Die Unsichtbare - Christoph Ransmayr - E-Book

Die Unsichtbare E-Book

Christoph Ransmayr

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Beschreibung

Neben seinen großen Romanen erkundet Christoph Ransmayr in einer losen Reihe von in Leinen gebundenen Bändchen »Spielformen des Erzählens«.  Eine ins Kino vernarrte Souffleuse verliert während einer katastrophalen Vorstellung ihr Textbuch und beginnt nach dem Schlussvorhang das Theater zu verfluchen. Sie, die stets flüsternd, stets unsichtbar dem stockenden Spiel auf der Bühne die Fortsetzung einhauchen musste, wird in den nächtlichen Kulissen dreier Meereslandschaften nun selber zur Hauptfigur: Beschimpft zwischen hölzernen Eisbergen vor der Westküste Grönlands gedächtnisschwache Schauspieler, erinnert sich unter Kokospalmen aus Pappmaché an eine bittere Liebesgeschichte am Golf von Bengalen und an den Beginn ihres eigenen Irrwegs zur Bühne und verwandelt sich schließlich in den Kulissen einer antiken Tragödie an der thessalischen Ägäis in einen Filmstar. Und spielt in ihrem Zorn, ihren Enttäuschungen und allem Schwärmen fürs Kino doch nur und wieder -Theater.

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Christoph Ransmayr

Die Unsichtbare

Tirade an drei Stränden

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Inhalt

Die GeschichtePersonenAlle Darsteller,SchauplatzErster StrandZweiter StrandDritter Strand

Die Geschichte

Eine ins Kino vernarrte Souffleuse verliert während einer katastrophalen Vorstellung ihr Textbuch und beginnt nach dem Schlußvorhang das Theater zu verfluchen. Sie, die stets flüsternd, stets unsichtbar dem stockenden Spiel auf der Bühne die Fortsetzung einhauchen mußte, wird in den nächtlichen Kulissen dreier Meereslandschaften nun selber zur Hauptfigur: Beschimpft zwischen hölzernen Eisbergen vor der Westküste Grönlands gedächtnisschwache Schauspieler, erinnert sich unter Kokospalmen aus Pappmaché an eine bittere Liebesgeschichte am Golf von Bengalen und an den Beginn ihres eigenen Irrwegs zur Bühne und verwandelt sich schließlich in den Kulissen einer antiken Tragödie an der thessalischen Ägäis in einen Filmstar. Und spielt in ihrem Zorn, ihren Enttäuschungen und allem Schwärmen fürs Kino doch nur und wieder – Theater.

Personen

Frau Stern, die Unsichtbare

 

Der Schwarze Chor, darin:

Herr Carl, Verfolger

Professor Rose, Direktor des Theaters Schauspiel am Strand

Frau Strauss, Lady O’Shea

Herr Schreier, Captain Beecher

Alcyone, Königin von Trachis

Ceyx, König von Trachis

Herr Mund, Wurstprofessor

Herr Schwarz, Bühnenmeister

Frau Steppan, Maske

Sankt Florian, Feuerwehrmann

 

Bühnenpersonal

Singende Urlauber

Tanzpaare eines Bunten Abends

Hotelpersonal

Theaterpublikum

Schauspieler in schwachem Applaus

Alle Darsteller,

die Unsichtbare ausgenommen, erscheinen zunächst als schwarzgekleidetes Bühnenpersonal, als Schwarzer Chor, in einer dämmrigen Kulisse mit Abbau und Umbau beschäftigt. Erst in den Augenblicken, in denen die Unsichtbare von einem Professor Rose als Theaterdirektor, einer Frau Strauss als Lady O’Shea oder einem Herrn Schreier als Captain Beecher zu sprechen beginnt, verwandeln sich die Schwarzgekleideten vorübergehend in Gestalten der Tirade, indem sie ihre Mäntel oder Overalls abstreifen, ein darunter getragenes Kostüm enthüllen, ins Licht und in den Vordergrund treten und tun oder sagen, wovon die Unsichtbare in ihrem Zorn, ihrer Leidenschaft oder Trauer spricht. Am Ende ihres jeweiligen Auftritts, der immer wieder zum Gespräch mit Frau Stern, der Unsichtbaren, wird, verwandeln sich Captain, Lady oder Professor aber doch wieder in schwarzgekleidetes Personal, treten als solches auch ab und nehmen entsprechende Requisiten oder Kulissenteile mit …

Die Bühne ist so einer ständigen, manchmal polternden und brachialen, dann wieder kaum wahrnehmbaren Umgestaltung ausgesetzt, die den Raum im Verlauf eines Schauspiels an drei Stränden immer hallender und schließlich leer werden läßt, bis auf eine flimmernde Leinwand (und zwei Vogelskulpturen) leer. Auf dieser Leinwand erscheint dann das donnernde, stürmische Meer als ein menschenleeres Bild jenes Films, von dem die Unsichtbare auf ihrem Weg über die Strände schwärmt. Und das schwarzgekleidete Bühnenpersonal wird vor dieser Leinwand zum maskentragenden Chor auf der sandbedeckten Orchestra eines thessalischen Amphitheaters; dahinter Zypressen, ein steiniger Strand, die ägäische Küste.

Schauplatz

der Tirade ist die nächtliche Bühne eines Theaters nach einer katastrophalen Vorstellung. Die Kulissen zeigen drei Küstenlandschaften an drei verschiedenen Meeren, und zwar:

 

Das Nördliche Polarmeer an der Westküste Grönlands: Klippen, Treibeisschollen, Gletscherabbrüche, Eisberge. Den Indischen Ozean am Golf von Bengalen, einen vom Krieg verwüsteten Kokospalmenhain in Monsunschleiern und Brandungsstaub an der Ostküste Sri Lankas.

 

Das Ägäische Meer am Golf von Maliakós, ein Strand, eine Mole vor einer winterlichen Brandung, ein verfallendes Amphitheater der Antike.

 

Die Küsten können stets gleichzeitig, wenn auch aus wechselnden Perspektiven und in wechselnden Lichtverhältnissen sichtbar bleiben – Packeis und Palmen, eine antike Mole und unbetretbare Klippen – und werden im Verlauf der Tirade und nacheinander zum zentralen Ort der Handlung und verblassen dann wieder zum bloßen Hintergrund, zur Ferne.

Erster Strand

Brandungsdonner. Applaus. Das Ende einer Vorstellung.

Blick aus der Tiefe der Bühne durch ein Kulissenlabyrinth auf die Rücken einer Reihe von Schauspielern, die sich an den Händen haltend immer wieder gegen ein im Dunkel verborgenes Publikum verbeugen. Ein Vorhang, der sich schließt und öffnet. Allmählich schwächer werdende Brandung, aber immer wieder die Schauspieler, die noch einmal und wieder ins Rampenlicht laufen, um den Applaus nicht verebben zu lassen. Dann nur noch Meeresrauschen aus knackenden Lautsprechern. Rampenlicht auf abgehendes Publikum. Endlich auch Abgang der Schauspieler. Der geschlossene Vorhang. Die menschenleere, von Kulissen und Requisiten starrende Bühne – im Vordergrund ein Rettungsboot, eine Dünung aus Plastikfolien und Papier; Treibeis, Packeis aus Gips und Pappmaché. Verstreute Schwimmwesten, Ruder, Rettungsringe, dahinter schwarze Klippen, ein ferner Strand … Scheinwerfer erlöschen. Arbeitslicht. Bühnenarbeiter in schwarzen Mänteln und Overalls, Requisiteure, Techniker, Beleuchter, beginnen mit einem langsamen, umständlichen Abbau. Dann, aus der dunklen Tiefe der Bühne, eine zornige Frauenstimme, Geräusche einer wütenden Suche im Chaos der Requisiten und Kulissen. Poltern, durcheinandergeworfenes Zeug, Geklirr.

FRAU STERN

Verschwunden! Das darf doch nicht wahr sein. Verschwunden! Ein Buch kann doch nicht einfach verschwinden! Mein Buch! Hier, hier war es doch, hier muß es doch gewesen sein, daß mir dieser fuchtelnde Herr Schreier in seinem Schiffbrüchigenkostüm das Buch aus der Hand geschlagen hat, Herr Schreier in seinen Armesünderfetzen, fuchtelnd und spuckend. Herr Schreier in seinem Katastrophenkostüm!

Kopfüber und um mindestens zehn Sekunden zu früh stürzt er ins Meer und schlägt mir dabei mit seinen gestiefelten Beinen das Buch aus der Hand! Flattert mit den Armen, fällt über Bord und mein Buch, mein Buch!, segelt ihm in hohem Bogen voran, bevor ich mit dem Rest der Besatzung das Gleichgewicht verliere und ihm hinterherpoltere.

In diesem …, diesem Pappmeer, diesem Bühnenmeer kann ein Buch doch nicht versinken, mein Souffleusenbuch! Hier, hier irgendwo muß es liegen! Irgendwo in diesem Requisitenramsch, irgendwo unter diesem wurmstichigen Rettungsboot, in dem ich mich den ganzen endlosen dritten Akt lang wie ein blinder Passagier verstecken mußte.

Nicht in dieses Boot, habe ich immer wieder gesagt, ich will nicht in dieses Boot! Boote machen mich schon auf dem Trockenen seekrank. Alles, alles, nur nicht in dieses Boot. Ich bin Souffleuse, keine Seekuh. Aber nein, ich muß, muß um alles in der Welt, in dieses Boot.

Eine Souffleuse unter Bojen, Tauwerk und Schwimmwesten begraben! unter eine Ruderbank gestopft und – natürlich – wieder einmal zu Füßen von gedächtnisschwachen Schauspielern, die sich – natürlich und wieder einmal – an die Namen von grönländischen Kaffs und Bergen und Buchten und Fjorden nicht und nicht und wieder nicht erinnern können und mich am Rande ihrer Gedächtnislücken, Gedächtnisgruben, Gedächtnisabgründe! sogar mit den Füßen treten, um endlich das erlösende Stichwort zu hören:

Nuugaatsiaq,

Saattut,

Qaarsut,

Niaqornat,

Ukkusissat,

flüstere und zische ich ihnen aus meinem Versteck zu,

Illorsuit,

Kangilleq,

Uummannaq,

Saqqaq,

Quassersuaq,

fauche ich Namen über Namen unter meiner Ruderbank hervor, bete die ganze Litanei der grönländischen Westküste zwischen gestiefelte Füße und verderbe mir dabei die Augen an einer Funzel, an einem sogenannten Leselämpchen, dessen Schein nach dem Willen unseres Direktors nur schwach wie ein Glühwürmchen über alle diese vergessenen Silben, Wörter und Sätze huschen darf: Tasiusaq, das muß Tasiusaq gewesen sein, Captain oder war es Kullorsuaq?

Qaanaaq?

Sqvissivik?

Akkulliit!

Nanortûpaluk!

Ikamiut!

Attu!

Itilleq!

Oder Saqqarliit?

Verfällt in den Ton eines maßlos übertreibenden Schauspielers.

Saqqarliit! Um Himmelswillen, mein Captain, wo sind wir, die Brecher schleudern uns an die Klippen, mein Captain, und dort! Das muß doch das Leuchtfeuer von Qaarsut sein …

Qaarsut!

Diesen ganzen öden dritten Akt auf hoher Kulissensee hocke ich unter Schwimmhilfen versteckt und flüstere Namen in der Eskimosprache unter der Ruderbank hervor, Qaa-na-aq, Sqvi-ssi-vik, Ak-ku-lliit, Na-nor-tû-pa-luk! und dann kippt und kentert unser morscher Kahn auch noch um mindestens zehn Sekunden zu früh, zehn Sekunden zu früh, weil ein traumverlorener oder verliebter oder einfach sturzbetrunkener Herr Schwarz, der sich Bühnenmeister nennen läßt und niemals mehr war als ein besserer, fürs Grobe zuständiger Hausknecht, wieder einmal zur Unzeit und noch dazu am falschen Flaschenzug und viel zu heftig zieht – und uns alle ohne die geringste Vorwarnung über Bord gehen läßt!

Ins Eismeer!

In diese lachhafte Wogenkulisse.

Auf die Bretter.

Meer …, als ob auf dieser muffigen Bühne auch nur eine Ahnung von offener See und Sturmhimmel möglich wäre.

Ins Meer …, auf die Bühnenbretter poltern wir allesamt und dank der Verwirrung des sogenannten Bühnenmeisters Schwarz und seinem Flaschenzug um mindestens zehn Sekunden zu früh. Poltern auf diese löchrige, blaue Plane, die sich bauschen soll, Wellen schlagen soll, Brecher schlagen soll wie in einem Orkan …

Ein Ozean, der wütet und sich wieder beruhigt, besänftigt zum mondhellen, von Eisbergen durchpflügten Meeresspiegel, wie unser katastrophensüchtiger Direktor, unser Professor Rose, schon bei der ersten Bauprobe schwärmte – der silbrig schimmernde, gefräßige Ozean, der sich erst über dem Untergang der Schiffbrüchigen wieder glättet.

Ozean. Durchlöcherte Fetzen aus Plastik und Papier.

Und dann die Opfer: In einem von Pappschollen umschaukelten Rettungsboot soll das Publikum die zu Kannibalen verwilderten Passagiere eines Polarseglers erkennen, ein bestialisch gewordenes Häuflein Gescheiterter: eine ehemalige Lady O’Shea als menschenfressende Furie im räudigen Bärenfellmantel, einen vom Meer geschlagenen Captain Beecher und drei seiner Gefährten, durchnäßte, von Frostbeulen entstellte Opfer der Seefahrt vor der grönländischen Küste.

Die hysterische Frau Strauss als Lady O’Shea. Der spuckende Herr Schreier als Captain Beecher und übergewichtige Chargen als sterbende Matrosen, Hungergestalten, die einen zu Tode erschöpft, andere im Koma oder schon tot, ein Unterweltsfloß, ein Totenfloß – so sollte nach dem Willen unseres Katastrophenprofessors Rose das Boot im Windschatten einer zerklüfteten Küste und im letzten Akt schließlich kentern und sinken, überragt von Gletscherabbrüchen und schwarzen Felstürmen und:

Unter den Augen eines schläfrigen, von drei endlosen Akten zermürbten Publikums. Zugrunde gehen, dramatisch versinken sollte diese Unglücksgesellschaft, nicht plumpsen, nicht poltern. Das Meer auf der Bühne. Der von Sturzseen gezähnte Horizont!, wie unser Direktor bei der Bauprobe schwärmte. Der Himmel schwarz, kalt. Ein eisiger Mond …

Gletscher aus Styropor. Brecher aus Pappmaché. Eisberge aus Holz und Gips. Alles hohl und nach siebzehn langen Aufführungen zerschlissen. Die Wellen brüchig, das Gipseis so schmutzig wie – immerhin – von Seesturmvögeln beschissen. Wie schäbig das alles ohnedies schon war und grotesk wurde, als zum Sturmgeheul aus den Lautsprechern unseres Herrn Schwarz und einem mißverständlichen Handzeichen das Unglück auch noch um zehn Sekunden zu früh stattfand. Um zehn Sekunden zu früh!

Nanortûpaluk,

Ikamiut,

Attu,

Itilleq,

Saqqarliit!

keuchten die Untergeher und stockten, und ich hatte ihnen längst und einmal mehr die Namen verschneiter, vergessener Kaffs zugeflüstert, als Herr Schwarz an seinem Strick zog und uns ins Eismeer plumpsen ließ.

Kannibalen …, Schiffbrüchige …, pensionsberechtigte, gedächtnisschwache Schauspielbeamte ruderten plötzlich nicht mehr im Spiel, sondern flatterten tatsächlich und vergeblich mit den Armen und fielen dann polternd in die Kulisse. Schwergewichtig und mit einem seltsamen Grunzen allen voran Herr Schreier unter seiner Sturmhaube.

Herr Schreier und Captain! Grunzend kippt er über Bord und schlägt mir mit seinen Seehundstiefeln das Buch aus der Hand, mein Buch, in dem alle Hänger, Gedächtnislücken und vergessenen Stichworte aus siebzehn betäubenden Vorstellungen mit Rotstift markiert leuchten, alle bereits geschehenen und immer wieder und an immer neuen Stellen drohenden Peinlichkeiten der Herren und Frauen Schreier und Strauss und ihresgleichen – und ich, ich kippe meinem Captain nach, kippe zwischen plötzlich wegklappenden Ruderbänken aus meinem Versteck, schlage mit dem Kopf gegen ein Ruder, stürze in diesen Bretterozean und verliere dabei auch noch mein Leselämpchen und meine Brille!

Und dann läßt Herr Schwarz das Sturmgeheul tosend werden. Rasend! Allerdings zu spät. Um Schrecksekunden zu spät. Der Flaschenzug zu früh. Das Geheul zu spät. Und dann Finsternis. Sturmnacht. Licht aus. Auch das mit Verspätung. Wir strampeln ja schon sekundenlang auf den Brettern, sekundenlang im peinlichsten Kalklicht, wir