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Neben seinen großen Romanen erkundet Christoph Ransmayr in einer losen Reihe von in Leinen gebundenen Bändchen »Spielformen des Erzählens«. In »Der Ungeborene« kreuzen sich die künstlerischen Wege von Christoph Ransmayr und Anselm Kiefer. Anselm Kiefer – Ein Meister aus Deutschland? Der Bibliothekar, ja Prophet des Bleis? Oder ein Freund der Leichtigkeit, des Klatschmohns und der Rosen? Maler und Bildhauer der Barbarei? Missionar der Vergänglichkeit? Admiral bleierner Flotten und Geschwader? Reisender durch alle Welten? ... Ach, mit wie vielen Namen hat man diesen Mann aus dem badischen Donaueschingen in den Jahren seines wachsenden Ruhmes, seines Weltruhms schließlich, schon bedacht, mit wie vielen Ehrungen, Schmähungen und immer neuen Namen ... Christoph Ransmayr ist im Spätsommer des Jahres 2000 und im folgenden Frühjahr einer Einladung Kiefers gefolgt und hat ihn auf La Ribaute, einer zur Bastion und gläsernen Kolonie der Kunst umgestalteten stillgelegten Seidenfabrik im Süden Frankreichs, besucht. Ransmayr hat auf La Ribaute viele von den alten Namen wiederentdeckt, vergessene, längst abgelegte – und auf einem nächtlichen Spaziergang mit Kiefer einen neuen gefunden: Der Ungeborene. ›Der Ungeborene oder Die Himmelareale des Anselm Kiefer‹ setzt die Reihe der »Spielformen des Erzählens« fort, in der Christoph Ransmayr unter anderem in »Tirade« und »Verhör«, »Bildergeschichte«, »Duett« und »Ansprachen« die Spielräume des Erzählens erkundet.
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Seitenzahl: 24
Christoph Ransmayr
Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer
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Anselm Kiefer – Ein Meister aus Deutschland? Der Bibliothekar, ja Prophet des Bleis? Oder ein Freund der Leichtigkeit, des Klatschmohns und der Rosen? Maler und Bildhauer der Barbarei? Missionar der Vergänglichkeit? Admiral bleierner Flotten und Geschwader? Reisender durch alle Welten? … Mit wie vielen Namen hat man diesen Mann aus dem badischen Donaueschingen in den Jahren seines wachsenden Ruhmes, seines Weltruhms schließlich, schon bedacht, mit wie vielen Ehrungen, Schmähungen und immer neuen Namen …
Christoph Ransmayr ist im Spätsommer des Jahres 2000 und im folgenden Frühjahr einer Einladung Kiefers gefolgt und hat ihn auf La Ribaute, einer zur Bastion und gläsernen Kolonie der Kunst umgestalteten stillgelegten Seidenfabrik im Süden Frankreichs, besucht. Ransmayr hat auf La Ribaute viele von den alten Namen wiederentdeckt, vergessene, längst abgelegte – und auf einem nächtlichen Spaziergang mit Kiefer einen neuen gefunden: Der Ungeborene.
Hier …, das hier ist die Wildnis. Im Moos, im Gras und schwarzen Laub wird jeder Schritt leiser. Und das hier, das ist die Straße, die neue, erst im Frühjahr ins Dickicht geschlagene Erdstraße, auf der brüchiger Lehm, Steine und Sand noch so lose und unverbunden liegen, daß unsere Schritte knirschen wie im Brucheis. Selbst die Hunde hört man laufen. Castor! Pollux! Hierher!
Wie dunkel es ist. Neumond. Über den Oliven, den Akazien und Maulbeerbäumen frühsommerliche, zirpende Finsternis. Pollux! Diese schwarzen, wie Scherenschnitte gereihten Palisaden dort drüben, das müssen die Pappelzeilen hinter den Teichen sein. Und die Lanzen und Schlachtmesser dort oben, genau unter dem Sternbild des Großen Bären, das ist die Zypressenallee. Nirgendwo ein erleuchtetes Fenster. Kein Widerschein einer Stadt. Nur einige versprengte, ferne Lichtfunken von Barjac, dem nächsten Dorf.
Selbst aus der Nähe ist Anselm Kiefer, der Gastgeber, der uns durch sein nachtdunkles Land im Süden Frankreichs vorangeht, kaum zu erkennen. Manchmal folgen wir bloß einer Stimme, dem Geräusch sich entfernender Schritte, einem schmalen Schatten. Nur wenige von uns kennen diesen Weg, und kaum einer hat ihn je bei Neumond beschritten. Wir, Spaziergänger in der Finsternis, suchen Kiefers Nähe oder zumindest seine Rufweite, als Gäste auf La Ribaute, jener stillgelegten Seidenfabrik, die für unseren Gastgeber im vergangenen Jahrzehnt eher Bastion und Zuflucht als Residenz geworden ist. Pollux! Castor! – Wir stolpern seinen Rottweilern nach. Bei anderen Gelegenheiten hat man uns auch schon als Sammler und Farbenhändler auf seiner Spur gesehen, als Galeristen oder Kommentatoren und Deuter seiner Kunst. Wir sind das Gefolge eines Meisters aus Deutschland.