Die Frau des Kaffeehändlers - Susanne Rubin - E-Book
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Die Frau des Kaffeehändlers E-Book

Susanne Rubin

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Beschreibung

Das Erbe einer Familiendynastie. Das Schicksal dreier Generationen. Eine ergreifende Liebesgeschichte.

Hamburg, 1896: Um vom Bankier Ferdinand Claasen einen Kredit zu erhalten, willigt der ehrgeizige Kaufmann Paul Friedrich Magnussen ein, dessen älteste Tochter Amalia zu heiraten. Amalia ist eine kluge Frau und mit ihrer Hilfe gelingt es Paul, seinen Kaffeehandel zu einem florierenden Unternehmen auszubauen. Doch Amalia ahnt nicht, dass er sich eigentlich von Anfang an zu ihrer schönen Schwester Helene hingezogen fühlte …

Über ein Jahrhundert später entdeckt Melina Peters in der Hinterlassenschaft ihrer Großmutter Hinweise auf eine Verbindung zu der Kaffeehändler-Dynastie. Sie bewirbt sich bei P.F. Magnussen und wird die Assistentin des faszinierenden Leonard Magnussen. Von da an taucht sie immer tiefer in die privaten Schicksale ein, die hinter der offiziellen Familiengeschichte im Verborgenen liegen. Sie ahnt nicht, wie sehr diese mit ihrem eigenen Leben verknüpft sind …

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ZUM BUCH

Die junge Frau wirkte zart, fast ätherisch in ihrer Schönheit. Wenn er sich nicht täuschte, sah sie dann und wann diskret zu ihnen herüber.

Paul zwang sich zu einem tiefen Atemzug, um seinen inneren Aufruhr ein wenig einzudämmen. »Wer ist das?«, brachte er endlich hervor. Mit einem leichten Kopfnicken deutete er auf die Gruppe junger Frauen, in deren Mitte sie stand. »Ich meine das Mädchen mit den blonden Haaren und dem hellblauen Kleid.«

Georg sah ebenfalls zu den Damen hinüber. Sofort erhellte ein breites Lächeln seine Miene. »Das, mein Freund, ist Helene Claasen, die zukünftige Gräfin von Meyerhoff. Wir sind so gut wie verlobt. Ist sie nicht ein Traum? Ich kann es kaum erwarten, sie endlich zum Altar zu …«

DIE AUTORIN

Susanne Rubin ist eine waschechte »Hamburger Deern«. Zusammen mit ihrem Mann, einem pensionierten Kriminalbeamten, lebt sie in ihrer geliebten Heimatstadt. Nach eigener Aussage ist ihr Mann ihr persönlicher Held, und ihre inzwischen erwachsenen Söhne bezeichnet sie als die wunderbarsten der ganzen Welt. Sie liebt das Schreiben, Spieleabende mit ihrer Familie und ist leidenschaftliche Kaffeetrinkerin. Die Frau des Kaffeehändlers ist ihr erster Roman bei Heyne.

Susanne Rubin

Die Frau des

Kaffeehändlers

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Susanne Rubin

Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Christiane Wirtz

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von Motiven von © shutterstock

(Ollyy, yegorovnick, Alex Polo, superbank stock)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23879-7V001

www.heyne.de

Für Lieselotte und Ingrid

und in liebevoller Erinnerung an ihren Vater,

meinen Opa, Otto Westphal,

der meine Liebe zu guten Geschichten schon entdeckt

und gefördert hat, als ich noch ganz klein war.

Es war mir ein besonderes Vergnügen,

ihm einen kleinen Auftritt in dieser Geschichte

zu schenken.

1. Kapitel

Hamburg, im Februar 2018

Das Wetter passte zu ihrer trüben Stimmung. Dicke graue Wolken verdunkelten den Himmel, und der Regen prasselte heftig gegen die schmutzigen Scheiben. Melina wandte den Blick vom Fenster ab. Sie schluckte und atmete tief ein, um die erneut aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. In den vergangenen Wochen hatte sie schrecklich viel geweint, das musste endlich aufhören. Entschlossen erhob sie sich aus dem alten Ohrensessel und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Das viel zu grelle Licht einer einzelnen Glühbirne, die in ihrer nackten Fassung von der Zimmerdecke baumelte, ließ sie kurz blinzeln. Die hübsche Tiffanylampe, auf die ihre Großmutter Käthe so stolz gewesen war, hing schon seit Tagen nicht mehr an ihrem Platz. Käthes Wohnung wirkte nun kalt, inzwischen war sie nahezu leer geräumt. Hier, im ehemaligen Wohnzimmer, standen nur noch ihr Lieblingssessel und ein paar Kartons auf den abgetretenen Holzdielen herum und warteten darauf, dass auch sie fortgetragen wurden. Vor etwas mehr als drei Monaten war Käthe gestorben, und damit gab es nun endgültig niemanden mehr, der zu Melina gehörte. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und nach dem frühen Tod ihrer Mutter war Käthe ihre letzte Angehörige, ihre ganze Familie gewesen. Irgendwo in ihrem Herzen lebte die absurde Hoffnung fort, dass ihre geliebte Großmutter jeden Augenblick durch diese Tür kommen würde, resolut und stark wie eh und je, um ihr mitzuteilen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Sie hatte an Käthes Sterbebett gesessen und sie auf ihrem letzten Weg begleitet. Ihre Großmutter hatte einmal mehr große Stärke bewiesen, und Melina bewunderte sie dafür. Nicht weinen, mein Kind. Ich hatte ein langes Leben, doch vor allem hatte ich dich. Dafür war ich jeden Tag dankbar. Du hast mein Dasein erfüllt, warst immer mein Sonnenschein, mein größter Schatz. Denk immer daran. Käthes wunderbare Worte klangen noch immer in Melina nach.

Ja, dachte Melina, auch sie sollte vor allem dankbar sein. Ihrer Großmutter war tatsächlich ein langes und überwiegend gesundes Leben vergönnt gewesen. Obwohl es nicht immer einfach für Käthe gewesen war, hatte sie sich ihre Zuversicht und Herzensgüte stets bewahrt. Viel zu früh war sie Witwe geworden, und kurz darauf hatte das Schicksal erneut zugeschlagen, und sie musste ihr einziges Kind zu Grabe tragen. Doch für Melina war Käthe stark geblieben und hatte darum gekämpft, dass ihre Enkeltochter bei ihr aufwachsen durfte. Erst in der allerletzten Zeit war Käthe pflegebedürftig gewesen und schließlich friedlich im Schlaf gestorben. Dennoch … der quälende Kummer lag schwer auf Melinas Brust. Manchmal fühlte es sich an, als würde die Trauer ihr Herz mit eiserner Faust umklammern.

Seufzend sah Melina sich noch einmal wehmütig um, betrachtete einen Moment lang die leicht vergilbten Wände mit den staubigen Spuren von Bilderrahmen. In Gedanken sah sie jedes Bild vor sich, das dort noch vor wenigen Tagen gehangen hatte, erinnerte sich an den vertrauten Duft nach Fliederseife und frisch aufgebrühtem Kaffee, der so typisch für diese Räume, aber auch für Käthe gewesen war. So viele Jahre hatte Melina hier zusammen mit ihrer Großmutter gelebt. Erst mit sechsundzwanzig Jahren war sie schließlich in ihre erste eigene Wohnung gezogen, dennoch hatte sie Käthe mehrmals in der Woche besucht, um gemütlich einen Kaffee mit ihr zu trinken. Jedes Mal hatte Melina sich gefühlt, als würde sie nach Hause kommen. Melinas Blick wurde wieder klarer. Nun hieß es endgültig Abschied nehmen. Jemand anderes, vielleicht sogar eine kleine Familie, würde schon bald hier einziehen. Es war ein eigenartiges, ein etwas bedrückendes Gefühl, sich das vorzustellen.

»Wir wären dann so weit, Frau Peters«, hörte sie hinter sich die Stimme von Herbert Seidel, einem alteingesessenen Trödel- und Antiquitätenhändler aus dem nahe gelegenen Winterhude. Er und zwei seiner Angestellten hatten ihr in den vergangenen zwei Wochen geholfen, die Wohnung ihrer Großmutter aufzulösen. Die meisten Möbel und auch den Hausrat hatte er ihr bereits zu einem fairen Preis abgekauft. Nur einige wenige Sachen würde sie selbst behalten. Den unverkäuflichen Rest hatten Seidels Männer zum Recyclinghof gefahren. »Den Sessel und die Kartons bringe ich Ihnen dann heute Abend vorbei. Nach Feierabend, so gegen neunzehn Uhr, wäre das in Ordnung?«

»Natürlich«, antwortete sie und musste sich räuspern. »Ich danke Ihnen, Herr Seidel. Sie waren mir wirklich eine große Hilfe. Und damit meine ich nicht nur die Auflösung des Haushalts.« Auch die Gespräche mit ihm hatten sie getröstet – Herr Seidel war ein guter Zuhörer.

Der ältere Mann nickte ihr freundlich zu und lächelte verständnisvoll. »Geht es Ihnen denn schon ein bisschen besser?«, fragte er fast väterlich.

»Na, den Umständen entsprechend, würde ich sagen.« Auch Melina versuchte sich an einem Lächeln. »Es ist nicht leicht.«

»Das ist es nie.«

»Sie haben das sicher schon oft mitgemacht, nicht wahr?«

»Stimmt. Und es ist fast immer eine traurige Angelegenheit. Aber wissen Sie, Frau Peters, andererseits ist es auch ein Schritt zur Bewältigung der Trauer, die Wohnung auszuräumen, nachdem ein lieber Mensch für immer gehen musste. Ein wichtiger Teil des Abschieds. So sehe ich das.«

»Sie sind wirklich ein sehr weiser Mann«, sagte sie.

Er lachte kurz und verhalten auf. »Ich nehme das jetzt mal als Kompliment.«

Das Lächeln fiel ihr nun deutlich leichter. »Na, das ist es ja auch.« Melinas Blick fiel noch einmal auf die vier Kartons. Jeder einzelne war ungefähr so groß wie eine Getränkekiste und mindestens ebenso schwer. »Danke, dass sie mir die Augen geöffnet haben, als ich alles einfach wegwerfen wollte. Ich war wohl ein bisschen überfordert von der ganzen Situation.«

»Das ist doch nachvollziehbar. Wie gesagt, ich habe da so meine Erfahrungen. Vielleicht wird es noch eine Weile brauchen, aber irgendwann werden Sie froh und dankbar darüber sein, dass Sie alles noch einmal durchgehen und in aller Ruhe aussortieren können.« Auch er betrachtete die Kartons. »Mit den Unterlagen und Fotoalben ihrer Großmutter können Sie jederzeit ein paar schöne Erinnerungen zurückholen.«

»Ja, da haben Sie sicherlich recht.« Zumindest hoffte sie es.

Ihre Nachbarin Antonia stand auf dem Balkon und winkte ihr fröhlich zu, als Melina knapp eine Stunde später auf dem Parkplatz hinter ihrem Haus aus dem Wagen stieg. Toni, wie sie genannt wurde, war in ihrem Alter, und ihre Wohnung lag direkt neben ihrer eigenen. Kurz nachdem Melina eingezogen war, hatte die temperamentvolle Antonia bei ihr geklingelt, um zu fragen, ob sie ihr mit etwas Milch aushelfen könne, und sie waren sofort miteinander ins Gespräch gekommen. Das heißt, eigentlich hatte an diesem Tag überwiegend Toni geredet. Dass sie immer viel zu erzählen hatte, brachte nicht allein ihr quirliges Naturell, sondern auch ihr Beruf mit sich. Sie war Journalistin und arbeitete in der Kulturredaktion einer großen Hamburger Tageszeitung.

Jedes Mal wenn Melina an dieses erste Zusammentreffen mit Antonia zurückdachte, musste sie unwillkürlich lächeln. Sie hatte Toni gleich gemocht, und sie war froh darüber, dass sie sich so gut verstanden. Ihre ehemals beste Freundin aus Schul- und Studientagen lebte nicht mehr in Hamburg, und sie selbst war eher der zurückhaltende Typ. Es war ihr schon immer recht schwergefallen, von sich aus auf andere Menschen zuzugehen, geschweige denn, sich Fremden gegenüber zu öffnen. Manchmal ärgerte sie sich über diese Charaktereigenschaft. Ihre Schüchternheit hatte ihr schon oft im Wege gestanden. In der letzten Zeit versuchte sie zwar ganz bewusst, dem entgegenzusteuern, doch sie konnte auch nicht ganz aus ihrer Haut.

»Huhu!«, rief Toni ihr zu, als Melina ihren Schirm ein Stück nach hinten kippte und lächelnd zurückwinkte. »Bei mir gibt es frischen Kaffee und selbst gebackenen Käsekuchen.«

»Das klingt toll«, antwortete Melina. Antonia schaffte es immer wieder, ihre Laune zu heben. »Gib mir noch fünf Minuten zum Umziehen, ja?«

»Aber immer doch. Bis gleich!«, flötete Toni, wirbelte herum und verschwand durch die Balkontür nach drinnen.

Antonias Wohnzimmer war klar in zwei Bereiche aufgeteilt, und die Unterschiede hätten nicht gegensätzlicher sein können. Der Wohnbereich im vorderen Teil wurde dominiert von Glastischen, modernen Vitrinen und einer schwarzen Ledercouch. Hier war alles sehr ordentlich. Im hinteren Bereich stand jedoch Tonis großer Schreibtisch, ein sichtbar altes Möbelstück aus dunklem Holz. Der riesige Computerbildschirm auf der Tischplatte war umringt von Papierstapeln und teilweise aufgeschlagenen Büchern.

»Nun hast du es also hinter dir«, sagte Toni und schob sich ihr letztes Stück Kuchen in den Mund. Ihr kurzes blauschwarzes Haar glänzte im Licht der kleinen Lampen, die Antonia in ihrem Wohnzimmer angeknipst hatte. Der Nachmittag war gerade erst angebrochen, doch draußen war es noch immer wolkenverhangen und düster.

Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihnen brannten mehrere Kerzen in hohen weißen Leuchtern, und die Freundinnen hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht.

Melina nickte. »Ja, und ich hoffe, ich kann jetzt ein bisschen zur Ruhe kommen.« Mit beiden Händen umfasste sie die Kaffeetasse, lehnte sich zurück und zog ihre Beine unter sich. »Ein paar Sachen werden mir nachher noch gebracht, dann ist eigentlich alles erledigt. Ach ja, nächste Woche muss ich noch bei der Wohnungsgenossenschaft vorbeifahren, um Käthes Schlüssel abzugeben, aber dann bin ich wirklich durch.« In den zurückliegenden Wochen waren Toni und sie kaum zum Reden gekommen. Das Zusammensein mit ihrer Freundin tat gut, fühlte sich angenehm alltäglich und irgendwie heimelig an. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie doch nicht ganz so allein auf der Welt war. Der Gedanke wärmte ihr Innerstes und tröstete sie ein wenig.

»Wie läuft es denn bei der Arbeit? Du hattest mal erwähnt, dass es deiner Firma nicht so gut geht. Gibt es da eigentlich was Neues?«, wollte Toni wissen.

»Montag gehe ich wieder ins Büro.« Melina nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Allerdings ist in vier Wochen Schluss. Ich hatte ja gehofft, dass es doch noch weitergehen könnte, aber mein Chef ist definitiv pleite.«

»Oh nein, das ist ja echt Mist!«, sagte ihre Freundin mitfühlend. »Du hast gerade wirklich Pech, oder?«

Melina winkte ab. »Och, ehrlich gesagt, finde ich das mit der Arbeit gar nicht so schlimm. Der Job in der Spedition war für mich irgendwie nicht so ganz das Richtige. Im Grunde wusste ich von Anfang an, dass ich das nicht allzu lange machen würde. Der Konkurs der Firma hat mir nur eine Entscheidung abgenommen, die ich sowieso bald getroffen hätte. Es gibt auch kaum noch etwas zu tun. Ich schätze, dass mein Chef schon vor Ablauf des Monats die Schotten endgültig dicht macht.«

»Und was hast du jetzt vor? Weißt du schon, was du danach machen möchtest?«

»Ich hab sogar schon zwei Vorstellungsgespräche hinter mir. Frag mich nicht, wie ich das in der letzten Woche überhaupt hinbekommen habe. Zuerst war ich bei einem Immobilienmakler und dann noch bei einer kleinen Reederei.« Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich hatte ich schon geahnt, dass beides nichts für mich sein würde, aber ich bin trotzdem hingegangen, um auf Nummer sicher zu gehen. Mit Immobilien kenne ich mich gar nicht aus, und die Reederei war wirklich winzig. Da gäbe es keine Zukunftsperspektive für mich. Nach den Erfahrungen der letzten Zeit zieht es mich eher in ein größeres Unternehmen. Ich würde gerne mal ein paar Jahre am Stück in einer Firma bleiben, um mich auf der Karriereleiter nach oben zu arbeiten.«

»Du hast doch einen super Studienabschluss. Sicher wirst du schnell etwas Passendes finden, Melina.«

»Ganz so einfach ist das nicht. BWL studiert heutzutage ja fast jeder. Bei den großen Unternehmen geben sich die Absolventen die Klinke in die Hand.«

»Du hast selbst mal gesagt, dass die meisten nach dem Bachelorabschluss das Handtuch werfen, und immerhin hast du deinen Master mit Bestnote gemacht.«

Melina musste lachen. »Süß, wie du mich aufzubauen versuchst.« Sie stellte ihre Tasse ab und erhob sich. »So, nun muss ich aber rüber. Mein Wäscheberg wird immer größer, und ich will noch ein bisschen sauber machen, bevor die Sachen von Käthe gebracht werden. In den letzten Wochen habe ich nur das Nötigste geschafft.«

»Brauchst du Hilfe bei irgendwas?«

»Nein, gestern habe ich zumindest schon mal Platz für die Kartons geschaffen, alles gut. Aber ich danke dir für die kleine Auszeit. Mal wieder mit dir zu plaudern und dann noch der leckere Kuchen – genau das habe ich heute gebraucht.«

»Immer wieder gerne, das weißt du.«

Schon fast in der Tür, hielt Melina noch einmal inne und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Sag mal, hast du vielleicht Lust, heute Abend mit mir noch eine Flasche Wein zu köpfen? Ehrlich gesagt ist mir überhaupt nicht danach, den Abend allein zu verbringen.«

»Das ist die beste Idee des Tages.« Antonia grinste. »Es können auch gerne zwei Flaschen sein. Allerdings habe ich nachher noch einen beruflichen Termin und kann erst gegen zehn bei dir sein. Wenn dir das nicht zu spät ist …«

Melina musste nicht lange überlegen. »Es ist Freitag, was soll’s.«

»Stimmt.«

Käthes Sessel sah an seinem neuen Platz tatsächlich großartig aus, beschloss Melina einige Stunden später. Gut, sie hätte den wunderschönen Ohrensessel ohnehin nicht weggeben können, aber dass sich das typisch englische Rosenmuster in ihrem ansonsten sehr modern und sachlich eingerichteten Wohnzimmer so gut machen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, das gute Stück ins Schlafzimmer zu stellen, doch als Herr Seidel und einer seiner Mitarbeiter die Kartons und den Sessel vorbeigebracht hatten, schlug der ältere Mann beharrlich den Platz zwischen ihren Bücherregalen und dem raumhohen Erkerfenster vor. Er meinte, nur dort, direkt neben dem kleinen Telefontisch, erhalte das schöne Möbelstück den richtigen Rahmen – und Melina musste ihm absolut recht geben.

Inzwischen war es schon fast einundzwanzig Uhr. Sie hatte heiß geduscht und war danach in ihre kuschelige Jogginghose und einen weiten Pullover geschlüpft. Da sie nun doch ein bisschen müde wurde, warf sie noch einmal ihren Kaffeeautomaten an und kochte sich einen starken Kaffee. Mit dem Becher in der Hand machte sie es sich in ihrem neuen Sessel gemütlich. Kurz überlegte sie, ob sie noch etwas lesen sollte, bis Toni eintraf, aber eigentlich war ihr nicht wirklich danach zumute. Auf Fernsehen hatte sie auch keine Lust, deshalb würde sie einfach in Ruhe ihren Kaffee genießen. So saß sie da, ließ ihren Gedanken freien Lauf und nippte dann und wann an ihrem Becher.

Bestimmt schon zum zehnten Mal fiel ihr Blick dabei auf die Kartons. Da sie noch nicht entschieden hatte, was mit den Sachen passieren sollte, hatte sie Herrn Seidel gebeten, die Kisten zunächst im Wohnzimmer neben der Tür abzustellen. Melina hatte sich fest vorgenommen, ihren Inhalt zu sortieren und vielleicht noch ein wenig auszumisten, bevor alles in irgendeiner Kellerecke verstaubte. Das würde vielleicht doch noch den einen oder anderen Karton einsparen.

Melina stellte ihren Becher auf dem kleinen Tisch neben dem Telefon ab und seufzte. »Warum nicht gleich«, sagte sie leise zu sich selbst. Sie erhob sich, um den erstbesten der vier Kartons hinüber zum Sessel zu ziehen, und öffnete ihn. Einige der Alben und Unterlagen hatte sie selbst dort hineingepackt, wie sie sofort erkannte. Zusammen mit Herrn Seidel hatte sie den alten Eichensekretär und eine Kommode im Schlafzimmer ihrer Großmutter ausgeräumt. Alles, was irgendwie nach Fotoalben und persönlichen Akten ausgesehen hatte, war dabei in die vier Kartons gewandert. Es handelte sich um die typischen Überbleibsel eines langen Lebens. Die meisten der Fotoalben kannte sie und hatte schon als Kind häufig in ihnen geblättert, vor allem wegen der Bilder ihrer so früh verstorbenen Mutter, an die sie sich bewusst leider nicht erinnern konnte. Melina war erst zwei Jahre alt gewesen, als ihre Mutter nach einer verschleppten Erkältung eine Lungenembolie nicht überlebt hatte.

Neben den vertrauten Fotoalben stieß sie auf einen dicken Aktenordner, den Melina noch nie zuvor gesehen hatte. Herr Seidel musste ihn eingepackt haben. Der Ordner zeigte mit dem Rücken nach oben, sodass man ihn leicht herausziehen konnte. Auf dem Aufkleber war ein großes schwarzes M zu lesen, das sofort ins Auge fiel. Vielleicht steht das für meinen Vornamen, dachte Melina. Womöglich hatte ihre Großmutter ein paar Kinderzeichnungen oder Schularbeiten darin abgeheftet.

Neugierig griff sie in das Loch und zog den überraschend schweren Ordner heraus. Als sie ihn aufschlug, wurde ihr allerdings sofort klar, dass das große M rein gar nichts mit ihr zu tun hatte. Vielmehr befanden sich alte Zeitungsberichte und Fotos aus Hochglanzmagazinen in dem Ordner. Jedes einzelne Blatt Papier wurde von einer eigenen Plastikhülle geschützt. Melina begann zu blättern, und schon nach wenigen Minuten war sie erstaunt und fasziniert zugleich.

»Was zum Teufel …?«, murmelte sie, während sie weiterblätterte, hier und da eine Überschrift las und die Fotos betrachtete. Jeder Artikel, jede Abbildung in diesem Ordner hatte mit einem der renommiertesten Familienunternehmen der Stadt zu tun: P. F. Magnussen. Magnussen-Kaffee war von hoher Qualität und außerordentlich beliebt. Gut, auch Käthe hatte niemals den Kaffee einer anderen Firma gekauft, das wusste Melina – aber man hob doch trotzdem nicht so viele Zeitungsschnipsel auf, nur weil sie mit dem Lieblingskaffee zu tun hatten. Das passte überhaupt nicht zu ihrer Großmutter. Eine derartige Vorgehensweise erinnerte eher an einen fanatischen Teenager, der alles sammelte, was er von seinem angehimmelten Star ergattern konnte, doch Käthe war ein außerordentlich pragmatischer Mensch gewesen. Offenbar hatte Melina soeben eine Seite an ihrer Großmutter entdeckt, die ihr bislang völlig unbekannt gewesen war.

Was konnte Käthe nur dazu bewogen haben, diesen eigenartigen Sammelordner anzulegen? Die Daten auf einigen der Zeitungsberichte und Bilder ließen darauf schließen, dass sie schon als junge Frau damit begonnen haben musste und den Ordner nahezu bis zum Ende ihres Lebens fortgeführt hatte. Die ersten Ausschnitte stammten aus uralten Zeitungen, teilweise aus der Nachkriegszeit, während die letzten Artikel und Fotos kaum ein halbes Jahr alt waren. Erstaunlich!

Melina betrachtete das letzte Foto im Ordner genauer. Es war eines dieser typischen Pressefotos, wie sie bei Galas oder Filmpremieren gemacht wurden, sobald Prominente über den roten Teppich liefen. Offenbar hatte die Familie Magnussen gemeinsam die Premiere eines Musicals besucht, das erkannte Melina an der Werbewand im Hintergrund. Sechs Personen waren auf dem Foto abgebildet, und einige Gesichter kannte sie. Die Familie war immer mal wieder in der Presse oder in Fernsehberichten zu sehen, das war auch an ihr nicht vorübergegangen. Conrad Magnussen, der Patriarch der Familie, stand im Hintergrund neben seinem zukünftigen Schwiegersohn, einem Arzt, wie Melina erst vor Kurzem irgendwo gelesen hatte. Die beiden Frauen auf dem Foto waren bildschön. Man hätte sie fast für Schwestern halten können. Elisabeth Magnussen und ihre Tochter Emily trugen beide blutrote Abendroben, die hervorragend zu ihren dunklen Haaren passten und sich allein durch die Schnitte unterschieden. Es war offensichtlich, dass Elisabeth das gute Aussehen an ihre drei Kinder vererbt hatte. Auch ihre beiden Söhne sahen umwerfend gut aus. Über Dominik Magnussen, den jüngsten Spross, las man ziemlich häufig in der Klatschpresse. Nicht immer waren diese Berichte schmeichelhaft für den Nachwuchsschauspieler, der offenbar zu Eskapaden und kurzlebigen Affären neigte. Der älteste Sohn, Leonard Magnussen, lächelte als einzige Person auf dem Foto eher verhalten, das fiel Melina sofort auf. Allein der linke Mundwinkel deutete ganz leicht nach oben.

Melina schreckte regelrecht auf, als es an ihrer Haustür klingelte, so sehr hatte sie sich in die Betrachtung des Fotos vertieft. Sie schüttelte leicht den Kopf und erhob sich, um Antonia hereinzulassen.

»Ich muss dir unbedingt etwas zeigen«, begrüßte sie ihre Freundin.

Nachdem Toni ihrer Begeisterung über den schönen Sessel Ausdruck verliehen hatte, saßen sie zusammen in der kleinen Couchecke im anderen Teil des Wohnzimmers. Antonia berichtete kurz von ihrem abendlichen Termin. Nach einer Theaterpremiere hatte sie ein Interview mit dem Hauptdarsteller geführt, das sehr gut gelaufen war.

»Was wolltest du mir eigentlich zeigen?«, wollte Toni schließlich wissen, während sie ihnen Wein nachschenkte. »Entschuldige. Ich rede und rede, und du sitzt wahrscheinlich wie auf Kohlen, so wie du mich empfangen hast.«

Melina lachte. »Alles gut.« Sie erzählte ihrer Freundin von den Kisten mit den Fotoalben und persönlichen Papieren ihrer Großmutter. »Herr Seidel – das ist der Trödelhändler, der mir geholfen hat, die Wohnung aufzulösen – hat mir dazu geraten, die Sachen unbedingt alle zu behalten.«

»Womit er meiner Meinung nach auch absolut recht hat«, warf Antonia ein und prostete ihr zu. »Du solltest den ganzen Kram in aller Ruhe durchgehen, dann kannst du immer noch wegwerfen, was dir überflüssig erscheint, und mit dem Rest eine schöne Erinnerungskiste füllen. Das hat doch was. Wenn du willst, helfe ich dir dabei. Ich liebe so was. Wir können uns die Sachen gerne am Wochenende vornehmen. Ich habe beide Tage frei.«

Auch Melina griff nach ihrem Glas, nippte daran, stellte es jedoch gleich wieder ab und erhob sich, um den Aktenordner zu holen. »Ich hatte ohnehin vor, mir die Kartons noch mal vorzunehmen, und über deine Hilfe würde ich mich freuen, aber das hat Zeit. Die Dinger laufen ja nicht weg.« Sie seufzte. »Jedenfalls habe ich vorhin schon mal einen Blick in einen der Kartons geworfen«, fuhr sie fort. »Ich wollte nur die Zeit totschlagen, bis du kommst. Und da habe ich das hier entdeckt. Mich würde einfach interessieren, was du davon hältst.«

Melina reichte Toni den dicken Ordner, setzte sich zurück auf ihren Platz und nahm wieder ihr Glas. Sie hielt es in den Händen, während ihre Freundin den Ordner aufschlug und darin blätterte. Schon nach wenigen Augenblicken sah Antonia auf.

»Das ist … merkwürdig. Käthe hat alles über die Magnussens gesammelt.«

»Stimmt. So weit war ich auch schon.«

»Nun, ich habe deine Oma nur ein paar Mal getroffen und kannte sie nicht besonders gut, aber das passt irgendwie nicht zu ihr.«

»Genau. Ich sehe diesen Ordner heute auch zum ersten Mal, Toni.«

»In die anderen Kartons hast du noch nicht geschaut?«

Melina schüttelte den Kopf. »So weit bin ich nicht gekommen. Ich hab nur den Ordner kurz durchgeblättert, und dann hast du auch schon geklingelt. Hier, das letzte Foto ist gar nicht so alt.«

Antonia schlug die letzte Seite des Ordners auf und betrachtete das besagte Foto. »Meine Herren! Da macht der Ausdruck ›Die Reichen und Schönen‹ doch gleich Sinn.« Mit dem Zeigefinger tippte sie nacheinander auf die beiden Magnussen-Söhne. »Was für Leckerchen.«

Melina musste lachen. »Die spielen wohl kaum in unserer Liga, Toni.«

Antonia grinste. »Dominik Magnussen sorgt übrigens häufiger mal für Schlagzeilen. Der Typ scheint ein echter Womanizer zu sein.«

»Ja, von dem habe selbst ich schon gehört.«

»Merkwürdig«, sagte Antonia erneut. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf, während sie den Ordner weiter durchblätterte.

Melina stellte ihr Glas wieder ab und beugte sich gespannt vor. »Und? Fällt dir sonst noch etwas dazu ein? Welchen Grund könnte es geben, dass Käthe dies alles so sorgfältig aufgehoben hat? Was meinst du?«

»Vor allem denke ich, dass etwas Größeres dahinterstecken muss, wenn jemand wie deine Oma so etwas tut. Leider können wir sie ja nicht mehr danach fragen. Keine Ahnung, ob du gerade verstehst, was ich meine.«

Melina nickte. »Ich verstehe dich sogar sehr gut, das sind in etwa die gleichen Gedanken, die auch mir sofort kamen. Vor allem aber war da gleich ein ganz bestimmtes Gefühl, das ich noch nicht einordnen kann.«

»Schlichte Neugierde?«

»Nein, das ist es nicht. Ich meine, natürlich bin ich neugierig und möchte wissen, warum Käthe diesen Ordner geführt hat. Doch da ist noch etwas anderes in mir, das weit darüber hinausgeht. Wie soll ich es erklären? Es ist wie ein Drang, etwas zu unternehmen, und ich glaube nicht, dass es so leicht wieder verschwinden wird. Irgendwas sagt mir, dass ich dieses Sammelsurium nicht einfach zurück in den Karton packen, in den Keller tragen und wieder vergessen sollte.«

»Das klingt ein wenig kryptisch.« Toni verteilte den Rest der Flasche auf die beiden Gläser, bevor sie weitersprach: »Glaubst du, deine Großmutter hatte ein Geheimnis?«

»Vielleicht … Vielleicht aber auch nicht.« Melina zuckte mit den Schultern. »Es könnte auch immer noch sein, dass mein Gefühl mich täuscht und sie einfach ein ausgeprägtes Faible für diese Unternehmerfamilie hatte. Eine Menge Leute haben seltsame Hobbys.«

»Aber du kannst dir eigentlich nicht vorstellen, dass das auch auf deine Oma zutrifft, oder?«

»Stimmt. Vor allem finde ich es irgendwie seltsam, dass ich niemals etwas davon mitbekommen habe. Ich meine, schließlich habe ich über zwanzig Jahre mit Käthe zusammengelebt, und sie hat nicht ein einziges Mal den Namen Magnussen erwähnt. Höchstens im Zusammenhang mit Kaffee, aber sonst nie.« Eine Weile saßen sie stumm da, genossen den Wein und hingen ihren Gedanken nach. Irgendwann fing Antonia erneut an, in dem Ordner zu blättern.

»Guck dir das an, hier ist ein Bericht über die Anfänge der Firma.« Toni verstummte kurz und las offenbar einen Teil des Artikels. Melina ließ sie gewähren, nippte an ihrem Wein und wartete auf eine weitere Reaktion. »Das ist sogar recht interessant«, setzte Toni schließlich wieder an. »Ein gewisser Paul Friedrich Magnussen hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit einem kleinen Geschäft begonnen. Jetzt weiß ich endlich, warum es P. F. Magnussen heißt.« Antonia grinste. »Guck dir mal das Foto an, wie aus einem alten Schwarz-Weiß-Film, oder?« Toni drehte den Ordner zu Melina und tippte auf das Bild, das zum Artikel gehörte. »Ich frage mich immer, warum die Leute damals nicht gelächelt haben, wenn man sie fotografierte. Die haben immer geguckt, als ginge gerade die Welt unter.«

Es war nicht zu erkennen, aus welcher Zeitung Käthe den Artikel ausgeschnitten hatte, doch offensichtlich war der Bericht in den späten Sechzigerjahren anlässlich eines Jubiläums der Firma erschienen. Laut der Bildunterschrift zeigte das Foto Paul Friedrich Magnussen und seine Ehefrau Amalia gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor ihrem Geschäft. Über dem Schaufenster, vor dem das Paar stand, erkannte Melina deutlich den bekannten und bis heute unveränderten Schriftzug: P. F. Magnussen.

»Ich glaube, für die Leute damals war es einfach noch etwas ganz Besonderes, fotografiert zu werden. Die gucken nicht ernst, Toni. Für mich sehen die beiden einfach nur sehr stolz und würdevoll aus.«

2. Kapitel

Hamburg, im November 1896

Die alte Standuhr in der Eingangshalle schlug sechsmal. Paul Friedrich Magnussen schob seine leere Tasse beiseite und seufzte leise. Er erhob sich aus dem Sessel und gesellte sich zu seinem Freund Georg von Meyerhoff, der nun schon seit einigen Minuten vor dem Kamin stand und mit gedankenvoller Miene das große Porträt von Pauls Eltern betrachtete, das dort über dem mächtigen Sims hing.

»Ich mochte deine Eltern sehr«, sagte Georg. »Ich habe mich bei ihnen stets wie der zweite Sohn im Hause gefühlt. Deine Mutter war eine liebenswerte Frau.«

»Ich weiß«, erwiderte Paul und nickte. Auch er sah hinauf, versank für wenige Augenblicke in den tiefblauen Augen seiner Mutter, die beinahe erschreckend lebendig dreinblickten. Das Bild war erst kurz vor ihrem Tod entstanden. Sein Vater hatte es von einem jungen Künstler malen lassen und seiner Frau zum Hochzeitstag geschenkt. Damals wütete bereits die Cholera in der Stadt, und nur wenige Wochen später fielen auch seine Eltern der Seuche zum Opfer. Über achttausend Menschen verloren damals ihr Leben. Hamburg war gezeichnet von Trauer und Elend. Paul selbst war zu dem Zeitpunkt am anderen Ende der Welt gewesen, sodass er von den schrecklichen Vorkommnissen aus einem Brief seiner Tante, der Schwester seiner Mutter, erfuhr. Als die Epidemie ausbrach und die ersten Todesfälle bekannt wurden, hatte seine Mutter ihn zu seinem Patenonkel nach Brasilien geschickt, wo er mehr als zwei Jahre auf dessen Kaffeeplantage gelebt hatte.

In manchen Nächten quälte ihn noch immer das schlechte Gewissen. Er fühlte sich schuldig, weil er nicht hier gewesen war, als seine Eltern an der Seuche gestorben waren. Dennoch war die Zeit in Brasilien einer der wichtigsten Abschnitte seines bisherigen Lebens gewesen. Auf der Plantage hatte er nicht nur jede Menge gelernt, sondern es war auch seine Leidenschaft für Kaffee und alles, was damit zusammenhing, geweckt worden, und er wusste, sie würde ihn zeitlebens nicht mehr loslassen.

»Meine Mutter liebte dich tatsächlich wie einen zweiten Sohn«, sagte er schließlich zu Georg.

»Ich weiß.« Paul hörte, dass sein Freund tief durchatmete. Dann löste Georg seinen Blick von dem Gemälde und sah ihn an. »Wann kommt die Droschke?«, fragte er.

»In einer halben Stunde wird sie hier sein«, antwortete Paul. »Ich danke dir, dass du mich Ferdinand Claasen vorstellen wirst. Er und seine Privatbank dürften wohl meine letzte Chance sein.«

»Du bist ein guter Geschäftsmann, Paul. Im Zweifel wirst du es auch so schaffen.«

»Du überschätzt mich, mein Lieber«, antwortete Paul lächelnd. »Nein, du weißt doch, dass ich inzwischen nahezu jede Bank in Hamburg aufgesucht habe. Nicht eine einzige wollte mir den nötigen Kredit geben. Im Augenblick fehlt mir sogar das Kapital, um die zweite Röstmaschine zu kaufen, die ich so dringend brauche. Die Situation macht mich richtig zornig. Ich könnte noch viel mehr Kaffee verkaufen, kann aber nicht genug rösten. Seit Monaten investiere ich fast jede erwirtschaftete Mark wieder in das Geschäft. Falls Claasen mir nicht helfen sollte, bliebe mir nur noch, dieses Haus zu veräußern, aber der Gedanke gefällt mir so gar nicht. Es ist mein Zuhause, und ich hänge daran. Zudem würde mein Vater sich im Grabe umdrehen.« Er seufzte kurz auf, bevor er fortfuhr: »Es geht mir vor allem ums langfristige Überleben des Geschäfts, Georg. Dafür ist der zusätzliche Trommelröster ebenso wichtig wie größere Geschäftsräume für mein Kaffeekontor. Karl Jensen ist mein stärkster Konkurrent, und er hat bereits vor Monaten expandiert, das hast du sicherlich mitbekommen. Er betreibt unterdessen mehrere Röstmaschinen und hat einige Angestellte mehr als ich. Aber er kommt auch aus einer steinreichen Familie und kann sich das leisten, ohne katzbuckeln zu müssen.«

»Ist das etwa ein Vorwurf?«, fragte Georg. »Du weißt, dass ich dir auf der Stelle helfen würde, wenn es in meiner Macht stünde.«

Sofort legte Paul seine Hand auf den Unterarm seines Freundes. »Um Himmels willen, Georg! So habe ich das überhaupt nicht gemeint. Ich kenne deine Lage. Ich weiß, dass du nichts tun kannst, solange dein Vater auf eurem Vermögen sitzt. Nebenbei bemerkt, hätte ich es sowieso nie von dir erwartet. Nach all den Jahren solltest du mich und meine Einstellung zu unserer Freundschaft wirklich besser kennen.«

»Verzeih, du hast natürlich recht«, erwiderte Georg. »Aber auch für meine Familie ist es im Augenblick nicht ganz leicht. Mein Vater spielt noch immer den Patriarchen und macht uns allen das Leben schwer – auch wenn er nun schon seit Monaten bettlägerig ist.«

Eine kurze Weile schwiegen sie beide. Gedankenvoll strich Paul über die weichen Samtrevers seines schwarzen Gehrocks. Er dachte an Ferdinand Claasen. Neben der Bank betrieb er auch noch eine Textilfabrik und eine Maßschneiderei. Claasen war einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Männer der Stadt, und vermutlich kannte ihn jeder Hamburger.

»Wie schon gesagt, ich bin äußerst dankbar, dass du mich mit Ferdinand Claasen bekannt machen wirst«, setzte er schließlich wieder an. »Ich hoffe auf sein Verständnis als Kaufmann. Mir ist klar, dass er zumindest eine vorübergehende Beteiligung am Kaffeekontor verlangen wird, falls er investieren sollte, aber damit muss ich leben. Vielleicht habe ich Glück, weil du als mein Fürsprecher auftrittst.«

»Ich hoffe es«, antwortete Georg. »Wie du weißt, ist Ferdinand Claasen seit vielen Jahren ein Geschäftspartner, ja fast schon ein Freund meines Vaters. Und was Jensen angeht … du hast mir doch erst vor wenigen Tagen erklärt, dass du in jedem Fall den besseren Kaffee einführst. Das sollte langfristig doch ein Vorteil für dich sein, oder?«

»Das steht außer Frage«, antwortete Paul und nickte. »Jensen bezieht seine Bohnen überwiegend aus Kenia und dem Kongo. Er hat keine festen Zulieferer, weil er sich allein nach den Preisen der Farmer richtet und zu einem großen Teil einfache Robusta-Bohnen einkauft. Seine Mischungen sind häufig bitter und weniger gut verträglich. Ich hingegen habe das Glück, dass ich, dank der Plantage meines Onkels, feinste Arabica-Qualität einführen kann. Es zahlt sich noch immer aus, dass mein Vater seinen Bruder anfangs finanziell unterstützt hat, wo er nur konnte. Ja, du hast recht, es ist unterdessen kaum noch ein Geheimnis, dass mein Kaffee um Klassen besser ist als der von Jensen.«

»Meine Rede. Ich habe den Eindruck, die Leute erkennen schon jetzt sehr genau, dass dein Kaffee eine höhere Qualität hat und viel besser verträglich ist.« Georg fuhr sich mit einer Hand durch sein dunkles Haar. »Vielleicht hätte ich meinen Kutscher doch nicht nach Hause schicken sollen«, wechselte er das Thema. »Ich hoffe, die Droschke, die du bestellt hast, ist rechtzeitig hier. Claasen hasst Unpünktlichkeit.«

»Sie wird pünktlich sein, Georg. Mach dir keine Sorgen. Allerdings ist es gut, dass dein Kutscher uns später abholen wird.« Kameradschaftlich schlug er seinem Freund auf die Schulter. »Apropos, es wird Zeit. Ich werde dem Mädchen Bescheid geben, damit sie uns unsere Hüte und Mäntel bringt. Die Droschke müsste jeden Augenblick vorfahren.«

Amalia Claasen hielt sich mit beiden Händen am Türrahmen fest und wartete mit einigem Widerwillen ab, bis Pauline, die junge Kammerzofe, die sie sich mit ihrer Schwester teilte, das Mieder fest genug geschnürt hatte. Sie hörte das Mädchen vor Anstrengung leise ächzen, während ihr selbst schon fast die Luft wegblieb. »Es ist genug, Pauline, sonst kippe ich auf der Gesellschaft noch um, weil ich nicht richtig atmen kann.«

»Sie wollen doch in Ihr hübsches grünes Kleid passen, Fräulein Amalia.«

Pauline zog ein weiteres Mal an den Schnüren. Nun jedoch mit deutlich verminderter Kraft, wie Amalia dankbar bemerkte. »Das werde ich auch, keine Sorge. Die Seide ist weich und nachgiebig.« Sie drehte sich zu ihrer Zofe um, nachdem alles fertig verknotet war. »Hilf mir bitte noch schnell in das Kleid, und steck mir die Haare hoch, dann sind wir auch schon fertig.«

»Du solltest wirklich ein wenig mehr Augenmerk auf dein Äußeres legen«, hörte Amalia ihre jüngere Schwester Helene sagen, die einige Schritte entfernt stand und bei der Prozedur zusah. Helene war bereits fertig angezogen, aufwendig frisiert und wie immer bildschön anzusehen.

Amalia lachte leise in sich hinein. »Diese Mieder sind wahre Folterinstrumente, wenn du mich fragst.«

»Georg hat mir übrigens verraten, dass er uns heute endlich seinen Freund Paul Magnussen vorstellen wird«, fuhr Helene fort, ohne auf Amalias Bemerkung einzugehen. »Er ist Kaufmann, und wie man so hört, soll er erfolgreich, aufstrebend und äußerst attraktiv sein.«

»Ach, Leni. Du kannst es einfach nicht lassen, oder?«

»Ich verstehe nun einmal nicht, warum du kein Interesse an einer Heirat aufbringen kannst. Irgendwann wirst du eine alte Jungfer sein. Gott bewahre.«

»Und wenn schon«, erwiderte Amalia, während Pauline ihr das Kleid über die Hüften nach oben zog. »Freu du dich auf deine Ehe, und lass mich einfach in Ruhe und Frieden weiterleben.« Sie zwinkerte ihrer Schwester fröhlich zu, um keine Missstimmung aufkommen zu lassen.

Amalia stritt sich ungern mit Helene, denn meistens war sie diejenige, die letztlich nachgeben musste, um die Harmonie zwischen ihnen wiederherzustellen. Eigentlich war das schon immer so gewesen. Ihre Schwester verhielt sich häufig wie ein ausgemachter Trotzkopf. Doch inzwischen nahm Amalia es einfach hin und sah dann allzu oft zu, wie ihre jüngere Schwester Opfer ihrer eigenen Starrköpfigkeit und Launen wurde.

Geflissentlich überhörte Amalia das missbilligende Geräusch, das Helene ausstieß, und ließ sich auf dem Hocker vor ihrer Frisierkommode nieder. Pauline trat hinter sie, und im Spiegel bemerkte Amalia, dass ihre Zofe ihr mit einem leichten Kopfnicken und einem angedeuteten Lächeln zu verstehen gab, dass sie sie verstand. Pauline kümmerte sich schon einige Jahre um sie und Helene. Sie kannte die unterschiedlichen Charaktere der Schwestern also sehr genau.

»Wenn du mit den Haaren fertig bist, kannst du ruhig für heute Feierabend machen, Pauline«, sagte Amalia und lächelte ihrer Zofe im Spiegel zu. »Helene und ich helfen uns nach der Gesellschaft gegenseitig aus den Kleidern.«

So wie Paul es erwartet hatte, glich das Stadthaus von Ferdinand Claasen eher einem hochherrschaftlichen Anwesen. Die parkähnliche Gartenanlage und die hohen schmiedeeisernen Zäune, die sie umgaben, wären sogar dem Schloss eines Königs gerecht geworden. Eine lange kopfsteingepflasterte Eichenallee führte eine leichte Anhöhe hinauf und endete auf dem weitläufigen Vorplatz des Gebäudes. Mehrere Kutschen standen bereits vor einem der Seitenflügel des Hauses.

Paul bezahlte den Droschkenfahrer und bedankte sich höflich. »Wie immer zuverlässig, Herr Westphal. Herzliche Grüße an die Frau Gemahlin. Bis zum nächsten Mal.«

Der hoch aufgeschossene, schlanke Mann nickte dankend, tippte kurz an den Schirm seiner Mütze, und die Droschke setzte sich wieder in Bewegung.

»Wen du alles kennst«, sagte Georg kopfschüttelnd und grinste.

»Westphal ist ein netter und sehr anständiger Mann. Seine Frau ist zudem eine gute Kundin von mir. Ich fahre recht oft mit ihm, da ich weiß, dass er das Geld gut brauchen kann. Er hat zu Hause einige Mägen zu füllen und ist äußerst dankbar für seine Stammkundschaft. Deshalb war ich mir auch so sicher, dass er pünktlich sein würde«, erklärte Paul, während sie die breiten Steinstufen bis zur Eingangstür hinaufstiegen. Die Tür wurde geöffnet, kaum dass sie oben angekommen waren. Ein livrierter Diener begrüßte sie förmlich, und das typische Stimmengewirr einer Abendgesellschaft drang an ihre Ohren.

»Guten Abend, die Herren«, säuselte der Diener und deutete eine Verbeugung an. »Herr Graf, Sie werden im großen Salon erwartet.« Georg und Paul übergaben einem Hausmädchen ihre pelzgefütterten Paletots und die Hüte, dann folgten sie dem Diener, der sie in den besagten Salon führte.

»Meyerhoff! Da sind Sie ja, mein Junge!«, dröhnte eine dunkle Stimme durch den gesamten Raum. Ein großer und ziemlich korpulenter Mann kam mit ausgestreckten Armen und stampfenden Schritten auf sie zu. »Wird auch Zeit, lieber Graf, die jungen Mädchen sind schon allesamt ganz zappelig«, rief er, während er mit beiden Händen gegen Georgs Schultern klopfte und sich offenbar königlich über seine eigene Bemerkung amüsierte.

Paul war sich bewusst, dass in diesem Augenblick alle Augen auf sie gerichtet waren, doch er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm der Empfang durch den Hausherrn etwas übertrieben laut und unangemessen erschien. So wartete er geduldig ab, bis Georg und Ferdinand Claasen sich begrüßt hatten.

»Wie angekündigt, habe ich meinen guten Freund Paul Magnussen mitgebracht«, verkündete Georg endlich.

»Ah. Ja. Fein«, rief Claasen, ergriff mit seiner riesigen Pranke Pauls Hand und schüttelte diese heftig. »Freut mich, freut mich. Wie ich von unserem adligen Freund hier hörte, haben Sie ein geschäftliches Anliegen, über das Sie mit mir reden möchten?«

»So ist es«, erwiderte Paul und lächelte verhalten. Er fand, dass Claasens Augen denen eines Ferkels glichen, und bemühte sich um Contenance.

»Gut, gut. Zunächst sollten wir ein wenig die Gesellschaft der Damen genießen, meine Herren. Später, nach dem Essen, können wir bei einer guten kubanischen Zigarre das Geschäftliche besprechen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Claasen.«

Kurz darauf standen sie wieder allein in einer Ecke des glanzvollen Salons.

»Lass uns ruhig noch ein wenig hier stehen bleiben, bevor wir uns unter die Gäste mischen«, schlug Georg vor.

Paul sah sich möglichst unauffällig, doch durchaus beeindruckt um. Das Interieur zeugte vom enormen Reichtum seines Besitzers. Angefangen bei den weinroten Seidentapeten bis hin zum schweren rot-goldenen Brokat der Portieren vor den hohen Fenstern, der sich auch auf den Polstern der Sitzgelegenheiten wiederfand. Der Raum wurde durch zwei prachtvolle Kronleuchter und verschiedene goldglänzende Kandelaber erhellt. Ungefähr fünfzig festlich gekleidete Menschen standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich. Vereinzelt gab es ein paar Tische und kleine Sesselgruppen, an denen ein paar ältere Herrschaften Platz genommen hatten, doch eine Speisetafel oder Banketttische sah Paul nicht. Sein Magen knurrte bereits, und er hoffte, dass das Essen nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Ein Dienstmädchen kam mit einem Tablett vorbei, auf dem Champagnergläser bereitstanden. Georg und er bedienten sich.

»Ich weiß, Claasen benimmt sich ziemlich aufgeblasen«, sagte Georg so leise, dass nur Paul es hören konnte. »Doch im Grunde ist er ein feiner Kerl und vor allem ein ehrlicher Geschäftsmann.«

»Ich vertraue da ganz und gar auf deine Einschätzung, Georg.« Paul prostete seinem Freund zu, und nachdem er einen Schluck getrunken hatte, ließ er erneut seinen Blick durch den Raum gleiten. Dieses Mal achtete er mehr auf die Menschen, als auf die Einrichtung – und da sah er sie.

Ihr Anblick war fast zu viel für ihn. Es war, als würde in seinem Inneren etwas explodieren. Sogleich wurde ihm heiß, und das lag nicht am Champagner. Er fragte sich unweigerlich, warum dieses Mädchen ihm nicht sofort aufgefallen war. Wie hatte er sie in den letzten Minuten nur übersehen können? Sie stand kaum zwanzig Schritte von ihm entfernt.

Wie fast alle Anwesenden hielt auch sie ein Glas in der Hand und redete mit einigen anderen Frauen, die neben ihrer Anmut jedoch allesamt zu verblassen schienen. Das Kleid, das sie trug, war himmelblau. Der seidige Stoff glänzte im Kerzenschein mit den aufgesteckten goldblonden Haaren um die Wette. Die Farbe der Robe schmeichelte ihrem Porzellanteint, ihr Schnitt unterstrich zudem die zierliche Gestalt ihrer Trägerin und betonte durch die kunstvolle Tournüre ihre sanft geschwungene s-förmige Silhouette. Die junge Frau wirkte zart, fast ätherisch in ihrer Schönheit. Wenn er sich nicht täuschte, sah sie dann und wann diskret zu ihnen herüber.

Paul zwang sich zu einem tiefen Atemzug, um seinen inneren Aufruhr ein wenig einzudämmen. »Wer ist das?«, brachte er endlich hervor. Mit einem leichten Kopfnicken deutete er auf die Gruppe junger Frauen, in deren Mitte sie stand. »Ich meine das Mädchen mit den blonden Haaren und dem hellblauen Kleid.«

Georg sah ebenfalls zu den Damen hinüber. Sofort erhellte ein breites Lächeln seine Miene. »Das, mein Freund, ist Helene Claasen, die zukünftige Gräfin von Meyerhoff. Wir sind so gut wie verlobt. Ist sie nicht ein Traum? Ich kann es kaum erwarten, sie endlich zum Altar zu …«

Ein tiefer, nie gekannter Groll stieg unvermittelt in Paul auf und ließ ihn heftig schlucken.

»Dann muss ich dir wohl gratulieren«, unterbrach er seinen Freund. Nicht zum ersten Mal war er dankbar für die Fähigkeit, seine wahren Gefühle sehr gut verbergen zu können, wenn es darauf ankam. Seine Stimme ließ jedenfalls keine Erschütterung erkennen, wie er erleichtert feststellte. Erneut hob er seinen Champagnerkelch. »Bis eben dachte ich noch, ich wäre dein engster Vertrauter. Wolltest du mir irgendwann davon erzählen?«

Georg stieß ein kurzes Lachen aus, doch Paul bemerkte die leichte Unsicherheit, die sich dahinter verbarg. »Sei nicht beleidigt, Paul. Ich wollte es ja tun, glaub mir, aber Claasen hat mich gebeten, es vorerst noch für mich zu behalten. Wenn ich es richtig einschätze, werden wir die Verlobung spätestens zu Weihnachten offiziell machen können.«

»Soso.«

»Aber sieh dir ihre Schwester an. Amalia ist großartig. Du solltest sie unbedingt kennenlernen. Komm, ich werde euch miteinander bekannt machen.«

»Amalia? Welche ist das?«, hakte Paul ein und hielt Georg am Ärmel zurück, der bereits im Begriff war, auf die Gruppe junger Frauen zuzusteuern.

»Sie steht direkt neben Helene. Die Brünette im dunkelgrünen Kleid.«

Paul betrachtete das besagte Fräulein und schüttelte den Kopf. »Das sollen Schwestern sein?«

»Ja, tatsächlich. Glaub mir, Amalia ist eine Wucht.«

»Das sehe ich. Im Gegensatz zu Helene ist sie ganz schön … ähm …«

»Lass dich davon nur nicht täuschen, Paul. Amalias Figur ist vielleicht nicht ganz so zart wie die von Helene, aber das Mädel ist sehr hübsch, irrsinnig klug und herzensgut. Ich mag sie sehr.«

»Na, wenn du sie so wunderbar findest, nimm du sie, und überlass mir das schöne Helenchen.«

Georg lachte erneut. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sein Freund einen Scherz machte. Georg besaß einen ehrlichen und guten Charakter, der keinerlei missgünstige Gefühle zuließ. Deshalb traute er sie auch keinem anderen zu.

Paul sah ein weiteres Mal zu Helene hinüber, ließ seinen Blick wiederholt über ihre grazile Figur gleiten. Plötzlich fühlte er sich wie ein Verdurstender, der die rettende, jedoch unerreichbare Quelle, nach der es ihn so sehr verlangte, direkt vor Augen hatte. Eine nie gekannte Begierde erfasste ihn. Wie gerne hätte er seine Hände um diese zarte Taille gelegt, seine Lippen auf Helenes Rosenmund gepresst …

»Wenn ich bitten darf! Das Buffet ist eröffnet«, dröhnte die Stimme von Ferdinand Claasen durch den Saal und unterbrach seine wenig angemessenen Gedanken.

Paul räusperte sich, um den Bann zu lösen. Er riss seinen Blick von Helene los und bemerkte, dass unterdessen eine große Schiebetür am anderen Ende des Salons geöffnet worden war. Dahinter kamen ein reichhaltiges Buffet und mehrere große Banketttische zum Vorschein.

Ein seltsames Gefühl hatte von Amalia Claasen Besitz ergriffen. Ab dem Moment, als Georg von Meyerhoff und sein Freund den Salon betreten hatten, stand ihre Welt praktisch Kopf. Natürlich war ihr klar, dass das nicht an dem jungen Grafen lag, denn der war ihr bestens vertraut. Den zukünftigen Ehemann ihrer jüngeren Schwester kannte sie bereits seit Kindertagen und schätzte ihn sehr. Vielmehr war der junge Mann, den Georg, wie angekündigt, mitgebracht hatte, der Grund für dieses fremdartige Empfinden. Es war verwirrend, und ihr ganzer Körper schien plötzlich unter einer enormen Anspannung zu stehen. Sie hätte nicht sagen können, ob sie diesen Zustand als angenehm oder doch eher als befremdlich, ja unangebracht empfand.

Vermutlich war dies Paul Magnussen, der Mann, den Helene vorhin erwähnt hatte. Georg hatte oft und gern von ihm und der Familie seines besten Freundes erzählt. So dezent wie nur möglich, sah sie ein weiteres Mal kurz zu den beiden Männern hinüber. Georgs Freund sah tatsächlich ausnehmend gut aus, das stand außer Frage. Er war recht groß, hatte beeindruckend breite Schultern und kurz geschnittenes dunkles Haar. Auch wenn sie auf die Entfernung seine Augenfarbe nicht genau erkennen konnte, wirkte sein Blick wach und aufmerksam.

In dem Moment sah er zu ihnen herüber. Schnell wandte Amalia ihren Blick ab. Es wäre allzu peinlich, wenn er den Eindruck bekäme, dass sie ihn anstarrte, wobei sie genau dies wahrscheinlich gerade getan hatte. Innerlich rief sie sich zur Ordnung und wunderte sich ein wenig über sich selbst. Es sah ihr gar nicht ähnlich, beim bloßen Anblick eines jungen Dandys Herzklopfen zu bekommen. Amalia hatte schlicht keinerlei Interesse an oberflächlichem Geplänkel. Vielmehr fragte sie sich immer wieder, warum alle sich sofort aufführten wie gezierte Modepuppen, sobald ein solventer Mann in den passenden Jahren in Sichtweite kam. Die fast schon gnadenlose Jagd nach einem geeigneten Ehemann, die sämtliche Frauen im heiratsfähigen Alter offenbar zu ihrem gesamten Lebensinhalt machten, war ihr mehr als suspekt. Sie genoss ihre Unabhängigkeit viel zu sehr. In dieser Beziehung war ihr Vater nämlich äußerst großzügig – zumindest ihr gegenüber –, und das war durchaus keine Selbstverständlichkeit. Im Gegensatz zu anderen Eltern, die sie kannte, unterstützte ihr Vater nicht nur ihre Liebe zu Büchern und ihren Drang nach Wissen, er ließ ihr auch sonst recht viele Freiheiten. Ein Ehemann würde schlimmstenfalls bedeuten, dass dieser fortan ihr Leben bestimmte oder sie gar gängelte. Darauf konnte sie sehr gut verzichten.

Amalia schreckte ein wenig auf, als ihr Vater das Buffet eröffnete und sie mit seiner lautstarken Stimme aus ihren Gedanken riss.

»Ich frage mich, wann Georg endlich zu uns herüberkommen wird«, drang nun die helle Stimme ihrer Schwester in ihr Bewusstsein. »Er ist schon einige Zeit hier und hat mich noch nicht einmal begrüßt.«

Helene klang ein wenig beleidigt, aber das verwunderte Amalia nicht. Ihre Schwester war es gewohnt, sofort und überall im Mittelpunkt zu stehen. Es war eine von Georgs angenehmsten Eigenschaften, fand Amalia, dass er Helene dann und wann auf eine sehr subtile Art ein wenig zurück auf den Boden holte. Sie liebte ihre jüngere Schwester von Herzen, doch sie kannte auch Helenes Schwächen. Georg war ein kluger Mann, und Amalia war sich sicher, dass er stets wohlüberlegt handelte. Ihre Schwester musste irgendwann lernen, dass sie nicht zu jeder Zeit der Nabel der Welt war.

»Schau nur«, erwiderte Amalia besänftigend, als sie sah, dass die beiden Männer endlich auf sie zukamen. »Er ist schon auf dem Weg zu uns, dein Georg.«

»Meine Damen.«

Amalia bemerkte, dass die Blicke beider Männer allein auf Helene gerichtet waren, doch auch das war nichts Neues für sie. Helenes Schönheit hatte nun einmal diese Wirkung auf das männliche Geschlecht.

Georg ergriff die Hand seiner zukünftigen Verlobten und deutete einen formvollendeten Handkuss an. »Helene, es ist mir eine Freude. Du bist wunderschön wie immer, meine Teure.« Er wandte sich an Amalia und bedachte sie ebenfalls mit einem Handkuss. »Amalia, auch du siehst heute Abend entzückend aus, wenn ich das bemerken darf.«

»Du darfst, Georg. Vielen Dank.« Sie rechnete es Georg von Meyerhoff hoch an, dass er immer darauf achtete, sie nicht zu sehr in den Hintergrund treten zu lassen. Nicht alle Männer benahmen sich so rücksichtsvoll. Meistens nahm niemand mehr Notiz von ihr, sobald Helene neben ihr stand. In der Regel machte es ihr nichts aus. Einerseits war es ihr tatsächlich nicht besonders wichtig, andererseits hatte sie sich mit den Jahren schlicht daran gewöhnt. Sie war damit aufgewachsen, dass der Liebreiz ihrer Schwester andere Menschen geradezu blendete. Das war schon in ihrer Kindheit so gewesen. Und nicht selten empfand Amalia sogar Dankbarkeit für diese Tatsache, denn sie beobachtete ihr Umfeld lieber, und das ging nun einmal viel einfacher, wenn man unscheinbar im Hintergrund blieb und niemand groß auf einen achtete.

»Darf ich euch meinen guten Freund Paul Magnussen vorstellen?«, hörte sie Georg fragen. Auch Magnussen beugte sich über Helenes Hand. Wenn Amalia sich nicht täuschte, dauerte die höfliche Begrüßung eine Spur länger als bei Georg. Und es schien fast, als würden seine Lippen die Berührung nicht nur andeuten, so wie es der gute Ton verlangte. Als der junge Mann kurz darauf auch ihre Hand ergriff, spürte sie ein zartes, aber deutliches Ziehen in ihrem Unterbauch. Für einen kurzen Augenblick war sie irritiert.

»Fräulein Claasen.« Als er sich nach kaum einer Sekunde wieder aufrichtete, bemerkte sie, dass seine Augen von einem außergewöhnlich beeindruckenden Blau waren. So intensiv blau wie ihre Lieblingsblumen: wilde Kornblumen.

Hastig wandte sie den Blick ab und sah ihre Schwester an. Doch Helenes Anblick erschreckte sie fast noch mehr als ihre eigene Reaktion. Völlig selbstvergessen starrte Helene noch immer auf ihren behandschuhten Handrücken. Erleichtert stellte Amalia fest, dass Georg gerade in ein Gespräch mit einem Bekannten vertieft war, der soeben an ihrer kleinen Gruppe vorbeigeschlendert war, und auch Magnussen konzentrierte sich nun auf die beiden anderen Männer.

In der Hoffnung, ihre Schwester aus der Erstarrung zu lösen, hüstelte sie leise. Zum Glück zeigte ihr diskretes Eingreifen die erhoffte Wirkung. Georg beendete in dieser Sekunde sein Gespräch, und Helene ergriff sofort seinen dargebotenen Arm. Gemeinsam gingen sie voran in den angrenzenden Raum.

»Erlauben Sie mir, Sie zum Buffet zu geleiten, Fräulein Claasen?« Galant bot Paul Magnussen ihr seinen Arm an, und wie es von ihr erwartet wurde, legte sie leicht ihre Hand darauf.

»Sehr gerne.« Amalia zwang sich zu einem höflichen Lächeln, doch während Magnussen sie in den Nebenraum führte, klopfte ihr Herz so stark, dass es ihr fast den Atem raubte.

Das Abendessen hatte nur etwas mehr als eine Stunde gedauert. Einerseits hätte Paul gerne noch länger die bezaubernde Helene Claasen angesehen, andererseits war er froh darüber, dass nun endlich das erhoffte Gespräch mit Ferdinand Claasen stattfand. Gemeinsam mit Georg saßen sie nun bei Cognac und Zigarren im Arbeitszimmer des Hausherrn. Im Gegensatz zum prunkvoll ausgestatteten Salon war dieser Raum fast schon spartanisch eingerichtet. Ein schlichter Schreibtisch aus dunkler Eiche, ein paar Aktenschränke und eine kleine Sitzgruppe, die aus vier blau gepolsterten Sesseln und einem schmucklosen Kaffeetisch bestand, bildeten das gesamte Mobiliar. Das einzig auffällige Detail in diesem Zimmer war das lebensgroße Ölgemälde einer Frau, die eine prachtvolle dunkelblaue Abendrobe trug. Es hing direkt gegenüber dem Arbeitsplatz, an der schmalen Wand zwischen den beiden hohen Fenstern. Die Dame auf dem Bild sah Amalia Claasen auffallend ähnlich, deshalb nahm Paul an, dass es sich um ein Porträt der früh verstorbenen Gattin ihres Gastgebers handelte.

»Sie gefallen mir, Magnussen«, sagte Claasen, nachdem Paul sein Anliegen vorgetragen hatte. Der ältere Mann schenkte ihnen Cognac nach, und Pauls Herz schlug mit einem Mal etwas schneller. Sollte er endlich Erfolg haben? »Vor allem aber gefällt mir Ihr Sinn für das Geschäft«, fuhr Ferdinand Claasen fort. »Ihre Begeisterung erinnert mich an die Leidenschaft, die auch mich stets antrieb.« Er hob erneut sein Glas, und Paul und Georg taten es ihm nach.

»Das freut mich«, erwiderte Paul, nachdem er an dem ausgezeichneten Cognac genippt hatte. Ihm fiel angenehm auf, dass sich Claasen viel ruhiger und gesetzter gab, seit sie den Salon verlassen hatten.

»Wie ich Ihnen schon im Vorwege sagte, ist Paul Magnussen ein hervorragender Kaufmann und hat stets den richtigen Riecher, wenn ich das so salopp sagen darf«, warf Georg ein. »Zudem kenne ich ihn seit der gemeinsamen Schulzeit und kann Ihnen versichern, dass er stets integer agiert.«

»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, mein lieber Graf.«

»Darf ich dann darauf hoffen, dass Sie über meinen Vorschlag nachdenken werden, Herr Claasen?«, fragte Paul. Er hörte selbst, dass seine Stimme zuversichtlich klang.

Zu seiner Verwunderung erhob sich Claasen jedoch in diesem Augenblick ein wenig schwerfällig und mit sichtbar zweifelnder Miene aus seinem Sessel. Er ließ einen lang gezogenen Seufzer hören und ging hinüber zu dem großen Ölgemälde. Dort blieb er mit dem Rücken zu ihnen stehen und schwieg.

»Ich würde Ihnen natürlich eine Beteiligung am Gewinn anbieten«, schob Paul vorsichtshalber nach.

»Geld habe ich genug, das interessiert mich im Grunde nicht mehr«, antwortete Claasen nach einer weiteren Weile des Schweigens und bremste Pauls Hoffnung auf Erfolg damit deutlich aus.

Er atmete tief durch, wollte sich schon erheben und für die Gastfreundschaft danken, doch da fuhr Claasen plötzlich fort, und Pauls Zuversicht kehrte mit einem Schlag zurück.

»Unter gewissen Voraussetzungen würde ich Ihnen dennoch helfen, Magnussen«, sagte er, ohne sich zu ihnen umzudrehen. Paul konnte sein Glück kaum fassen. Er sah Georg an, und auch sein Freund lächelte triumphierend und nickte.

»Ich danke Ihnen sehr, Herr Claasen«, brachte Paul endlich hervor.

»Nicht so hastig, mein junger Freund. Sie sollten sich zunächst anhören, was ich dafür von Ihnen erwarte.« Der ältere Mann wandte sich ihnen wieder zu, blieb aber an Ort und Stelle stehen. Er schob seine Daumen in die kleinen Taschen der blaugrünen Seidenweste, die er unter einem nachtblauen Gehrock trug, und fixierte Paul mit eindringlichem Blick. »Ich würde Ihnen das nötige Kapital in Form eines zinsfreien und zeitlich unbegrenzten Kredits bewilligen, jedoch nur, wenn Sie eine Bedingung akzeptieren, die nicht verhandelbar ist.«

»Und die wäre?«, fragte Paul mit klopfendem Herzen. Zinsfrei und zeitlich unbegrenzt! Die beiden Begriffe schienen wahre Purzelbäume in seinem Kopf zu schlagen.

»An einer Beteiligung an Ihrem Geschäft liegt mir nichts. Ich besitze eine Textilfabrik, die jede Menge Gewinn abwirft, und eine ebenso profitable Privatbank, das reicht mir völlig.« Claasen hob sein breites Kinn ein wenig an. »Ich gebe Ihnen das Geld, wenn Sie meine Tochter heiraten, Magnussen.«

Für einen kurzen Moment war Paul sprachlos. Nacheinander sah er in die Gesichter der beiden anderen Männer, doch die blickten ihn nur erwartungsvoll an.

»Ich soll Ihre Tochter heiraten?« Für den Bruchteil einer Sekunde keimte die wilde, doch völlig absurde Hoffnung in ihm auf, Claasen könnte vielleicht von Helene sprechen. Innerlich rief er sich zur Ordnung. Das war natürlich Unsinn. Schließlich wusste er ja, dass die Verlobung zwischen ihr und Georg so gut wie perfekt war. Die schöne Helene würde für ihn allezeit unerreichbar bleiben, da sollte er sich nichts vormachen. Im nächsten Augenblick erstickte Claasen dann auch den letzten Rest des Hoffnungsschimmers.

»Ja, genau das wäre meine Bedingung. Sie heiraten meine Amalia. Das ist jedoch noch nicht alles, Magnussen. Ich erwarte, dass Sie ihr zuvor angemessen den Hof machen. Ich kenne meine Tochter. Sie ist ein wahres Juwel, ein richtiger Schlaukopf, und Sie sollten wissen, dass sie ganz und gar nicht auf einen Ehemann aus ist. Nicht nur, was das angeht, unterscheidet sie sich maßgeblich von ihren Altersgenossinnen. Mit anderen Worten: Ich bin davon überzeugt, dass sie allein aus Liebe in eine Heirat einwilligen wird. Sie müssen sie also unbedingt davon überzeugen, dass Sie rasend in sie verliebt sind, und gleichzeitig dafür sorgen, dass sie sich vollkommen und rettungslos in Sie verliebt, mein Lieber. Sie sehen mir hoffentlich nach, dass ich mich bereits über Sie informiert habe. Ich weiß, dass es Ihnen kaum schwerfallen dürfte, meine Tochter um den Finger zu wickeln. Ihr Ruf in Bezug auf das weibliche Geschlecht eilt ihnen voraus. Sie haben offensichtlich eine natürliche Begabung und verfügen unbestreitbar über ein ausnehmend gutes Aussehen. Offenbar lieben die Damen Sie, Magnussen. Dennoch rate ich Ihnen, bei meiner Tochter vorsichtiger vorzugehen. Sie ist nicht so leicht zu beeindrucken wie andere Mädchen in ihrem Alter.«

»Amalia also«, murmelte Paul leise. Er musste sich räuspern.

»Im Gegenzug bekommen Sie von mir das nötige Kapital, um zu expandieren. Und glauben Sie mir, es wird eine außerordentlich großzügige Summe sein. Ich kann Ihnen versprechen, dass Sie mit Amalia eine wundervolle und ganz besondere Frau an Ihrer Seite haben werden. Wenn Sie klug genug sind, werden Sie das sehr bald zu schätzen wissen. Meine Tochter weiß bereits jetzt eine Menge über geschäftliche Dinge. Ich habe sie in ihrem Wissensdurst stets unterstützt und sie gewähren lassen. Nun gut, vielleicht lag das auch daran, dass mir ein Sohn versagt geblieben ist, aber ich bereue es nicht. Nur so viel: Amalia wird Ihnen in jeder Lebenslage eine wirkliche Partnerin sein, das versichere ich Ihnen. Denn wie ich schon sagte, ist sie ein wahres Juwel.«

Paul ließ das Gehörte auf sich wirken. Er hatte die Lösung seines Problems direkt vor Augen. Claasen reichte sie ihm sozusagen auf dem Silbertablett, und er brauchte nur noch zuzugreifen. Er dachte an Amalia Claasen. Neben ihrer wunderschönen Schwester war sie ihm fast farblos erschienen, jedoch war sie alles andere als hässlich. Um die Taille war sie vielleicht eine Spur zu füllig, doch im Grunde war sie recht hübsch, das musste er zugeben. Mit Helene ließ sie sich dennoch nicht vergleichen, so viel war klar.

»Geben Sie mir bitte ein paar Minuten«, sagte er schließlich.

»Natürlich«, erwiderte Claasen. »Wenn Sie wollen, können wir zunächst auch wieder zu den anderen Gästen in den Salon zurückkehren und zum Ende der Abendgesellschaft noch einmal darüber sprechen. Sie hätten dann die Möglichkeit, Amaliagenauer in Augenschein zu nehmen und vielleicht das eine oder andere Wort mit ihr zu wechseln.«

»Das heißt, Sie wollen noch heute eine Antwort von mir?«