Alsterflimmern. Luises Rückkehr - Susanne Rubin - E-Book

Alsterflimmern. Luises Rückkehr E-Book

Susanne Rubin

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Beschreibung

Die dunkle deutsche Vergangenheit stellt Luise vor eine unmögliche Wahl

Hamburg 1951. Luise Vossen ist in London aufgewachsen und hat sich ihr ganzes Leben danach gesehnt, die Stadt kennenzulernen, in der ihre Eltern sich vor dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal trafen und in der sie selbst das Licht der Welt erblickte. Sie ist beeindruckt vom alten Glanz der Metropole, der zwischen den Trümmern hindurchschimmert. Und noch etwas fasziniert Luise: der charmante Anwalt Jens Thomsen. Die Familiengeschichten der beiden sind eng mit dem Warenhaus Tietz verbunden. Die Tietzens verloren ihr Unternehmen während des Nationalsozialismus – für Luise ganz klar eine große Ungerechtigkeit. Selbstverständlich hätte der Familie ihr Eigentum zurückgegeben werden müssen, davon ist sie überzeugt. Doch Jens scheint auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Muss Luise zwischen Moral und Liebe wählen?

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Seitenzahl: 405

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Das Buch

Hamburg 1951. Endlich kann Luise Vossen sich ihren Traum erfüllen, die berühmte Hafenstadt mit eigenen Augen zu sehen. Hier haben sich vor dem Zweiten Weltkrieg ihre Eltern kennengelernt, und hier wurde Luise geboren. Aufgewachsen ist sie aber in London, nachdem ihre Familie vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Nun erkundet sie neugierig die alte hanseatische Metropole, deren alter Glanz zwischen den Trümmern hindurchschimmert. Und noch etwas fasziniert Luise: der charmante Anwalt Jens Thomsen. Die Familiengeschichten der beiden sind eng mit dem Warenhaus Tietz verbunden. Die Tietzens verloren ihr Unternehmen während des Nationalsozialismus – für Luise ganz klar eine große Ungerechtigkeit. Selbstverständlich hätte der Familie ihr Eigentum zurückgegeben werden müssen, davon ist sie überzeugt. Doch Jens scheint auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Muss Luise zwischen Moral und Liebe wählen?

Die Autorin

Susanne Rubin ist eine waschechte »Hamburger Deern«. Zusammen mit ihrem Mann, einem pensionierten Kriminalbeamten, lebt sie in ihrer geliebten Heimatstadt. Nach eigener Aussage ist ihr Mann ihr persönlicher Held, und ihre inzwischen erwachsenen Söhne sind die wunderbarsten der ganzen Welt. Sie liebt das Schreiben und Spieleabende mit ihrer Familie.

Susanne Rubin

Alsterflimmern

Luises Rückkehr

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Dies ist ein historischer Roman. Er basiert auf der Unternehmensgeschichte des Alsterhauses. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden. Eine Zusammenarbeit mit dem Alsterhaus oder der Familie Tietz gab es nicht, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung. Die Verwendung des Firmennamens erfolgt also ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig-kennzeichnenden Gründen.Liedtext »Schau mich bitte nicht so an« von © Peter Schaeffers und Ralph Maria Siegel, deutsche Übersetzung von »La vie en rose«, © Luis Guglielmi (Komposition) und © Èdith Piaf

Originalausgabe 02/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Christiane Wirtz

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München, unter Verwendung von: Historische Museen Hamburg/Museum für Hamburgische Geschichte, Trevillion Images (Ildiko Neer), Shutterstock.com (PollyW, NikaMooni, Svetlana Moska)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-29364-2V001www.heyne.de

Für Lieselotte (Lilo).Du fehlst!

Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, wo wir lieben.

(Wilhelm Busch, 1832 – 1908, deutscher Schriftsteller, Maler und Zeichner)

Prolog

Hamburg, im Jahre 1949

»Es ergeht somit folgender Beschluss …«

Jens Thomsen nahm einen Stapel loser Seiten von Klaus Prange, seinem Chef, entgegen und schob ihn unter den Deckel einer schwarzen Aktenmappe, die vor ihm auf dem Tisch lag.

Da er die wichtigsten Punkte der Vereinbarung bereits kannte, interessierten ihn die weiteren Erläuterungen des Richters kaum noch. Sein Blick glitt kurz hinüber zu den Anwälten, die die Gegenseite vertraten. Sie redeten leise miteinander, auch mit dem hageren jungen Mann, der bei ihnen saß und von dem alle Anwesenden annahmen, dass er ein Angehöriger der Familie Tietz war. Während der gesamten Verhandlung hatte der junge Mann jedoch weder ein Wort gesagt, noch seine Familienzugehörigkeit offiziell bestätigt. Er hatte nur dagesessen, zugehört und sich dann und wann ein paar Notizen gemacht. Es wurde gemunkelt, dass es sich bei ihm um einen Neffen von Georg und Martin Tietz handelte, doch ganz genau wusste das nur die Gegenseite.

Jens ging davon aus, dass das Ergebnis dieser Verhandlung die Familie Tietz und ihre Anwälte kaum zufriedenstellen konnte, doch der Vergleich, auf den man sich letztlich geeinigt hatte, war vielleicht der letzte Ausweg aus einer äußerst brisanten Lage. Insbesondere die Seite, auf der Jens gesessen hatte, wäre durch eine angemessenere Abfindung unwiderruflich in den Konkurs getrieben worden. Diese Tatsache hatte schließlich auch die Familie Tietz davon überzeugt, sich auf einen Vergleich einzulassen. Es lag der Familie fern, das einst so prachtvolle und erfolgreiche Unternehmen gänzlich zu zerschlagen, und diese Einstellung war von Anfang an kein Geheimnis gewesen. Auch Klaus Prange, seine Kollegen in der Kanzlei und die Klienten, die sie vertraten, Georg Karg und seine Hertie GmbH, hatten das von Anfang an gewusst. Letztlich hatten sie auf dieser Basis sogar ihre Verhandlungsstrategie aufgebaut. Die Liebe der Familie Tietz zu ihrem früheren Unternehmen war ohne Frage eine ihrer stärksten Waffen gewesen, so widersinnig das auch klingen mochte, wenn man etwas länger darüber nachdachte – und Jens hatte das durchaus getan, viele Nächte lang. Durch die Zerstörungen des Krieges, aber auch durch die Teilung ihres Landes war nur noch ein Bruchteil der früheren Pracht übrig geblieben, doch Georg Karg war von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass der Gegenseite viel daran liegen würde, diese Reste unter allen Umständen zu erhalten. Schließlich war das Unternehmen vor langer Zeit von Oskar Tietz, dem Vater von Georg und Martin Tietz, gegründet worden.

Jens hatte einen faden Geschmack im Mund. Es ging ihm ganz und gar nicht gut mit all dem Wissen über die Ereignisse und Zusammenhänge in der dunklen Vergangenheit, doch darauf kam es nicht mehr an. Er selbst war nur ein unbedeutender Referendar, wenn auch in einer hoch angesehenen Hamburger Kanzlei.

Kurz nachdem der Richter sich verabschiedet und den Raum verlassen hatte, nahm Jens die Aktenmappe, erhob sich und wartete etwas abseits geduldig, bis Klaus Prange und Georg Karg ihr abschließendes Gespräch beendet hatten.

»Ich werde der Familie Tietz noch heute anbieten, die Häuser in München, Stuttgart und Karlsruhe wieder anzumieten«, hörte Jens Georg Karg gerade sagen. »Wir brauchen diese Häuser. Ich werde das Unternehmen wieder genauso groß machen, wie es einst gewesen ist. Darauf können Sie jede Wette abschließen, und genau das werde ich auch der Familie Tietz noch einmal versichern.«

Sein Chef lächelte leicht. »Ich bin überzeugt, dass Sie erfolgreich sein werden, Herr Karg.« Beiläufig nickte er den Anwälten der Gegenseite zu, die ebenfalls gerade im Begriff waren zu gehen. »Wenn ich eines aus dieser Verhandlung mitnehme, dann ist es die Gewissheit, dass Ihnen das Unternehmen mindestens so sehr am Herzen liegt wie der Familie Tietz.«

»Da widerspreche ich Ihnen nicht. Wissen Sie, Herr Prange, ich habe einen Großteil meines Lebens in Warenhäusern verbracht«, entgegnete Karg. »Das KaDeWe in Berlin liegt noch immer in Trümmern, aber ich habe das Alsterhaus – ein wunderschönes Gebäude mit Tradition. Es ist mein neues Flaggschiff, und es ist mir jeden Tag eine Freude, dort sein zu dürfen. Vor ein paar Tagen konnten wir sogar wieder die oberen Büroräume beziehen. Das war ein wichtiger Schritt.« Er nickte, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Das Haus steht jedenfalls prachtvoll da. So wie einst vor dem Krieg, und die Menschen kommen, schauen und kaufen auch wieder. Sobald die Warenhäuser florieren, ist das ein gutes Zeichen für unser Land, das kann ich Ihnen versprechen. Es geht aufwärts, daran gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel. Das vom Kanzler versprochene Wirtschaftswunder hat sich bereits auf den Weg gemacht.«

1. Kapitel

London, Haus der Familie Vossen, im September 1950

Das Gefühl war wieder da. Heute erschien es Luise sogar noch stärker als jemals zuvor. Inzwischen war ihr diese seltsame Empfindung durchaus vertraut, und doch fiel es ihr noch immer schwer, sie klar zu benennen. Sie hätte auch nicht sagen können, wann genau es angefangen hatte. Das Gefühl war einfach irgendwann da gewesen und hatte zunächst nur ganz sanft ihr Innerstes berührt, doch dann war es nach und nach stärker geworden. Wie ein sanfter Hauch, der allmählich zu einem Sturm herangewachsen war, hielt es sie nun gefangen, rüttelte an ihr und ließ sie kaum mehr zur Ruhe kommen.

Luise stieß ein lang gezogenes Seufzen aus, während sie ihre Bluse zuknöpfte und den Saum in den Bund ihres Rocks schob, um ihn anschließend glatt zu streichen. Dabei fiel ihr Blick auf das große Ölgemälde, das über ihrem Bett hing. Ihr Vater hatte es ihr vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt.

Das Bild zeigte den Hamburger Jungfernstieg von der Alster aus gesehen, so als hätte der Maler in einem Boot gesessen. Am linken Bildrand streckte sich der wunderschöne Turm des Rathauses einem strahlend blauen Himmel entgegen. Etwas weiter rechts davon erkannte man einen schmalen Alsterlauf, ein Fleet, und gleich daneben die hübschen Alsterarkaden. Sein Hauptaugenmerk hatte der Maler jedoch unverkennbar auf die eindrucksvollen Häuser des Jungfernstiegs gelegt.

Eines der Häuser stach besonders hervor. Mit seinen fünf Etagen, den hohen Fenstern und dem grün schimmernden Kupferdach mutete es majestätisch an und bildete zugleich den Mittelpunkt des Gemäldes. Vom ersten Augenblick an war Luise von diesem prachtvollen Gebäude fasziniert gewesen. Es war das ehemalige Warenhaus Hermann Tietz. Das Warenhaus gab es noch immer, doch noch vor dem Krieg hatten die Nationalsozialisten dafür gesorgt, dass es einen anderen Namen bekam.

Ihr Großvater war im vergangenen Jahr für einige Tage in Hamburg gewesen, denn er hatte unbedingt mit eigenen Augen sehen wollen, was der Krieg seiner Heimatstadt angetan hatte. Nach seiner Rückkehr hatte er ihnen unter Tränen von all den Zerstörungen berichtet. Es hatte furchtbar wehgetan, ihren geliebten Opa so unglücklich zu sehen.

Er erzählte ihnen auch, dass nun der neue Name Alsterhaus in großen Buchstaben an der Fassade des Warenhauses zu lesen war.

Luise erinnerte sich noch gut an diesen herzergreifenden Moment. Ihre Eltern hatten einen langen Blick miteinander gewechselt, und die Traurigkeit darin war nicht zu übersehen gewesen. Luise war zutiefst erschüttert gewesen, wie furchtbar bedrückt und am Boden zerstört ihre Großeltern, aber auch ihre Eltern in diesem Moment waren.

Einst hatten sich Charlotte und Jannes Vossen in dem legendären Kaufhaus kennengelernt und ineinander verliebt. Wahrscheinlich hatte ihr Vater ihr auch deshalb dieses Bild geschenkt, weil er wollte, dass die Geschichte ihrer Eltern in ihrem Herzen einen Platz fand und behielt. Bei dem Gedanken fühlte sie einen Stich in der Brust. Er hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie sehr ihr Herz bereits davon gefangen war.

Ihre Familie saß schon versammelt am Frühstückstisch, als Luise nach unten ins Esszimmer kam. Es war Sonntag, und traditionell dauerte das Familienfrühstück an diesem Wochentag immer sehr lange. Zumindest, wenn niemand von ihnen einen wichtigen Termin hatte. Dann saßen sie manchmal mehrere Stunden beisammen. Es gab wohl niemanden in ihrer Familie, der dieses Zusammensein nicht genoss.

»Ah, da bist du ja, Liebes. Guten Morgen, Luise«, wurde sie von ihrer Mutter begrüßt.

»Ha, die jungen Leute«, rief ihr Großvater aus. »Die können noch schlafen bis in die Puppen.« Er zwinkerte ihr munter zu. »Recht so, Lieschen.«

Er nannte sie oft Lieschen. Anfangs hatte sie deshalb noch protestiert, weil sie es nicht mochte, wenn man ihren Namen verniedlichte. Doch inzwischen nahm sie es einfach hin. Manchmal nannte ihr Opa sie auch Liese oder sogar Lulu. Sie war sich nicht sicher, ob das einfach nur eine kreative Auswahl von Kosenamen war, oder ob er sich manchmal gar nicht mehr oder nur vage an ihren richtigen Namen erinnerte. Früher hatte er sie einfach bei ihrem Vornamen oder auch mal Engelchen genannt. Heute kam das kaum noch vor.

Seit einigen Monaten litt ihr Opa unter einer rasch fortschreitenden Demenz, und sie wusste, dass diese Tatsache nicht nur ihr das Herz schwer machte. Kurz nachdem er im letzten Jahr von seiner Reise nach Hamburg zurückgekehrt war, hatte zunächst ihre Oma die ersten Anzeichen bemerkt. Anfangs waren es nur ein paar kleine Gedächtnislücken gewesen, doch schon kurz darauf hatte er sich plötzlich ständig verlaufen, wenn er alleine auf ihm eigentlich vertrauten Wegen unterwegs gewesen war. Seitdem wurde es von Woche zu Woche schlimmer. Doch sie hatten sich alle geschworen, ihm die Zeit, die ihm noch blieb, so angenehm wie nur möglich zu gestalten.

Ihre Mutter schenkte ihr Kaffee ein und lächelte ihr zu. »Hast du gut geschlafen, mein Schatz?«

Luise setzte sich an ihren angestammten Platz und erwiderte das sanfte Lächeln ihrer Mutter. »Ja, habe ich. Sonntage sind einfach herrlich.«

»Da widerspricht dir hier wohl niemand am Tisch.« Ihr Vater lachte.

Einmal mehr wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn und ihre Mutter liebte und bewunderte. Luise war sich sicher, dass die tiefe Liebe, die ihre Eltern füreinander empfanden, sie beide jung hielt. Jannes Vossen war noch immer der attraktivste Mann, den sie kannte. In seinen vollen dunklen Haaren zeigten sich nur vereinzelt zarte, silbern schimmernde Strähnen, und ihre Mutter Charlotte sah genauso zauberhaft und wunderhübsch aus wie auf ihrem Hochzeitsfoto.

»Weiß Luise eigentlich schon, dass Peter morgen nach Hause kommt?«, wollte ihre Großmutter wissen. Wie immer saß ihre Oma Esther rechts von ihr, zwischen ihr und ihrem Opa Karl.

»Peter kommt? Mitten im Schuljahr?« Luise fühlte sofort Besorgnis in sich aufsteigen. Sie und ihr jüngerer Bruder hatten sich schon immer sehr nahegestanden. »Nein, das wusste ich noch nicht. Er ist doch nicht etwa krank?«

»Mach dir keine Sorgen, Peter geht es gut. Sein Besuch hat sich ganz kurzfristig ergeben. Er hat gestern Abend angerufen, da warst du schon oben, und wir wollten dich nicht mehr stören«, erklärte ihr Vater. »Es hat einen offenbar recht heftigen Wasserschaden gegeben, deshalb muss die Schule für einige Wochen schließen. Das Gebäude sollte ohnehin gründlich renoviert werden, doch nun lassen sich die Arbeiten nicht mehr bis zu den Ferien aufschieben. Auch der Gebäudeabschnitt des Internats wurde in Mitleidenschaft gezogen, deshalb werden nun alle Schüler vorerst für zwei Wochen nach Hause geschickt. Man hofft, dass bis dahin das Schlimmste, zumindest im Wohntrakt, behoben sein wird.«

Erleichtert atmete Luise auf. »Der Wasserschaden ist sicher ärgerlich, aber ich muss zugeben, ich freue mich darauf, Peter so unerwartet zu sehen.«

»Ich freue mich auch so sehr«, stimmte ihre Mutter zu. »Eigentlich wollten Papa und ich in den nächsten Wochen sogar für ein paar Tage rauf nach Schottland und nach Gordonstoun fahren, um Peter zu besuchen, aber die Reise können wir uns nun ersparen.«

Eine Weile plätscherte das Gespräch so dahin. Wie üblich aß Luise zwei Scheiben Toast mit Butter und Orangenmarmelade, genoss ihren Kaffee und hörte überwiegend zu. Als schließlich eine kleine Gesprächspause eintrat, holte sie tief Luft. Es ging nicht anders, sie musste es einfach noch einmal versuchen.

»Papa, können wir bitte noch einmal über Hamburg reden?«, fragte sie nachdrücklich.

Ihr Vater wechselte zunächst einen Blick mit ihrer Mutter, dann sah er Luise einen endlosen Moment lang wortlos an.

»Unsere Meinung dazu hat sich in den vergangenen drei Monaten nicht geändert, Luise«, antwortete er schließlich.

Ihre Mutter nickte. »Du hast gerade erst deinen achtzehnten Geburtstag gefeiert, mein Schatz, du bist noch viel zu jung, um allein so weit weg zu leben.«

»Peter ist fast zwei Jahre jünger als ich und ist schon lange von zu Hause fort. Und er …«

»Du weißt sehr genau, dass das etwas völlig anderes ist«, unterbrach sie ihr Vater sofort. »Dein Bruder ist wohlbehütet auf einem Internat. Außerdem hat er das Land nicht verlassen und lebt auch nicht mutterseelenallein in einer Stadt, die so weit weg ist.«

»Ich wäre in Hamburg nicht allein«, widersprach sie. »Tante Kerstin und Onkel Hagen wären dort, und ich könnte …«

»Nein«, unterbrach sie ihr Vater entschieden und mit ernster Miene. »Nein«, wiederholte er. Dieses Mal klang seine Stimme allerdings eine Spur sanfter. Er war nicht gerne streng, das wusste sie.

»Was zieht dich nur so vehement nach Hamburg?«, wollte ihre Großmutter wissen. »Deine Mutter hat dich zu einer fantastischen Schneiderin ausgebildet, und du sagst doch immer wieder, dass du eines Tages deine eigene Mode entwerfen möchtest. Du lebst in einer Stadt, die dir alle Möglichkeiten dafür bietet, mein Engel.« Ihre Oma stieß ein lang gezogenes Seufzen aus. »Ich würde ja noch verstehen, wenn es dich nach Paris zöge oder gar nach New York, aber … Hamburg?«

»Ich weiß, was du meinst, Omi, und ehrlich gesagt, kann ich es gar nicht so genau erklären, warum ich tief in meinem Herzen einfach vollkommen sicher bin, dass es Hamburg sein muss. Es ist, als würde mich jemand oder etwas drängen, genau dorthin zu gehen.« Luise sah von einem zum anderen, dann blieb ihr Blick an ihrer Mutter hängen. »Ich weiß, dass ihr mich nicht versteht, aber ich kann es nicht anders erklären. Ich möchte nicht einfach nur nach Hamburg, ich muss dorthin. Wenn es irgendwie geht, möchte ich am liebsten sogar im Alsterhaus arbeiten, so wie ihr es früher getan habt. Ich würde alles dafür tun, genau dort eine erste Anstellung zu bekommen.«

Ihr Vater stieß ein leises Seufzen aus. »Du willst wirklich für Georg Karg arbeiten?«

»Wer das Alsterhaus führt, ist mir eigentlich egal, Papa.« Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die fast wie im Gebet gefaltet vor ihr auf der weißen Tischdecke lagen. »Ich weiß nur, dass ich es tun muss. Es ist ein Gefühl, das mich einfach nicht zur Ruhe kommen lässt.« Erneut suchte sie den Blick ihrer Mutter. »Mama, bitte. Ich könnte doch vielleicht bei Tante Kerstin wohnen. Ihr schreibt euch dauernd, vielleicht könntest du sie fragen, ob das möglich wäre. Kerstin und Hagen vertraust du doch, nicht wahr? Und du musst zugeben, dort wäre ich ebenso gut behütet, wie es Peter in seinem Internat ist.«

Ihre Mutter zögerte. »Kerstin und Hagen würden sicherlich nichts dagegen haben, und genug Platz hätten sie auch, aber ich denke, die beiden haben momentan wirklich genug andere Sorgen.«

Luise stutzte. »Wieso, was ist denn los? Ich dachte, sie sind nach der langen Zeit in Amerika froh, wieder zurück in Hamburg und in ihrem Haus sein zu können.«

»Das ist auch so, aber Hagen und Jens verstehen sich zurzeit überhaupt nicht gut«, erklärte ihr Vater. »Dass sein Sohn nicht in seiner Kanzlei den zweiten Teil seines Referendariats absolvieren wollte, hat ihm schon genug zugesetzt, doch dann ist Jens ausgerechnet zur Kanzlei Prange gegangen. Hagen und Klaus Prange haben zusammen studiert und konnten sich noch nie leiden. Hagen ist sich sicher, dass Prange mit den Nazis sympathisiert hat. Allein diese Vorstellung ist schon schlimm genug, aber hinzu kommt noch, dass die Kanzlei Prange im Wiedergutmachungsprozess der Familie Tietz ausgerechnet Karg und die Hertie GmbH vertreten hat, während Hagen als beratender Jurist auf der Seite der Familie Tietz tätig war.«

Luise zuckte mit den Schultern. »Ihr wisst, dass ich Jens Thomsen nicht besonders mag, und es liegt mir fern, ihn in Schutz zu nehmen, aber als Referendar kann er sich wohl kaum aussuchen, welche Mandanten die Kanzlei übernimmt, für die er arbeitet. Dafür kann er doch nun wirklich nichts.«

»So einfach ist das nicht, Luise«, erwiderte ihr Vater. »Das ist eher eine Frage der Ehre und des Prinzips. Jens wollte schlicht nicht für Hagen arbeiten und hat sich dann auch noch ausgerechnet für Prange entschieden. Das hat Hagen schwer getroffen, und ich muss zugeben, als verantwortungsvoller und liebender Vater kann ich das sehr gut verstehen.«

Bevor Luise auf den Einwurf ihres Vaters eingehen konnte, hob ihre Mutter eine Hand und gebot ihr Einhalt. Ihre Eltern wechselten einen Blick, und ihr Vater nickte leicht.

»Wie dein Vater soeben andeutete, hatte Jens bei der Entscheidung über sein Referendariat sehr wohl eine Wahl«, ergriff nun Charlotte das Wort. »Den ersten Teil hat er direkt bei einem Strafrichter absolviert, doch nach dem ersten Jahr wollte er in eine Anwaltskanzlei wechseln. Das war von vornherein so geplant gewesen, und das machen wohl auch viele so, um genügend praktische Erfahrungen zu sammeln. Hagen ist selbstverständlich davon ausgegangen, dass Jens nach seiner Zeit bei dem Richter zu ihm kommt. Er hätte seinen Sohn wirklich in der eigenen Kanzlei gebraucht, und ich kann ebenso gut wie dein Vater nachvollziehen, warum er und Kerstin mit Jens’ Entscheidung hadern. Stattdessen arbeitet wohl demnächst ein junger Jurist für Hagen, der zusammen mit Jens in Harvard studiert hat.« Ihre Mutter schüttelte leicht den Kopf. »Davon einmal abgesehen weiß Jens doch genau, dass seine Eltern der Familie Tietz noch immer sehr verbunden sind. Hagen hat es als Ehre betrachtet, zum Beraterkreis ihrer Anwälte zu gehören. Vater und Sohn haben also jeweils für die Gegenseite gearbeitet, das hat die Sache nicht unbedingt leichter gemacht.«

»Ich weiß, du hast nicht nur Papa, sondern auch Kerstin im Warenhaus kennengelernt, Mama. Ich kenne eure Geschichten, und ich weiß natürlich auch, wie wichtig euch allen das Alsterhaus war. Aber wenn man einmal ehrlich ist, kann doch niemand von uns Kindern erwarten, dass wir es genauso sehen.«

»Punkt für Lulu«, flüsterte ihr Großvater und lachte leise in sich hinein.

Luise unterdrückte ein Schmunzeln. Heute schien ihr Opa einen guten Tag zu haben. Sie liebte ihn so oder so, aber es war doch immer wieder eine besondere Freude, wenn sich der blitzgescheite Karl Vossen von früher so unerwartet zeigte.

Als ihr plötzlich ein Gedanke kam, setzte sie ein keckes Lächeln auf. »Da kannst du mal sehen, Mama, wie unterschiedlich Jens Thomsen und ich dazu stehen. Ich möchte, sozusagen in alter Familientradition, unbedingt in eurem geliebten Warenhaus arbeiten, und Jens scheint das Alsterhaus völlig egal zu sein.«

Doch an Charlottes Miene erkannte Luise sofort, dass sie soeben einen Fehler begangen hatte.

»Hier geht es nicht einfach darum, ob unsere Nachkommen etwas verstehen und teilen, was uns Älteren wichtig ist«, sagte ihre Mutter leise, aber dennoch bestimmt. »Hier geht es um Gerechtigkeit, Luise.« Charlotte hob ihren Blick und sah ihr direkt ins Gesicht. »Familie Tietz hat all das verloren, wofür zuvor schon Generationen ihrer Familie gearbeitet haben. Man hat ihnen ihr Unternehmen genommen, nur weil sie Juden sind, aus keinem anderen Grund. Auch wir mussten unsere Heimat verlassen, weil deine Großmutter jüdisch ist und damit praktisch über Nacht unsere gesamte Familie in Gefahr war. Übrigens auch du, mein Kind. Wir dürfen niemals vergessen, was die Nazis so vielen völlig unschuldigen Menschen angetan haben. Niemals! So etwas darf einfach niemals wieder passieren.«

»Scheißnazis«, schimpfte ihr Großvater. »Verdammte braune Brut, verfluchter Hitler.«

Ihre Großmutter legte sofort eine Hand auf die ihres Mannes. »Es ist gut, Karl, beruhige dich. Der Krieg ist vorbei, und Hitler ist tot.«

Luise erwiderte den eindringlichen Blick ihrer Mutter. Sie fühlte sich beschämt und musste schlucken. Natürlich wusste sie, dass Charlotte recht hatte. Mit den üblichen Maßstäben konnte man diese Sache nicht messen.

»Es tut mir leid, Mama. Ich habe nicht richtig nachgedacht.«

»Dann hoffe ich, dass dir das niemals wieder passieren wird. Es gibt Dinge, die sollten wirklich unter keinen Umständen aus den Köpfen verschwinden – nicht mal für eine Sekunde.«

Luise sah zu, wie ihr Vater ihrer Mutter sanft über den Rücken strich und ihr zulächelte. Sein Blick war voller Liebe.

»Ich muss zugeben, ich bin immer noch etwas irritiert, wenn ich den Namen Alsterhaus höre«, warf ihre Großmutter nach einer kleinen Gesprächspause ein. Luise nahm an, dass sie die bedrückte Stimmung am Tisch ein bisschen auflösen wollte. »Für mich wird es immer das Warenhaus Hermann Tietz bleiben.«

»Ich denke, das geht uns allen so.«

Ihr Vater erhob sich, ging hinüber zu einem kleinen Teewagen und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein, der dort wie an jedem Sonntagmorgen in einer hübschen Kristallkaraffe bereitstand. Eine Weile verharrte er, dann wandte er sich ihnen wieder zu und fing erneut ihren Blick ein.

»Doch um zurück zum eigentlichen Thema zu kommen …«

Während er sich wieder setzte, nahm er einen Schluck Saft und stellte dann das Glas nehmen seiner Kaffeetasse ab.

»Ich denke, ich kann dir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erlauben, allein nach Hamburg zu reisen, Luise. Wie ich schon mehrmals sagte, bist du noch zu jung, um …«

»Ach, Papa«, unterbrach sie ihn sofort. »Der Krieg mag erst seit fünf Jahren vorbei sein, aber wie Oma schon sagte, er ist es. Deutschland ist jetzt eine Bundesrepublik mit einer wunderbaren Verfassung, wie du selbst oft genug betonst.«

»Du kennst meine Einstellung dazu. Ja, es stimmt, der Krieg ist gerade einmal fünf Jahre vorbei. Überall in der Stadt gibt es noch Trümmerfelder, und die Besatzung hat auch noch kein richtiges Ende gefunden. Es ist dort viel zu gefährlich für ein junges Mädchen.«

»In Hamburg sind Briten stationiert, das weißt du, Papa. Trümmerfelder gibt es auch hier in London noch viele, und Hamburg ist viel weiter mit dem Wiederaufbau. Das Leben in der Stadt pulsiert schon wieder. Ich habe darüber so viel gelesen in den vergangenen Wochen. Hamburg befindet sich mitten im Aufbruch in eine neue und äußerst vielversprechende Zeit. Ich wäre so gerne dabei, wenn es richtig losgeht.«

»Was Hamburg angeht, hat Luise recht, Jannes. Kerstin schrieb, dass die Stadt jeden Tag unermüdlich daran arbeitet, die Trümmer zu beseitigen und teilweise sogar für neue Gebäude zu verwenden, die überall in der Stadt gebaut werden«, unterbrach ihre Mutter die Diskussion. »Selbst ausländische Zeitungen berichten bereits darüber, dass Hamburg die deutsche Stadt ist, die am effektivsten und am erfolgreichsten ihren Wiederaufbau betreibt. Überall florieren die Geschäfte, und im Hafen laufen jeden Tag neue Handelsschiffe ein.«

»Siehst du, Papa, es ist alles auf einem guten Weg.«

Luise registrierte, dass ihre Eltern erneut einen langen Blick miteinander wechselten. Das taten sie oft. Charlotte und Jannes Vossen hatten die für ihre Kinder nicht selten nervtötende Fähigkeit, sich wortlos verständigen zu können. Ihr blieb nichts anderes übrig, als stumm und voller Hoffnung abzuwarten.

»Also gut, hier kommt mein Vorschlag«, verkündete ihr Vater nach einer Weile des gemeinsamen Schweigens.

Luises Herz begann etwas schneller zu schlagen. Sollte ihr ständiges Bitten endlich Erfolg haben?

»Ich werde mich demnächst mit Georg Karg in Verbindung setzen und ihn fragen, ob er zu gegebener Zeit eine passende Stelle im Warenhaus für dich frei hätte.«

Luise sprang auf. »Oh, Papa, ich danke dir!«, rief sie aus.

Jannes Vossen hob die rechte Hand. »Moment, nicht so hastig. Ich bin noch nicht fertig.«

Langsam ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl sinken. »Aber das heißt doch, ich darf nach Hamburg, richtig?«

»Ja, aber nicht vor deinem nächsten Geburtstag. Dann bist du wenigstens schon neunzehn Jahre alt. Bis dahin kannst du auch deine Fähigkeiten als Schneiderin weiter ausbauen und etwas mehr Erfahrungen sammeln. Noch ein Jahr, Luise, das ist meine Bedingung. Und um dir gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, diese Voraussetzung ist nicht verhandelbar. Das betrifft übrigens auch deine Unterbringung bei Hagen und Kerstin. Sollten die beiden nicht damit einverstanden sein, dich bei sich aufzunehmen, ziehe ich meine Zustimmung zurück, und ich denke, dass deine Mutter diesbezüglich meiner Meinung ist.«

Er warf einen kurzen Blick zurück zu ihrer Mutter und wartete deren Nicken ab.

»Also erst im nächsten Jahr?«

Luise biss sich auf die Unterlippe. Einerseits erschien ihr die Vorstellung, noch fast ein Jahr lang warten zu müssen, schier unerträglich, doch andererseits hatte ihr Vater endlich seine Zustimmung gegeben, und genau darauf hatte sie schon seit Monaten hingearbeitet. Sie sollte zufrieden sein, sagte sie sich. Unter diesen Voraussetzungen würde sie die paar Monate nun auch noch warten können.

Ihr Vater holte geräuschvoll Luft. »Ich hoffe, jede weitere Diskussion ist damit erledigt. Sobald wir von Kerstin und Hagen eine Zusage haben und ich eine positive Antwort von Georg Karg bekomme, lasse ich es dich wissen. Wenn alles geregelt ist, werde ich auch mit Kapitän Roberts reden. James Roberts ist ein zuverlässiger und anständiger Mann. Ich vertraue ihm. Er fährt inzwischen mehrmals im Monat die Strecke zwischen Liverpool und Hamburg hin und her, und ich weiß, dass es auf seinem Frachtschiff zwei Gästekabinen gibt. Opa ist im letzten Jahr auch mit ihm gereist. Käpt’n Roberts wird dich also gut und sicher nach Hamburg bringen.« Er erhob sich und berührte dabei mit einer liebevollen Geste die Schulter ihrer Mutter. »Entschuldigt mich. Ich weiß, es ist Sonntag, aber ich muss die Bücher noch auf den neuesten Stand bringen. Gestern Abend bin ich nicht mehr dazu gekommen.«

»Kann ich dich unterstützen, Jannes?«, wollte ihre Mutter wissen.

»Nein, mein Liebling, genieße du den Sonntag und ruhe dich aus. Die Woche war anstrengend genug. Ich brauche ohnehin nicht lange. Ehe du dich versiehst, bin ich wieder bei euch. Vielleicht können wir später noch einen kleinen Spaziergang im Hyde Park machen, was meint ihr?« Er sah in die Runde.

»Das ist eine gute Idee«, erwiderte ihre Großmutter.

Luise sah ihrem Vater nach. Sie versuchte noch immer, die vorherrschende Empfindung zu ergründen, die seine Entscheidung in ihr hervorgerufen hatte. Die Freude, dass er endlich zugestimmt hatte, war eindeutig größer als der Gedanke an die Geduld, die ihr abverlangt wurde, entschied sie. Ja, die Vorfreude auf ihre Reise würde das Warten sicher erleichtern.

»Du strahlst ja«, stellte ihre Mutter lächelnd fest. »Das ist schön.«

»Ich freue mich wirklich, Mama. Aber es ist auch noch sehr lange hin.«

»Ich weiß, in deinem Alter erscheint einem ein Jahr sehr lang, aber sieh es doch so: Jetzt kannst du dich in aller Ruhe auf die Reise vorbereiten. Wenn du tatsächlich für eine längere Zeit in Hamburg bleiben willst, solltest du gut darüber nachdenken, was du alles mitnehmen möchtest.«

»Hamburg ist schön. Ich werde Lieschen begleiten und auf sie aufpassen«, sagte ihr Großvater.

Ihre Oma streichelte zärtlich über seine Wange. »Natürlich, mein Herz.«

Sie hatten inzwischen alle gelernt, dass er glücklicher war, wenn ihm niemand widersprach. Es war auch gar nicht nötig, denn er würde schon in wenigen Minuten vergessen haben, dass von Hamburg überhaupt die Rede gewesen war.

»Deine Mutter bringt es auf den Punkt, Kind«, wandte sich ihre Großmutter an sie. »Du hast jetzt noch genug Zeit, in aller Ruhe deine Garderobe vorzubereiten. Vielleicht nähst du dir sogar noch ein paar schöne Kleider. Dein eigenes Erscheinungsbild ist bei deinen Zukunftsplänen ja nicht ganz unwichtig.«

»Das stimmt natürlich. Ja, ihr habt beide recht, wie immer.«

Nach einer Nacht, in der sie vor lauter Aufregung kaum in den Schlaf fand, wurde der nächste Tag von der Ankunft ihres Bruders bestimmt. Die Wiedersehensfreude und die allgemeine Lebhaftigkeit im Hause lenkten sie ein bisschen von der anhaltenden Unruhe in ihrem Inneren ab.

Erst am späteren Abend schafften Peter und sie es endlich, allein miteinander zu reden. Gemeinsam saßen sie auf Luises Bett. Er lehnte am Fußende, eins der dicken Kissen im Rücken, das sie ihm zuvor zugeworfen hatte. Luise saß ihm gegenüber am Kopfende und war bereits unter ihre Decke geschlüpft. Auch Peter wärmte sich unter ihrer Bettdecke die Füße. Genauso hatten sie es schon als Kinder gerne getan, kurz bevor Hertha, ihr früheres Kindermädchen, oft aber auch ihre Mutter sie schlafen geschickt hatten.

»Ich vermisse Hertha«, sagte Peter, so als hätte er gerade ihre Gedanken gelesen. »Normalerweise wäre sie in den nächsten Minuten hereingekommen und hätte mit uns geschimpft, weil es schon so spät ist und wir immer noch wach sind. Das Haus ist nicht mehr dasselbe ohne sie.«

»Ja, ich denke auch oft an sie. Hertha war einmalig, aber sie war eben auch alt und am Ende doch sehr gebrechlich. Ich tröste mich immer damit, dass sie selbst gesagt hat, wie schön ihr Leben doch war, seit sie mit Mama und Papa hierher nach London gekommen ist. Hertha war ein Seelchen. Sie hat nicht nur uns, sondern auch Mama sehr lieb gehabt.«

»Oma hat mir vorhin erzählt, dass du Papa endlich weichgekocht hast und nach Hamburg darfst«, wechselte Peter unvermittelt das Thema.

Luise stieß schnaufend die Luft durch die Nase. »Aber erst im nächsten Jahr.«

»Ich kann mir vorstellen, dass dir das wie eine Ewigkeit erscheint, aber ich muss zugeben, dass ich Papa und Mama verstehen kann, wenn sie von dir verlangen, noch das eine Jahr abzuwarten.« Peter runzelte nachdenklich die Stirn. »Es ist schon ein großer Schritt, findest du nicht? Ich meine, wenn du mal versuchst, dein Vorhaben aus der Sicht der Erwachsenen zu betrachten, zu denen du ja immer gehören willst, wie du ständig betonst.«

»Jaha, Mister Vernunft.« Unter der Bettdecke versetzte sie ihm einen liebevollen Tritt. »Aber ich will es nun einmal unbedingt, das weißt du.« Ihr Blick wanderte wie von selbst hinauf zu dem Bild über ihrem Bett. »Etwas an dieser Stadt zieht mich magisch an.«

»Na ja, du bist dort geboren. Vielleicht ist es das.«

»Ich weiß es nicht, Peter. Kann sein. Es mag albern klingen, aber manchmal habe ich das Gefühl, man erwartet mich dort.« Sie machte eine kleine Pause, bevor sie ihren Blick wieder von dem Bild löste und fortfuhr. »Aber es ist auch das Alsterhaus, weißt du? Ich kann es wirklich nicht genau erklären, aber ich möchte unbedingt dort arbeiten, wo unsere Eltern sich einst kennenlernten. Sie haben so oft und viel darüber gesprochen, das hat mich einfach neugierig gemacht. Außerdem glaube ich, dass ein so wunderschönes Warenhaus wie das Alsterhaus großen Zeiten entgegengeht, wo doch der Krieg endlich vorbei ist. Ich möchte unter allen Umständen dabei sein, wenn das passiert.«

»Du wirst dann bei den Thomsens wohnen, nehme ich an.«

»Ja, das ist Papas Bedingung.«

»Das finde ich gut. So bist du gleich wieder Teil einer Familie und hast ein gutes und sicheres Zuhause. Kerstin und Hagen sind großartig.«

»Stimmt. Ich mag Kerstin und Hagen auch sehr, und ich fand es schön, dass sie ein paar Tage bei uns waren, nachdem sie aus Amerika zurückkamen.«

»Das lag wohl eher daran, dass ihr Schiff aus New York in Southampton anlegte. Aber ja, es war schön, als die Thomsens hier waren. Ich fand es ziemlich beeindruckend mitzuerleben, wie die Erwachsenen sich über ihr Wiedersehen nach so langer Zeit gefreut haben. Mama und Kerstin haben dauernd vor Freude geheult und sich gar nicht mehr losgelassen.«

»Ja, das war rührend, aber nach der langen Trennung und dem Krieg ist das doch verständlich. Sie mussten ja damit rechnen, dass sie sich vielleicht niemals wiedersehen werden. Wie gesagt, Kerstin und Hagen mag ich sehr, aber die Aussicht darauf, mit ihrem schnöseligen Sohn unter einem Dach wohnen zu müssen, finde ich nicht ganz so verlockend.«

»Jens ist doch in Ordnung. Ich mochte ihn eigentlich ganz gerne.«

Luise winkte unwillig ab. »Na, dich hat er ja auch in Ruhe gelassen. Ich fand ihn allerdings ziemlich abgehoben und arrogant. Offenbar hatte er seinen Spaß daran, mich ständig wegen irgendwas aufzuziehen. Das hat mir damals richtig zu schaffen gemacht, und anscheinend hat er das auch noch genossen. Jedenfalls hat er sich furchtbar aufgeführt. Der Idiot bildet sich jede Menge darauf ein, in Harvard studiert zu haben. Das hat er dauernd erwähnt, ob es jemand hören wollte oder nicht. Ich fand das so lächerlich. Außerdem konnte ich Jungs wie ihn sowieso noch nie ausstehen.«

»Jungs wie ihn? Wie meinst du das denn?«

»Na eben solche, die genau wissen, wie hübsch sie sind.«

Auf Peters Gesicht erschien ein breites Grinsen. Sie hätte wissen müssen, dass er sie sofort damit aufziehen würde, doch nun war es zu spät. »Aha, du findest Jens Thomsen also … hübsch?« Das letzte Worte betonte er besonders.

Luise stöhnte entnervt und winkte ab. »Du brauchst gar nicht so frech zu grinsen, Peter Vossen. Ich finde auch Omas lila Hütchen hübsch, deshalb weiß ich trotzdem, dass es nichts für mich wäre.«

»Na ja, andererseits ist es schon fast zwei Jahre her, dass die Thomsens hier waren. Inzwischen bist du erwachsen geworden und siehst ihn vielleicht mit anderen Augen.«

»Sicherlich nicht. Einmal Schnösel, immer Schnösel, so viel steht fest.«

2. Kapitel

Hamburg, im Spätsommer 1951

So wie ihr Opa es ihr vor knapp zwei Jahren erzählt hatte, war die Stadt, nach der sich Luise so sehr gesehnt hatte, auch heute noch von den Narben, sogar noch von offenen Wunden gezeichnet, die der schreckliche Krieg hinterlassen hatte. Dennoch hatte sich Hamburg offenbar vorgenommen, Luise strahlend zu begrüßen. Zumindest empfand sie es so, während sie an Deck stand und begierig alles in sich aufnahm, was sie von dort aus erblicken konnte.

Die Sonne schien von einem wolkenlosen und azurblauen Himmel und tauchte selbst die grauen und wenig ansprechenden Löschkräne und Lagerhallen im Hamburger Hafen in ein goldenes Licht. Allerorts arbeiteten Menschen. Nicht nur die Schiffe ringsherum wurden entladen, sie konnte auch überall im Hafen Baustellen erkennen. Offenbar entstanden an zahlreichen Orten neue Gebäude, weitere Lagerhallen und zusätzliche Anlegestellen. Vorhin waren sie an einer großen Werft vorbeigekommen, und die Geräusche der Arbeiten waren unüberhörbar gewesen.

Mit wild klopfendem Herzen hatte sie gerade das Anlegemanöver des großen Frachtschiffes verfolgt, doch nun folgte sie Kapitän Roberts über den schmalen hölzernen Laufgang hinunter auf die Anlegebrücke. Nur wenige Schritte hinter Luise ging ein kräftiger Matrose zusammen mit ihnen von Bord. Er trug die zwei großen Koffer, in denen sie zu Hause all das verstaut hatte, was ihr für ihr neues Leben unentbehrlich erschienen war. Ihre kleinere Reisetasche hatte ihr lächelnd der Kapitän abgenommen.

Unten auf der Anlegebrücke angekommen, blieb der Kapitän kurz stehen und wandte sich ihr zu.

»Wir müssen noch ein Stück bis zur nächsten Treppe weiterlaufen«, erklärte er. »Oben werden Sie dann von einem zuverlässigen Fahrer unserer Reederei in Empfang genommen. Sicherlich wird er schon dort sein und auf Sie warten, Miss Vossen. Sie werden von ihm direkt zu Ihren Gastgebern gefahren. Ich habe Ihrem Vater versprochen, Sie erst aus den Augen zu lassen, wenn Sie sicher im Auto sitzen.«

»Das ist wirklich sehr nett und fürsorglich von Ihnen, Käpt’n Roberts«, erwiderte sie.

Er lächelte leicht. »Ich habe ebenfalls zwei Kinder, Miss Vossen. Ich kann Ihren Vater nur zu gut verstehen.«

Kurz darauf erreichten sie eine schmale Treppe, die in zwei Abschnitten von den Pontons der Anlegestellen hinauf auf einen kleinen Platz führte. Tatsächlich stand dort ein glänzend schwarzer Opel Kapitän, an dessen Motorhaube ein Fahrer in Chauffeuruniform lehnte und Zeitung las.

Er sah auf, als er ihre Schritte hörte, faltete sofort die Zeitung zusammen, nickte ihnen freundlich zu und öffnete den Kofferraum des Autos, damit die beiden Männer ihr Gepäck verstauen konnten. Anschließend bedankte sich Luise noch einmal beim Kapitän und seinem Matrosen.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miss Vossen«, antwortete Käpt’n Roberts.

Dann verabschiedeten sie sich voneinander, und der Fahrer öffnete ihr die Tür. Während sie sich im Fond des Wagens in die weichen Ledersitze fallen ließ, atmete sie einige Male tief durch. Sie war in Hamburg, nun konnten all ihre Träume wahr werden.

»Mein Name ist Hannes«, stellte sich ihr der Fahrer vor und unterbrach damit ihre euphorischen Gedanken.

Zum ersten Mal, seit sie vorgestern ihr Zuhause verlassen hatte, sprach wieder jemand mit ihr deutsch. Auf dem Schiff hatten natürlich alle englisch gesprochen.

»Der Weg ist nicht lang, mein Fräulein. Die Fahrt dauert nur wenige Minuten.«

Der unüberhörbare Hamburger Dialekt des Fahrers ließ sie schmunzeln. Sie kannte das von ihrem Großvater, und sie liebte es.

Tatsächlich ging die Fahrt für Luises Geschmack viel zu schnell vorbei. Sie hätte zu gerne noch viel mehr von der Stadt gesehen, doch gerade hielt der Wagen vor dem Haus der Thomsens an. Ihre Mutter hatte ihr das Haus so gut beschrieben, dass sie es auch ohne das goldfarbene Kanzleischild sofort erkannt hätte.

»Wir sind da, mein Fräulein«, sagte Hannes.

Er stieg aus, öffnete ihr die Tür und danach den Kofferraum, um ihr Gepäck auf den Bordstein zu stellen. In diesem Augenblick wurde auch schon die Haustür geöffnet. Kerstin Thomsen blieb kurz stehen und kam ihr dann strahlend und mit offenen Armen entgegen, um sie herzlich zu begrüßen.

»Ach, Luise, ich freue mich so«, sagte sie. Kerstin entließ sie erst aus ihrer festen Umarmung, als auch ihr Mann Hagen auftauchte, der sie ebenfalls kurz an sich zog.

»Sei herzlich willkommen, liebe Luise.« Hagens dunkle, aber dennoch klare Stimme war in jedem Gerichtssaal sicherlich ein wichtiges Werkzeug, dachte Luise sofort.

Der Fahrer der Reederei verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung und tippte sich an den Schirm seiner Mütze. »Mein Fräulein. Es war mir eine Ehre.«

»Vielen Dank, Hannes«, erwiderte sie.

Unaufgefordert schnappte sich Hagen ihre Koffer und trug sie ins Haus.

»So, nun komm rein und trink erst einmal einen Kaffee mit uns. Du bist sicher ziemlich müde von der Überfahrt.« Kerstin legte ihren Arm um Luises Taille und dirigierte sie zur Haustür.

»Es geht eigentlich. Ich habe ganz gut geschlafen, und die Fahrt war ruhig und aufregend zugleich. Wir hatten gutes Wetter, und ich habe es so sehr genossen. Ehrlich gesagt, hatte ich vorher ein bisschen Angst, seekrank zu werden, aber zum Glück war die Sorge unnötig.« Sie konnte immer noch nicht recht fassen, dass sie nun hier war. »Entschuldigt, ich rede zu viel. Ich bin wirklich aufgeregt. Ein Kaffee wäre natürlich wundervoll.«

»Lass ruhig alles raus, meine Liebe. Ich habe übrigens einen Butterkuchen gebacken. Deine Mutter schrieb mir, dass du ihn gern magst.«

»O ja, den lieb ich sehr. Ich war immer glücklich, wenn Hertha ihn gebacken hat.«

»Ach ja, die gute Hertha Kelling. Es tut mir leid, dass sie gestorben ist. Sie war eine mutige und sehr liebevolle Person, und sie hat damals so viel für deine Mutter riskiert.« Kerstin seufzte. »Ihr vermisst sie sicher sehr.«

»Ja, wir alle tun das, aber Mama natürlich besonders.«

Inzwischen standen sie im Flur des Hauses. Hagen stellte die Koffer neben die Treppe, nahm ihr den leichten Sommermantel ab und hängte ihn an einen der glänzenden Garderobenhaken aus Messing. Direkt gegenüber der Garderobe führte ein kleiner Durchgang in die Küche. Die Tür stand weit offen. Genauso hatte es sich Luise vorgestellt.

Kerstin Thomsen war noch immer die beste Freundin ihrer Mutter. Obwohl sie nun schon seit vielen Jahren in verschiedenen Ländern lebten, konnten sie sich ihre tiefe Freundschaft erhalten. Luise bewunderte die beiden Frauen dafür. Die Jahre der Naziherrschaft und des Krieges waren für beide Familien nicht leicht gewesen, doch obwohl es die Thomsens zuerst in die Schweiz und später sogar für einige Jahre in die Vereinigten Staaten verschlagen hatte, schafften es Charlotte Vossen und Kerstin Thomsen, das wertvolle Band zwischen ihren Familien zu erhalten.

»Setz dich, mein Deern«, forderte Kerstin sie auf.

Luise wartete, bis Hagen einen der Stühle für sich unter dem Tisch hervorgezogen hatte und sich setzte. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass in einer Familie oft jeder seinen Stammplatz am Tisch hatte, und es war ihr wichtig, nichts falsch zu machen.

»Hier?«, fragte sie und deutete auf den Stuhl, hinter dem sie stand.

»Ja, nimm gerne den.« Kerstin wandte sich ihr lächelnd zu. Sie deutete auf einen Stuhl auf ihrer Seite des Tisches. »Ich sitze immer hier und Jens neben mir, also dir dann gegenüber«, erklärte sie.

»So, nun erzähl mal«, forderte Hagen sie auf, nachdem Kerstin ihnen Kaffee eingeschenkt und jedem ein Stück Kuchen auf den Teller gelegt hatte. »Geht es deiner Familie gut?«

Luise nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie antwortete. »Ja, alle sind so weit gesund und munter. Na ja, das mit Opa wisst ihr ja, aber Peter beginnt demnächst sein Medizinstudium in Cambridge und ist sehr stolz darauf.«

»Das klingt wundervoll. Dann ist er ja auch nicht mehr so weit weg von zu Hause. Deine Mutter wird froh darüber sein. Gerade jetzt, wo du hier in Hamburg bist.«

»Ja, alle freuen sich darüber. Obwohl er natürlich auf dem Campus wohnen wird, weil das den Alltag als Student für ihn einfacher macht.«

»Das sehe ich auch so«, bestätigte Hagen. »Jens hat ähnliche Erfahrungen gemacht, als er in Harvard war.«

»Ich hoffe, dass deine Eltern dich hier bald besuchen kommen.« Kerstin schenkte ihnen Kaffee nach. »Ich würde mich so freuen, beide wiederzusehen.«

Luise lachte. »Ich nehme an, du meinst vor allem meine Mutter.«

»Charlotte fehlt mir natürlich, aber ich habe auch deinen Vater sehr ins Herz geschlossen. Jannes liebt Charlotte so sehr, und er ist ein wunderbarer Mann. Ich habe seine Stärke stets bewundert und wie er um ihre Liebe gekämpft hat. Wir alle haben so viel gemeinsam durchgestanden, und deine Mutter wird für mich ohnehin immer ein Vorbild bleiben, wenn es um Tapferkeit und Mut geht.«

»Ich weiß. Mir geht es ähnlich«, gab Luise zu. »Ich kenne ihre Geschichte, aber ich mag mir kaum vorstellen, wie ich mich an ihrer Stelle verhalten hätte. Sie ist die mutigste Frau, die ich kenne, und sie wird auch immer mein größtes Vorbild bleiben.«

In dieser Sekunde hörten sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.

»Ah, das wird Jens sein.«

Kerstin erhob sich, ging hinüber zum Küchenbüfett und stellte ein weiteres Kaffeegedeck auf den Tisch. Automatisch stand auch Luise auf.

»Schau an, unser Logierbesuch ist schon da«, sagte Jens, als er in die Küche kam und ihr sofort die Hand reichte. »Willkommen in Hamburg, Luise.« Sein Blick flog nur flüchtig über sie hinweg. »Du bist erwachsen geworden, wenn du mir diese Bemerkung gestattest«, fügte er noch hinzu.

Merkwürdigerweise klang seine Begrüßungsfloskel in ihren Ohren unterschwellig sarkastisch, so als wollte er sie schon wieder aufziehen. Ob das tatsächlich so war, konnte sie natürlich nicht wissen, aber sie empfand es so.

»Guten Tag, Jens«, sagte sie, während sie sich kurz die Hände schüttelten. »Nun, wir haben uns seit über drei Jahren nicht mehr gesehen. Damals war ich gerade sechzehn geworden, das weiß ich noch.«

Sie erwiderte seinen Blick, und für einen winzigen Augenblick fühlte sie sich seltsam verletzlich. Erst in diesem Moment wurde ihr wirklich bewusst, wie sehr seine Frotzeleien von damals sie getroffen hatten, und sofort baute sich in ihr eine erneute, noch viel stärkere Abwehrhaltung gegen ihn auf. Es war, als würde sie in eine Rüstung schlüpfen, die sie vor Jens Thomsen schützen sollte. Auch wenn sie sich darüber ärgerte, dass er diese Reaktion in ihr auslöste, ändern oder erklären konnte sie diese Gefühle nicht.

»Du hast dich hingegen kaum verändert«, schob sie nach.

Dann wandte sie sich wieder von ihm ab und setzte sich zurück auf ihren Platz. Sie vernahm ein leises Atemgeräusch, das in ihren Ohren nach einer Mischung aus Unmut und Resignation klang. Doch im Grunde sollte es ihr egal sein, was er dachte.

Kurz darauf umrundete Jens den Küchentisch und setzte sich ebenfalls. So wie Kerstin es vorhin erwähnt hatte, saß er ihr nun genau gegenüber.

»Oh, du hast gebacken, Mama. Es gibt Butterkuchen, wie wunderbar.«

Luise fiel auf, dass Hagen und sein Sohn in den folgenden Minuten kaum ein Wort miteinander wechselten. Es war nicht zu übersehen, dass sich das Verhältnis der beiden eher auf einer unpersönlichen und wenig zugewandten Ebene abspielte.

Jens aß ebenfalls ein Stück Kuchen und trank seinen Kaffee, doch die beiden Männer blieben weitestgehend stumm. Ihre Eltern hatten recht gehabt, zwischen Vater und Sohn lag offenbar noch immer einiges im Argen. Kerstin hingegen bemühte sich um Normalität, so gut es eben ging.

Es muss anstrengend für sie sein, ständig auszugleichen, ging es Luise durch den Kopf.

»Bist du heute Abend zum Essen da?«, wandte sich Kerstin an Jens.

»Heute nicht, Mama. Ich muss noch zum Gericht und einen Botengang für meinen Chef erledigen. Später hole ich dann Sybille von der Arbeit ab, und wir fahren zu ihr nach Hause. Ich bin eigentlich nur schnell hier vorbeigekommen, um unseren Gast zu begrüßen und mich frisch zu machen und umzuziehen.« Sein Blick huschte kurz zu ihr. »Sybille von Ronneburg ist meine Verlobte«, erklärte er ihr, bevor er sich wieder Kerstin zuwandte. »Dein Butterkuchen war allerdings eine willkommene Zugabe, Mama.«

Verlobt also, dachte Luise. Mit Sybille von und zu … was auch immer.

»Geht ihr heute noch aus?«, wollte Kerstin von Jens wissen.

»Wir haben Theaterkarten. Das heißt, ihre Mutter hat für uns welche besorgt. Wir gehen also zu dritt.«

Wenn Luise sich nicht täuschte, ließ sein Tonfall eine gewisse Abneigung gegen seine zukünftige Schwiegermutter erahnen, aber sie konnte sich natürlich auch täuschen. Vielleicht wäre er gerne mit seiner Verlobten alleine ins Theater gegangen, oder er mochte das Theater einfach grundsätzlich nicht. Innerlich schüttelte sie über sich selbst den Kopf, weil sie sich überhaupt darüber Gedanken machte. Es konnte ihr doch völlig egal sein, was genau Jens Thomsen an dem Theaterabend störte.

Etwas später half Luise Kerstin dabei, das Geschirr abzuwaschen. Jens hatte, wie angekündigt, unterdessen das Haus wieder verlassen. Auch Hagen hatte sich mit Arbeit entschuldigt und war in seinen Kanzleiräumen verschwunden, die sich ebenfalls im Erdgeschoss, aber auf der anderen Seite des Flurs und auf der hinteren Seite des Hauses befanden, wie Kerstin ihr bereits erklärt hatte.

»Übrigens, das Zimmer, in dem früher deine Mutter gewohnt hat, ist inzwischen eins unserer beiden Gästezimmer, und ich habe es für dich zurechtgemacht. Wenn wir hier fertig sind, können wir nach oben gehen, dann kannst du dich in Ruhe dort einrichten. Ich kann dir vorher auch gerne noch den Rest des Hauses zeigen, damit du dich zurechtfindest.« Kerstin trocknete die letzte Tasse ab und stellte sie in den Schrank. »Danke, dass du mir geholfen hast, Luise.«

»Ich freue mich so sehr und bin euch so dankbar, dass ich bei euch wohnen darf.«

»Das ist doch selbstverständlich. Es ist mir eine Freude, dich hier zu haben. Und mir ist es auch wichtig, dass du dich wie zu Hause fühlst. Du sollst wissen, dass ich jederzeit für dich da bin, falls du bei irgendwas Hilfe brauchst.«

»Ich fühle mich jetzt schon wohl bei euch, keine Sorge. Du kannst mir auch gerne sagen, wenn ich Aufgaben hier im Haus übernehmen soll. Ich mache das sehr gerne, wirklich.«