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Christoph Ransmayrs »Spielformen des Erzählens«. Eine Bildergeschichte mit Unterwasserfotografien von Manfred Wakolbinger. Ist es das Paradies, was uns erwartet? Ist es die Hölle? Sieben ›Damen & Herren unter Wasser‹ erleben beides: des einen Himmel ist des anderen Inferno. In der neuesten seiner »Spielformen des Erzählens«, die seit 1997 bei S. Fischer in loser Folge und gleicher Leinen-Ausstattung erscheinen, stellt Christoph Ransmayr die »Bildergeschichte« in eine Reihe, in der er bereits »Festrede«, »Tirade« oder »Verhör« als Varianten einer ebenso vergnüglichen wie vielschichtigen Prosa vorgeführt hat. Diesmal erzählt er zu den Unterwasserfotografien von Manfred Wakolbinger die Verwandlungsgeschichten von sieben, allein durch ihre Wasserscheu verbundenen Damen und Herren, die sich eines Tages als Meerestiere in der Tiefsee wiederfinden.
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Seitenzahl: 68
Christoph Ransmayr
Damen & Herren unter Wasser
Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger
FISCHER E-Books
Ist es das Paradies, was uns erwartet? Ist es die Hölle? Sieben Damen & Herren unter Wasser erleben beides: des einen Himmel ist des anderen Inferno.
In der neuesten seiner Spielformen des Erzählens, die seit 1997 bei S. Fischer in loser Folge und gleicher Ausstattung erscheinen, stellt Christoph Ransmayr die Bildergeschichte in eine Reihe, in der er bereits Festrede, Tirade oder Verhör als Varianten[1] einer ebenso vergnüglichen wie vielschichtigen Prosa vorgeführt hat. Diesmal erzählt er zu den Unterwasserfotografien von Manfred Wakolbinger die Verwandlungsgeschichten von sieben, allein durch ihre Wasserscheu verbundenen Damen und Herren, die sich eines Tages als Meerestiere in der Tiefsee wiederfinden.
Anna, Manfred!
Wie katastrophal wäre die Bauruinenzeitin diesem staubigen Jahr 2007 wohl gewordenohne eure Gastfreundschaft?
Beschenkte bedanken sich gelegentlichmit einer Rede.
Hier ist eine Geschichte.
Während draußen eine auf Kamelen schaukelnde Touristengruppe die ersten beiden Stunden des alten, einst sieben oder auch zehn Wochen dauernden Karawanenzuges von M’hamid nach Timbuktu probeweise erleidet, sitze ich in der kühlen Lounge einer Kasbah und denke über Unterwasserwesen nach: über leuchtende, durchsichtige oder ihre glühenden Farben und bizarren Formen sekundenschnell wechselnde Meeresbewohner. Fotos dieser Aliens liegen in geordneter Reihe vor mir auf dem Tisch.
Einige von uns werden sich wohl noch an Schulaufgaben erinnern, die der Förderung der Vorstellungskraft dienen sollten und darin bestanden, Geschichten zu Bildern zu erfinden, die etwa auf einem vom Lehrer vor der Tafel entrollten Plakat aus dem Lehrmittelkabinett zu sehen waren – Szenen aus einem mehr oder weniger dramatischen Alltag, vielleicht auch bloß eine Porträtaufnahme, ein Stilleben oder die Darstellung einer von Nebelkrähen besetzten, winterlich leeren Baumkrone.
Gemessen an diesen Übungen unter strenger Aufsicht war die Aufgabe, die ich mir mit den Damen & Herren unter Wasser gestellt habe, natürlich leichter: keine Alltagsszenen, keine Zeitvorgabe und zunächst auch keine Benotung, sondern allein die von meinem Freund Manfred Wakolbinger in verschiedenen tropischen Meeren aufgenommenen Fotografien von Aliens, so fremd wie Besucher aus den Tiefen des Alls.
Das vorliegende, siebente Beispiel einer den Spielformen des Erzählens gewidmeten Reihe von schmalen hellgrauen, seit 1999 in loser Folge erscheinenden Bändchen soll den Typus jener Bildergeschichte noch einmal vorführen, die einigen von uns in ihren Schuljahren Plage oder kindliches, vielleicht sogar kindisches Vergnügen war. Diese Möglichkeiten bestehen für Erzähler und Zuhörer oder Leser immer noch. Selbstverständlich auch im folgenden Beispiel.
M’hamid/Marokkanische Sahara, im Frühjahr 2007
CR
Herr Blueher
Erzähler, Ex-Museumswärter
(Großflossen-Riffkalmar Sepioteuthis lessoniana)
Herr Reddish
Ex-Wasserbettverkäufer
(Imperialgarnele Periclimenes sanguineus)
Frau Horange
Ex-Schwimmlehrerin
(Kronenqualle Netrostoma sp.)
Herr Blackthorn
Ex-Installateur
(Geisterpfeifenfisch Solenostomus paradoxus)
Frau Whitey
Ex-Ministerin
(Flohkrebs Cyproidea hopalac)
Frau Purpleheart
Ex-Schönheitskönigin
(Rotlippen Fledermausfisch Ogocephalus darwini)
Herr Greenfinch
Ex-Dammbauer
(Nacktschnecke Elysia ornata)
Drei Herzen … Ich trage drei Herzen in meiner Brust, was sage ich: in meinem Kopf! Drei pochende Herzen.
Wenn ich wütend oder begeistert bin, schlagen diese Herzen allerdings nicht schneller als sonst, und ich erbleiche oder erröte auch nicht vor Angst oder in Verlegenheit, sondern meine Möglichkeiten, einen Gemütszustand sichtbar werden zu lassen, umfassen ein breit gefächertes Farbenspiel, das auf meiner Haut erscheinen und innerhalb von Sekunden wieder verblassen kann, ja mir sogar erlaubt, unsichtbar zu werden, indem ich die Farben und Strukturen meiner Umgebung annehme, nachspiele: das Wehen eines von sanften Strömungen bewegten Seeanemonenfeldes etwa; die fliegenden Schatten der Wellenkämme auf dem Sandgrund einer Lagune oder die scheckigen Muster muschelbesetzter Riffe …
Außerdem – auch wenn gerade diese Behauptung für einen möglichen Neider ein bißchen großspurig klingen mag – ist mein Blut nicht rot, sondern von einem schwärzlichen Blau: Ich bin blaublütig! – allerdings gefangen im Körper eines Kalmars, genauer: eines Großflossen-Riffkalmars. Und wer beneidet schon einen Kalmar.
Obwohl längst Kiemen- und kein japsender Lungenatmer mehr, denke ich immer noch und manchmal ein bißchen wehmütig an sommerliche Brisen, die bloß streicheln, was auf ihrem Weg liegt …, an Böen, die jedes Hindernis zerreißen wollen …, auch an Passatwinde, die ganze Flotten vor sich herzutreiben vermögen und selbst von einem Orkan nicht in ihrem Gleichmut zu stören sind … Seltsamerweise sind es immer wieder die Lüfte, der Wind, meine Erinnerungen an die wirbelnden, heulenden oder ruhig dahinfließenden Strömungen der Atmosphäre, die mich hier, in meiner nahezu luftlosen Tiefe, immer noch beschäftigen und bewegen:
Vielleicht ist es auch bloß eine Art Heimweh, daß ich an die Oberwelt denke, wenn submarine Driften an meinen Fangarmen und Tentakeln ziehen, mich davontragen und mir so bei meinen Fischzügen behilflich oder hinderlich werden. Noch der schwächste Wasserwirbel, den der Flossenschlag einer vor mir flüchtenden Beute aufrührt, ruft mir eine ultramarine Heimat in Erinnerung, die unter ziehenden Wolken oder dem nackten Blau des Himmels liegt, ausgesetzt, gefächelt oder zerstört von den unsichtbaren Kräften des Windes.
An die meisten meiner luftigen Erinnerungen ist allerdings die immergleiche Frage geknüpft, welche Kräfte es wohl waren, die mich, einen atmosphärisch gebundenen Lungenatmer, in mein gegenwärtiges Leben hinabzogen, in die Meerestiefe und mich dort in eine schwimmende, schwebende Gestalt zwangen, die mir bis dahin nur aus der Zoologie, von Speisekarten in Fischrestaurants, aus dem verlotterten Aquarium meiner Heimatstadt oder von meinem einzigen, am Strand einer kanarischen Insel unternommenen Schnorcheltauchgang bekannt (oder eigentlich: unbekannt) war. In eine Gestalt, die meinem plötzlich verlorenen menschlichen Körper in seiner Erscheinung, seiner Funktionsweise, seinen Lebensbedingungen …, kurz: in allem widersprach.
Ich glaubte lange Zeit, daß diese Art einer Verwandlung, die mir ein ganzes Luftweltleben lang höchstens als Traum oder als Wahnvorstellung eines Verrückten denkbar erschienen war, nur mich allein getroffen hätte und ich also mit meinem Schicksal allein, ganz allein wäre. Erst seit ich mich dem Rätsel meiner Metamorphose nicht mehr als Verbannter, Ausgelieferter oder Leidender, sondern mit der Hingabe und Neugier eines Forschers zugewandt habe, weiß ich, daß ich weder allein noch verrückt bin. Und ich träume auch nicht.
Manchmal beginnt mir meine Verwandlung schon ebenso selbstverständlich zu erscheinen wie die Aufeinanderfolge der Lebensphasen etwa eines Insekts, das aus seinem Ei schlüpft und dann in gelassenem Wechsel die Gestalt einer reglosen, wie für immer in der Erde begrabenen Mumie annimmt, dann zur seidenhaarigen oder borstigen, vielbeinigen und immer noch höchst erdgebundenen Raupe wird, um sich schließlich als prachtvoller oder auch unscheinbarer, wie im Glücksrausch gaukelnder Schmetterling in die Luft zu erheben und alles Vertraute unter sich zurückzulassen.
Ich war …, ich war ein alleinstehender, kinderloser, von unkontrollierbaren Schweißausbrüchen geplagter, oft übellauniger Museumswärter, der sich weniger für die Menschen selbst als vielmehr für ihre Werke begeistern konnte – beispielsweise für die traumverlorenen Weltlandschaften der flämischen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts:
Jawohl!, diese bläulichen, auf Eichenholz- oder Kupferplatten gemalten Landschaften, deren Horizont manchmal von einem unvergleichlichen Schimmer erhellt war, einem Glanz, unter dem ich stets ein bloß erahnbares, noch gänzlich unsichtbares Meer vermutete …, diese Landschaften machten mich, ich weiß kein anderes Wort, glücklich. Ich war ein Bewunderer dieser Werke.
Nun bin ich ein Bewohner dieses fernen Meeres, und mein Lebensraum reicht über türkise, grüne und ultramarinblaue Tiefen und Untiefen bis in jene lichtlose Schwärze hinab, in der organisches Leben wohl ähnlich selten vorkommt wie in der nach Lichtjahrmilliarden gemessenen Weite eines nahezu leeren Weltraums. So schwimme und schwebe ich also, ein zehnarmiges Weichtier, vielleicht irgendwo in der Mitte zwischen den nahezu unendlich kleinen und nahezu unendlich großen Ordnungen einer insgesamt ziemlich unerforschten, rätselhaften Welt.
Mein Name war Blueher, der liebe Herr Blueher