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Du kannst mehr als nur ein Leben leben. Im Frühling des Jahres 1938 kommt Elise Landau nach Tyneford House, einem Anwesen an der Südküste Englands. Die junge Jüdin aus wohlhabender Familie erwartet hier eine Anstellung als Hausmädchen. Eltern und Schwester musste sie in Wien zurücklassen. Über England weiß Elise nichts – nur, dass es ihr dort nicht gefallen wird. Doch tapfer poliert sie Silber und serviert Drinks, mit der Perlenkette ihrer Mutter unter der Schürze. Einziger Lichtblick: Kit, der Sohn des Hausherrn. Mit ihm erlebt sie ihre erste zarte Liebe – eine Liebe gegen die Konventionen. Dann erreicht der Krieg das beschauliche Dorset und beschwört Ereignisse herauf, die Tyneford House und seine Bewohner für immer verändern. Elise erkennt, dass sie keine andere Wahl hat, als ihr altes Leben komplett hinter sich zu lassen ... «Eine zutiefst anrührende und herrlich romantische Elegie auf eine verlorene Welt.» Saturday Times
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Seitenzahl: 658
Natasha Solomons
Als die Liebe zu Elise kam
Roman
Aus dem Englischen von Martin Ruben Becker
Rowohlt E-Book
Für Mr. S
Bitte gehen Sie achtsam mit der Kirche und den Häusern um. Wir haben unsere Häuser, in denen viele von uns seit Generationen wohnen, verlassen, um den Krieg gewinnen und unsere Freiheit bewahren zu können. Eines Tages werden wir zurückkehren und Ihnen dafür danken, dass Sie unser Dorf schonend behandelt haben.
Eine Notiz, die abreisende Dorfbewohner am Heiligen Abend, Weihnachten 1941, an die Tür der Kirche von Tyneford hefteten.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Tyneford House vor mir. Ich liege im Bett und sehe die Fassade aus Purbeckstein im Schein der späten Nachmittagssonne. Das Licht funkelt in den oberen Fenstern, und in der Luft liegt der schwere Geruch nach Magnolien und Salz. Der Torbogen des Vorbaus ist efeubewachsen, und eine Elster pickt an Flechten herum, die einen der Dachziegel aus Kalkstein überwuchert haben. Rauch steigt aus einem großen Schornstein, und die Blätter an der unbehauenen Lindenallee sind maigrün und werfen gesprenkelte Muster auf die Einfahrt. Noch wuchert kein Unkraut in den Lavendel- und Thymianbeeten, der Rasen ist samtweich und fällt in grünen Streifen ab. In der alten Gartenmauer finden sich keine Einschusslöcher, und die Fenster des Salons stehen weit offen, die Scheiben sind noch nicht von Granatfeuer zersplittert. Ich sehe das Haus, wie es damals war, an jenem ersten Nachmittag.
Gerade sind alle außer Sichtweite. Ich kann das Klirren der Gläser hören, die eben aufs Tablett gestellt werden; auf dem Terrassentisch steht eine Schüssel mit rosa Kamelien. Und in der Bucht tanzen die Fischerboote auf den Wellen, die Netze sind weit ausgeworfen, das Wasser schwappt ans Holz. Noch sind wir nicht evakuiert worden. Die Cottages sind noch keine Steinruinen am Strand, Haselnusssträucher und Schwarzdorn wachsen noch nicht durch die Steinfliesen der Dorfhäuser. Wir haben Tyneford noch nicht den Gewehren, Panzern, Vögeln und Geistern überlassen.
Ich stelle fest, dass ich heutzutage mehr und mehr vergesse. Bislang noch nichts allzu Wichtiges. Eben habe ich noch mit jemandem telefoniert, und sobald ich den Hörer aufgelegt hatte, merkte ich, dass ich schon vergessen hatte, wer es war und was er gesagt hat. Wahrscheinlich fällt es mir später wieder ein, wenn ich in der Badewanne liege. Auch andere Dinge habe ich vergessen: Die Namen der Vögel liegen mir nicht mehr auf der Zunge, und ich muss peinlicherweise auch zugeben, dass ich nicht mehr weiß, wo ich eigentlich die Narzissenzwiebeln für den Frühling eingepflanzt habe. Und doch, während die Jahre alles andere hinwegspülen, bleibt Tyneford – ein glatter Kieselstein der Erinnerung. Tyneford. Tyneford. Als könnte ich, wenn ich den Namen oft genug wiederhole, wieder dorthin zurückkehren. Diese Sommer waren lang, blau und heiß. Ich kann mich an alles erinnern, oder ich glaube es jedenfalls. Es kommt mir gar nicht so vor, als sei es sehr lange her. Ich habe jeden einzelnen Augenblick so oft in meinen Gedanken durchgespielt, dass ich auch meine Stimme dazu höre. Jetzt, da ich sie aufschreibe, erscheinen sie unveränderlich, absolut. Auf den Seiten leben wir noch einmal, jung und unwissend, und alles liegt noch vor uns.
Als ich den Brief erhielt, der mich nach Tyneford führte, wusste ich nichts von England, nur dass es mir dort nicht gefallen würde. An jenem Morgen hockte ich auf meinem gewohnten Platz neben dem Abtropfbrett in der Küche, während Hildegard, bis zu den Ellbogen mit Mehl bestäubt und eine Augenbraue schneeweiß, herumwerkelte. Ich lachte, und sie neckte mich mit dem Geschirrtuch und schnippte mir dabei die Brotrinde aus der Hand und auf den Fußboden.
«Ein bisschen weniger Brot und Butter würden dir auch nicht schaden.»
Ich machte ein böses Gesicht und schnipste Krümel auf das Linoleum. Ich wünschte, ich könnte mehr wie meine Mutter Anna sein. Die Sorgen hatten Anna noch dünner werden lassen. Bei ihrer blassen Haut wirkten ihre Augen riesig, sodass sie mehr denn je den Opernheldinnen ähnelte, die sie spielte. Anna war bereits ein Star, als sie meinen Vater heiratete – eine schwarzäugige Schönheit mit einer Stimme wie Kirschen und Schokolade. Sie hatte etwas Wahrhaftiges: Wenn sie den Mund öffnete und zu singen begann, blieb die Zeit für einen Moment stehen, und jeder hörte zu, verlor sich in ihrem Klang, ohne genau sagen zu können, ob, was man da hörte, Wirklichkeit war oder eine vollkommene Illusion. Als die Probleme anfingen, kamen nach und nach Briefe aus Venedig und Paris, von Tenören und Dirigenten. Sogar von einem Kontrabassisten. Sie hatten alle den gleichen Inhalt: Anna, mein Liebling, verlasse Wien und komm nach Paris/London/New York, und ich werde für deine Sicherheit sorgen … Natürlich würde sie niemals ohne meinen Vater gehen. Oder ohne mich. Oder Margot. Ich wäre auf der Stelle abgereist, hätte meine Ballkleider gepackt (wenn ich welche gehabt hätte) und wäre geflohen, um Champagner an den Champs-Élysées zu schlürfen. Aber für mich trafen keine Briefe ein. Nicht einmal eine Nachricht von einer zweiten Violine. Also aß ich Semmeln mit Butter, während Hildegard mir kleine Stückchen Gummiband in den Rockbund nähte.
«Komm.» Hildegard dirigierte mich vom Küchentresen in die Mitte des Raums, wo ein schweres, mehlbestäubtes Buch auf dem Tisch lag. «Du musst üben. Was sollen wir machen?»
Anna hatte es in einem Antiquariat gefunden und es mir anschließend mit vor Stolz gerötetem Gesicht präsentiert. Mrs. Beeton’s Household Management – ein ganzes Kilo von einem Buch, das mir beibringen sollte, wie man kochte, putzte und sich anständig benahm. Dies sollte meine wenig ruhmreiche Bestimmung sein.
Während ich an meinem Zopf kaute, stupste ich den Band an, sodass er sich beim Inhaltsverzeichnis öffnete. «Allgemeine Betrachtungen über Vierbeiner … Falsche Schildkrötensuppe … Aalpastete.» Ich schauderte. «Hier», ich zeigte auf eine Passage unten auf der Seite. «Gans. Ich sollte wissen, wie man eine Gans brät. Ich habe behauptet, dass ich das weiß.»
Vor einem Monat war Anna mit mir zum Telegraphenamt gegangen, damit ich eine «Flüchtlingsannonce» an die Londoner Times kabeln konnte. Ich hatte mich über das Straßenpflaster geschleppt und nach den feuchten Blütenhaufen getreten, die überall auf dem Boden lagen.
«Ich möchte nicht nach England. Ich werde mit dir und Papa nach Amerika fahren.»
Meine Eltern hofften, nach New York fliehen zu können, wo ihnen die Metropolitan Opera bei ihren Visa helfen wollte, wenn Anna bloß singen würde.
Anna ging noch schneller. «Wirst du ja auch. Aber im Moment können wir kein amerikanisches Visum für dich bekommen.»
Mitten auf der Straße blieb sie stehen und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände. «Ich verspreche dir, dass ich, bevor ich auch nur einen Blick auf die Schuhe bei Bergdorf Goodman’s werfe, zu einem Anwalt gehe, damit wir dich nach New York holen können.»
«Bevor du dir die Schuhe bei Bergdorf’s anschaust?»
«Ich verspreche es dir.»
Anna hatte winzige Füße und war süchtig nach Schuhen.
Musik mag vielleicht ihre erste Liebe gewesen sein, aber Schuhe waren auf jeden Fall ihre zweite. In ihrem Kleiderschrank standen von oben bis unten reihenweise elegante High Heels in Pink, Grau, Lackleder, Kalbs- und Wildleder. Sie hatte sich, um mich zu besänftigen, über sich selbst lustig gemacht.
«Bitte lass mich wenigstens einmal deine Annonce sehen», bat Anna. Bevor sie meinen Vater kennengelernt hatte, hatte Anna eine Spielzeit lang in Covent Garden gesungen, und ihr Englisch war beinahe perfekt.
«Nein.» Ich riss ihr den Zettel aus der Hand. «Wenn mein Englisch so schrecklich ist, dass ich bloß einen Platz in einer Absteige bekomme, dann ist das meine eigene Schuld.»
Anna versuchte nicht zu lachen. «Liebling, weißt du überhaupt, was eine Absteige ist?»
Natürlich hatte ich keine Ahnung, aber das konnte ich Anna nicht erzählen. Ich hatte Visionen von Flüchtlingen wie ich selbst, die abwechselnd auf dick gepolsterten Sofas in Ohnmacht fielen. Tief empört wegen ihrer Sticheleien, ließ ich Anna draußen vorm Amt stehen, während ich das Telegramm abschickte:
WIENERJÜDIN, 19, SUCHT Stelle als Hausmädchen. Spricht fließend Englisch. Ich werde Ihre Gans braten. Elise Landau. Wien 4, Dorotheergasse 30/5.
Hildegard starrte mich durchdringend an. «Elise Rosa Landau, ich habe heute Morgen zufällig keine Gans in meiner Speisekammer, such dir also bitte etwas anderes aus.»
Ich wollte gerade Papageienpastete auswählen, bloß um Hildegard zu ärgern, als Anna und Julian in die Küche kamen. Mein Vater hielt mir einen Brief hin. Julian war ein hochgewachsener Mann, in seinen Socken ein Meter vierundachtzig, mit dickem schwarzen Haar, das nur an den Schläfen ein wenig grau geworden war, und Augen, die so blau wie das sommerliche Meer waren. Meine Eltern waren der Beweis, dass schöne Menschen nicht notwendigerweise auch schöne Kinder haben. Meine Mutter war von einer fragilen blonden Lieblichkeit, und Julian sah so gut aus, dass er immer seine Drahtbrille trug, um die Wirkung seiner allzu blauen Augen zu schwächen (ich habe sie mir mal aufgesetzt, als er gerade badete, und stellte fest, dass die Gläser so schwach waren, als wären sie nur Fensterglas). Dennoch hatte dieses Paar es irgendwie geschafft, mich zu bekommen. Jahrelang hatten die Großtanten gegurrt: «Wartet bloß, bis sie aufblüht! Zwölf Jahre alt, merkt euch meine Worte, und sie wird ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten sein.» Ich konnte Gesichter schneiden, aber wie meine Mutter sah ich trotzdem nicht aus. Zwölf kam und ging vorüber. Sie setzten auf sechzehn. Immer noch kein Aufblühen. Als ich neunzehn war, hatte sogar Gabriele, die optimistischste der Großtanten, die Hoffnung aufgegeben. Das Beste, was sie daraus machen konnten, war: «Sie hat ihren ganz eigenen Charme. Und einen Charakter.» Ob dieser Charakter nun gut oder schlecht war, das sagten sie nie.
Anna hielt sich hinter Julian, blinzelte und fuhr sich mit ihrer rosa Zungenspitze über die Unterlippe. Ich stand kerzengerade da, ganz konzentriert auf den Brief in Julians Hand.
«Er ist aus England», sagte er und hielt ihn mir hin.
Ich nahm ihn ihm ab und öffnete ihn demonstrativ langsam, da mir klar war, dass sie mir alle dabei zusahen, mit einem Buttermesser. Dann zog ich ein cremefarbenes Blatt Briefpapier mit Wasserzeichen heraus, faltete es auseinander und glättete es. Ich las langsam und schweigend. Die anderen hatten einen Moment lang Geduld mit mir, dann unterbrach Julian die Stille.
«Um Gottes willen, Elise. Was steht denn da nun?»
Ich starrte ihn finster an. Damals starrte ich die Leute oft finster an. Er ignorierte mich, und ich las laut vor.
Sehr geehrtes Fräulein Landau,
Mr. Rivers hat mich gebeten, Ihnen zu schreiben und Ihnen mitzuteilen, dass Sie die Stellung als Hausmädchen in Tyneford House antreten können, wenn Sie möchten. Er hat sich bereit erklärt, die notwendigen Unterlagen für den Visumsantrag zu unterzeichnen, vorausgesetzt, dass Sie für mindestens zwölf Monate in Tyneford bleiben. Wenn Sie die Stellung anzunehmen wünschen, schreiben Sie oder kabeln Sie bitte postwendend. Bei Ihrer Ankunft in London begeben Sie sich bitte zur Mayfair Agency in Audley St. W 1, wo man die notwendigen Vorkehrungen für Ihre Weiterreise nach Tyneford treffen wird.
Ihre sehr ergebene
Florence Ellsworth
Haushälterin, Tyneford House
Ich ließ den Brief sinken.
«Aber zwölf Monate ist zu lang. Ich will vorher in New York sein, Papa.»
Julian und Anna wechselten einen Blick, und diesmal war sie es, die antwortete.
«Mein Goldstück, ich hoffe, du bist in sechs Monaten in New York. Aber im Moment musst du dahin gehen, wo du in Sicherheit bist.»
Julian zupfte liebevoll an meinem Zopf. «Wir können erst nach New York fahren, wenn wir wissen, dass du außer Gefahr bist. Sobald wir an der Metropolitan sind, lassen wir dich nachkommen.»
«Gesangsstunden zu nehmen ist wohl zu spät für mich?»
Anna lächelte bloß. Dann war es also wahr. Ich musste fort. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht daran geglaubt. Ich hatte das Telegramm geschrieben, es selbst nach London geschickt, aber es war mir bloß wie ein Spiel vorgekommen. Ich wusste, dass in Wien die Dinge schlecht für uns standen. Ich hatte Geschichten über alte Frauen gehört, die man an den Haaren aus Geschäften gezerrt und gezwungen hatte, den Bürgersteig zu säubern. Frau Goldschmidt hatte man genötigt, mit ihrer Nerzstola Hundekot aus der Gosse aufzuwischen. Ich hatte zufällig mitgehört, wie sie sich bei Anna ausgeweint hatte. Sie hatte auf dem Sofa im Salon gekauert, und die Porzellantasse in ihrer Hand hatte geklirrt, als sie ihr ihr Martyrium anvertraute: «Der Witz dabei ist, dass ich diesen Pelz sowieso nie gemocht habe. Er war ein Geschenk von Hermann, und ich habe ihn bloß ihm zuliebe getragen. Er war mir viel zu warm, und die Farbe steht seiner Mutter, aber nicht mir. Er wird es nie lernen … aber ihn auf diese Art zu ruinieren …» Sie schien sich trotz allem mehr darüber aufzuregen, dass der Pelz ruiniert war, als dass man sie öffentlich gedemütigt hatte. Bevor sie ging, sah ich, wie Anna ihr stillschweigend einen Polarhasenschal in die Einkaufstasche stopfte.
Überall in unserer Wohnung hinterließen die schwierigen Zeiten ihre Spuren. Auf dem Fußboden im großen Wohnzimmer waren dort, wo vorher Annas Stutzflügel gestanden hatte, lauter Kratzer. Das Instrument war beinahe zweitausend Schillinge wert gewesen – ein Geschenk von einem der Dirigenten an der Scala. Eines Tages im Frühling, bevor Margot und ich geboren waren, war es eingetroffen, aber wir wussten alle, Julian gefiel es nicht, dass dieses Andenken an einen früheren Liebhaber in seinem Wohnzimmer herumstand. Der Flügel war mittels einer Seilwinde durch ein Esszimmerfenster, dessen Glasscheibe eigens dafür entfernt werden musste, hineingeschafft worden – wie gerne hätten Margot und ich das Spektakel vom fliegenden Flügel gesehen! Manchmal, wenn Julian und Anna eine ihrer seltenen Auseinandersetzungen hatten, murmelte er: «Warum kannst du nicht eine Schachtel mit Liebesbriefen oder ein Fotoalbum haben wie jede andere Frau? Warum einen verdammten Flügel? Ein Mann sollte sich doch nicht den Zeh an der Leidenschaft seines Rivalen stoßen müssen.» Aber Anna, die sonst bei fast allen Dingen so sanftmütig reagierte, war, wenn es um Musik ging, ein Dickkopf. Sie verschränkte die Arme und stand kerzengerade da, in ihren vollen ein Meter dreiundfünfzig, und verkündete: «Der bleibt da, es sei denn, du willst zweitausend Schilling für ein neues Klavier ausgeben und noch mal das Esszimmer demolieren.» Und so blieb er – bis ich eines Tages, nachdem ich von einer fadenscheinigen Besorgung für Anna nach Hause zurückgekehrt war, feststellte, dass er nicht mehr da war. Überall im Parkettfußboden waren Dellen, und aus einer Nachbarwohnung vernahm ich das quälende Klimpern eines talentfreien Anfängers. Anna hatte ihren geliebten Flügel für einen Bruchteil seines eigentlichen Wertes an eine Frau gegenüber verkauft. Abends um sechs Uhr, wenn der von Akne heimgesuchte Sohn unserer Nachbarin zum Üben gezwungen wurde, hörten wir ein endloses Herunterleiern von Tonleitern. Ich stellte mir vor, dass der Flügel ein Klagelied anstimmen wollte, weil er so übel traktiert wurde und sich nach Annas Anschlag verzehrte, aber in Hässlichkeit erstarrte. Einst waren seine vollen, dunklen Klänge mit Annas Stimme verschmolzen, wie Sahne mit Kaffee. Nach der Verbannung des Flügels hatte Anna um sechs Uhr abends immer einen guten Grund, um die Wohnung zu verlassen – sie hatte vergessen, Kartoffeln zu kaufen (obwohl die Speisekammer von ihnen überquoll), sie musste einen Brief zur Post bringen, sie hatte versprochen, Frau Finkelsteins Hühneraugen zu behandeln.
Trotz des verschwundenen Flügels, der ruinierten Pelze, der fehlenden Bilder an den Wänden, Margots Relegation vom Konservatorium aus rassischen Gründen und des allmählichen Verschwindens aller jungen Dienstmädchen, sodass nur noch die alte Hildegard da blieb, hatte ich bis zu diesem Augenblick nie wirklich geglaubt, dass ich Wien verlassen müsste. Ich liebte diese Stadt. Sie war genauso Teil meiner Familie wie Anna oder die Großtanten Greta, Gerda und Gabriele. Es stimmte schon, es geschahen immer wieder seltsame Dinge, aber bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr war mir noch nie etwas wirklich Schreckliches widerfahren, und da ich mit der Weltsicht einer unverbesserlichen Optimistin ausgestattet war, hatte ich tatsächlich geglaubt, dass alles wieder gut werden würde. Als ich jetzt in der Küche stand und Julians trauriges halbes Lächeln sah, wusste ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass sich nicht alles zum Besten wenden würde. Österreich, Anna, die Wohnung in der Dorotheergasse mit ihren hohen Schiebefenstern, aus denen man auf Pappeln blickte, die wie rosa Feuer glühten, wenn die Sonne hinter ihnen aufging, den Ladenjungen, der jeden Dienstag kam und «Eis! Eis!» rief – all das musste ich verlassen. Die Damastvorhänge in meinem Zimmer, die ich nie zuzog, sodass ich das gelbe Leuchten der Straßenlaternen und die beiden Lichter von der Tram unten sehen konnte. Die scharlachroten Tulpen im Park im April und die wirbelnden weißen Kleider beim Opernball, die Handschuhe, die klatschten, wenn Anna sang und Julian sich mit seinem bestickten Taschentuch stolze Tränen wegwischte, mitternächtliche Eiskrem auf dem Balkon an Augustabenden, Margot und ich, die im Park auf gestreiften Badeliegen ein Sonnenbad nahmen, während wir den Trompeten der Kapelle lauschten, Margot, der das Essen anbrannte, und Robert, der lachte und sagte, das mache doch nichts, und wie wir dann stattdessen Äpfel und Toast und gegrillten Käse gegessen hatten, Anna, die mir zeigte, wie man Seidenstrümpfe anzog, ohne sie zu zerreißen, indem man Samthandschuhe anzog, und, und …
«Und jetzt setz dich hin und trink ein bisschen Wasser.»
Anna stellte mir ein Glas hin, während Julian mir einen Holzstuhl unterschob. Selbst Hildegard sah fassungslos aus.
«Du musst fahren», sagte Anna.
«Ich weiß», sagte ich und begriff, während ich das aussprach, dass meine verwöhnte und verlängerte Kindheit nun endgültig zu Ende war. Ich starrte Anna mit dem schaudernden Gefühl an, dass die Zeit wie eine Schaukel hin und her schwang. Ich merkte mir jede Einzelheit: die winzige Falte mitten auf ihrer Stirn, die immer erschien, wenn sie sich Sorgen machte, Julian neben ihr, dessen Hand auf ihrer Schulter lag, die graue Seide ihrer Bluse. Die blauen Kacheln hinterm Spülbecken. Hildegard, die das Spültuch knetete.
Jene Elise, das Mädchen, das ich damals war, würde mich als alt bezeichnen, aber sie irrt sich. Ich bin immer noch sie. Ich stehe immer noch in der Küche und habe den Brief in der Hand und beobachte die anderen – und warte – und weiß, dass sich alles verändern wird.
Meine Erinnerungen halten sich nicht an eine zeitliche Abfolge. Vielmehr geschieht in meinem Kopf alles gleichzeitig. Anna gibt mir einen Gutenachtkuss und packt mich in mein Kinderbett, während mein Haar für Margots Hochzeit gebürstet wird. Sie findet jetzt auf dem Rasen in Tyneford statt, auf dem ich mit nackten Füßen stehe. Ich bin in Wien, während ich darauf warte, dass die Briefe meiner Familie in Dorset eintreffen. Die Chronologie, die ich auf diesen Seiten befolge, ist also nicht ohne Mühe zustande gekommen.
In meinen Träumen bin ich jung. Und so überrascht mich mein Gesicht im Spiegel immer wieder. Ich sehe das hübsche graue Haar, natürlich gut frisiert, und die Müdigkeit unter den Augen, die niemals verschwindet. Ich weiß, dass es mein Gesicht ist, und doch bin ich beim nächsten Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, wieder überrascht. Oh, denke ich, ich habe vergessen, dass ich das bin.
In jenen glücklichen Tagen, als wir auf der Beletage wohnten, war ich das Küken in der Familie. Alle verwöhnten mich, Margot, Julian und am meisten Anna. Ich war ihr Nesthäkchen, ihr «Liebling», ich wurde verhätschelt und vergöttert. Dabei hatte ich gar keine besondere Begabung wie alle anderen. Ich konnte nicht singen. Ich konnte ein bisschen Klavier und Viola spielen, aber das war nichts im Vergleich zu Margot, die das ganze Talent unserer Mutter geerbt hatte. Ihr Ehemann Robert hatte sich schon in sie verliebt, bevor er auch nur ein Wort mit ihr gesprochen hatte, als er hörte, wie sie die Viola in Schumanns Märchenbildern spielte. Er sagte, ihre Musik könne einen Sturm, Weizenfelder, die sich im Regen wiegen, und Mädchen mit meerblauem Haar malen. Nie zuvor habe er durch die Augen von jemand anderem sehen können. Margot beschloss, seine Liebe zu erwidern, und sechs Wochen später waren sie verheiratet. Es war alles ziemlich ärgerlich, und ich hätte unerträglich eifersüchtig sein müssen, wenn es nicht eine Tatsache gewesen wäre, dass Robert völlig humorlos war. Er lachte nicht ein einziges Mal über meine Witze – nicht einmal über den mit dem Rabbi, dem Esszimmerstuhl und der Walnuss –, also war er eindeutig beschränkt. Dass ein Mann wegen meiner musikalischen Begabung völlig in mich vernarrt sein würde, war in höchstem Maße unwahrscheinlich, aber ich musste ihn schon zum Lachen bringen können.
Ich trug mich mit dem Gedanken, Schriftsteller zu werden wie Julian, aber im Gegensatz zu ihm hatte ich nie etwas anderes verfasst als eine Liste der Jungen, die mir gefielen. Als ich einmal Hildegard dabei zusah, wie sie mit ihren dicken roten Fingern gewürztes Fleisch in Kohlblätter einrollte, beschloss ich, dass das doch ein schönes Thema für ein Gedicht sei. Aber weiter als bis zu dieser Einsicht bin ich nicht gekommen. Ich war pummelig, während die anderen schlank waren. Ich hatte dicke Knöchel, und sie waren feinknochig und hatten hohe Wangenknochen. Das einzig Schöne an mir waren meine schwarzen Haare, die ich von Julian geerbt hatte. Sie hingen mir in einem langen Zopf bis über den Schlüpfer. Aber sie liebten mich dennoch. Anna ließ mich meine kindlichen Launen ausleben, und ich durfte schmollen, in mein Zimmer stürmen und wegen irgendwelcher Märchen schluchzen, für die ich viel zu alt war. Meine nicht enden wollende Kindheit gab Anna das Gefühl, jung zu sein. Mit einem kindischen Mädchen wie mir musste sie sich ihre fünfundvierzig Jahre nicht eingestehen.
All das veränderte sich durch den Brief. Nun musste ich allein in die Welt hinausgehen, ich musste erwachsen werden. Die anderen behandelten mich weiter wie bisher, aber in ihrem Verhalten lag etwas Gewolltes, als ob ich krank wäre und sie peinlich darauf achteten, es geheim zu halten. Anna belächelte auch weiterhin liebenswürdig all meine Launen, gab mir das dickste Stück Kuchen und ließ mir das Badewasser mit ihrem besten Lavendelsalz ein. Margot zettelte Streit mit mir an und lieh sich Bücher, ohne mich zu fragen, aber ich wusste, dass es nur Theater war. Bei den Streitereien war sie nicht mit dem Herzen dabei, und sie nahm sich nur Bücher, von denen sie wusste, dass ich sie schon gelesen hatte. Nur Hildegard war nun anders. Sie hörte auf, mich zu schelten, und selbst als es wahrscheinlich am nötigsten war, kam sie mir nicht mehr mit Mrs. Beeton. Sie nannte mich jetzt «Fräulein Elise», nachdem ich seit meinem zweiten Lebensjahr bloß «Elise» oder «Teufelsbraten» gewesen war. Diese plötzliche Förmlichkeit war keine Folge ihres Respekts, einer neuentdeckten Würde auf meiner Seite. Es war Mitleid. Ich vermutete, dass Hildegard mich in jenen letzten Wochen jede Faser meines gesellschaftlichen Status spüren lassen wollte, weil sie wusste, welche Demütigungen mich in den kommenden Monaten erwarteten, aber ich wünschte, sie würde mich weiterhin Elise nennen, mir Kopfnüsse geben und mir noch einmal damit drohen, mir das Essen zu versalzen. Ich hinterließ Kekskrümel auf meinem Nachttisch, was ein klarer Verstoß gegen ihre Keine-Kekse-im-Schlafzimmer-Regel war, aber sie sagte nichts, machte nur einen kleinen Knicks (während ich mich innerlich wand) und zog sich mit einem gekränkten Ausdruck in die Küche zurück.
Die Tage verstrichen. Ich spürte, wie sie schneller und schneller vorübergingen, wie bemalte Pferde auf einem Karussell. Ich wollte die Zeit anhalten, konzentrierte mich auf das Ticktack der Dielenuhr und versuchte, die Stille zwischen dem erbarmungslosen Schlagen des Sekundenzeigers auszudehnen. Aber das funktionierte natürlich nicht. Mein Visum kam mit der Post. Die Uhr tickte. Anna ging mit mir zusammen meinen Reisepass abholen. Tick. Julian bezahlte auf einem anderen Amt meine Ausreisegebühr, und als er zurückkam, verschwand er ohne ein Wort und mit dem Burgunder-Dekanter in seinem Arbeitszimmer. Tick. Ich packte knäuelweise Seidenstrümpfe in meine Koffer, während Hildegard in all meine Kleider geheime Täschchen einnähte, in denen ich verbotene Wertgegenstände verstecken konnte, und nähte in die Säume feine Goldkettchen ein. Anna und Margot begleiteten mich auf Kaffee-Exkursionen zu den Tanten, wo wir Honigkuchen essen, uns verabschieden und sagen konnten, dass wir uns bald wiedersähen, wenn-all-dies-vorüber-ist-wann-auch-immer-das-sein-wird. Tick. Ich versuchte, die ganze Nacht aufzubleiben, damit der Morgen langsamer käme und ich noch mehr kostbare Augenblicke in Wien hätte. Ich schlief ein. Tick-tack-tick, und wieder war ein Tag vorüber. Ich nahm die Bilder von meiner Schlafzimmerwand, schlitzte die Halterungen auf und schob den Druck des Belvederepalastes, die signierten Programme vom Opernball und meine Fotos von Margots Hochzeit in meinen Kofferdeckel; ich in meinem Musselinkleid mit der Blattstickerei, Julian im weißen Frack und Anna in formlosem Schwarz, damit sie die Braut nicht ausstach, und dennoch hübscher als der ganze Rest. Tick. Mein Gepäck lag in der Diele. Tick-tack. Meine letzte Nacht in Wien. Die Dielenuhr schlug: Sechs Uhr und Zeit, sich für das Fest umzuziehen.
Statt in mein Zimmer zu gehen, schlenderte ich in Julians Arbeitszimmer. Er saß an seinem Schreibtisch und notierte, den Stift in seiner linken Hand, fieberhaft irgendetwas. Ich wusste nicht, was er schrieb, niemand in Österreich druckte mehr seine Romane. Ob er seinen nächsten Roman wohl auf Englisch schreiben würde?
«Papa?»
«Ja, mein Goldstück.»
«Versprich mir, dass ich nachkommen kann, sobald du da bist.»
Julian hörte auf zu schreiben und schob seinen Stuhl zurück. Er zog mich auf seinen Schoß, als wäre ich neun und nicht neunzehn, drückte mich an sich und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. Ich konnte den frischen Duft seiner Rasierseife und den Zigarrenrauch riechen, der immer auf seiner Haut lag. Als ich mein Kinn auf seine Schulter legte, sah ich, dass der Burgunder-Dekanter auf dem Schreibtisch stand und wieder einmal leer war.
«Ich vergesse dich doch nicht, mein Goldstück», sagte er, und seine Stimme war durch meinen Haarwust gedämpft. Er presste mich so fest an sich, dass meine Rippen knackten, und dann ließ er mich mit einem schwachen Seufzer wieder los. «Ich möchte, dass du etwas für mich tust, mein Liebling.»
Ich glitt von seinem Schoß und sah zu, wie er in die Zimmerecke ging, in der der Violakasten an der Wand lehnte. Er griff danach, legte ihn auf den Schreibtisch und öffnete ihn mit einem Klicken.
«Erinnerst du dich an diese Viola?»
«Ja, natürlich.»
Ich hatte meine ersten Musikstunden auf dieser Viola aus Rosenholz erhalten und schon vor Margot darauf zu spielen gelernt. Sie bekam Klavierunterricht auf dem Flügel im Salon, während ich in diesem Zimmer stand (ein Privileg, damit ich auch ordentlich übte) und die Viola quietschte und kratzte. Das Spielen machte mir sogar Spaß, bis sich eines Tages Margot in Julians Arbeitszimmer stahl und das Instrument in die Hand nahm. Sie strich mit dem Bogen über die Saiten, und zitternd erwachte sie zum Leben. Das Rosenholz sang zum ersten Mal, und Musik tropfte so mühelos aus den Saiten wie ein leichter Wind über der Donau. Wir kamen alle hinein und lauschten der Viola wie Sirenengesang. Anna hielt Julians Arm gepackt, ihre Augen waren feucht und strahlend, Hildegard tupfte sich die Augen mit ihrem Staubtuch ab, und ich lauerte in der Tür, voller Ehrfurcht vor meiner Schwester und krank vor Eifersucht. Innerhalb eines Monats wurden die besten Musiklehrer Wiens eingeladen, um meiner Schwester Unterricht zu erteilen. Ich spielte nie wieder.
«Ich möchte, dass du sie mit nach England nimmst», sagte Julian.
«Aber ich spiele nicht mehr. Und außerdem gehört sie Margot.»
Julian schüttelte den Kopf. «Margot spielt seit Jahren nicht mehr auf dieser alten Kiste. Und außerdem kann man sie gar nicht spielen.» Er lächelte mich an. «Versuch’s doch mal.»
Ich wollte mich schon weigern, aber etwas Seltsames lag in seinem Ausdruck, also griff ich nach dem Instrument. Es wog schwer in meiner Hand, schien eine merkwürdige Last in seinem Inneren zu tragen. Ich beobachtete meinen Vater, als ich sie unterm Kinn platzierte und dann mit dem Bogen langsam über die Saiten strich. Der Klang war dumpf und seltsam, als hätte ich unter dem Steg einen Dämpfer angebracht. Ich ließ die Viola sinken und starrte Julian an. Auf seinen Lippen zuckte ein Lächeln.
«Was ist da drin, Papa?»
«Ein Roman. Das heißt, mein Roman.»
Ich spähte durch die F-Löcher in den Körper des Instruments und erkannte, dass es mit gelbem Papier vollgestopft war.
«Wie hast du denn all die gelben Seiten da reingekriegt?»
Julians Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. «Ich bin zu einem Geigenbauer gegangen. Er hat die Decke über Dampf geöffnet, ich habe den Roman hineingelegt, und er hat die Viola wieder zugeklebt.»
Er sprach voller Stolz, voller Freude darüber, sein Geheimnis preisgeben zu können, und dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst.
«Ich möchte, dass du sie mit nach England nimmst und den Roman sicher für mich aufbewahrst.»
Julian schrieb immer in zweifacher Ausführung, verfasste seine Arbeiten in seiner winzigen runden Handschrift auf Kohlepapier, sodass auf den Seiten darunter ein Schattenroman erschien. Die obere Schicht auf dem weißen, mit Wasserzeichen versehenen Papier wurde an seinen Verleger geschickt, während der Durchschlag auf dem dünnen, gelben Papier in seiner Schreibtischschublade verschlossen wurde. Julian hatte schreckliche Angst, seine Manuskripte könnten verloren gehen, und so barg der Mahagoni-Schreibtisch einen ganzen Schatz aus Wörtern. Nie zuvor hatte er zugelassen, dass ein Durchschlag sein Arbeitszimmer verließ.
«Ich werde das Manuskript mit nach New York nehmen. Aber ich möchte, dass du diesen Durchschlag in England aufhebst. Für alle Fälle.»
«In Ordnung. Aber ich werde ihn dir in New York zurückgeben, und dann kannst du ihn wieder in deinem Schreibtisch einschließen.»
Die Dielenuhr schlug zur halben Stunde.
«Du musst jetzt gehen und dich umziehen, meine Kleine», sagte Julian und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. «Bald kommen die Gäste.»
Es war der erste Abend des Pessach, und Anna hatte darauf bestanden, dass es ein richtiges Fest wurde, eine Feier mit Champagner und Tanz, wie früher, vor den schlechten Zeiten. Weinen war streng verboten. Margot kam früher zu uns, um sich fertigzumachen, und nun saßen wir, die Gesichter vom Dampf gerötet, in unseren Bademänteln in Annas großem Badezimmer. Anna füllte die Wanne mit Rosenblättern und stellte die Kerzenständer aus dem Esszimmer neben den Spiegel überm Waschbecken, wie sie es sonst am Abend des Opernballs zu tun pflegte. Sie ließ sich in der Wanne zurücksinken, das Haar war oben auf ihrem Kopf zusammengeknotet, und ihre Finger zogen Furchen im Wasser. «Läute mal, Margot. Bitte Hilde, uns eine Flasche Laurent-Perrier und drei Gläser zu bringen.»
Margot tat wie ihr geheißen, und kurz darauf nippten wir Champagner, wobei jede, um es den anderen leichter zu machen, besondere Fröhlichkeit vortäuschte. Ich nahm einen Schluck und spürte einen Kloß im Hals. Nicht weinen, befahl ich mir, schluckte und musste von der Kohlensäure husten.
«Na, pass aber mal auf», sagte Anna mit einem Kichern, das etwas zu schrill war und nach falscher Lustigkeit klang.
Ich fragte mich, wie viele Flaschen Wein und Champagner wohl noch übrig waren. Ich wusste, dass Julian die guten verkauft hatte. Alles, was teuer oder wertvoll war, drohte beschlagnahmt zu werden; so war es besser, es gleich zu verkaufen. Margot fächerte sich mit einer Zeitschrift Luft zu und warf sie dann beiseite, ging ans Fenster und öffnete es, um eine kühle Brise Abendluft hineinzulassen. Ich sah zu, wie der Dampf nach außen abzog und der Gazevorhang flatterte.
«Also, dann erzähl mir mal von der Fakultät in Kalifornien», sagte Anna, die sich zurücklehnte und die Augen schloss.
Margot ließ sich in einen Schaukelstuhl aus Rattan fallen und knotete ihren Bademantel auf, sodass eine weiße Spitzenkorsage und passende Schlüpfer zum Vorschein kamen. Ich fragte mich, was wohl Robert über solch aufregende Details dachte, und wurde augenblicklich von Neid erfüllt. Niemand hatte je auch nur das geringste Interesse daran bekundet, mich in Unterwäsche zu sehen. Robert konnte bei der richtigen Beleuchtung ziemlich flott aussehen, obwohl er sich immer ein bisschen zu sehr erregte, wenn er über seine Sternenforschungen an der Universität sprach. Ich hatte ihn einmal tödlich beleidigt, als ich ihn bei einer Feier als «meinen Schwager, den Astrologen» anstatt «den Astronomen» vorgestellt hatte. Er hatte sich mit einem arroganten und finsteren Blick zu mir gedreht und mich gefragt: «Trage ich ein blaues Kopftuch und Ohrringe und bitte dich, mir etwas Kleingeld zu geben, bevor ich dir einen attraktiven Unbekannten in der Zukunft weissage, weil Venus gerade rückläufig ist?» – «O nein, aber ich wünschte, das würdest du!», antwortete ich, und das hatte er mir nie richtig verziehen, was schade war, denn bis dahin hatte ich immer ein paar Züge an seiner Zigarre paffen dürfen.
«Die Universität Berkeley soll sehr gut sein», sagte Margot. «Sie sagen lauter nette Sachen über Robert. Sie freuen sich so, dass er dorthin kommt, und so weiter.»
«Und du? Wirst du spielen?», fragte Anna.
Margot und Anna waren sich darin ganz ähnlich; sie waren wie Vögel in Käfigen, wenn sie nicht ihre Musik haben konnten. Margot zündete sich eine Zigarette an, und ich sah, wie ihre Hand, wenn auch nur unmerklich, zitterte.
«Ich werde mir ein Quartett suchen.»
«Gut, gut.» Anna nickte zufrieden.
Ich trank noch einen Schluck Champagner und starrte meine Mutter und meine Schwester an. Sie würden, ganz gleich, wo sie landeten, immer Freunde finden. Sie konnten in jede beliebige Stadt auf der Welt kommen, sich die nächstbeste Gruppe Musiker suchen, und für die Dauer einer Sonate, einer Symphonie oder eines Menuetts hätten sie ein Zuhause.
Ich betrachtete meine Schwester mit ihren langen Gliedern und dem goldenen Haar – wie Annas –, das ihr in feuchten Locken auf die Schultern fiel. Sie räkelte sich im Korbsessel mit verrutschtem Bademantel und trank ihren Champagner, dabei saugte sie an ihrer Zigarette mit einem Gestus geübter Dekadenz. Schweiß klebte ihr auf der Haut, und sie lächelte mich mit einem verträumten Blick an.
«Hier, Elsie, nimm mal einen Zug.» Sie hielt mir die Zigarette hin und ließ sie zwischen ihren Fingern baumeln.
Ich stieß ihre Hand weg. «Du sollst mich nicht so nennen.»
Ich hasste es, wenn man mich Elsie nannte. Das war der Name für eine alte Frau. Margot lachte laut und glockenhell, und in dem Augenblick hasste ich auch sie und war froh, dass ich weit, weit wegging. Es war mir egal, ob ich sie je wiedersah. Ich wich ans Fenster zurück und bekam vor lauter Qualm kaum Luft. Obwohl es so warm war, hielt ich meinen Bademantel fest geschlossen, ich wollte ihn nicht vor ihnen ablegen und dabei meinen großen weißen Schlüpfer, meinen Schulmädchen-Büstenhalter oder die kleine Rolle Babyspeck um meine Körpermitte zeigen.
Anna, die spürte, dass zwischen Margot und mir mal wieder Zank aufzukommen drohte, tat das Einzige, womit sie uns stoppen konnte. Sie begann zu singen. Später an jenem Abend sang Anna vor all den versammelten Gästen, während die enge Halskette aus Granatschmuck wie Blutstropfen zitterte, aber es ist dieser Augenblick, an den ich mich besonders gut erinnere. Wenn ich an Anna denke, dann sehe ich sie nackt in der Badewanne, wie sie singt. Der Klang füllte den gesamten Raum aus, dichter als der Dampf, und das Wasser in der Wanne begann zu vibrieren. Ich fühlte ihre Stimme mehr, als dass ich sie hörte. Annas kräftige Mezzotöne drangen in mich ein. Statt einer Arie sang sie die Melodie von Für Elise, ein Lied ohne Worte, ein Lied für mich.
Ich lehnte mich an den Fensterrahmen, spürte die kühle Luft an meinem Rücken, die Noten, die auf meine Haut wie Regentropfen fielen. Margots Glas sank unbeachtet auf den Boden, und der Champagner tropfte auf die Fliesen. Ich sah, dass die Tür angelehnt war und Julian auf der Schwelle stand, uns drei beobachtete und zuhörte. Er gehorchte Annas Vorschrift für diesen Abend nicht. Er weinte.
Die Gäste trafen zum Fest ein. Für den Abend hatte man einen Diener engagiert, und er stand nun in der Diele, nahm den Herren die Mäntel ab und half den Damen bei ihren Hüten und Pelzen. Robert traf als Erster ein, er kam schon vor acht, und ich starrte ihn mit bohrendem Blick an, um ihm meine Missbilligung zu demonstrieren. Anna war der Meinung, dass extreme Pünktlichkeit bei einem Gast eine schreckliche Angewohnheit sei, aber als ich mich über Robert beschwerte, sagte sie zu meiner Verärgerung, dass so etwas bei Familienmitgliedern und Liebhabern akzeptabel sei. Einige Gäste kamen überhaupt nicht. Anna hatte in der zurückliegenden Woche dreißig Einladungen verschickt. Aber Leute begannen zu verschwinden, und die, die geblieben waren, hielten es für das Beste, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, still und leise zu leben und auf der Straße jeden Blickkontakt zu meiden. Wir verstanden, dass einige es vorzogen, nicht zu einem abendlichen Pessachfest im Hause einer berühmten jüdischen Sängerin und eines Autors von Avantgarderomanen zu kommen. Anna und Julian sagten nichts über die fehlenden Gäste. Der Tisch wurde stillschweigend neu gedeckt.
Wir versammelten uns alle im Salon. Diejenigen, die sich entschieden hatten zu kommen, hatten offensichtlich, auch ohne sich untereinander abgesprochen zu haben, beschlossen, mit ihrer allerfeinsten Garderobe zu glänzen. Wenn es schon gefährlich war, zu einem Fest bei den Landaus zu erscheinen, dann wollten sie wenigstens blendend aussehen. Die Männer waren prächtig in ihren Fräcken. Die Damen trugen dunkle Pelze oder langweilige Regenmäntel, die bis zum Boden reichten, aber als sie ihre Kokons ablegten, glänzten sie darunter wie tropische Schmetterlinge. Margots Kleid war aus changierender Seide, indigoblau wie ein Sommerabend und mit silbergesäumten Sternen besetzt, die bei jeder Bewegung funkelten. Selbst die dicke Frau Finkelstein trug ein pflaumenfarbenes Kleid, und ihre weißen, teigigen Arme waren in enge Gazeärmel gequetscht, ihr graues Haar war zu einem Kranz geflochten und mit Kirschblüten geschmückt. Lilly Roth zauberte wie ein Magier einen gefiederten Kopfschmuck aus ihrer Tasche und befestigte ihn in ihrem Haar, sodass sie einem Paradiesvogel glich. Jede Frau trug ihren Schmuck – ihren gesamten Schmuck, so schien es. Wenn es uns in der Vergangenheit Sorgen bereitet hatte, ob wir wohl zu grell, extravagant oder auch kleinbürgerlich wirkten, so fragten wir uns jetzt, da wir das Gefühl hatten, als glitte alles in Finsternis davon, wie wir uns nur damit hatten beschäftigen können. Der Abend war ganz dem Vergnügen gewidmet. Am nächsten Tag mussten wir unseren Schmuck verkaufen – Großmutters wie ein Spinnennetz geformte Diamantenbrosche, den goldenen Armreif, der mit Rubinen und Saphiren besetzt war, auf die die Kinder beim Zahnen gebissen hatten, die Platin-Manschettenknöpfe, die Hermann erhalten hatte, als er Teilhaber der Bank wurde – also trugen wir an diesem Abend alles und glänzten unter dem Mond.
Julian trank Burgunder, lauschte Herrn Finkelsteins Geschichten und lächelte mühelos an den richtigen Stellen. Ich hatte sie alle schon mal gehört – wie Herr Finkelstein bei einem Konzert auf Baron Rothschild gestoßen war und wie der Baron, der ihn offenbar mit jemand anderem verwechselt hatte, seinen Kopf und die Baronin ihr Sherryglas geneigt hatte, «und wer in der Welt hätte sich träumen lassen, dass es da einen eleganten, cleveren Kerl geben musste, der so kahl und so rund war wie ich? Ich musste meinen Doppelgänger finden und ihm die Hand schütteln.» Ich rollte mit den Augen, schon aus der Ferne gelangweilt. Julian entdeckte mich und gab mir ein Zeichen, dass ich mich zu ihnen gesellen sollte, aber ich schüttelte den Kopf und verdrückte mich. Julian musste ein Lachen unterdrücken. Margot tauschte mit Frau Roth Nettigkeiten aus, Robert, befangen und zu keinem Small Talk in der Lage, lauerte neben ihr. Er konnte bloß über seine Leidenschaften sprechen – Astronomie, Musik und Margot, während Frau Roths ausschließliches Konversationsthema ihre siebzehn Enkelkinder waren. Ich hoffte, dass sie beim Abendessen nicht nebeneinandersaßen.
Ich wusste, dass ich das letzte Mal Gast auf einem Fest war. Ich musterte den Diener in seiner schwarzen Krawatte und mit seinem ausdruckslosen Gesicht und versuchte mir vorzustellen, ich sei einer wie er, würde Gläser ausspülen und so tun, als würde ich die Gespräche nicht mithören. Schade, dass ich, solange ich die Gelegenheit dazu gehabt hatte, nie etwas gesagt hatte, das es wert gewesen wäre, mitgehört zu werden. Ich versuchte, jetzt auf etwas Entsprechendes zu kommen – irgendeine tiefe Einsicht zur Lage der Nation. Nein. Nichts. Ich lächelte den Diener an und versuchte ihm das Gefühl meiner Solidarität zu vermitteln. Er bemerkte meinen Blick, aber anstatt zurückzulächeln, glitt er herbei.
«Fräulein? Noch etwas zu trinken?»
Ich sah auf das volle Glas in meiner Hand hinunter. «Nein. Vielen Dank. Ich habe noch.»
Auf dem Gesicht des Mannes erschien ein Ausdruck der Verwirrung – ich hatte ihn einfach zu meinem Amüsement herbeigerufen. Ich errötete und eilte, eine Entschuldigung murmelnd, aus dem Zimmer. Dann hing ich im Korridor herum und lauschte auf die Gesprächsfetzen, die aus dem Nebenzimmer zu mir drangen. «Max Reinhardt soll nächste Woche nach New York abreisen, habe ich gehört …» – «Oh? Ich dachte, es war London.»
Ich schloss die Augen und kämpfte gegen den Impuls an, mir die Ohren zuzuhalten. Die Küchentür war fest verschlossen, aber man hörte eine Salve Scheppern und Gepolter und dann einige von Hildegards ausdrucksvollsten Flüchen. Niemand, weder Rudolph Valentino noch Moses selbst, hätte mich in diesem Augenblick dazu überreden können, die Küche zu betreten.
Von meinem Versteck aus sah ich Margot und Robert Hand in Hand in einer Ecke flüstern. Aus guter Quelle wusste ich, dass das Flirten mit der eigenen Ehefrau in der Öffentlichkeit der Abgrund schlechten Benehmens war (mit dem Ehemann einer anderen war es natürlich völlig in Ordnung), aber wieder einmal klärte mich Anna darüber auf, dass so etwas während des ersten Ehejahres durchaus akzeptabel war. Ich hoffte, Margot würde ihren ersten Jahrestag in ihrem Tagebuch zusammen mit der Bemerkung festhalten: «Muss aufhören, mit Robert zu flirten.» Da wäre sie schon in Amerika, und mit so etwas wie Bedauern begriff ich plötzlich, dass ich sie dort nicht mehr ermahnen konnte, sich doch zu benehmen. Ich musste ihr schreiben und sie ermahnen. Allerdings, überlegte ich, war es möglich, dass die Amerikaner andere Regeln hatten, und ich fragte mich, ob ich ihr das erklären sollte. In diesem Moment überkam mich ein fürsorgliches Gefühl für meine Schwester. Während ich bei den meisten Partys dabei zusah, wie die Männer Margot und Anna umschwärmten, hatte ich an diesem Abend den kleinen Jan Tibor dabei erwischt, wie er verstohlen meinen Busen musterte, und da fühlte ich mich ganz genauso raffiniert wie die anderen. Im Dunkel der Diele schob ich meine Brust raus, flatterte mit den Wimpern und stellte mir vor, unwiderstehlich zu sein, eine dunkelhaarige Marlene Dietrich.
«Liebling, tu das lieber nicht», sagte Anna, die neben mir auftauchte. «Dir platzen noch die Nähte.»
Ich seufzte und ließ die Luft raus. Mein enges rosa Kleid hatte einmal Anna gehört, und obwohl Hildegard das Kleid so weit ausgelassen hatte wie nur möglich, kniff es immer noch.
«Du siehst wirklich sehr hübsch darin aus», sagte Anna, der plötzlich bewusst wurde, dass sie meine Gefühle verletzt haben könnte. «Du musst es mitnehmen.»
Ich schnaubte. «Um darin Geschirr zu spülen? Oder Staub zu wischen?»
Anna wechselte das Thema. «Möchtest du zum Abendessen läuten?»
Die Glocke war ein winziges silbernes Schmuckstück, das einst meiner Großmutter gehört hatte und dessen Klingelton ein reines Cis war, wie Margot meinte, die ein absolutes Gehör besaß. Als Kind war es für mich etwas ganz Besonderes gewesen, mich fein machen, lange aufbleiben und die Essensglocke läuten zu dürfen. Ich stand dann neben der Tür zum Esszimmer und gestattete den Gästen feierlich, mir einen Gutenachtkuss zu geben, während sie ins Zimmer strömten. Als ich an diesem Abend mit der Glocke klingelte, sah ich alle diese Feste vor mir aufflackern und eine endlose Reihe von Menschen an mir vorüberdefilieren wie ein Fries, der sich einmal um das ganze Zimmer zog und nie an ein Ende kam. Sie plauderten laut, die Gesichter rosa vom Alkohol, und gehorchten alle Annas Diktat der Fröhlichkeit.
Meine Familie war nicht im Geringsten religiös. Als wir Kinder waren, wollte Anna, dass Margot und ich ein bisschen über unsere Herkunft verstanden, und erzählte uns neben Geschichten von Peter und der Wolf und Mozart und Constanze auch Gutenachtgeschichten aus der Tora. In Annas Version war Eva in den Glanz Greta Garbos getaucht, und wir stellten sie uns vor, wie sie sich im Paradies fläzte, sich eine Schlange verlockend um den Hals geschlungen hatte und ein völlig vernarrter Adam (gespielt von Clark Gable) ihr zu Füßen kniete. Die Geschichten aus der Bibel besaßen die wilden und unwahrscheinlichen Handlungsstränge von Opern, und Margot und ich verschlangen sie begeistert, wobei wir die Genres in unserer Vorstellung nahtlos miteinander vermischten. Eva lockte Adam mit Carmens Arien, und die Stimme des Herrn klang dem Barbier von Sevilla höchst ähnlich. Wenn irgendjemand Anna gebeten hätte, zwischen Gott und der Musik zu wählen, hätte es gar keinen Wettbewerb gegeben, und Julian, vermutete ich, war Atheist. Wir gingen nie in die hübsche Synagoge in der Leopoldstadt, feierten eher Weihnachten als Chanukka und waren stolz, zur neuen Klasse des österreichischen Bürgertums zu gehören. Wir waren Wiener Juden, aber bis jetzt hatte das Wienerische immer an erster Stelle gestanden. Selbst in diesem Jahr, als Anna beschlossen hatte, dass wir Pessach feiern würden, musste es eine Party sein, bei der Margot ihre Hochzeitssaphire und ich Annas Perlen tragen konnte.
Der lange Esstisch war mit einem weißen Tischtuch mit Monogramm gedeckt, die Teller waren goldgerändertes Meissener Porzellan, und Hildegard hatte das verbliebene Familiensilber auf Hochglanz poliert. Überall flackerten Kerzen, eine schwarze Rose und ein Narzissensträußchen lagen auf jedem Beilagenteller der Damen (die Rose für Liebe, schwarz für Trauer und die Narzissen für Hoffnung) und eine silberne Kippa auf dem der Herren. Anna bestand darauf, dass die große elektrische Lampe ausblieb und nur Kerzen für Licht sorgten. Ich wusste, dass es ihr dabei weniger um die zauberhafte Atmosphäre ging, die Kerzenschein erweckt, als vielmehr um den praktischen Grund, die leeren Stellen an den Esszimmerwänden zu verbergen, wo die guten Gemälde gehangen hatten. Die Familienporträts waren geblieben: das von mir, als ich sieben Jahre alt war, in meinem dünnen Musselinkleidchen und mit kurzgeschnittenem Haar, die Bilder von unseren Urgroßeltern mit ihren säuerlichen Gesichtern, dünnen Lippen und Spitzenhauben sowie das von der Ururgroßtante Sophie, die merkwürdigerweise inmitten grüner Felder und unter weitem blauem Himmel dargestellt war – Sophie hatte unter Agoraphobie gelitten und sich vierzig Jahre lang geweigert, ihre schmuddelige Wohnung zu verlassen, aber das Porträt log und erfand sie als eine Art naturbegeisterter Wolkenbeobachterin neu. Mein Lieblingsporträt war das von Anna als Verdis Violetta in den Augenblicken vor ihrem Tod, barfüßig und in einem durchsichtigen Nachthemd (das die Kritiker in gleichem Maße fasziniert und empört hatte), mit Augen, die einen flehentlich anblickten, wo man auch stand. Ich versteckte mich immer unterm Esszimmertisch, um ihrem Blick zu entfliehen, aber wenn ich nach einer Stunde oder mehr wieder hervorkroch, wartete sie immer schon vorwurfsvoll auf mich. Die anderen Gemälde waren fort, aber sie hatten etwas zurückgelassen – rechteckige Flecken vor einer sonnengebleichten Tapete. Am meisten vermisste ich das Bild von der wimmelnden Pariser Straße im Regen; Damen eilten einen von Bäumen gesäumten Boulevard entlang, während Männer im Zylinder schwarze Regenschirme umklammerten. Die Ladenfronten waren rot und blau, und die Damen hatten rosa Wangen. Ich war niemals in Paris gewesen, aber dies war mein Fenster auf die Stadt gewesen. Ich zuckte mit den Schultern – jetzt hatte es wohl keine Bedeutung mehr, dass die Bilder nicht mehr da waren; ich würde sie ohnehin nicht mehr sehen. Aber wenn man sein Zuhause verlässt, stellt man es sich immer gern so vor, wie es sein sollte oder wie es früher einmal war, komplett und unverändert. Wenn ich jetzt an unsere Wohnung denke, dann hänge ich jedes Bild wieder zurück an seinen angestammten Platz: Paris gegenüber dem Gemälde vom Frühstück auf dem Balkon (das Julian während ihrer Flitterwochen als Geschenk für Anna erworben hatte). Ich muss mich selbst daran erinnern, dass die Bilder schon vor jenem letzten Abend verschwunden waren, und dann sind die Wände, mit einem Wimpernschlag, wieder leer.
Die Stühle scharrten über den Parkettboden, als die Männer den Frauen auf ihre Plätze verhalfen. Kleider verfingen sich an Stuhlbeinen und unter Füßen, sodass sich in das Summen der Gespräche kleine gemurmelte Entschuldigungen mischten. Wir spähten alle in der Hoffnung über den Tisch, dass wir das amüsantere Ende der Tafel erwischt und nicht die anderen die besseren Tischnachbarn hatten. Herr Finkelstein schob sich seine Kippa zurecht, sodass sie geschickt das kahle Rund auf seinem Schädel bedeckte. Die Männer, schlicht in ihrem Schwarz und Weiß, nahmen zwischen den Damen Platz und sorgten dafür, dass keins der regenbogenbunten Kleider der Frauen direkt auf das nächste traf. Anna und Julian saßen sich an den Enden der Tafel gegenüber. Sie tauschten einen Blick, und Anna klingelte noch einmal mit dem Glöckchen. Sofort verstummten die Festgäste, und Julian erhob sich.
«Willkommen, meine Freunde. Diese Nacht ist tatsächlich anders als alle anderen. Morgen früh reist meine jüngere Tochter Elise nach England ab. Und in ein paar Wochen gehen Margot und ihr Mann Robert nach Amerika.»
Die Gäste lächelten Margot an und dann mich, ob voller Neid oder Mitleid, konnte ich nicht sagen. Julian hob seine Hand, und wieder erstarb das Summen des Gesprächs. Er war blass, und selbst in dem schummerigen Licht konnte ich Schweißtropfen auf seiner Stirn erkennen.
«Aber die Wahrheit ist, meine Freunde, dass wir bereits im Exil leben. Wir sind nicht länger Bürger in unserem eigenen Land. Und es ist besser, als Exilant unter Fremden zu leben als in der Heimat.»
Er setzte sich abrupt hin und wischte sich die Stirn mit der Serviette ab.
«Liebling?», sagte Anna vom anderen Ende der langen Tafel und versuchte dabei, den ängstlichen Unterton in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Julian starrte sie eine Sekunde lang an, und dann hatte er sich wieder gefangen, stand noch einmal auf und schlug die Haggada auf. Es war seltsam – bis zu diesem Jahr waren wir immer durch den Sederabend galoppiert. Es war zu einer Art Sport geworden, zu schauen, wie schnell wir das Ende erreichen konnten, indem wir rasant lasen und ganze Absätze wegließen, sodass wir in Rekordzeit bei Hildegards Abendessen angelangt waren, vorzugsweise bevor sie selbst überhaupt so weit war, was sie entrüstet schnaufen und grummeln ließ. An diesem Abend hielten wir inne und lasen in stillschweigender Übereinkunft jedes Wort. Vielleicht glaubten die Gottesfürchtigen unter uns an ihre Gebete und hofften, dass Er ihres Fleißes wegen Mitleid mit ihnen haben würde. Ich glaubte das nicht, aber als ich dem stämmigen Herrn Finkelstein lauschte, wie er auf Hebräisch sang, wobei im Eifer sein Doppelkinn zitterte, war ich hin und her gerissen zwischen dem Zorn auf seine Religiosität (ich war schließlich Julians Tochter) und einem Gefühl der Solidarität. Seine Worte züngelten um mich herum in der Dunkelheit, und vor meinem geistigen Auge sah ich sie leuchten wie die Lichter meines Zuhauses. Ich sah Annas Moses vor mir, einen Held der Leinwand (vielleicht James Stewart), der die Juden in eine rosenrote Wüste führte, und dann etwas Älteres, den flüchtigen Eindruck von einer Geschichte, die ich immer schon gekannt hatte. Peinlich berührt von Herrn Finkelsteins Gesang, fummelte ich mit meinem Buttermesser herum. Er blickte zum Himmel auf, bemerkte nicht den tropfenden Speichel an der Seite seiner feuchten Lippen, und ich wollte, dass er aufhörte, wollte, dass er nie aufhörte.
Wir murmelten die Segensworte über unseren Weinbechern, und der Jüngste, Jan Tibor, begann mit dem Ritual der vier Fragen: «Weshalb ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte? Warum essen wir in dieser Nacht bloß Matzen?»
Frau Goldschmidt schob sich die Lesebrille auf der Nase hoch und las die Antwort: «Matzen werden während des Pessachfestes als Symbol für das ungesäuerte Brot gegessen, das die Juden bei ihrer Flucht aus Ägypten bei sich trugen, weil keine Zeit war, ihr ungebackenes Brot aufgehen zu lassen.»
Margot schnaubte. «Ein jüdischer Haushalt mit leeren Schränken? Nicht einmal ein Laib Brot? Klingt in meinen Ohren sehr unglaubwürdig.»
Unterm Tisch trat ich sie, hart genug, um ihr einen blauen Fleck am Schienbein zu verpassen, und ich spürte ein gewisses Gefühl der Befriedigung, als sie zusammenzuckte.
«Elise, die nächste Frage», sagte Julian mit seinem Tonfall, der keinen Quatsch duldete. Er hielt einen Stängel Petersilie und einen Eierbecher hoch, der bis zum Rand mit Salzwasser gefüllt war.
Ich las aus dem zerschlissenen Buch auf meinem Schoß vor: «Warum essen wir in allen anderen Nächten alle möglichen Kräuter, aber in dieser Nacht nur Maror, bittere Kräuter?»
Julian legte das Buch umgedreht auf den Tisch und sah mich an, als hätte ich ihm tatsächlich eine Frage gestellt, auf die ich eine Antwort wünschte. «Bittere Kräuter erinnern uns an den Schmerz der jüdischen Sklaven und die Mängel unserer eigenen Existenz. Aber sie sind auch ein Symbol der Hoffnung und besserer Dinge, die da kommen mögen.»
Er sah nicht auf die Haggada, und als er fortfuhr, begriff ich, dass diese Worte seine eigenen waren. «Ein Mensch, der große Trauer und dann auch ihr Vergehen erlebt hat, erwacht jeden Morgen mit einem Gefühl der Freude über den Sonnenaufgang.»
Er nahm einen Schluck Wasser und tupfte sich den Mund ab. «Margot. Die nächste.»
Sie starrte ihn an und blickte dann hinunter auf ihr Buch. «Warum tauchen wir in allen anderen Nächten unsere Kräuter nicht in Salzwasser, in dieser Nacht aber zweimal?»
Julian tauchte seine Petersilie in den Topf mit süßem Charosset und beugte sich über den Tisch, um es an mich weiterzureichen. Ich steckte es mir in den Mund und schluckte die klebrige Mischung aus Apfel, Zimt und Wein herunter. Er tauchte ein zweites Stück Petersilie ins Salzwasser ein, gab es mir und sah mir zu, wie ich aß. Mein Mund prickelte von all dem Salz, und ich schmeckte Tränen und weite Reisen übers Meer.
Nach dem Essen stahlen Margot und ich uns auf den Balkon. Das schwere Rindergulasch war eins von Hildegards köstlichsten gewesen; ich wollte mich mit dem Geschmack von zu Hause vollstopfen, solange ich das noch konnte. Margot warf ein paar Kissen auf den Boden, und wir setzten uns nebeneinander und blickten auf die zitternden Blätter an den Wipfeln der Pappeln.
«Du wirst doch schreiben, mein Goldstück», sagte sie.
«Na, ich werd’s versuchen. Aber ich rechne damit, dass ich ziemlich viel zu tun habe, mit Bridgepartys, Picknicks auf dem Rasen und lauter solchen Sachen.»
Zu meiner Überraschung packte Margot meine Hand. «Du musst schreiben, Elise. Mach keine Witze.»
«Gut. Aber meine Handschrift ist schrecklich, und ich habe nicht vor, sie zu verbessern.»
«Das ist schon in Ordnung. Dann hat Robert wenigstens etwas Neues, worüber er sich beklagen kann. Und du weißt doch, wie froh ihn das macht.»
Die Litanei meiner Fehler hatte Robert ein neues Interessensgebiet beschert, und ich fand, dass er sich mir gegenüber etwas dankbarer zeigen könnte. Die Balkontür quietschte, und Anna trat heraus. Margot und ich rutschten zur Seite, um ihr auf unserem Kissenbett Platz zu machen. Ich zog mit den Füßen meine Schuhe aus, die begonnen hatten zu kneifen, und wackelte in der kühlen Abendluft mit den Zehen. Anna hatte mir die Zehennägel scharlachrot lackiert, und ich fand, dass sie ganz bezaubernd aussahen – es kam mir wie eine Schande vor, überhaupt Schuhe zu tragen.
«Du sollst die Perlen mitnehmen, Elise. Hildegard wird sie dir heute Abend noch in deinen Kleidersaum einnähen.»
«Nein, Mama, die gehören dir. Ich habe die Goldketten, falls ich Geld brauche.»
Ich griff nach Annas Hand und hoffte, sie würde schweigen. Lichter leuchteten in den Wohnungen gegenüber, und dort, wo die Vorhänge nicht zugezogen waren, beobachten wir, wie ein Marionettentheater aus Schatten die Rituale des Alltags aufführte: Dienstmädchen ließen Badewasser ein oder räumten mit Tabletts das Essgeschirr ab, eine ältere Dame machte drei Anläufe, um in ihr erhöhtes Bett zu steigen, ein Hund saß in einem Sessel am offenen Fenster, und ein Mann, der bis auf einen Hut splitternackt war, ging, die Hände im Nacken verschränkt, auf und ab. Dieser Aussichtspunkt war jahrelang Margots und mein Lieblingsort gewesen, und wir hatten zahllose Dramen verfolgt, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite abspielten. Als wir Kinder waren, zankten wir uns viel, aber die Dämmerung sorgte immer für ein unvermeidliches Patt, und dann schlichen wir auf den Balkon und betrachteten das Stück auf dieser Bühne. Es schien mir fast unvorstellbar, dass das ohne mich weitergehen könnte. Ich blickte trostsuchend auf meine wunderschönen, rot lackierten Zehen.
«Die Perlen gehören dir», sagte Anna. «Ich habe Margot die Saphire zur Hochzeit geschenkt, und es ist nur recht, wenn du die Perlen bekommst.»
«Hör auf», sagte ich wütend. «Gib sie mir in New York.»
Anna spielte mit ihrem Kleidersaum herum und sagte nichts.
«Warum willst du, dass ich sie jetzt schon bekomme?», fragte ich. «Du vergisst doch nicht, mich nachkommen zu lassen, oder? Wie kannst du mich vergessen? Du hast es versprochen, Anna. Du hast es versprochen.»
«Liebling! Beruhige dich, bitte.» Sie lachte über meinen Ausbruch. «Natürlich vergesse ich dich nicht. So etwas Albernes!»
«Elise, du wirst nicht so leicht vergessen», sagte Margot. «Du bist ihre Tochter und nicht ein Paar Handschuhe.»
Ich verschränkte meine Arme über der Brust, fröstelte in der frischen Nachtluft und kämpfte gegen den Drang an zu weinen. Meine Familie verstand mich einfach nicht. Sie mussten vielleicht fort, aber sie hatten immer noch einander. Nur ich war allein. Ich machte mir Sorgen, dass sie mich doch vergessen könnten, oder schlimmer noch, dass sie feststellten, dass es ihnen ohne mich besser gefiel.
Ich schob mich, gierig nach ihrer Wärme, von meinem Platz auf den Kissen näher an Margot heran.
«Oh, guck mal», sagte sie und zeigte auf den Balkon im obersten Stockwerk, wo eine schmucke Dienstmagd in Uniform einen lockigen Pudel über den Rand der Brüstung hielt, damit er pinkeln konnte. In einem gelben Bogen regnete es auf das Trottoir hinab.
Anna zischte missbilligend. «Tz, habt ihr schon mal so viel Faulheit gesehen!»
«Ich finde das hochoriginell, dafür verdient er Applaus», sagte ich.
«Der liebe Gott möge der Familie beistehen, bei der du landest», sagte Margot.
Meine Antwort wurde abgewürgt, denn Julian rief uns zu, dass wir reinkommen sollten: «Ihr Lieben, der Fotograf ist da.»
Ich muss mich immer wieder fragen, ob ich mich vielleicht wegen des Fotografen so lebhaft an diesen letzten Abend erinnere. Wir versammelten uns alle im Salon, die Tische wurden an die Wände gerückt und die Stühle kreuz und quer aneinandergereiht. Lilly Roth benutzte ihren Federkopfschmuck, um uns auf unsere Plätze zu dirigieren, und bellte die Herren an, damit sie ihre Zigarren und Zigaretten ausmachten. Margot und ich wurden auf niedrigen Hockern in der Nähe von Julian und Anna platziert. Ich trug immer noch keine Schuhe und versteckte meine nackten Füße unter meinem langen Kleid. Margot und ich kauerten verschwörerisch beieinander und kicherten, während die älteren Damen zauderten und zankten und darauf bestanden, bei ihren Männern oder Söhnen oder weiter hinten sitzen zu dürfen, wo man ihre wabbeligen Hängebacken nicht so deutlich sah.