Der fliegende Berg - Christoph Ransmayr - E-Book

Der fliegende Berg E-Book

Christoph Ransmayr

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Beschreibung

Christoph Ransmayrs epischer Roman über die Suche nach dem vermeintlich letzten Weißen Fleck der Weltkarte. Den Geschichten dieses Erzählers zu folgen, bedeutet beispielsweise am Gipfel des Everest die atlantische Brandung zu hören. ›Der fliegende Berg‹ ist die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands in den Transhimalaya, nach dem Land Kham und in die Gebirge Osttibets aufbrechen, um dort, wider besseres (durch Satelliten und Computernavigation gestütztes) Wissen, einen noch unbestiegenen namenlosen Berg zu suchen, vielleicht den letzten Weißen Fleck der Weltkarte. Auf ihrer Suche begegnen die Brüder nicht nur der archaischen, mit chinesischen Besatzern und den Zwängen der Gegenwart im Krieg liegenden Welt der Nomaden, sondern auf sehr unterschiedliche Weise auch dem Tod. Nur einer der beiden kehrt aus den Bergen ans Meer und in ein Leben zurück, in dem er das Rätsel der Liebe als sein und seines verlorenen Bruders tatsächliches, lange verborgenes, niemals ganz zu vermessendes und niemals zu eroberndes Ziel zu begreifen beginnt. Verwandelt von der Erfahrung, ja der Entdeckung der Wirklichkeit, macht sich der Überlebende am Ende ein zweites Mal auf den Weg.

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Seitenzahl: 313

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Christoph Ransmayr

Der fliegende Berg

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Judith, für dich. [...]Notiz am Rand1 Auferstehung in Kham. Östliches Tibet, 21. Jahrhundert.2 Horse Island. Das Erbe in West Cork.3 Schlaflos am Yangtsekiang. Schlaflos in den Cahas.4 Ankunft der Meermenschen. Ein Täuschungsmanöver.5 Master Kaltherz. Billard im Schnee.6 Sie sagt ihren Namen. Ort ohne Träume.7 Der fliegende Berg: Nyemas Geschichte.8 Am Vogelberg. Der Vermummte. Eine Parade im Schnee.9 Die Himmelsbraut. Glückliche Rückkehr. Warnungen.10 Am See. Die Erfindung der Schrift. Lehrstunden.11 Sternbilder. Der Untergang eines Riesen.12 Alleingänge. Ein Hüter seines Bruders.13 In der Tiefe. Trost der eigenen Kraft.14 In der Höhe. Himmelserscheinungen.15 Drogsang oder die schöne Weide. Im Basislager.16 Vorläufer, Nachläufer. Eine Seilschaft.17 In Gefangenschaft. Das Geschenk.18 Epilog: Schritte.

Judith, für dich.

Notiz am Rand

Seit die meisten Dichter sich von der gebundenen Rede verabschiedet haben und nun anstelle von Versen freie Rhythmen und dazu einen in Strophen gegliederten Flattersatz verwenden, ist da und dort das Mißverständnis laut geworden, bei jedem flatternden, also aus ungleich langen Zeilen bestehenden Text handle es sich um ein Gedicht. Das ist ein Irrtum. Der Flattersatz – oder besser: der fliegende Satz – ist frei und gehört nicht allein den Dichtern.

CR

1 Auferstehung in Kham. Östliches Tibet, 21. Jahrhundert.

Ich starb

6840 Meter über dem Meeresspiegel

am vierten Mai im Jahr des Pferdes.

Der Ort meines Todes

lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel,

in deren Windschatten ich die Nacht überlebt hatte.

Die Lufttemperatur meiner Todesstunde

betrug minus 30 Grad Celsius,

und ich sah, wie die Feuchtigkeit

meiner letzten Atemzüge kristallisierte

und als Rauch in der Morgendämmerung zerstob.

Ich fror nicht. Ich hatte keine Schmerzen.

Das Pochen der Wunde an meiner linken Hand

war seltsam taub.

Durch die bodenlosen Abgründe zu meinen Füßen

trieben Wolkenfäuste aus Südost.

Der Grat, der von meiner Zuflucht

weiter und weiter

bis zur Pyramide des Gipfels emporführte,

verlor sich in jagenden Eisfahnen,

aber der Himmel über den höchsten Höhen

blieb von einem so dunklen Blau,

daß ich darin Sternbilder zu erkennen glaubte:

den Bärenhüter, die Schlange, den Skorpion.

Und die Sterne erloschen auch nicht,

als über den Eisfahnen die Sonne aufging

und mir die Augen schloß,

sondern erschienen in meiner Blendung

und noch im Rot meiner geschlossenen Lider

als weiß pulsierende Funken.

Selbst die Skalen des Höhenmessers,

der mir irgendwann aus dem Klumpen

meines Handschuhs gefallen

und in die Wolken hinabgesprungen war,

blieben wie eingebrannt in meine Netzhaut:

Luftdruck, Meereshöhe, Celsiusgrade …

jeder Meßwert des verlorenen Instruments

eine glühende Zahl.

Als zuerst diese Zahlen

und dann auch die Sterne verblaßten

und schließlich erloschen, hörte ich das Meer.

Ich starb hoch über den Wolken

und hörte die Brandung,

glaubte die Gischt zu spüren,

die aus der Tiefe zu mir emporschäumte

und mich noch einmal hochtrug zum Gipfel,

der nur ein schneeverwehter Strandfelsen war,

bevor er versank.

Das Krachen des Steinhagels,

der mir die Hand wundgeschlagen hatte,

das Fauchen der Böen, mein Herzschlag …

verhallten in der Flut.

War ich am Grund des Meeres?

Oder am Gipfel?

In einem schmerzlosen Frieden,

von dem ich heute weiß,

daß er tatsächlich das Ende war, mein Tod

und nicht bloß völlige Erschöpfung,

Höhenwahn, Bewußtlosigkeit,

hörte ich eine Stimme, ein Lachen:

Steh auf!

Es war die Stimme meines Bruders.

Wir hatten uns im Wettersturz

der vergangenen Nacht verloren.

Ich war gestorben.

Er hatte mich gefunden.

Ich öffnete die Augen. Er kniete neben mir.

Hielt mich in seinen Armen. Ich lebte.

Mein Puls tobte in der Steinschlagwunde

an meiner Hand; mein Herz.

Wenn ich heute

an jene Mondnacht zurückdenke,

in der ich mit meinem Bruder

aus der Gipfelregion jenes Berges,

den die Nomaden von Kham Phur-Ri nennen:

Der fliegende Berg,

in die Tiefe zurückgeklettert, zurückgetaumelt war,

einen vom Eis verglasten Grat hinab,

blankgewehte Felsrinnen, schwarze Eiskamine hinab

und dann durch den hüfthohen Schnee jenes Sattels,

auf dem wir uns verloren …

Wenn ich an diesen Irrweg durch ein Eislabyrinth

in die bewohnte Welt denke,

die irgendwo unter Wolkentürmen im Abgrund lag,

dann sehe ich immer auch Nyema,

höre ihre besänftigende Stimme,

das Klimpern der Korallen- und Muschelketten um ihren Hals

und spüre die Wärme ihrer Hände,

sehe Nyema,

als wären es ihre Arme

und nicht die meines Bruders gewesen,

die mich damals umfingen:

Niemand, höre ich Nyema sagen,

niemand stirbt auf seinem Weg nur ein einziges Mal.

Nyema Dolma: Wie beharrlich sie war,

wenn sie mir ein Wort ihrer Sprache

oder bloß einen Handgriff zu erklären versuchte.

Wie warm ihr Atem,

wenn sie den Namen einer Pflanze

an meinem Ohr buchstabierte.

Ihr geflochtenes Haar roch nach Yakwolle

und Rauch, und während sie sprach,

schrieb sie mit ihrem Zeigefinger

manchmal schnelle, fliegende Zeichen

auf meinen Arm, meinen Handrücken –

Spiralen, Wellenlinien, Kreise.

Steh auf!

Ich hatte die Spur meines Bruders

in einem Schneesturm verloren,

in dem der Mond wie unter einer Sturzwelle

schwarzen Wassers erloschen war.

Der Sturm hatte uns auseinandergerissen

und mich in einer Finsternis,

in der allein der von Eiskristallen zersiebte

Schein meiner Stirnlampe zu sehen war,

in den Windschatten einer Felsnadel gejagt.

Dort hatte ich bis zum Sonnenaufgang überlebt.

Steh auf!

Mein Bruder kniete neben mir.

Hielt mich in seinen Armen.

Erhob sich dann wie unter einer Zentnerlast

und versuchte auch mich hochzuziehen.

Lachte.

Fluchte vor Ratlosigkeit.

Sein Gesicht, seine Sturmmaske,

war eine Fratze aus Eis.

Wieviel Zeit war seit unserer Trennung vergangen?

Die Sonne stand nun hoch über dem Gipfelgrat.

Der Himmel: wolkenlos.

Und im Schatten der Felsnadel,

im Schatten meiner Zuflucht: Windstille.

Ich lebte.

Es schneite.

Schwarzer Schnee?

Schwarzer Schnee:

Wie verkohltes,

von einem unsichtbaren Feuer zerrissenes Papier

taumelten schwarze Flocken

aus der Wolkenlosigkeit.

Aber als sich eine dieser Flocken

auf den eisverkrusteten Handschuh

meines Bruders setzte,

eine andere auf seine Schulter,

auf meine Brust, meine Stirn,

sah ich Fühler!

sah ich die Fadenglieder von Insekten,

Flügel: In einem Panzer aus Rauhreif,

der ihre Facettenaugen, Saugrüssel und Flügelschuppen

übertrieb und vergrößerte,

schneiten tote Schmetterlinge

auf mich und meinen Bruder herab,

zuerst vereinzelt, dann zu Hunderten,

schließlich in einem wirbelnden,

den Himmel verfinsternden Schwarm.

Manche dieser filigranen Kadaver

schienen beim Aufprall auf meiner Brust,

auf dem Handschuh meines Bruders

zu zerspringen,

und ich glaubte ein Klirren zu hören.

Ein Klirren?

Nein, es war still.

Vollkommen still.

Aus einem Himmel, der im Zenit

schon die Schwärze des Alls anzunehmen schien,

fielen eisstarre Falter, Apollofalter,

wie wir sie vor Wochen in den Tälern von Kham

gesehen hatten, in riesigen Schwärmen

über den Gebetsfahnengirlanden

eines zerstörten Klosters,

über einem Gletschersee,

einem Rhododendrenwald.

Ich war müde, unsagbar müde.

Wollte liegenbleiben.

Liegenbleiben, schlafen.

Schlafen.

Steh auf!

Mein Bruder zog, zerrte mich hoch,

sank mit mir in den Schnee zurück.

Und ich kauerte in seinen Armen,

6840 Meter über dem Meer,

und starrte durch einen dunklen Flockenwirbel

auf die Eisfahnen des Phur-Ri,

auf den blendenden Gipfel des fliegenden Berges,

auf dem ich unsere Namen

mit dem Schaft meines Eispickels

in den Schnee geschrieben hatte.

Ich lebte.

Du glaubst, geschlafen zu haben,

höre ich Nyema sagen und sehe,

wie sie Tashi, einen rußigen, weinenden Säugling,

auf ihren Armen wiegt,

du glaubst, geschlafen, geträumt zu haben,

und warst doch tot: deinem Leben fern.

Warst tot und bist zurückgekehrt,

weil eine Hand dich zurückgezogen,

eine Stimme dich zurückgerufen hat.

Nyema lachte oft, wenn sie sprach.

Ich glaube, es war ihre Heiterkeit,

die mir bewußt werden ließ, daß es an jenem Morgen

unter der Gipfelpyramide des Phur-Ri

wohl nicht die Worte meines Bruders gewesen waren,

die mich ins Leben zurückbefohlen hatten,

sondern sein Lachen.

Er hielt mich in seinen Armen

und lachte, rief lachend es schneit!

Es schneit Schmetterlinge! Steh auf!

Es war, als ob sich erst in diesem Lachen

auch alle anderen Geräusche und Worte

wieder aus der vollkommenen Stille lösen durften:

das Kreischen eines Steigeisens

auf dem vom Eis glasierten Fels,

das Klingen des Blutes in meinem Kopf,

unser Atemgeräusch,

das in der dünnen Luft dieser Höhe

dem Hecheln von Tieren glich.

Vielleicht sah mein Bruder an meinen Augen,

daß es vor allem sein atemloses Reden war,

das meine Aufmerksamkeit gefangennahm

und mich Satz für Satz in unser Leben zurückzog.

Er sprach so eindringlich und hastig,

als wären seine Worte die letzte Möglichkeit,

mich zu erreichen,

und ich müßte für immer verschwinden,

wenn er verstummte.

Aus einer allmählich schrumpfenden Ferne

hörte ich ihn erinnerst du dich …,

weißt du noch sagen

du mußt dich erinnern, erinnere dich.

Wenn ich die Augen schloß,

rief er meinen Namen, immer wieder,

und dazu die Namen von Hochträgern

aus Nyemas Clan, Namen von Pässen,

die wir während unseres wochenlangen Anmarsches

zu den Eiswänden des Phur-Ri überquert hatten,

Namen, Namen, hörst du mich,

erinnerst du dich, steh auf!

Auf diesem Marsch

hatten wir Schmetterlingsschwärme

als Hunderte Meter lange, tanzende Bänder gesehen.

Sie flatterten selbst über höchste

schneeverwehte Pässe in unbewohnte,

von Schmelzwasserbächen durchzogene Täler,

folgten vielleicht einer Nahrungskette,

die blühende Sümpfe mit Gletschern verband,

vielleicht aber auch bloß

einer zum Irrweg gewordenen Route

einer Erinnerung, die in jene Urzeit zurückreichte,

als sich zwischen dem Ort ihres Aufbruchs

und ihrem Ziel

noch kein Eisgebirge erhoben hatte,

sondern nur sanftes, fruchtbares Hügelland.

Hörst du mich!

Steh auf!

Schon einmal, es war an jenem Nachmittag,

an dem uns der Gipfel des Phur-Ri

zum erstenmal wolkenfrei

und in großer Ferne erschienen war,

hatten wir gesehen,

wie einer dieser Schmetterlingsschwärme

von den Turbulenzen der Jahreszeit erfaßt

und in Säulen warmer Luft hochgewirbelt wurde

in die Unsichtbarkeit, in die Kälte, in den Tod

und dann, von der erschöpften Thermik

endlich losgelassen und vom Frost bereift,

auf die Gletscher zurückschneite.

Erinnere dich.

Nyema … Es war Nyema, die gesagt hat,

daß mein Bruder mich im Windschatten

meiner letzten Zuflucht wohl aus dem Tod

ins Leben zurückerzählte,

indem er mit seiner Litanei von Namen

eine gemeinsame Erinnerung beschwor,

so unauslöschlich,

daß sie die Vergangenheit in Gegenwart verwandeln

und mich selbst aus einer Ferne zurückrufen konnte,

in der ich schon verschwunden war.

Ich erinnere mich, daß ich versuchte

den herabtaumelnden Faltern

mit meinem Blick zu folgen,

daß mich darüber ein rasender Schwindel erfaßte

und daß der erste Satz, den ich in den Armen

meines Bruders mit Mühe aussprach,

eine Frage war: Sind sie tot?

Und ich erinnere mich, daß mein Bruder

in seiner Begeisterung über mein Erwachen,

oder über die herabtaumelnden Kadaver

in ihren Reifpanzern, nicht aufhörte zu lachen

und mir aus einer Atemwolke,

die sein Gesicht verhüllte, zurief:

Aber sie fliegen! Sie fliegen immer noch!

Mein Bruder ist tot.

Seit mehr als einem Jahr liegt er nun

im Eis begraben,

am Fuß der Südwand des Phur-Ri,

durch die wir damals drei Tage und zwei Nächte

hinabgeklettert waren, schneeblind,

von Halluzinationen immer wieder in die Irre gelockt,

auf die donnernde Wolke jener Lawine zu,

in der er verschwand.

Ich glaube, Nyema war der erste Mensch,

der Wochen später das Furchtbare aussprach:

Sie bestrich meine blutigen Fingerkuppen

und die langsam vernarbende Steinschlagwunde

an meiner Hand mit einem zähflüssigen Absud

und sagte dein Bruder ist tot.

Tot.

Er hatte mich in einem Wirbel aus eisstarren Faltern

in den Armen gehalten.

Er hatte mich gewärmt

und mich ins Leben zurückerzählt

und war mir dann eine qualvolle Ewigkeit lang

durch die von Lawinen zerrissene Südwand

des Phur-Ri in eine Tiefe vorangeklettert,

die vor uns noch kein Mensch durchstiegen hatte.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden ich im Schutt

des Lawinenkegels nach ihm gegraben habe.

Ich hatte keine Fingernägel mehr,

als mich ein Hirte aus Nyemas Clan

auf der Suche nach verlorenen Yaks

in der Nähe eines verlassenen Lagers fand.

Meine Hände waren schwarz,

meine Zehen schwarz von Erfrierungen,

aber ich war am Leben.

Ich erinnere mich an bohrende Schmerzen,

als mich der Hirte auf einem aus Ästen, Fellen

und Lederriemen zusammengebundenen Schlitten

ein Hochtal hinauszog und -zerrte

und dabei manchmal in einen keuchenden

monotonen Gesang verfiel.

Ich wollte mich aufrichten,

nach dem Sänger greifen, ihn berühren,

um mich zu vergewissern,

daß er körperlich war, wirklich war

und nicht wieder nur eine von den Wahngestalten,

die mich auf dem Weg in die Tiefe begleitet

und sich in Schnee, in Steine

und Wolken verwandelt hatten,

wenn ich auf ihre Fragen geantwortet oder

nach ihren ausgestreckten Armen gegriffen hatte.

Ich wollte diesen Sänger umarmen

und blieb doch nur eine stöhnende Last,

bewegungsunfähig auf seinem Schlitten,

hatte nicht einmal mehr die Kraft,

einen mit Tee und Yakbutter gekneteten Klumpen

gerösteter Gerste zum Mund zu führen.

Der Sänger mußte mich füttern.

Heute,

während ich auf Horse Island

durch das sonnendurchflutete Haus

meines Bruders gehe

von einem leeren, hallenden Zimmer zum anderen,

und durch ein von den Salzblüten der Gischt

fast blind gewordenes Fenster die Brandung sehe,

die Steilküste,

den von den Sturmböen der letzten Tage

aufgewühlten Atlantik, heute weiß ich,

daß uns ein Lachen vielleicht ins Leben zurückholen,

uns dort aber nicht halten kann.

Was Nyema, was ihren Clan

und mich und wohl die meisten von uns

am Leben erhält,

muß mit dem manchmal tröstlichen,

manchmal bedrohlichen Rätsel zu tun haben,

daß wir, wo immer wir sind,

nicht die einzigen sind:

Immer ist noch jemand da,

der zumindest von uns weiß, der uns nicht losläßt

oder von dem wir nicht lassen können,

jemand, der durch unsere Erinnerungen,

Ängste und Hoffnungen geht,

uns in den Armen hält, wärmt, füttert

oder uns keuchend, singend

auf einem Schlitten aus Ästen und Fellen

durch ein Geröllfeld schleift.

Der Hirte brauchte manchmal alle Kraft,

um mich über einen Schmelzwasserbach zu schaffen,

über eine Felsbarriere oder schuttbedecktes Toteis.

Wenn dabei ein Stein oder auch nur Wasser

an meine schwarzen, nägellosen Hände

oder an meine Füße schlug, schrie ich vor Schmerz.

Aber er ließ sich nicht beirren,

sondern nahm jeden meiner Schreie

wie ein neues Motiv in seinen Gesang auf

und wiederholte ihn, bis er sich einfügte

in die monotone Melodie seiner Lieder,

und sang mich so in eine Ohnmacht, in den Schlaf.

Ich erwachte,

als er mich vor einem schwarzen Zelt

vom Schlitten hochzuziehen versuchte

und dabei immer wieder die Gesichtszüge

meines Bruders annahm.

Wie ein unzerstörbares Bauwerk

ragte das Zelt in einen kreisrunden Himmel,

der von Federwolken durchzogen

und von menschlichen Gesichtern eingefaßt war:

Es waren die lachenden, neugierigen, mißtrauischen

und erschreckten Gesichter meiner Retter.

Sie beugten sich über mein Elend,

über einen von der Sonne und vom Frost

verbrannten Fremden,

der mit blutenden Händen zu ihren Füßen lag

und der nach den Erzählungen des Sängers

vom fliegenden Berg gefallen war,

aus dem Himmel

in den Schnee.

2 Horse Island. Das Erbe in West Cork.

Mein Bruder Liam

besaß zwölf Hochlandrinder,

mehr als einhundert Targhee-Schafe,

fünf Hirtenhunde

und zwei schnelle Rechner,

vor deren Bildschirmen er ganze Tage

und manchmal auch die Nächte verbrachte.

Bis zu unserem Aufbruch nach Kham

hatte Liam alles, fast alles, was er besaß

oder was für sein Leben von Bedeutung war,

auf diesen Flüssigkristallschirmen erscheinen

und wieder verschwinden lassen:

die mit dunklem Schiefer gepflasterte Einfahrt

seines hoch über den Klippen

von Horse Island gelegenen Hofes,

digitalisierte Gletscherpanoramen

aus dem Himalaya und Karakorum,

nautische, topographische und astronomische Karten,

Wertpapierkonten, Heiratsannoncen,

Briefe aus Neuseeland und Pakistan

und auch die rätselhaften Flugrouten

von Papageientauchern,

die auf einem von weißem Kot wie beschneiten Felsturm

im äußersten Westen von Horse Island brüteten.

Gelegentlich war aber auf allen der insgesamt fünf

in Arbeitszimmer, Wohnzimmer, selbst Küche

und Schlafzimmer installierten Bildschirme

nur das zum Meer abfallende,

von einer sturmsicher versiegelten elektronischen Kamera

Tag und Nacht angestarrte Weideland zu sehen,

auf dem sein Vieh das ganze Jahr

unter Möwenschwärmen graste.

Ich kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen,

welche von den über die Jahre

gestreuten Einladungen meines Bruders

mich am Ende bewogen hat,

nach Irland zurückzukehren

und ihm auf eine nahezu unbewohnte

und in Sturmtagen unerreichbare Insel zu folgen.

Welche von diesen Postkarten

mit immer neuen Ansichten der Westküste,

welcher von diesen Briefen,

für die er leer gebliebene Logblätter

des Leuchtturms von Dunlough verwendete

und denen er oft Fotos beilegte:

War es der Brief, aus dem mir ein Bild

unseres vermummten Vaters entgegenfiel?

Eine Farbfotografie,

die einen schwergewichtigen Mann

mit einer blauen Wollmaske zeigte.

Er hielt einen Hummer triumphierend

an den auseinandergezogenen Scheren

wie einen Gekreuzigten hoch.

(Beim Betrachten dieses Fotos hörte ich jedesmal

das durch die Wollmaske gedämpfte Kichern

meines Vaters.)

Oder war es das mit den Namen

von Ausflugszielen bekritzelte Foto

jenes rostzerfressenen Ford Galaxy,

in dem wir an so vielen Sonntagen unserer Kindheit

den Bergen von Kerry und Cork

entgegengeschaukelt waren?

In Efeu und Brombeergestrüpp versunken,

ohne Räder und Motorhaube

lag das Wrack auf diesem Bild

an der Einfahrt unseres Elternhauses.

Aus den leeren Wagenfenstern,

die auf Bergstraßen stets aufgekurbelt worden waren,

weil Liam in den Serpentinen

hinauf zum Healy Pass oder Moll’s Gap

seekrank wurde, winkten Farne.

Gelegentlich schmückte Liam seine Briefe

mit Skizzen: Darstellungen

seiner astronomischen Beobachtungen

(wie etwa jener der Merkurschleife),

Plänen zur Erweiterung seines Bootshauses

oder der Position eines vor Jahrzehnten

oder Jahrhunderten am Dunlough Head gestrandeten

und gesunkenen Schiffes.

Komm nach Hause! Du mußt aus dem Wasser!

schrieb er dann zwischen diese Zeichnungen

und setzte dahinter stets ein Rufzeichen.

Obwohl Liam über seine Rechner Tag und Nacht

mit einem globalen Datennetz verbunden bleiben wollte,

mit Wetterberichten, Satellitenbildern,

Nachrichten von Katastrophen

und Kämpfen im Irgendwo, Aktienmärkten,

Archiven, Bibliotheken und elektronischer Post,

benutzte er dieses Netz niemals,

wenn er mich aufforderte, mein Leben zu ändern:

Komm nach Hause!

las ich nur auf Ansichtskarten

oder auf dem vergilbten Papier von Dunlough

(von dem er ganze Stapel besaß),

niemals auf einem Bildschirm.

Dabei waren wir jahrelang fast ausschließlich

über dieses Netz in Verbindung geblieben –

er vor den Rechnern seines Hofes,

ich vor dem Schirm irgendeiner Reederei

oder am Funktisch eines jener Frachter,

auf denen mich manchmal das Heimweh befiel.

Aber wenn ich ihm in einer digitalen Flaschenpost

von diesem Heimweh berichtete,

überging er in seiner Antwort meine Klagen

und schrieb mir erst viel später

und mit der anachronistischen Langsamkeit

eines Kurierdienstes in seiner jagenden Handschrift:

Du mußt aus dem Wasser!

Mein Entschluß, ein Leben in Maschinenräumen

und Wellentunnels von Frachtschiffen

oder in kahlen, lauten Hafenhotels aufzugeben

und wie ein Schiffbrüchiger auf Horse Island,

einem Felsen im Atlantik, festen Boden zu suchen,

rührte an eine Sehnsucht,

die mich wohl mit vielen, über drei Kontinente

verstreuten Auswanderern unserer Familie

und auch mit meinem Bruder verband:

Eine Sehnsucht nach etwas,

das er in einem seiner Briefe

als unverrückbaren Ort unter einem

unverrückbaren Himmel beschwor.

Natürlich wußten wir insgeheim beide,

daß es einen solchen Ort nicht geben konnte,

zu keiner Zeit, nirgends,

aber selbst wenn er mir Horse Island

nach einer seiner am Teleskop verbrachten Nächte

wie einen fliegenden, von Westwinden

und auf- und untergehenden Sternbildern

umwirbelten Teppich beschrieb,

der eine elliptische Bahn um die Sonne zog,

tauchte am Ende selbst solcher Schwärmereien

ausgerechnet diese von Ruinen übersäte Insel

immer wieder als Zuflucht

aus dem Atlantik bei Dunlough:

eine umbrandete Geborgenheit,

herausgehoben aus der Zeit

und so entrückt und unzerstörbar wie eine Utopie.

Ich kam nach Horse Island.

Und die Signale des Leuchtfeuers am Dunlough Head

(automatisierte Lichtblitze in der Finsternis)

huschten Nacht für Nacht

über die Wand meines Schlafzimmers

und ließen mich in der ersten Zeit auf der Insel

nicht schlafen.

Wer auf Horse Island lebt, ist wie an Bord

eines weit draußen auf Reede liegenden Schiffes

mit Irland und allem Land entweder

durch den Atlantik verbunden

oder durch ihn von allem getrennt.

Selbst der kaum zwei Seemeilen breite Meeresarm,

über den wir mit dem Fährschiff oder unserem eigenen Kutter

zwei- und dreimal jede Woche nach Dunlough übersetzten,

blieb in den Winterstürmen manchmal tagelang unpassierbar.

Dann fielen nicht nur Besorgungsfahrten aus,

sondern auch die Abende in Eamon’s Bar,

auf deren mit Sägemehl bestreutem Boden

die salzigen Schuhe der Gäste

Spuren wie von einem Kampf hinterließen.

Als ich am ersten Tag der Räumung unseres Hofes

den tibetischen Teppich einrollte, den mein Bruder

im Jahr vor unserem Aufbruch nach Kham

bei einem Händler in Dublin gekauft hatte,

fielen aus einem feingeknüpften Ornament weißer,

von mythischen Schneelöwen bewachter Bergketten

Sägespäne aus Eamons Bar.

Der Teppich lagert nun mit den Rechnern

und Bildschirmen, den Teleskopen,

Büchern und allem Mobiliar

in Plastik gehüllt und bereit für Käufer

in einem Schuppen hinter der Bar.

Zwei Wochen habe ich mit der Räumung

des hellen, luftigen Hauses verbracht,

das mein Bruder aus Schieferstein, Teak und Glas

auf den Fundamenten eines Gehöftes erbaut hat

(der Hof war zur Zeit der katastrophalen Hungersnöte

des neunzehnten Jahrhunderts verlassen worden

und seither wie alle anderen Häuser auf Horse Island

verfallen).

Vier Sturmtage in diesen beiden Wochen

erschwerten meine Fahrten zwischen Insel

und Festland, aber schließlich war alles Vieh,

die Rinder in Paaren, die Schafe in Familien

(mit zusammengebundenen Hufen),

die Truthühner, ein Pfauenpaar, die Hunde,

mein Erbe,

mit unserem Kutter, meinem Kutter,

an die Mole von Dunlough verfrachtet.

Schafe, Geflügel und Hunde

wurden dort auf die Pick-ups von Farmern verladen,

mit denen Liam Handschlaggeschäfte gemacht hatte.

Die Kühe, schottische Hochlandrinder

(mit gälischen Namen), verschwanden

im Transporter eines Viehhändlers aus Cork,

denn Schotten blieben an unserer Küste

trotz der widerstandsfähigen Züchtungen

meines Bruders so fremd wie tibetische Yaks

und gaben an den Theken von Dunlough

bis Skibbereen immer wieder Anlaß

zu Kopfschütteln oder Gelächter:

Die Horsemen, die Cliffhanger

und ihre schottischen Büffel!

Auch wenn man am Festland manchmal

anerkennend auf den Eifer meines Bruders trank,

der auf Horse Island, der Hungerinsel,

der Ruineninsel, nach mehr als

einhundertfünfzig Jahren der Verlassenheit

ein Licht nach dem anderen

wieder zum Leuchten gebracht hatte –

das landwirtschaftliche Experiment

auf diesem Felsen dort draußen

galt den Küstenbauern als teure Verrücktheit,

nicht als bäuerliche, erschöpfende Arbeit.

Ich war aus der Handelsschiffahrt

nach Horse Island gekommen,

mein Bruder Jahre zuvor

aus den Programmierabteilungen

der Computerindustrie:

Da konnten das dünnwandige,

hellhörige Haus unserer Eltern

und ihre sauren Weiden und Torffelder

noch so nahe, fast in Sichtweite! liegen

(keine zwei Fahrstunden von Dunlough entfernt

an den Abhängen der Caha Mountains) –

um in Eamon’s Bar in Fragen

der Schaf- oder Rinderzucht

ernst genommen zu werden,

kamen wir vermutlich doch von zu weit.

Der zumeist gutmütige Spott am Tresen

hat meinen Bruder nie gestört:

Cliffhanger, Buffalo Liam …

Abweisend, ja grob konnte er aber manchmal werden,

wenn ihn dort jemand einen Aussteiger nannte: Drop-out.

Er sei niemals! und nirgendwo!

aus-, sondern immer nur eingestiegen

und dabei immer und Schritt für Schritt höher

und niemals zurück oder hinab, Arschloch!

Tatsächlich lebten wir auf Horse Island

in der Fülle jener technischen Möglichkeiten,

die selbst Inselbewohnern erlaubten,

bezahlte Arbeit am Bildschirm zu verrichten,

mit dem Festland oder transatlantischen Partnern

zu korrespondieren, zu verhandeln, Geschäfte zu machen,

ohne auch nur einen Schritt aus dem Haus zu tun,

und nebenher Schafe und Rinder zu halten

oder einer gärtnerischen Leidenschaft zu folgen,

Baumfarne zu züchten, Orchideen

oder gegen die Salzluft unempfindliche Strauchrosen.

Horse Island lag auf der Höhe der Zeit,

und wir hielten dort über das Netz

Kontakt mit der Welt und mit einem Leben,

das tiefer in die Vergangenheit zurückreichte

und langsamer und breiter dahinfloß

als jeder Datenstrom.

Der Insel droht nun wieder die alte Verlassenheit.

Obwohl von Liam mit der irischen Westküste

durch einen submarin verlegten Kabelstrang vernäht,

blieben auch nach ihrer schütteren Neubesiedlung

mein Bruder und ich die einzigen,

die hier das ganze Jahr über lebten.

Unsere drei Nachbarn,

Sommer- und Schönwettergäste

aus Kerry, Cork und Dublin

(unter ihnen Deirdre, eine Patentanwältin,

und Kieran, ein Verleger von Bildbänden),

bewohnten ihre ebenfalls über Ruinen errichteten,

schiefergedeckten Häuser nur zur Erholung,

genossen die Abgeschiedenheit als Luxus

und flüchteten lange vor den Winterstürmen

wieder in ihre Städte.

Am deutlichsten wird die Leere

unseres verlassenen Gehöfts

seltsamerweise draußen auf den Weiden

und nicht im blankgefegten Inneren des Hauses,

dessen Glasschiebewände immer noch

die Abschnitte eines vertrauten Panoramas enthalten:

den von Wolkenschatten gefleckten Atlantik

(in langen Farbskalen von Bleigrau, Silber

Lichtgrün, Nachtblau);

die schwarzen Zähne vorgelagerter Riffe und Felseninseln;

die am Bildrand nach Westen davonjagenden Linien

der irischen Steilküste; die Gischtlichter der Dünung

unter den Blitzen des Leuchtfeuers von Dunlough …

Obwohl auf den von Mauern aus bemoosten,

unbehauenen Steinen und einem dornigen Geflecht

aus Draht und dürren Stechginsterzweigen

gefaßten Rinder- und Schafweiden

das Gras nun so hoch wogt, daß die Böen darauf

als silbrige Schatten sichtbar werden

und die Möwen wie je im Aufwind

über dem Gittermast unserer Windmühle stehen,

wirken gerade die Weiden

wie von einer Katastrophe heimgesucht

und trotz ihrer Fruchtbarkeit wüst.

Ich habe sie in meinen Jahren auf Horse Island

niemals so leer gesehen.

Wer die hüfthohen Grenzwälle dieser Weiden

auf der westlichen Meerseite durchbricht

oder einfach übersteigt, hat noch einen drei,

vier Meter breiten Streifen sanftes,

von Heidekraut, Brombeergestrüpp und Farnen

durchsprengtes Grasland vor sich,

bis er erkennt, daß er über dem Abgrund steht

auf einem überwucherten Felsbalkon,

unter dem nur noch die brausende Tiefe liegt.

Schwarze, von Seevögeln umschwärmte Wände

stürzen hier an manchen Stellen zweihundert Meter

senkrecht und überhängend

in den anrollenden, alles unterspülenden,

alles zertrümmernden Atlantischen Ozean.

Ich habe diese brüchigen Felswände und Klippen

bis zum Tag unserer Abreise

nach Westchina und Tibet

auf Dutzenden Routen verschiedenster

Schwierigkeitsgrade durchklettert,

zumeist gemeinsam mit meinem Bruder,

an seinem Seil,

manchmal auch ohne Sicherung dicht neben ihm,

und ein einziges Mal,

es war während eines Gewitters,

das wie eine Explosionswolke

über der Roaringwater Bay aufgeraucht

und dann auf Horse Island zugestürmt war,

allein, seilfrei

und wie betäubt vor Angst:

Aus einer finsteren Höhe

prasselten mir damals Hagelschloßen

und Steine entgegen, während mich die Böen

aus der Wand zu reißen drohten.

Tief unter mir schlugen Hagel und Steine

lautlos in die Brandung.

An Sommertagen, wenn der Ozean

in manchen Buchten so glatt und still wurde,

daß selbst der Flossenschlag

einer von Sonnenfelsen ins Wasser gleitenden Robbe

weithin zu hören war,

näherten wir uns diesen schwarzen Wänden

mit dem Boot, suchten im Fernglas

nach neuen Einstiegen und Aufstiegsvarianten,

ankerten in sicherer Entfernung vor den Riffen,

sprangen ins Wasser, schwammen die Felswand an

und ließen uns dann vom Meer selbst emporheben

zum ersten Tritt eines Weges in die Wolken,

die wir hoch oben

ungerührt hinausgleiten sahen

über den äußersten Rand der Weiden.

Schwimmend hatte ich manchmal das Gefühl,

über Abgründen, Tälern,

Gipfeln dahinzufliegen.

Wehende Algenfelder kippten tief unter mir

ins submarine Dunkel

und muschelbesetzte, versunkene Felsbänder,

an denen vorbei die unter den Krallen

auffliegender Möwenschwärme losbrechenden,

von Vogelkot geweißten Kiesel und Steine

taumelnd hinabsanken

und sanken

bis an einen Wandfuß, einen Grund,

an den kein Lot hinabreicht.

Schwimmend empfand ich die sanfte,

kaum spürbare Dünung

wie einen thermischen Auftrieb,

der mich über alle Schlünde hinwegsegeln ließ

und höher und höher emporhob,

dem Gipfel eines schwarzen, aus dem Meer

(und darin gespiegelten Wolken)

ragenden Berg entgegen.

Faßte ich schließlich Tritt

auf einem überspülten Felsen

und zog mich am ersten Griff

aus dem Wolkenspiegel,

dann ließ ich mich manchmal

mit dem enttäuschten Seufzer

eines aus Flugträumen Erwachten

gleich wieder in die Schwerelosigkeit,

ins Meer zurückfallen

und begann so einen Aufstieg

zweimal, dreimal von neuem.

An solchen Sommertagen

kletterten wir stets ohne Seil,

sprangen vor unüberwindlichen Passagen

ins Wasser zurück

oder machten aus einem spielerischen Versuch Ernst,

bis wir zu hoch für einen Sprung waren

und plötzlich weiter und immer höher mußten

bis hinauf zu jenem zerrissenen, dunklen Rand,

der Horse Island vom Himmel trennt.

Aber standen wir dann endlich oben,

dort, wo es keine Zweifel mehr am Ziel geben konnte,

weil uns der nächste Schritt nicht mehr höher,

sondern nur noch ins Leere geführt hätte,

fanden wir uns nicht auf einem Gipfel,

sondern vor grasenden Kühen wieder

auf einer sommerlichen Weide,

sahen tief unter uns das Boot

inmitten blendender Lichtreflexe schaukeln

und kehrten erleichtert (auf einem

in die Felsen geschlagenen Serpentinenpfad)

wieder an den Meeresspiegel zurück.

So begannen alle unsere Wege in die Höhe

mit einem Abstieg ans Meer.

Entsprechend der Tatsache,

daß selbst die Höhen und Gipfel

des küstenfernsten Wüstengebirges

als Meereshöhen vermessen werden

und so jeder Aufstieg

einem Weg aus dem Wasser gleicht,

tauften wir unsere Routen nach Fischen,

Turbot, Hake oder Cod,

beließen sie aber ohne Markierung und Wegzeichen,

sondern führten nur über Verlauf, Schwierigkeit

und die Dauer des Aufstiegs genau Buch.

Die einzige Route, die keinen Fischnamen trug,

war eine der schwierigsten und hieß

Passage to Kham,

weil jener Berg, in dessen Schatten

mein Bruder schließlich verschwinden sollte,

uns schon lange vor unserem Aufbruch

nach Tibet nicht mehr schlafen ließ.

Ich erinnere mich gut an jene Nacht,

in der er mich weckte,

weil er meine Hilfe beim Festmachen einer

im Sturm schlagenden Blechverkleidung brauchte.

Das Blech hatte sich von seinem Observatorium

(einer der Ostseite des Hauses angebauten Kuppel)

gelöst und drohte davongeweht zu werden.

Der Winddruck riß uns die meterlange Blechbahn

dann aber aus den Händen,

warf sie als donnerndes Segel

über den Rand der Weiden in die Tiefe hinab,

und wir kehrten durchnäßt

und fluchend ins Haus zurück.

Dort zeigte mir Liam auf dem Bildschirm

seines Arbeitszimmers eine Schwarzweißfotografie

aus dem vergangenen Jahrhundert:

Er hatte in dieser Nacht auf einem

(vom Sturm unterbrochenen) Streifzug im Netz

nach historischen Details zur Geschichte

der Vermessung des Transhimalaya gesucht,

war dabei auf diese Fotografie gestoßen

und schien wie besessen von dem Gefühl,

eine Entdeckung gemacht zu haben:

Das von der Tragfläche eines Flugzeugs

überschattete, ja überdachte Bild

zeigte eine von Hängegletschern, Verschneidungen

und Lawinenstrichen zerrissene Wandflucht –

die südlichen Abstürze eines Berges,

dessen Höhe ein chinesischer Bomberpilot

auf neuntausend Meter geschätzt hatte,

ein Berg höher als der Mount Everest!

Der Pilot hatte während des aussichtslosen

Widerstandes der Krieger von Kham

gegen eine aus Peking befehligte Besatzungsarmee

eine Klosterfestung bei Dege in Brand geschossen,

als ihn auf dem Rückflug eine Gewitterfront

zu einem weiträumigen Ausweichmanöver zwang.

Das Manöver drückte ihn dicht an die Flanken

eines Berges ohne Namen,

dessen gespenstische Gipfelhöhe

er in einem patriotischen Funkspruch

seiner Basis zuschrie: Dieser Berg,

dieser Koloß! sei die höchste Säule

der revolutionären Welt!

Rückfragen des Bodenpersonals

zersprangen allerdings unbeantwortet

im atmosphärischen Rauschen

eines Schneesturms über Chamdo,

in dem der Bomber dann

ohne eine weitere Meldung verschwand.

Das Wrack sollte erst zwanzig Jahre später

von Zoologen entdeckt werden,

die einen Schneeleoparden verfolgten.

Der Pilot blieb verschwunden.

Keine Spuren. Keine Reste.

Wer sich mit Atlanten und Karten

einer auf Erdsatelliten und Lasertechnik

gestützten Landvermessung beschäftigte

wie mein Bruder Liam,

wer geodätische Computerprogramme

zu schreiben imstande war, wie Liam,

der die Schraffur von Höhenlinien

im Käfig der Koordinaten

mit einigen Tastenschlägen auf seinem Rechner

dazu bringen konnte,

sich zu dreidimensionalen Hügelketten

und Gebirgszügen aufzubäumen,

zu virtuellen Landschaften, über deren Faltenwurf

die Schatten des Tagesverlaufs

oder die Farbtöne der Jahreszeiten huschten –

der kannte natürlich viele solcher Funksprüche

und Gerüchte aus der Vermessungsgeschichte,

Träumereien von vermeintlich unentdeckten

Geheimnissen der Erdkruste,

von im Himalaya oder Karakorum verborgenen,

unzugänglichen Talschluchten, riesigen Bergen

oder unter Gletschern begrabenen Vulkanen …

Liam simulierte auf seinen Rechnern

die Bewegungen der Erdkruste

für digitale Atlanten und Globen,

verkaufte seine Animationen über das Netz

in jeden beliebigen Winkel

der bis auf die Bruchteile einer Bogensekunde

vermessenen Welt und wußte selbstverständlich,

daß sich Bildlegenden wie jene,

die zu der eisig strahlenden Fotografie

auf seinem Schirm gehörten,

immer wieder als Irrtum, Fehlmessung, Scherz

oder bloße Lüge erwiesen hatten.

Immerhin, auch das rief er in jener Sturmnacht

auf seinen Bildschirm, immerhin

hatte eine im Jahr nach dem Bomberflug

unternommene Vermessungsexpedition ergeben,

daß die Wandflucht zu einem von osttibetischen Nomaden

Cha-Ri genannten Massiv gehöre, nur zu einem von vielen

sechstausend Meter hochragenden Gipfeln der Welt,

und Cha-Ri, so schloß die Legende, bedeute Vogelberg.

Wenn ich mir den Anfang unseres Weges

von den Stränden Horse Islands nach Kham

vorzustellen versuche, den Aufstieg

vom atlantischen Meeresspiegel zu den Pässen

von Sichuan und des tibetischen Hochlandes

über wolkenverhangene, von Gletschern

begrenzte Yakweiden zu den Feuern

und schwarzen Zelten von Nyemas Clan

bis in die Lawinenstriche des fliegenden Berges,

dann finde ich mich stets in der Erinnerung

an das nächtliche Arbeitszimmer

meines Bruders wieder,

an das im Halbdunkel leuchtende Abbild

einer wie aus dem Zenit stürzenden Eiswand.

Auch wenn zwischen jener Sturmnacht

und unserem Verhängnis in Kham

noch fast zwei Jahre vergehen sollten,

lag der Anfang unseres Wegs wohl in jenem Rätsel,

das mein Bruder damals entdeckte –

ein kaum sichtbares Detail auf dieser Fotografie:

An ihrem Rand, von der Tragfläche des Flugzeugs

und einer anbrandenden Wolkenfront

fast vollständig verdeckt,

war über einem vergletscherten Sattel

ein weiterer Grataufschwung zu sehen,

der nach seiner Mächtigkeit und Steilheit

zu einem zweiten Gipfel, höher! als die Zinnen

der sichtbaren Eiswand, zu führen schien.

Aber alle topographischen Raster

aus Atlanten und Kartenwerken,

mit denen mein Bruder das Bild der Eiswand

überblendete, zeigten in der Umgebung des Vogelberges

nur Höhenlinien unter der Siebentausendergrenze,

eine unbesiedelte Wildnis ohne Wege, ohne Namen.

Gewiß, es gab gute Gründe,

an der Genauigkeit dieser Karten zu zweifeln,

aber Liam war mit vielen Möglichkeiten vertraut,

Fragen oder widersprüchliche Höhenangaben

über geodätische Quellen, manchmal sogar

über militärgeographische Institute, zu klären,

aber er tat es nicht,

er tat es in diesem Fall nicht,

sondern begann in den Tagen nach der Sturmnacht

erstmals von einer Reise

in den Osten Tibets zu schwärmen.

Vielleicht ist jenes Bedürfnis

tatsächlich unstillbar,

das uns selbst in enzyklopädisch gesicherten Gebieten

nach dem Unbekannten, Unbetretenen,

von Spuren und Namen noch Unversehrten suchen läßt –

nach jenem makellos weißen Fleck,

in den wir dann ein Bild unserer Tagträume

einschreiben können.

Projektionen der Phantasie oder der bloßen Gier

haben schließlich ganze Flotten

in Bewegung zu versetzen vermocht,

Karawanen oder Schlittenhundegespanne,

Armeen von Eroberern und Entdeckern,

die sich im Zweifelsfall

lieber von den Fluchtlinien eines Traums

als von Meßwerten leiten ließen.

Noch Liams astronomische Beobachtungen,

die er mit computergesteuerten Teleskopen betrieb,

erinnerten mich manchmal daran,

daß selbst mit Präzisionsinstrumenten

nach Welten Ausschau gehalten wurde,

die vielleicht nirgendwo anders zu finden waren

als in unserem Kopf.

Und so lag wohl der Fuß des fliegenden Berges

nicht in Tibet, nicht im Land der Khampas,

sondern am Meer,

dort, wo die schwarzen Felswände Horse Islands

vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren

aus der Brandung gestiegen waren.

Denn Monkfish, Turbot, Hake und Cod

und alle unsere nach Fischen benannten

Routen durch diese Wände

führten aus dem Wasser

durch Gischtnebel und über brüchige Felsbänder

und vorüber an Seevogelnestern

nicht bloß bis an den Rand einer Viehweide,

sondern von dort über das Leben

und alle Weiden hinaus

bis ins Eis der Gipfelpyramide des Phur-Ri.

Wir jedenfalls gerieten mit jedem Schritt,

mit dem wir uns vom Meeresspiegel entfernten

und an Höhe gewannen,

gleichzeitig tiefer in unsere eigene Geschichte.

Denn wie jede Fluchtlinie,

die an die Ränder des Lebens führt,

verbanden uns auch Kletterrouten

schon vom ersten Aufstieg an

nicht nur mit dem Fernsten, sondern ebenso

mit dem Nächsten, Vertrautesten,

mit Erinnerungen an früheste Wanderungen,

Kindheitswege zu den hochgelegenen Torffeldern

und Schafweiden unseres Vaters

und zu sommerlichen Bergseen in Kerry und Cork,

an deren felsigen Ufern Klettern

ein Spiel gewesen war.

Selbst die von Gebeten

und Marienliedern begleiteten Familienwallfahrten

zu einer in den Caha Mountains sprudelnden Quelle

tauchten aus dieser Tiefe wieder empor:

Ein Band mußte an dieser wishing well in die Zweige

eines Rhododendronstrauches geflochten

und ein Schluck Quellwasser

aus der hohlen Hand getrunken werden,

um einen lange gehegten, geheimen Wunsch

seiner Erfüllung näher zu bringen.

Wer das Geheimnis dieses Wunsches

jemals preisgebe,

so hatte man uns auf diesen Wallfahrten gedroht,

werde bis an sein Ende

von unstillbaren Sehnsüchten geplagt.

In den ersten Wochen nach Liams Tod,

auf meinem Krankenlager in einem der schwarzen Zelte

von Nyemas Clan, habe ich geträumt,

daß es nicht Fernweh oder die Sehnsucht

nach einem unbetretenen weißen Fleck

der Weltkarte gewesen war,

was uns nach Kham geführt und dort

nach einem vergessenen Berg hatte suchen lassen,

sondern daß dieser Berg uns gefunden hatte,

seine Opfer, zwei verschwindend kleine Gestalten

in den Felswänden Horse Islands.

Unaufhaltsam war er auf uns zugetrieben –

zuerst als weißes, digitales Datenfragment,

dann als wachsendes, von rasch ziehenden Wolken

immer wieder verhülltes Trugbild,

schließlich mit Gletschern und Firnwächten behängt,

ungeheuer und übermächtig auf uns zu

und mit lodernden Schneefahnen über uns hinweg,

und hatte uns in seinem Sog

aus der Geborgenheit von Horse Island

und unseres Lebens fortgewirbelt

in die Atemnot und in die Verlassenheit

seiner höchsten Höhen,

fort unter einen dunklen Himmel,

der selbst am Tag Sternbilder trug.

3 Schlaflos am Yangtsekiang. Schlaflos in den Cahas.

Wie klein die Faust meines Bruders war.

Den Mund leicht geöffnet, flach atmend

lag er in seinem Daunenschlafsack neben mir,

verstrickt in einen Traum,

der ihn eine Faust ballen ließ, während er

mit der anderen Hand ins Leere griff.

Versuchte er, sich hochzuziehen

in einer imaginären Wandflucht?

Es war Liam gewesen, der mir gezeigt hatte,

wie man im senkrechten Fels die Hand

tastend in einen Riß schob,

im Inneren des Gesteins die Finger verkeilte

oder zur Faust ballte

und sich an diesem Anker

zum nächsten Griff hochzog, zum nächsten Tritt.

Träumte er von einer unserer Routen

auf Horse Island?

Er wußte es nach dem Erwachen nicht mehr.

Ungerührt von den gelegentlichen Schreien

und dem Gelächter der Khampas

draußen in der Nacht,

schlief er in unserem olivgrünen Kuppelzelt,

das sich zwischen den fünf schwarzen Yakhaarzelten

in diesem Nomadenlager am Fluß

klein wie eine Hundehütte ausnahm.

Ein Speichelfaden,

der aus seinem Mundwinkel sickerte,

glänzte auf, wenn eine der Fackeln draußen

zu flackern begann und ihr Schein

durch den offenen Zelteingang

in unsere Dunkelheit fiel.

Dieses schwache, unruhige Glänzen

schien in einer rätselhaften Verbindung zu stehen

mit den tanzenden Lichtsignalen,

die unser Lager begrenzten, Flammenreflexen

auf den Wellen des Yangtsekiang:

Scheu, wie in kindlicher Vorsicht

glitt der mächtigste und längste Strom Asiens

in dieser Nacht aus dem Scherenschnitt der Berge

auf unser Lager zu – ein schmaler,

die Feuer von Nomaden spiegelnder Gebirgsfluß,

der noch keine Zeichen jenes Ungeheuers trug,

das sich mehr als sechstausend Kilometer

von seinem Quellgebiet entfernt

und Tausende Meter tief unter unserer Schlafstätte

ins Ostchinesische Meer ergoß.

In sicherer Entfernung von den Fackeln

und noch weit vor dem ersten

der am Ufer verstreuten Nomadenzelte

schien der Fluß aber alle Neugier

an menschlichen Behausungen zu verlieren,