch sorgen wolle, und ist voller sie quälender Fragen und Zweifel.

…Das Bild von Dir und Ingrid mit Didi ist so lieb. Klein Ingrid sieht so ernst aus, gerade als wenn sie den tiefen Schmerz verstände.

…Ich finde, Didis letzter Brief von 16/1 ist in groszer Angst geschrieben. Hat sie diese gehabt, bevor sie ins Krankenhaus ging? War ihr der Abschied schwer von klein Ingrid? Hat Didi Dir irgend etwas gesagt, ich denke und grüble den ganzen Tag und kann nicht ruhig werden.[14]

Die offenen Fragen um Friedel Adler Bergmans frühen Tod werden die Familie begleiten. Die dunkle Wolke, die mit dem Sterben von Justus’ Frau und Ingrids Mutter am Firmament erschienen ist, wird nicht mehr weiterziehen. Der frühe Verlust wird in den kommenden Jahren stets spürbar sein.

Die kleine Ingrid ist gerade einmal knapp zweieinhalb, ihr Leben wird eines ohne Mutter sein. Ein Umstand, der sie prägen wird. Der elterliche Halt fehlt zur Hälfte, beinahe von Beginn an. Später wird sie sich nicht wirklich an ihre deutsche Mutter aus Hamburg entsinnen können, einzig die Fotos und die kurzen Schmalfilme, die Justus Bergman von seiner Frau zu Lebzeiten erstellte, helfen Ingrids Gedächtnis nach.

»Ich habe an meine Mutter überhaupt keine Erinnerungen. Vater fotografierte mich auf ihrem Schoß, als ich ein Jahr alt war, und noch einmal an meinem zweiten Geburtstag. An meinem dritten Geburtstag fotografierte er mich, als ich Blumen auf das Grab meiner Mutter legte«, sagt Ingrid Bergman selbst einmal später über ihre Mutter Friedel.[15] Und, als sie in den Vierzigerjahren in den USA die noch unentwickelten Schmalfilme in die Hände des sie fördernden Produzenten David O. Selznick gibt und sie sie daraufhin anschaut: »Als ich in Hollywood war, bat ich David O. Selznick, die alten Filme meines Vaters zu entwickeln. Als er sie mir vorführte, sah ich meine Mutter gehen, sich hinsetzen und wieder aufstehen. Sie schien lebendig, und ich sah sie zum erstenmal in meinem Leben sich bewegen.«[16]

Seither sind die Filme restauriert, konserviert und archiviert. In Justus Bergmans privaten Kurzfilmaufnahmen läuft die kleine Ingrid in einem Park in einem weißen Kleidchen gestikulierend auf die Kamera zu. Sie ist fröhlich und lacht. Sie scheint die Kamera zu mögen, scheint keine Scheu vor ihr zu haben. Frei bewegt sie sich davor. Friedel Bergman kniet, und das Mädchen umarmt die Mutter innig. Dann gibt es ihr die Hand und macht einen höflichen Knicks. Das hat etwas sehr Anrührendes. Der Vater ist schließlich auch zu sehen, wie er in Anzug und Hut stolzen Schrittes des Weges daherschreitet, sich ebenfalls zu der Kleinen beugt. Bewegte grobkörnige Schwarz-Weiß-Bilder von 1916 und 1917. Es sind die einzigen Aufnahmen einer intakten und glücklichen Familie. Für lange Zeit werden diese beiden Jahre im Leben Ingrid Bergmans die einzigen sein, in denen sie so etwas wie ein funktionierendes familiäres Miteinander erfahren hat. Zu kurz und zu früh ist diese Kindheitsphase, als dass sie hierauf aufbauen, hiervon zehren könnte.

Dann ein anderes Filmfragment: Die kleine Ingrid ist ganz in Schwarz gekleidet, in ein Mäntelchen, mit schwarzer Mütze und einem dicken weißen Schal um den Hals. Es ist Winter, und sie legt weiße Blumen auf das frische Grab ihrer Mutter. Eine ihrer Stockholmer Tanten – vermutlich handelt es sich um Justus Bergmans Schwester Ellen – hält Ingrids Hand, währenddessen Vater Justus einen Schritt zurücktritt, aus dem Bildkader heraus. Während das kleine Mädchen kurz allein am Grab ist, stehen die beiden Erwachsenen am Wegesrand. Das Kind scheint – noch – nicht zu begreifen, was hier geschehen ist. Wie könnte es das auch? Das fröhliche Lächeln ist dennoch verflogen. Als Kind ist sie traurig und trübsinnig, scheu und schüchtern: »Ich war ein sehr scheues Mädchen, wahrscheinlich der scheueste Mensch auf der Welt. Wenn man mich nach meinem Namen fragte, wurde ich rot.«[17] Es ist der frühe Beginn einer Reihe sukzessiver Verluste, die Ingrid Bergman nie verwinden wird.

»Ich hatte eine wunderbare Kindheit«, äußert sich Ingrid Bergman einmal viele Jahre später.[18] Ein anderes Mal erzählt sie von dem Schmerz, der von Beginn an da gewesen sei, konstant da war, immerzu, immerfort, sodass sie ihn beinahe für etwas Normales, etwas Gegebenes gehalten habe, einen ständigen Begleiter, der von so vielen anderen Emotionen überlagert gewesen sei, jedoch nie verschwand.[19]»Ich war ein sehr unglückliches Kind, sehr einsam.«[20]

Jedoch: Kann eine solche Kindheit, eine schmerzvolle und verlustreiche zumal, zugleich auch eine glückliche sein?

»Ich habe so viel Glück gehabt!«[21] Vielleicht ist das ihre– lebenslange– Art der Verdrängung und der Selbstversicherung. Ihre Art, sich selbst Halt zu geben, festen Boden unter den Füßen zu spüren.

Früh schon fängt Ingrid Bergman an zu malen, zu zeichnen, aufzuschreiben, zu notieren. Bilder und erfundene Kurzgeschichten, später, in ihrer Jugendzeit, auch kleine Theaterstücke. Ihre im Wesleyan Archive gesammelten, bislang nicht öffentlichen Dokumente umfassen viele Dutzend Nachlasskonvolute.[22]

Im Alter von acht malt sie eine kleine Zeichnung, auf deren unteren rechten Rand sie mit rotem Stift ihren Namen und ihr Alter schreibt– »Ingrid Bergman 8 än«. Sie zeigt eine kleine farbige Kirche, einen Weg und ein Feld mit vielen Kreuzen. Neben den Kreuzen hat sie »mamma« hingeschrieben. Auf der Rückseite steht mehrmals ihr eigener Vor- und Nachname, mehrfach auch »mamma«. Es sind die morbide wirkenden Zeichnungen eines trauernden Mädchens.

Auf der Rückseite von Tageskalenderseiten schreibt Ingrid– zumeist auf Deutsch– kleine Nachrichten an ihren Vater. Botschaften. Oft redet sie ihn Schwedisch mit»Lilla pappa« an und unterschreibt mit »Ingrid (Ninni) Bergman«.

Die kleine Ingrid mit ihrem Vater Justus Bergman und einem Porträt der verstorbenen Mutter Friedel Adler, 1918

Wesleyan Cinema Archives

Frühe Kinderzeichnungen Ingrid Bergmans: der Stockholmer Friedhof mit dem Grab ihrer Mutter Friedel, ca. 1923

Wesleyan Cinema Archives

Am 24. September 1923 schreibt sie ihrem Vater: »Lieber Papa, komm bald wieder, süßer Papa, ich habe gut geschlafen, lieber Papa viele Küsze, ich habe nicht geweint.« Darunter hat sie ein kleines Mädchen gemalt, einfach und schlicht, fast ist es nur ein Strichmännchen. Es ist das Mädchen, das zu seinem Vater sagt: »Lieber Papa sei nicht traurig, Ingrid ist süses Kind. Tausend Küsze auf der anderen Seite.«[23]

Das trauernde Kind, das den trauernden Vater zu trösten versucht.

Einmal klebt Ingrid ein vierblättriges Kleeblatt, das sie gefunden hat, auf Pappe und malt an den Rand eine rote Bordüre auf. Auf die Rückseite schreibt das Kind auf Deutsch, vermutlich auch an den Vater gerichtet: »Ich bin nicht schön, aber ein Glücksbote. Das Kleeblatt.«

Auf einem der vielen erhaltenen Papierblätter zeichnet sie ihre Eltern in Schwarz-Weiß, kein einziger Farbtupfer ist auf dem Blatt. Der Vater vorneweg, die Mutter dahinter – Vater im Mantel und mit Stock und Hut, Mutter mit einem Blumenstrauß in den Händen. Und, daneben, überall Gräber und wieder schwarze Kreuze. Jeden Tag malt die kleine Ingrid viele kleine schwarze Kreuze. Sie malt alles voll damit. Auch die anderen Zeichnungen.

Es sind ganze Felder. Felder voller Totenkreuze.

Vater Justus Bergman filmt und fotografiert seine heranwachsende Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Sitzt er zu Hause am Klavier und spielt Hausmusik, steht Ingrid daneben. Zwischendurch stellt der Vater die Kamera an. Ingrid lächelt, macht erneut einen Knicks, hält das Liedheft in Händen und singt. Dabei stellt sie sich durchaus in Pose, ist sich der Kamera bewusst, vor der sie sich angstfrei und ohne Scheu bewegt, die ihr eine lebenslange Begleiterin werden wird. Ohne sie wird sie nicht mehr sein können.

Es ist Herbst 1926, Ingrid ist gerade elf geworden, und der Vater geht zum ersten Mal mit ihr ins Theater, ins nahe gelegene »Dramaten«. Groß wie sie zu diesem Zeitpunkt schon ist, zu groß für ihr Alter, kann sie bereits die Kleider von Tante Ellen tragen. Das Kleid, das sie an diesem Abend trägt, ist rot. Eine von Ingrids Lieblingsfarben. Patrasket heißt das Stück des schwedischen Autors Hjalmar Frederik Bergman (1883–1931), der mit den beiden Theaterbesuchern gleichen Nachnamens nicht verwandt ist. Später, 1938, wird Ingrid vor der Kamera zu dem Spielfilm Dollar stehen, den der schwedische Regisseur Gustaf Molander nach einer Komödie von Hjalmar Bergman inszeniert.

Justus Bergmans Tochter kommt an diesem Abend aus dem Staunen nicht mehr heraus: »Bei meinem ersten Theaterbesuch gingen mir die Augen über. Da gab es erwachsene Leute, die das gleiche auf einer Bühne taten wie ich zu Hause ganz allein für mich, nur so zum Spaß. Und sie wurden sogar noch dafür bezahlt! Sie konnten davon leben! Ich verstand überhaupt nicht, warum diese Schauspieler die gleichen Dinge tun konnten wie ich: eine Traumwelt Wirklichkeit werden lassen, und das auch noch Arbeit nannten! Und ich drehte mich zu meinem Vater um – wahrscheinlich hat man mich im ganzen Theaterparkett gehört – und sagte laut: ›Papa, das will ich auch einmal machen!‹«[24] Der Wunsch Ingrids, einmal dort vorne auf der Bühne zu stehen und andere Identitäten anzunehmen, wächst.

Die achtjährige Ingrid in einer frühen Schultheateraufführung, ca. 1923

Wesleyan Cinema Archives

Zugleich ist es der musikbegeisterte Vater, der seiner Tochter, die er an die Kamera, ans Fotografieren und ans Theater heranführte, rät: »Du könntest in der Oper beginnen! Es würde dir viel mehr Spaß machen. Warum fängst du nicht in der Oper an?«[25]

Gesungen hat Ingrid Bergman nie, außer um das Klavierspiel ihres Vaters zu begleiten oder während ihrer eigenen Klavierstunden. Vielmehr wird sie ihren eigenen Plan umsetzen: Die Schule bis zum »hohen Abschluss« und dann an der Universität studieren, nein, das wolle sie nicht. Ingrid weiß das schon früh. Sie will alsbald nach einem normalen Schulabschluss sogleich an die Schauspielschule. In nur wenigen Jahren wird sie die renommierte Schauspielschule des »Dramaten« besuchen. Doch diesen entscheidenden Schritt im Leben seiner Tochter wird Justus Bergman nicht mehr erleben.

1924, zwei Jahre vor dem Besuch des »Dramaten«, der einem künstlerischen Initiationserlebnis gleichkommt, zieht Greta Danielsson ins Haus der Bergmans am Strandvägen ein. Seit geraumer Zeit schon ist sie Ingrids Erzieherin. Justus Bergman hat sie engagiert. Erst kam Greta stundenweise, irgendwann blieb sie über Nacht, dann schließlich ganz. Aus dem Dreiundfünfzigjährigen und dem fröhlichen Kindermädchen wird ein ungleiches Paar. Er will sie sogar heiraten. Ingrid findet in Greta – ein neuer Mensch in ihrem instabilen Leben – eine Art ältere Schwester, weniger einen veritablen Mutterersatz. Die sehr junge, sehr hübsche Frau hilft Ingrid bei den Schulaufgaben, und ab und an singen sie zu dritt oder spielen zusammen Klavier. Momente der Ausgelassenheit und Unbeschwertheit. Momente, die immer seltener werden, die sich Ingrid einprägen und die sie nicht mehr loslassen.

Die junge Ingrid am Klavier, ca. 1924

Wesleyan Cinema Archives

»Als ich zu Ingrid kam, war ich achtzehn und Ingrid neun. Ich glaube, ihr Vater suchte eine große Schwester für sie. Und wir waren wie Schwestern. Sie war sehr glücklich. Ingrid lebte oft in Fantasiewelten. Sie spielte Prinzessin, Hund oder Katze. Und sie sang sehr viel. Ihr Vater hat ihr sehr viel beigebracht. Er wollte, dass sie eine große Opernsängerin wird. Aber sie wollte Schauspielerin werden«, erinnert sich Greta Danielsson noch 1984 an diese frühen Zwanzigerjahre in Stockholm.[26]

Im Herbst 1924 ziehen die Bergmans um, einige hundert Meter weiter, an das östlichste Ende des Strandvägen-Boulevards, in die kleine Seitenstraße Ulrikagatan nahe des am Wasser gelegenen Nobelparken. Neben der räumlichen Veränderung hält Vater Justus eine weitere Neuigkeit für seine Tochter parat, sehr zu deren Missfallen: Er werde Anfang des kommenden Jahres nach Amerika reisen, da ihm die Leitung des von ihm zusammengestellten gemischten Laienchors mit dem aussagekräftigen Namen »Die Schweden« übertragen worden sei und man in den Vereinigten Staaten auftreten wolle.

Die Reisepläne ihres Vaters machen Ingrid Angst. Wieder wird sie verlassen. Allein gelassen. Wird »Pappa Just« überhaupt aus Amerika zurückkehren? Greta tritt nach dieser Nachricht eine neue Stelle an, in einem anderen Stadtteil Stockholms. Als sie sich verabschiedet, sagt Greta zu Ingrid, sie würde es auch beim Theater versuchen. Diese scheinbar nebenbei geäußerte Bemerkung wird einmal Konsequenzen mit sich bringen, die das Leben von Ingrid Bergman für immer verändern werden.

Während der Abwesenheit des Vaters wohnt Ingrid bei Onkel Otto und Tante Hulda. Es soll nicht das letzte Mal sein. Justus Bergmans Reisen reißen Vater und Tochter immer wieder aufs Neue auseinander. Den langen Sommer verbringt sie, wie jedes Jahr, in Hamburg bei den Adlers. Als Justus Bergman schließlich im Herbst 1925 nach Schweden zurückkehrt, da bringt der Vater der Tochter eine Orange aus Kalifornien mit. Zwar schon etwas alt und schrumpelig nach der langen Reise und nicht mehr genießbar, ist es das erste Amerikanische überhaupt, mit dem Ingrid in Berührung kommt. Sie wird dies nicht vergessen. Sie wird die Orange aufheben, wie sie überhaupt alles in ihrem siebenundsechzig Jahre umspannenden Leben aufhebt, hortet, später auch mit pedantischer Akribie archiviert. Fotoalben, Akten und Ordner werden angelegt. Alles wird genauestens chronologisch nummeriert und beschriftet.

Neben ihren Tagebüchern und den Jahreskalendern von UNICEF, den sogenannten »Engagement Books«, die sie später anlegen und tagtäglich führen wird, benutzt die junge Ingrid Bergman Scrapbooks, in denen sie im Lauf der Jahrzehnte Zeitungsausschnitte aller Sprachen über ihre Filme und Theateraufführungen sammelt. Stellenweise sind sie unterstrichen, meist dort, wo ihr Name im jeweiligen Artikel erstmals Erwähnung findet. Später kommen Kritiken hinzu: Sie unterstreicht ab und an auch hier ihren eigenen Namen und markiert am Rand exakt die Stellen im Text, in denen über sie geschrieben wird. Selbst kleinste Agenturmeldungen über nur wenige Druckzeilen schneidet sie aus und klebt sie ein, teils datiert sie sie eigenhändig. Ingrids Scrapbooks beginnen 1922, einer der ersten Artikel über die Familie Bergman stammt vom 5. Juli 1922, es folgen weitere aus den Zwanzigerjahren, sie zeigen in der Zeitung veröffentlichte gemalte Bilder und Porträts von Justus Bergman. Dann erste Zeitungsausschnitte über sie selbst. Die Scrapbooks sind unterschiedlich groß, vorwiegend aber DIN A3, und haben meist einen Ledereinband. Sie sind Dokumente eines Lebens, einer Karriere.[27]

Ingrid Bergman sammelt und notiert und archiviert– noch in den letzten Wochen vor ihrem Tod. Geordnet und diszipliniert, wie sie es bei den Adlers in Hamburg gelernt hat.

Nichts loslassen. Nicht noch mehr verlieren. Festhalten. Bloß festhalten.

Doch nun ist da zunächst dieser Duft, der von der alten harten Orangenschale ausgeht und den sie mit Amerika, mit Kalifornien verbindet– vierzehn Jahre später, am 20. April 1939, wird sie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit nur einem Koffer im Gepäck auf der Queen Mary im Hafen von New York City ankommen. Schließlich weiterreisen an die West Coast, nach Los Angeles, zu David O. Selznick, der gerade mit dem Monumental-Epos Gone with the Wind (Vom Winde verweht, 1939) beschäftigt ist. Da ist sie dreiundzwanzig. Sie wird Hollywood im Sturm erobern. Es wird, eine ganze Zeit lang, ihre Wahlheimat werden.

Kaum ist der unstete Vater heimgekehrt, steht bereits der nächste Umzug an: Vater und Tochter verlassen die Wohnung in der Ulrikagatan und beziehen eine in der Birger Jarlsgatan 34, ganz oben im sechsten Stock. Der die Östermalmer Anhöhe hinaufführende breite Boulevard führt direkt zu einem der pulsierenden Mittelpunkte des eleganten Stockholm, zum zentralen Platz Stureplan unterhalb der Kungliga Biblioteket, der Königlichen Bibliothek, die von dem schönen weitflächigen Park Humlegården umgeben ist.

Ab Mai 1927 unternimmt Justus Bergman, trotz aller Liebe und Zuneigung zum Töchterchen, erneut mehrere Reisen, eine längere führt ihn abermals in die Vereinigten Staaten sowie nach Kanada. Wieder gehen im heimischen Stockholm bei der im Frühjahr 1927 elfjährigen Ingrid Postkarten ein, von Orten und Plätzen, von denen sie zuvor nie gehört hat: eine noch vom Dampfer der Svenska-Amerika-Linie abgeschickten Karte – »Göteborg-Direkt-New York«, an das »Fröken Ingrid« (Fräulein Ingrid) adressiert, von »Pappa Just« unterschrieben. Im Mai und im Juni folgen weitere aus New York City, wo der Vater im legendären Hotel Herald Square an der 34th Street wohnt, dann aus Pittsburgh, aus Colorado Springs, aus San Francisco, aus Los Angeles und schließlich auch von den Niagarafällen.[28]

Im Jahr darauf, 1928, ist Ingrid inzwischen vollkommen ausgewachsen und hat ihre endgültige Körpergröße von einem Meter fünfundsiebzig erreicht. Deutlich überragt sie alle ihre Mitschülerinnen, was ihr sehr unangenehm ist. Sie fühlt sich unwohl in ihrer Haut: »Ich hasste die Schule, weil ich größer als die anderen, unbeholfen und schüchtern war. Ich war nicht stumm, aber ich sprach nur, wenn ich musste… Die Schule war die Hölle. Und ich war einsam.«[29]

Eines Tages, das Jahr 1929 hat gerade begonnen, geht es Ingrids Vater nicht gut. Schweißgebadet liegt er im Bett. Er ist bleich und blass. So kennt Ingrid ihren frohsinnigen Vater gar nicht. Nach einem Arztbesuch nimmt Justus Bergman seine Tochter Ingrid zu sich und zeigt ihr Aufnahmen. Keine Fotografien diesmal. Keine Bilder. Es sind Röntgenaufnahmen seines Magens. Er versucht ihr verständlich zu machen, dass er recht bald schon nichts mehr werde essen können. Dass dann alles recht schwierig werde. Er habe eine schlimme Krankheit. Krebs.

»Ich war zwölf Jahre alt und verstand nicht, daß er Krebs hatte, und natürlich wußte ich auch nicht, was Krebs bedeutete. Er versuchte, mich langsam und schonend mit seinem Leiden vertraut zu machen.«[30]