Als ich noch unsterblich war - Christoph Ransmayr - E-Book

Als ich noch unsterblich war E-Book

Christoph Ransmayr

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Beschreibung

Wer in den zwölf weißen Bänden von Christoph Ransmayrs »Spielformen des Erzählens« nach dem klassischen Ton großer Erzählungen sucht, wird jene 13 Geschichten entdecken, die nun erstmals in einem Band versammelt sind. Die Entdeckungsreise führt von Irland in den Transhimalaya, aus dem oberösterreichischen Bergland zu den Bürgerkriegsschauplätzen Sri Lankas oder in die Sahara, in den Frieden afrikanischer Nebelwälder und ins Südchinesische Meer. Das Leben selbst bestimmt den verführerischen Rhythmus der Erzählungen, das Entstehen und die Vergänglichkeit, den Aufbruch in die Welt und die Heimkehr ins Vertraute. In Christoph Ransmayrs Worten, durch seinen scharfen Blick, verwandelt sich die Welt in eine, die farbenprächtiger, detailreicher und ein wenig größer zu sein scheint, als wir sie kennen. Inhaltsverzeichnis »Als ich noch unsterblich war«: Vorwort 12a 1 Als ich noch unsterblich war 2 Am See von Phoksundo 3 Der Sänger 4 Last Picture Show 5 Strahlender Untergang 6 Floßfahrt 7 Sarah Rotblatt, Schönheitskönigin 8 Mädchen im gelben Kleid 9 Arznei gegen die Sterblichkeit 10 Die dritte Luft 11 Die Verbeugung des Riesen 12 An der Bahre eines freien Mannes 13 Damen & Herren unter Wasser

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Seitenzahl: 195

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Christoph Ransmayr

Als ich noch unsterblich war

Erzählungen

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Entdeckungsreise der 13 Geschichten dieses Bandes bringt uns von Irland in den Transhimalaya, aus dem oberösterreichischen Bergland zu den Bürgerkriegsschauplätzen Sri Lankas, durch die Sahara in den Frieden afrikanischer Nebelwälder und bis ins Südchinesische Meer.

 

»Was für eine Kunst! Weltliteratur, im bescheidenen wie im anmaßenden Verständnis des Begriffs.«

Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

»Man kann in seinen Büchern ins Kino gehen, so sehr sind sie Wort für Wort fein ziseliert.«

Jörg Magenau, die tageszeitung

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit«, »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erscheinen Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« und »Arznei gegen die Sterblichkeit«, im Juli 2022 »Jägerin im Sonnenbad. Dreizehn Balladen und Gedichte«. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne.

Inhalt

12a, ein Vorwort

Als ich noch unsterblich war

Am See von Phoksundo

Der Sänger

The Last Picture Show

Strahlender Untergang

I Nachrichten aus dem Tanezrouft

II Lob des Projekts

III Das Terrarium

IV Strahlender Untergang

Floßfahrt

Sarah Rotblatt, Schönheitskönigin

Mädchen im gelben Kleid

Arznei gegen die Sterblichkeit

Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer

Die Verbeugung des Riesen

An der Bahre eines freien Mannes

Damen & Herren unter Wasser

Nachweise der Texte

12a, ein Vorwort

13! Die verbotene Dreizehn. In den Mietshäusern der Wiener Gründerzeit wurde über Wohnungstüren, die der Reihenfolge nach die Zahl 13 tragen sollten, zur Abwendung jedes mit der Dreizehn verbundenen Unheils 12a gesetzt, bevor die Reihe über diese Tarnung hinweg zur 14 weitersprang.

Möglicherweise habe ich von dieser magischen Maßnahme während meiner Reisen und aller Jahre im sogenannten Ausland, in denen ich gelegentlich nach Wien zurückkehrte, tatsächlich von dieser Tarnzahl über meiner Wohnungstür profitiert. Denn wäre zum Beispiel auf Visabescheinigungen für Tibet, Kambodscha oder das hocharktische Franz-Joseph-Land als Apartmentnummer 13 unter meiner Wiener Adresse zu lesen gewesen, hätten die Dämonen der bereisten Landstriche möglicherweise leichtes Spiel mit meinem Untergang gehabt.

Nun habe ich mich entschieden, 12a Geschichten in den vorliegenden Band aufzunehmen, die allesamt aus einer dem breitgefächerten Formenreichtum des Erzählens gewidmeten Weißen Reihe stammen (die mittlerweile auf zwölf schmale Bände angewachsen ist). Ich habe diese offene Reihe 1997, dem Erscheinungsjahr ihres ersten Bandes, Unterwegs nach Babylon – Spielformen des Erzählens genannt.

Denn der Weg ins vielsprachige Babylon sollte andeutungsweise an die grenzenlose Vielfalt erinnern, in der Geschichten erzählt werden können – als Reden, als Dramen, Märchen und Bildergeschichten, als Tiraden, Balladen oder autobiographische Bekenntnisse … Und die aus aller logischen Folge springende Zahl 12a soll hier für die Unmöglichkeit stehen, die Vielzahl der Erzählformen auch nur annähernd zu bestimmen, und soll jedem, der sich schreibend, lesend oder hörend ins Innere einer Geschichte aufmachen will, alle Freiheit zugestehen.

Nachdem diese Weiße Reihe weder abgeschlossen ist und schon gar nicht in einem Sammelband oder einer Taschenbuchausgabe zusammenfaßt – und auch die Leserschaft nicht gedrängt werden soll, einer Sammelempfehlung von Band zu Band zu folgen, stellt Als ich noch unsterblich war eine Auswahl jener Geschichten aus Babylon vor, die dem klassischen und populärsten Erzählton am nächsten kommen. Denn auch wenn sich in dieser Sammlung strophisch gegliederte, an Epen erinnernde Nachrichten etwa von einer Entdeckung des Wesentlichen finden, verweisen gerade ihre Strophen auf eine der Urformen allen Erzählens – den Gesang.

 

Im Sommer der Zusammenstellung dieses Bandes haben übrigens zwei Hafner, Vater und Sohn Alfred und Moritz Spiessberger aus dem oberösterreichischen Salzkammergut, das hoch über dem Traunsee gelegene Haus meiner Frau Judith und mir mit einem weißen Turmkachelofen ausgestattet. Ich gestehe: nicht streng klimaneutral, aber einer jahrhundertealten lokalen Tradition entsprechend. Den weißen Turm sollte als eine Art Wappentier eine Keramikskulptur schmücken, ein Schabrackentapir, den der junge Hafner aus dem Feuer des Brennofens erscheinen ließ und damit einer Erinnerung an indonesische Routen meiner Reisen Gestalt verlieh. Das Resultat dieser Flammengeburt kam mir aber als bloßer Schmuck eines Ofens schließlich unterbesetzt vor, also ließ ich den Tapir mit gesenktem Kopf auf dem Steinboden unseres Hauses grasen und setzte das flammende Bild seiner Entstehung auf den Umschlag dieses Bandes. Denn ein Keramiker und Ofensetzer, der vor den blauen Mauern der Höhenzüge des Toten- und des Höllengebirges tief unter dem tatsächlichen Horizont weidende Tiere in lebensechte Skulpturen verwandelt und sich in einem Winter der Zukunft aufmachen will, die Weidegründe seiner Schöpfungen aufzusuchen, könnte der Held einer Geschichte sein, die nach dem Überspringen der Dreizehn die Zahl 14 trägt.

 

Eygalières/Provence, im Herbst 2023

CR

Als ich noch unsterblich war

Als ich noch unsterblich war … und der Tod nur ein Rätsel, das stets die anderen betraf, aber weder mich noch meine Brüder, meine Schwester, meine Eltern, ja keinen einzigen meiner Nächsten und Liebsten, sondern immer nur die anderen – Nachbarn, Bauern, Handwerker meines Dorfes, die mit gefalteten, von Rosenkränzen umwundenen Händen und seltsam wächsernen Gesichtern in ihren offenen Särgen auf einem Katafalk der Friedhofskapelle aufgebahrt lagen.

Der Kirchenchor sang jedesmal Näher mein Gott zu dir, bevor die Wachsfiguren zu ihren Gräbern im Schatten der Kirche getragen wurden, lehmigen Gruben, die mir als Tunnels oder Stollen erschienen, die sowohl in die Abgründe des Himmels als auch in jene der Hölle führen konnten …

Als ich noch unsterblich war und meine Tage als kindlicher Analphabet fern aller Stundenpläne und Schulordnungen in märchenhafte Spiele vertieft verbrachte, deren chaotische Regeln ich allein bestimmen durfte, wurden mir manchmal selbst die Mahlzeiten zum Spiel. Dann saß ich vor einem weißen, mit klarer Suppe gefüllten Porzellanteller mit brüchigem Goldrand und fischte mit meinem Löffel nach den vollgesogenen, in Strudeln dahinwirbelnden Elementen der Suppeneinlage – zierlichen Buchstaben aus Teig von der Größe einer Erbse oder einer Johannisbeere, die ich dann entlang des Tellerrandes zu halbkreisförmigen Kolonnen mit wechselnden Bedeutungen anordnete:

Einmal war mein vom Fett der Suppe wie lackierter Fang eine Tierkarawane, beispielsweise auf dem Weg zu den Fallreeps der Arche Noah – denn auch wenn ich noch lange nicht lesen konnte, wußte ich doch aus den Erzählungen einer Magd, die jeden Freitag gemeinsam mit meiner Mutter auf einem Rutschbrett kniend die Holzböden unserer Wohnung mit Reisbürste und Schmierseife schrubbte, daß die Welt, auch unser Dorf, alle Dörfer, schon einmal von einem wütenden, allmächtigen Gott mit einer ungeheuren Flut von allen Menschen reingewaschen und nur ein Mann namens Noah verschont worden war. Nur dieser Noah hatte einer himmlischen Warnung geglaubt und rechtzeitig eine Arche gebaut, mit der er sich und seine Frau und je ein Paar unschuldiger Tiere vor dem Untergang retten konnte.

Am Mittagstisch, an dem stets ein unsichtbarer Sohn dieses gefährlichen, alle Ströme und Meere beherrschenden Gottes neben mir saß – O Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast –, konnte unter dem Eindruck der Sintfluterzählungen der Magd beispielsweise das aus meiner Buchstabensuppe gefischte O zur Schildkröte werden oder zu einem Karpfen, das S zu einer Schlange, einem Aal, einer Eidechse, das W zum Schmetterling und das B zu einer Katze, die auf der Lauer saß … Ein anderes Mal wiederum glänzte das in Schlachtordnung gereihte Teigalphabet als Reiterarmee in fettschimmernden Rüstungen oder als Horde heranjagender Indianer, deren Stammesführer, ein Q, einen blutigen Dolch im Gürtel trug. Auch in ein Elfenheer, das sich an der Goldrandküste eines unter meinen Löffelschlägen stürmisch gewordenen Meeres zum Kampf gegen anbrandende, in Teufelsquallen verzauberte Fettaugen formierte, hatte ich meine Teigsymbole gelegentlich verwandelt.

Meine Mutter, eine liebevolle, mit jahrhundertealten Märchen und Liedern vertraute Frau, die das ihrem Leben fehlende Glück nach schmerzlichen Enttäuschungen allein in der Erziehung ihrer vier Kinder suchte, duldete, ja förderte alle diese Verwandlungen, solange dabei ein Grundgesetz nicht verletzt wurde: Die Suppe sollte über allem Zauber nicht kalt werden. Sie brachte von jedem einmal monatlich unternommenen Großeinkauf im Dorfladen einen neuen, knisternden Zellophansack voll Teigbuchstaben mit, zwischen denen sich zu meiner Begeisterung manchmal auch noch die Larven von Lebensmittelmotten wanden, blinde, hilflose Würmchen, die inmitten zahlloser ungekochter Buchstaben ihre Verwandlung in geflügelte, von der Schwerkraft befreite Luftwesen erwarteten. Meine Mutter beließ mir lange Zeit jede Freiheit, das schwimmende, eßbare Alphabet als Symbolsammlung für alles zu nehmen, was mir gerade durch den Kopf huschte und ein W ebensogut zum gaukelnden Zitronenfalter wie auch zum dornenbewehrten Alien aus den Tiefen des Sternenhimmels erklären konnte.

Erst allmählich und Teigzeichen für Teigzeichen begann sie, mir wie ein kostbares, nur auserwählten Eingeweihten vorbehaltenes Geheimnis zu verraten, ja, zu verraten, daß ein O nicht bloß eine Schildkröte und ein S nicht bloß eine Schlange sein, sondern jedes einzelne, aus meinem goldenen Meer gefischte Zeichen eine Bedeutung haben konnte, die mir zunächst recht bescheiden erschien, dann aber weit, weit über den symbolischen Zauber hinausreichte: Offensichtlich konnte jeder, der über einen Schlüssel zum Verständnis dieses Geheimnisses verfügte, seinen vom Löffel auf den Porzellanstrand gekippten Fang nicht bloß zu Reiterkolonnen oder Elfenheeren formieren, sondern zu Worten, Namen, ja ganzen Sätzen! und so alles, was er in dieser Welt sah, was er hörte, dachte oder an Wünschen an ein weihnachtliches, Geschenke überbringendes Himmelskind oder eine Pralinen spendende Tante auflisten wollte, in Sprache, in Schrift verwandeln. Ein einziges, zu Buchstaben aus Teig oder Tinte geronnenes Wort vermochte die geheimsten Gedanken seines Schreibers nicht bloß über Suppenteller und Küchentische hinweg, über Gebirge, Meere und Kontinente tragen, sondern ihn über die Zeit erheben und noch lesbar bleiben, wenn er selber bereits seit Jahren oder Jahrhunderten wieder verstummt war.

Natürlich war meine Enttäuschung groß, als ich vor meinem Suppenteller auch lernen mußte, daß Schriftnicht bloß aus einem einzigen, sondern aus unzähligen Alphabeten bestand, von denen ich mit dem griechischen und kyrillischen sogar einige im Bücherregal meines Vaters entdecken sollte, auf dem die Abenteuer des Odysseus im Homerischen Original und die Helden Dostojewskis, Gogols, Turgenjews oder Tolstois in ihrer russischen Fassung noch lange – zumindest was das Original anbelangte – vergeblich auf mich warten mußten.

Aber ich lernte an meinem Porzellanstrand zumindest die Muttersprache lesen und schreiben, ordnete meinen Fang aus dem Suppenozean zu immer neuen Worten und empfand ein seltsam machtvolles Glück bei dem Gedanken, daß ich, was in manchen Märchenbüchern als endlose Wasserwüste abgebildet war oder sich unter Stürmen zu tosenden Wellengebirgen erhob und selbst die größten Inseln und Kontinente auf dem schartigen Globus der Dorfbibliothek wie Flöße erscheinen ließ, nun, als Eingeweihter in das Geheimnis der Schrift, mit vier aus Teig geformten Buchstaben in das Wort MEER verwandeln konnte. Was an die Küsten der wirklichen Welt brandete, mochte ganze Flotten tragen und Eisberge und schäumende Züge von Walen, Delphinen und fliegenden Fischen beherbergen und war doch, sprach oder schrieb man von diesem Wasserreich, mit nur vier Buchstaben in ein kurzes, noch auf einem Fingernagel Platz findendes Wort zu bannen … Und für den Zauber dieser Metamorphose bedurfte es nicht mehr als jener Kräfte, die jeder Mensch in sich selber trug und die in seinem Kopf nur darauf warteten, eingesetzt zu werden und die Welt und alles, was noch unausgesprochen war, zur Sprache zu bringen.

Wenn ich meine Lettern auf dem Tellerrand gelegentlich zu einem Satz wie ICH BIN NICHT HUNGRIG auslegte, dann hätte ich, sagte meine Mutter, meine erste Lehrerin, bloß ein weiteres Beispiel dafür erbracht, daß die bisher größte, allergrößte Erfindung der Menschheit nicht das Rad, nicht die Rakete oder gar das Schießpulver gewesen sei, sondern die Erfindung der Schrift.

Daß man im Wort Meer nicht ertrinken, in das Wort Abgrund nicht fallen und im Wort Packeis nicht erfrieren konnte, schenkte dem Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache etwas seltsam Friedliches, so, als ob man sich mit Büchern und anderen Schriften besser als mit jedem Unverwundbarkeit oder Unsichtbarkeit schenkenden Zauber wappnen und bereitmachen konnte, aus dem Inneren von Märchen und Erzählungen hinauszutreten in die donnernde, anrollende Welt und dort zu jagen, zu lieben, Städte zu bauen – oder Krieg zu führen. Denn Worte waren, auch das lernte ich am Porzellanstrand, Worte waren wie die Menschen, die sie aussprachen, schrieben oder lasen – nicht nur gut; sie konnten sein wie Luzifer, der Lichtbringer, der aus dem Himmel in die Finsternis gestürzt und vom Engel zum Satan geworden war.

Je länger ich saß und dabei manchmal die Suppe doch kalt werden ließ und mit meinem Tagesfang spielte, desto weiter jagten die Grenzen des Reiches der Sprache in alle Himmelsrichtungen davon und ließen, was mit einer Handvoll Buchstaben zu erreichen war, grenzenlos erscheinen. Als ich erfuhr, daß es eine Sprache gab, das Griechische, in der mein eigener Vorname Christusträger bedeutete, war ich nicht etwa stolz, sondern besorgt, daß auch dieser Name sich im rasenden Wandel der Bedeutungen wie Luzifers Name in sein Gegenteil wenden und irgendwann Teufelsträger heißen und mir ein Höllenwesen mit Glutaugen und hängender Zunge auf die Schultern setzen würde. Aber meine Mutter sagte: Es liegt an dir. Du hast mit einem Löffel voll Buchstaben dein Leben, die Welt in der Hand.

Als meine Mutter, meine erste Lehrerin, kaum sechzigjährig, an einem heißen Augusttag starb, zart und zerbrechlich zwischen riesigen Kissen und gezeichnet von den Qualen und Metastasen einer wütenden Krankheit – und ich an ihrem Bett verzweifelt um Worte rang, mit denen ich eine Brücke zu der schon beinah Entschwundenen schlagen wollte, öffnete sie plötzlich die Augen, hob langsam, zu Tode erschöpft, ihre Hand und legte ihren Zeigefinger wortlos auf ihre weißen Lippen: Still. Still. Sei still. Magst ruhig sein. Und beließ, als sie die Augen wieder schloß, dieses Zeichen auf ihrem Mund, als ob sie in einem letzten Traum noch einmal an unseren Porzellanstrand zurückkehren und dort ihren vom Wirbel der Buchstaben betörten Schüler daran erinnern wollte, daß bei aller Kostbarkeit und allem Glanz des Zaubers der Verwandlung von etwas in Sprache, in Schrift, der ungeheuerliche und unfaßbare, in den Abgründen eines grenzenlosen Raumes verlorene Rest doch – Schweigen war.

Am See von Phoksundo

An einem eisigen Februartag, es war der Neujahrstag der Tibeter, fiel ich am See von Phoksundo aus der Zeit. Das tagelange Schneetreiben hatte endlich aufgehört, der Wind hatte sich gedreht, war aber kaum schwächer geworden, als ich das fast viertausend Meter über dem Meer im westlichen Himalaya gelegene Seeufer in der verwehenden Spur eines Freundes erreichte. Wir durchwanderten damals das Niemandsland zwischen Tibet und Nepal auf der Suche nach Klöstern und Einsiedeleien der vorbuddhistischen Bon-Religion und fanden seit Tagen in den Hütten und Höhlen des Stammeskönigtums Dolpo Schutz vor dem Schnee. Aus den Tälern ringsum drang immer wieder das Donnern von Lawinen.

Die Neujahrsnacht hatten wir in einem Winterlager von Halbnomaden verbracht, die in rußigen Steinhütten darauf warteten, daß der Frühling die Pässe freigeben und ihnen erlauben würde, mit ihren Yaks zu den großen Salzseen und Weiden Tibets weiterzuziehen. Wir wollten nicht warten. Wir hatten keine Karawane schwerbeladener Yaks zu führen, keinen Hausrat und keine schwarzen Wollzelte durch das Gebirge zu schleppen, sondern nur unsere Rucksäcke. Einen Tagesmarsch vor uns, irgendwo in den Schneewolken, sollte der See von Phoksundo liegen und an seinem Ufer ein Dorf, auch ein Kloster: bewohnt? oder verlassen? wie die meisten hochgelegenen Siedlungen um diese Jahreszeit – das wußten auch unsere Gastgeber nicht. Als am Vormittag hoch über den jagenden Wolken ein sonnenbeschienener Gletscher wie ein schwebender Eisberg erschien, verließen wir das Lager und machten uns auf den Weg.

Der Schnee in den Höhen des Sees von Phoksundo lag so tief, daß wir bis über die Knie, manchmal bis an die Hüften darin versanken. Solange kein Hindernis gemeinsame Anstrengungen erfordert oder in vereisten Felspassagen einer den anderen am Seil sichern muß, geht, stapft, steigt auf solchen Wegen jeder seinen Kräften gemäß und ist daher oft allein.

Mein Freund war nach einer Stunde außer Sichtweite, erschien gelegentlich als kleiner werdende Gestalt hoch in den Steilhängen wieder, verschwand in den Wolken. Wenn ich innehielt, um Atem zu schöpfen, sah ich die Serpentinen unserer Spur, die sich in der Tiefe und in den Wolken verloren; aus dem heller, ja blau werdenden Himmel lösten sich nur noch vereinzelte Schneeschauer. Die Fetzen einer zerreißenden Schlechtwetterfront trieben über meinem Kopf und zu meinen Füßen dahin.

Es war während einer dieser Atempausen, als ich in einem Wolkenfenster den Mann bemerkte, der uns folgte. Er kümmerte sich nicht um unsere Spur, sondern stieg in der Fallinie hoch. Ich erkannte ihn an seinem Fellmantel und an dem roten Schal, den er wie einen Turban in sein langes Haar gewunden trug: Es war unser Gastgeber der vergangenen Nacht. Er winkte mir zu, rief einen Gruß, kam näher, blieb dann aber in einigem Abstand stehen und setzte sich erst wieder in Bewegung, als auch ich weiterging. Wollte er in die Höhe? Zum See? Ohne Gepäck? Ohne Tragtier? Er ging uns nach, ging aber offensichtlich lieber allein. Um uns den Weg zu zeigen? Uns zu warnen? Wenn ich stehenblieb und auf ihn warten wollte, blieb auch er stehen und winkte mir zu. Was immer seine Absichten waren, ich verstand sie nicht.

Schon unsere Tauschgeschäfte am Morgen waren langwierig gewesen. Yakbutter hatten wir an seinem Feuer getauscht, Dörrfleisch, geröstete Gerste und Tee gegen ein Taschenmesser und ein Paar Handschuhe und hatten dann in einer kleinen, blinden Glasflasche trüben Reisschnaps als Geschenk angenommen, einen Trunk, an dem wir uns entgegen seinen drängenden Aufforderungen nicht schon vor dem Aufbruch, sondern erst am Ziel wärmen wollten. Ich trug die Flasche in ein Hemd eingeschlagen in meinem Rucksack.

Die Spur meines Freundes führte am Fuß einer mit den Glasschleiern gefrorener Wasserfälle verhängten Felswand immer steiler nach oben und endlich zum Eingang eines flacheren, von Tränenkiefern bewachsenen Hochtales, das zwischen ragenden Bergkämmen wie zwischen Staumauern lag. Unter einem der Bäume, die schwer an ihrer Schneelast trugen, hielt ich Rast. Erst jetzt setzte sich auch mein bisher unnahbarer Begleiter zu mir in den Schnee, nahm eine Handvoll getrockneter Früchte und ein Stück Dörrfleisch an, lachte, forderte mich wieder zum Trinken auf, indem er die Form des blinden Glasfläschchens in die Luft zeichnete, und trank dann aber nur Yakbuttertee aus meiner Stahlflasche und keinen einzigen Schluck Reisschnaps. Als ich weiterging, kam er nach und fiel in den alten Abstand zurück. So blieb jeder für sich.

Wie still und verheißungsvoll und immer noch fern der See von Phoksundo nach Stunden endlich im Talschluß erschien. Ein schwarzgrüner Spiegel, der das Bild von Wolken und verschneiten Gebirgszügen in einen schon abendlichen Himmel zurückwarf und nur eine Gruppe blutroter Häuser an seinem Ufer behielt, mit Gebetsfahnen geschmückte Pagodendächer, über denen noch leichtere, noch schönere Fahnen wehten: Rauch! Dorf und Kloster von Phoksundo waren bewohnt!

Gewiß, das Ufer lag unter Schneewehen, und in den Buchten trieben Eisrinden, aber wer lange durch ein winterliches Hochgebirge gegangen ist, der sieht mehr, als er sieht. Der verwandelt dürres, gefrorenes Strauchwerk in Rosen und freut sich auf eine Zuflucht, auch wenn sie rußgeschwärzt ist, freut sich auf die Gesellschaft von Menschen, ein Feuer, Schutz vor der Nacht. Mein Fernglas zeigte mir Rauchfahnen über jedem Gebäude am See.

Es sollte noch fast eine Stunde dauern, bis ich die Uferhügel endlich erreichte. Aber die ersten Häuser, an die ich kam, waren die Häuser von Toten – Reliquienschreine, Tschorten, die nur die Asche verbrannter Heiliger und Mönche – den Staub der Seelenwanderung – bewahrten. Wie Zeltschnüre waren von den Kegeldächern dieser Steinbauten lange Wimpelgirlanden ins Eis gespannt, Hunderte, mit Gebeten und den Namen des Ziels und Endes aller Welt beschriebene Fähnchen, die hartgefroren im Wind schlugen.

Und dann die Rauchfahnen über den Flachdächern des Dorfes: Es war Schnee. Rieselnder, kristallfeiner Schnee, der in Schleiern von den Dächern wehte wie Rauch. Die Häuser waren kalt und verschlossen. Keine Menschen. Keine Zuflucht. Das Dorf war verlassen.

Vor diesem enttäuschenden Anblick holte mein Begleiter mich endlich und wie zum Trost ein, zog mich am Ärmel und wies lächelnd auf einen Tschorten, der auf einer kahlen Hügelkuppe stand. Dort entdeckte ich meinen Freund damit beschäftigt, das Totenhaus zu vermessen und zu zeichnen. Er war erleichtert, mich endlich zu sehen. Noch eine Stunde, und er hätte sich auf die Suche nach mir gemacht. Die Nacht würde klar und kälter werden als die vergangene.

Zu dritt saßen wir dann um ein Feuer in einem hallenden Raum, in dem eine Gebetsmühle, die von Pilgern und Mönchen bis in alle Ewigkeit gedreht werden sollte, stillstand. Ein abgegriffenes Wörterbuch und einige Brocken Tibetisch, die mein Freund verstehen konnte, halfen uns, hier allmählich zu begreifen, warum uns unser Gastgeber durch den Tiefschnee ins Hochgebirge nachgegangen war: Die Glasflasche!, er wollte seine Flasche zurück. Es war das einzige Gefäß aus Glas, das er besaß. Den Reisschnaps, sein Geschenk, sollten wir trinken, er wollte keinen einzigen Schluck davon, aber das blinde Fläschchen mußte zurück in sein Haus.

Als wir endlich verstanden, was dieser Mann von uns wollte, das Fläschchen mit einigen Zügen leerten und in seine Hände zurücklegten und ihm doch mehr geben wollten als nur ein Stück blindes Glas, ein Geschenk, und unsere Rucksäcke durchwühlten, kam uns ein Schirm in die Hände, einer von jenen chinesischen Nylonschirmen, wie sie Rucksackträger verwenden, die auf dem Anmarsch zu den großen Bergen des Himalaya im Regen und Schnee der Monsunzeit einigermaßen trocken bleiben und nicht in einen Mantel gehüllt auch noch schweißnaß werden wollen. Diesen Schirm schenkten wir unserem Begleiter.

Ich habe selten einen so überraschten, ungläubigen und schließlich glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht eines Menschen gesehen. Strahlend nahm er den Schirm entgegen und verneigte sich. Obwohl von der Sonne nur noch ein roter Widerschein über den Bergkämmen zu sehen war, hielt es den Beschenkten dann nicht mehr länger. Er wollte zurück in die Tiefe, nach Hause; lief aus dem hallenden Raum ins Freie, spannte den Schirm dort auf und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm wie triumphierend hoch über den Kopf. Die leere Flasche in der einen Hand, in der anderen den Schirm, sprang, ja tanzte er dann in seiner eigenen Spur aus der Verlassenheit zu den Seinen zurück. Und als ob dieser Schirm, filigrane Zuflucht und kleinstes Dach eines Menschen auf seinem Weg, seinen Zweck und Sinn erst in diesem Augenblick aus den Abendwolken herabbeschworen hätte, begann es, aus einem heiteren, im Süden schon sternklaren Himmel wieder zu schneien.

Der Sänger

Ich erinnere mich an einen Mann, der am Ende einer lauten Beschimpfung des Meeres und aller Plagen der Fischerei auch noch seinen Kühlschrank verfluchte und plötzlich begann, seine Klagen und Flüche zu singen!

Eben hatte er noch schimpfend an der Theke eines muffigen Pubs an der Straße zum Healy Paß in der irischen Grafschaft Cork gestanden und mit seinen Stiefelabsätzen den Takt seiner Flüche in den mit Sägemehl bestreuten Boden gestampft – als er sich unvermutet vom Tresen abstieß, einen Schritt zurücktrat, von nun an nur noch gelegentlich den Arm ausstreckte, um den Schanktisch mit den Fingerspitzen kurz zu berühren, als wollte er durch den flüchtigen Kontakt mit dem massiven Teakholz seine alte Standfestigkeit wiederherstellen – und sang:

Sang Strophen von einem vergeblich gegen die Wärme der späten Herbsttage anbrummenden Kühlaggregat …, von einem durchgeschmorten Kontakt und dem damit verbundenen Kurzschluß, von einer Schmelzwasserpfütze, in der er diesen verfluchten fridge