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Neben seinen großen Romanen erkundet Christoph Ransmayr in einer losen Reihe von in Leinen gebundenen Bändchen »Spielformen des Erzählens«. Christoph Ransmayr verwandelt Erinnerungen in Erzählungen und bedankt sich mit diesen Geschichten für die Auszeichnungen nach seinem großen Erfolg »Cox oder Der Lauf der Zeit«. Wir erleben den Schriftsteller in drei Reden sehr persönlich, fast privat. Zugleich bezieht er vehement Stellung gegen Barbarei, Populismus und Ignoranz. In »Arznei gegen die Sterblichkeit« fügt er seiner Reihe »Unterwegs nach Babylon«, nach der Bildergeschichte, der Tirade, dem Duett und vielen anderen, die Danksagung als eine weitere Spielform des Erzählens hinzu. Ein Junge schlägt den Fußball aus dem Morast eines Spielfeldes und schießt ein fatales Eigentor. Ein Mädchen im gelben Kleid schleppt einen schweren Wasserkanister durch eine afrikanische Einöde. Ein Vater kämpft verzweifelt um die Wiederherstellung seiner Ehre.
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Seitenzahl: 55
Christoph Ransmayr
Drei Geschichten zum Dank
Christoph Ransmayr verwandelt Erinnerungen in Erzählungen und bedankt sich mit diesen Geschichten für die Auszeichnungen nach seinem großen Erfolg »Cox oder Der Lauf der Zeit«. Wir erleben den Schriftsteller in drei Reden sehr persönlich, fast privat. Zugleich bezieht er vehement Stellung gegen Barbarei, Populismus und Ignoranz.
Im vorliegenden Band schlägt ein Junge den Fußball aus dem Morast eines Spielfeldes und schießt ein fatales Eigentor. Ein Mädchen im gelben Kleid schleppt einen schweren Wasserkanister durch eine afrikanische Einöde. Ein Vater kämpft verzweifelt um die Wiederherstellung seiner Ehre.
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Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« und »Gerede«. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne. Zuletzt erschien der Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit«.
Arznei gegen die Sterblichkeit
Mädchen im gelben Kleid
Eine Zierde für den Verein
An der Bahre eines freien Mannes
[Quellen]
Versuchen wir das Unmögliche und versetzen uns in einen mehr als eine Million Jahre zurückliegenden spätherbstlichen Nachmittag der Altsteinzeit im südafrikanischen Bergland. Im Schatten einer Felswand, so hoch, daß wir den Kopf in den Nacken legen müssen, wenn wir dem Flug der über die Abbruchkante dieser Wand hinaussegelnden Wolken folgen wollen, glosen die Reste eines unter weißer Asche begrabenen Feuers. Erst in der abendlichen Kühle nach Sonnenuntergang, frühestens aber zur sehnlich erwarteten Rückkehr der Antilopenjäger, soll das Feuer wieder entfacht werden.
Vor der Feuerstelle sitzt ein halbnackter, von Narben übersäter Mann, umringt von Frauen und Kindern, und erzählt, was den vor drei Tagen aufgebrochenen Jägern möglicherweise widerfahren ist, was sie getan, erlebt, gesehen haben – möglicherweise, denn die Erzählungen des Narbenmannes, das wissen seine Zuhörer längst, führen nicht bloß in die Labyrinthe der Wirklichkeit, sondern immer auch in das bloß Mögliche, in die Vergangenheit wie in die Zukunft. Denn was ist, ist niemals alles.
Zwei der Frauen, die sich ihm jetzt wieder zuwenden, haben Gazellen und Springböcke mit Kohle an einige von Wasser, Sand und Wind glattgeschliffene Flächen der Felswand gezeichnet – wie von Kometenschweifen gehörnte Strichwesen –, um die Seelen und den Zorn der mit Keulen und Speeren getöteten Beute zu bannen und sie davon abzuhalten, den Clan heimzusuchen.
Der Erzähler weiß, wovon er spricht. Noch vor wenigen Jahren hatte er die Täler und ferne Savannen noch selber mit den Jägern durchstreift, aber seit er bei der Verfolgung einer Antilope in eine von dornigem Gestrüpp überwucherte Felsspalte gestürzt ist und sich dabei beide Beine mehrmals gebrochen hat, ist ihm nur noch die Verwandlung von allem, was war und geschah, in Laute, in Worte geblieben. Er begann, zu erzählen. So konnte er für den Clan, der ihn auch nach seinem von bösen Vorzeichen angekündigten Unglück nicht verstieß, nützlich bleiben. Denn daß er vor seinem Sturz für Nahrung und Kleidung gesorgt, eine Höhle bewohnbar gemacht, Feuersteine geschlagen, Nachwuchs großgezogen und das Tal gegen die Gier fremder Horden verteidigt hat, hätte nicht ausgereicht, um ihm auch als Krüppel Schutz, Kleidung und Nahrung zu bieten.
Das einzige Tauschmittel, mit dem er nun für menschliche Gesellschaft bezahlen kann, ist der Brückenschlag von den Dingen und Gestalten des Lebens über den Abgrund der Sprachlosigkeit hinweg in das Reich der Laute, des Flüsterns, des Schreiens und der Worte. Ein kostbarer Gegenwert, ermöglicht er damit doch jedem, der den in seinen Geschichten ausgelegten Fäden folgen will, sich nicht nur über seinen gegenwärtigen Ort, sondern selbst über den unbesiegbaren, alles vernichtenden Lauf der Zeit zu erheben und sich an vergangenen oder zukünftigen Schauplätzen des Daseins umzusehen, in den Kulissen der Vorstellungskraft, in denen er leibhaftig niemals war und niemals sein wird.
Arznei gegen das Zugrundegehen, Kraut gegen die Sterblichkeit hat eine der Frauen, deren Fingernägel rissig und schwarz vom Kohlenstaub sind, mit dem sie flüchtende Antilopen auf dem Fels erscheinen ließ, die Erzählungen des Narbenmannes genannt – eine Arznei wirksamer als Distelsamen und weiße Tonerde gegen die Fieberglut und wirksamer selbst als die blutstillenden Tropfsteine aus den Höhlen des Winterquartiers. Denn wer in eine Erzählung aufgenommen wurde, der konnte selbst dann noch jagen, lieben, lachen oder kämpfen, wenn Käfer, Würmer und Aasvögel seine Knochen längst von allem Fleisch befreit hatten oder sein gebleichter Schädel von einem aus dem Dickicht hervorgebrochenen Feind zu den Splittern einer Regenrassel zerschlagen worden war. Wer vom Narbenmann ins Reich der Vorstellung geführt wurde, der durfte von Generation zu Generation in die Vergangenheit und in die Zukunft wandern und in einem Nest, in dem ansonsten nur in Baumharz eingeschlossene Insekten, Steine oder zu Stein gewordene Schnecken überdauerten, gewiß nicht für immer bleiben, aber zumindest länger als jedes atmende Wesen. Und er war dort weder von Keulen noch von Speeren oder Stoßzähnen zu verwunden.
Versuchen wir also das Unmögliche und versetzen uns an einen leicht bewölkten frühherbstlichen Nachmittag des einundzwanzigsten Jahrhunderts und dort in den festlich erleuchteten Saal eines barocken Rathauses irgendwo in der Mitte des europäischen Kontinents. Der unter vergoldetem Stuck schimmernde Saal faßt, sagen wir, etwa dreihundert Menschen und ist zwar nicht bis auf den letzten Platz, aber doch gut gefüllt. Die von kaum hörbaren Ventilatoren bewegte Luft hat in manchen ihrer Wirbel den Duft parfümierter Frauen in Abendkleidern angenommen, und auf einer mit weißen Lilienbuketts geschmückten Bühne macht sich neben einem Rednerpult ein ganz in Schwarz gekleidetes Kammerensemble bereit, den berühmten und vielbeweinten zweiten Satz des Schubert-Streichquintetts in C-Dur, der vielen Zuhörern bereits bei der Lektüre des Programms im Ohr zu klingen begann, aufzuführen. Der Komponist hat diese Musik nie gehört. Er starb nur zwei Monate nach der Niederschrift seines Quintetts, aber heute soll sein Werk noch einmal daran erinnern, daß ein Klang, ein Wort oder eine bloße Strichzeichnung seinen Schöpfer für Jahrhunderte überdauern kann. Der wieder und