Das Grandhotel an der Alster - Susanne Rubin - E-Book
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Das Grandhotel an der Alster E-Book

Susanne Rubin

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Beschreibung

Ein unerwartetes Erbe, eine unmögliche Liebe und ein erschütterndes Geheimnis

Hamburg, 2019: Als der Besitzer des Hotel Jacoby stirbt, ist die Überraschung groß: Das Hotel geht nicht an seine Kinder, sondern an Ryan Maclane aus Schottland. Emily Magnussen regelt die Übergabe – sie ist sofort fasziniert von Ryan, der ebenfalls nicht weiß, warum er das prestigereiche Hotel erbt. Gemeinsam gehen sie dem Geheimnis auf den Grund.

Sechzig Jahre zuvor: Nach dem Tod ihres Mannes hat Lina Jacoby das Hotel ihrer Eltern allen Zweiflern zum Trotz durch die Kriegsjahre gebracht und will ihm nun zu neuem Glanz verhelfen. Dass sie sich in ihren Chefkoch Martin verliebt, macht es nicht leichter. Da taucht eine Hebamme auf, die Lina eine unfassbare Geschichte erzählt, die alles, was sie über ihre Familie zu wissen glaubte, ins Wanken bringt …

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DAS BUCH

Hamburg, 2019: Als der Besitzer des Hotel Jacoby stirbt, ist die Überraschung groß: Das Hotel geht nicht an seine Kinder, sondern an Ryan Maclane aus Schottland. Emily Magnussen regelt die Übergabe – sie ist sofort fasziniert von Ryan, der ebenfalls nicht weiß, warum er das prestigereiche Hotel erbt. Gemeinsam gehen sie dem Geheimnis auf den Grund.

Sechzig Jahre zuvor: Nach dem Tod ihres Mannes hat Lina Jacoby das Hotel ihrer Eltern allen Zweiflern zum Trotz durch die Kriegsjahre gebracht und will ihm nun zu neuem Glanz verhelfen. Dass sie sich in ihren Chefkoch Martin verliebt, macht es nicht leichter. Da taucht eine Hebamme auf, die Lina eine unfassbare Geschichte erzählt, die alles, was sie über ihre Familie zu wissen glaubte, ins Wanken bringt …

DIE AUTORIN

Susanne Rubin ist eine waschechte »Hamburger Deern«. Zusammen mit ihrem Mann, einem pensionierten Kriminalbeamten, lebt sie in ihrer geliebten Heimatstadt. Nach eigener Aussage ist ihr Mann ihr persönlicher Held, und ihre inzwischen erwachsenen Söhne sind die wunderbarsten der ganzen Welt. Sie liebt das Schreiben und Spieleabende mit ihrer Familie. »Das Grandhotel an der Alster« ist ihr dritter Roman bei Heyne.

LIEFERBARE TITEL

Die Frau des Kaffeehändlers – Die Erben von Gut Lerchengrund

SUSANNE RUBIN

Das Grandhotel

an der

Alster

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 08/2021

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Christiane Wirtz

Umschlaggestaltung: Nele Schütz

unter Verwendung der Motive von Richard Jenkins,

AdobeStock (dietwalther) und Shutterstock.com (Erik AJV)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-27305-7V001

www.heyne.de

Für Peter,

aus vielerlei Gründen

Prolog

Hamburg, im August 1899

Martha Jacoby fühlte sich schwach. Noch nie in ihrem Leben war sie so erschöpft gewesen. Ihr erschien selbst das Heben ihrer Lider als wahrer Kraftakt, deshalb ließ sie ihre Augen lieber geschlossen. Von der Brust abwärts wütete ein unbeschreiblicher Schmerz in ihrem Körper – ein Schmerz, der sie zusätzlich lähmte. Sie wollte sich bewegen, doch irgendetwas lag schwer auf ihrem Leib, und sie brachte einfach nicht genug Energie auf, um dieses Gewicht loszuwerden.

»Liebes, nein, bleib fein liegen. Du hast schwere Stunden hinter dir und darfst dich nicht bewegen.«

Endlich schaffte sie es, ihre Augen zu öffnen. Langsam drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der die sanfte Stimme ihres Ehemannes in ihr Bewusstsein vordrang. Er saß an ihrem Bett, und sie fühlte seine warme Hand auf ihrer linken, die neben ihrem Körper auf dem Laken lag.

»Erich …«

»Du musst dich noch ausruhen, mein Herz«, sagte er und lächelte sie aufmunternd an.

»Das Baby …«

»Unserem Kind geht es ganz wunderbar«, unterbrach er sie sanft. »Mach dir keine Sorgen, Martha.«

»Es geht ihm gut?«

»Es ist ein Mädchen, und sie ist rundherum gesund und wunderschön.« Er löste seine Hand von ihrer und streichelte mit den Fingerknöcheln zart über ihre Wange. »Möchtest du sie sehen?«

Martha fühlte Tränen der Dankbarkeit in sich aufsteigen. Offenbar hatte sie nur einen furchtbaren Traum gehabt.

»Ja«, brachte sie endlich hervor. »O ja, ich möchte sie sehen.«

Nur wenige Minuten später brachte ihr eine kleine rundliche Frau ein weißes Bündel und legte es ihr in den Arm. Martha schob vorsichtig eine Ecke des weißen Baumwollstoffs beiseite und sah zum ersten Mal in die großen dunklen Augen ihrer Tochter. Sofort wurde ihr Körper von einer Wärme durchflutet, die ihr nahezu jeden Schmerz nahm.

»Oh, sie ist wirklich wunderschön.«

»Ihr Kind hat sicherlich Hunger. In den letzten Stunden hat uns zwar eine Amme geholfen, aber nun, da Sie wach sind, können Sie das auch selbst übernehmen, wenn Sie möchten«, sagte die Frau. »Ich bin Traude Meier, die Hebamme, die Ihnen letzte Nacht zur Seite gestanden hat. Wir hatten auch schon einmal vor ein paar Wochen miteinander gesprochen, wissen Sie noch?«

Martha erinnerte sich plötzlich an das Gesicht. »Ja … o ja, Frau Meier, natürlich. Ich erinnere mich.« Plötzlich fiel ihr noch etwas ein. »Letzte Nacht … Da war noch ein Arzt, nicht wahr?«

Die Hebamme nickte, während sie Martha ein weiteres Kissen in den Rücken schob, ihr Nachthemd aufknöpfte und ihr schließlich half, das Baby in die richtige Position zu bringen.

»Das war Doktor Kreidler aus dem Hafenkrankenhaus. Ich kenne ihn schon lange und habe nach ihm schicken lassen, als ich sah, dass es Ihnen immer schlechter ging. Ihr Baby wollte nicht alleine kommen, gnädige Frau, wir mussten nachhelfen«, erklärte Frau Meier. Die Stimme der Hebamme klang sehr beruhigend, fand Martha.

»Nachhelfen?«

»Ja, der Doktor hat einen Kaiserschnitt gemacht und das Kind geholt.«

Martha blieb für einen kurzen Moment vor Schreck fast die Luft weg. »Einen … Kaiserschnitt? Das heißt, er hat mich … aufgeschnitten?«

»Es war die einzige Möglichkeit, Sie zu retten, gnädige Frau, und wir mussten schnell eine Entscheidung fällen. Für eine Fahrt ins Krankenhaus blieb einfach keine Zeit mehr. Dass das Kind ebenfalls lebt, ist ein wahres Wunder. Sie sollten sich keine Sorgen machen, wegen der Operation. Doktor Kreidler hat das schon viele Male gemacht und so vielen Frauen geholfen. Er hat damit Ihr Leben und das Ihres Kindes gerettet.«

»Soso.« Vielleicht hatte ich deshalb diesen schlimmen Traum, dachte sie.

Das Baby begann schmatzend zu trinken und vertrieb damit jeden trübsinnigen Gedanken. Das tiefe Glücksgefühl, das sie nun regelrecht überschwemmte, erstickte jede Besorgnis im Keim. Eine ganze Weile konzentrierte sich Martha allein auf das süße Baby an ihrer Brust. Es erschien ihr durchaus, als wäre ihr ein Wunder widerfahren.

»Gut so«, lobte die Hebamme lächelnd, nachdem einige Zeit vergangen war und sie Martha das Kind wieder abgenommen hatte. Das Baby schien wirklich satt und zufrieden zu sein.

Martha schloss die Knöpfe ihres Nachthemds und sah zu, wie Frau Meier das Baby in eine Wiege legte, die nicht weit entfernt von ihrem Bett stand.

»Offensichtlich haben Sie genug Milch, gnädige Frau. Das ist fein. Die Kleine wird jetzt eine ganze Weile schlafen, denke ich.«

»Würden Sie die Wiege noch ein bisschen näher zu mir ans Bett schieben, Frau Meier? Ich möchte meine Tochter besser sehen können.«

»Aber natürlich. Das mache ich gleich. Zuerst möchte ich noch nach Ihnen sehen.« Die Hebamme kam zurück zu ihrem Bett und hob die Decke an. »Haben Sie starke Schmerzen?«, fragte sie.

»Nun ja … Mein Bauch … Er ist so …«

»Auf Ihrem Bauch liegt ein Sandsack, gnädige Frau. Das hat der Doktor angeordnet. Das Gewicht wird Ihnen helfen, glauben Sie mir. Ein paar Tage, und Sie haben das Schlimmste überstanden.«

»O bitte, Frau Meier, sagen Sie doch einfach Frau Jacoby zu mir.« Sie versuchte sich an einem Lächeln. »Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie für mich da sind.«

»Das ist mein Beruf, und ich liebe ihn«, erwiderte die Hebamme und lächelte ebenfalls. »Sie sind eine sehr tapfere Frau und haben das wunderbar gemeistert. Sie werden die nächsten Tage auch noch gut überstehen.«

»Wird der Arzt noch einmal herkommen? Ich möchte mich auch bei ihm bedanken. Mit dem Baby ist ein lang gehegter Wunsch endlich in Erfüllung gegangen.«

Die Hebamme schüttelte den Kopf. »Mit dem Arzt kann ich leider nicht dienen. Doktor Kreidler arbeitet eigentlich nur im Krankenhaus, aber Ihr Hausarzt, Doktor Lüders, weiß bereits Bescheid und wird heute Abend nach Ihnen sehen. Ihr Mann hat ihn gleich heute Morgen informiert.«

»Ah ja, das ist gut. Zu Doktor Lüders habe ich Vertrauen.«

»Ich muss Ihnen noch etwas sagen, Frau Jacoby.« Die Stimme der Hebamme klang plötzlich sehr ernst, und Marthas Herz schlug sofort schneller.

»Mein Baby ist doch gesund, oder?«

»Ja, soweit wir es bisher beurteilen können, ist das Kind rundherum gesund und munter. Nein, es geht um etwas anderes. Der Doktor, also …«

»Was wollen Sie mir sagen, Frau Meier? Sie klingen plötzlich so ernst, zögern Sie es bitte nicht noch hinaus.«

»Sie können leider keine weiteren Kinder bekommen, gnädige Frau. Doktor Kreidler musste während des Kaiserschnitts eine Entscheidung treffen, um Ihr Leben zu retten. Es gab eine furchtbare Entzündung, die …«

Martha atmete tief durch und hob eine Hand. »Ich verstehe.«

»Ihr Hausarzt wird es Ihnen besser erklären können. Doktor Kreidler hat ihm eine Notiz hinterlassen.« Die Hebamme holte tief Luft, bevor sie weitersprach, so als wäre sie erleichtert darüber, dass die schlechte Nachricht nun heraus war. »Wie ich von Ihrem Mann gehört habe, hatten Sie bereits ein Kindermädchen angestellt«, fuhr sie fort. »Das Mädchen wird heute Nachmittag herkommen und ihren Dienst beginnen, damit wäre das Kind dann gut versorgt. Da auch Sie noch ein bisschen Pflege benötigen, werde ich in den nächsten Tagen weiterhin nach Ihnen schauen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Meier.«

»Wie gesagt, ich liebe meinen Beruf, Frau Jacoby.« Die Hebamme sah sie aufmunternd an. »Aber ich bin auch Krankenschwester. Ich werde auf Sie aufpassen, bis alles verheilt ist. Sie werden sich bald wieder vollkommen gesund und stark genug fühlen, das verspreche ich Ihnen.«

Nachdem die Hebamme sich von ihr verabschiedet hatte, kam Erich wieder zu ihr.

»Du hast sicherlich schon gehört, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann, nicht wahr?«, fragte sie ihn leise, nachdem er ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt und sich erneut auf den Stuhl neben ihrem Bett gesetzt hatte.

Er nickte. »Der Arzt, der letzte Nacht bei dir war, hat es mir gesagt, bevor er gegangen ist.« Nach einem langen Atemzug, der fast seufzend klang, sah er ihr direkt in die Augen. »Wir haben jetzt eine Tochter, mein Liebes, und wir werden diesem Kind die besten Eltern sein.«

»Aber wir werden keinen Sohn mehr bekommen können, Erich. Das Hotel …«

»Die Geschichte hat bereits viele großartige Frauen hervorgebracht, die eine Menge bewegt haben. Ich kann und werde dafür sorgen, dass unsere Tochter alles lernt, was sie wissen muss.« Er hob ihre Hand und drückte seine Lippen darauf. Die Geste rührte sie. »Mit dir habe ich eine kluge Frau an meiner Seite. Du weißt sehr genau, dass mir deine Meinung stets wichtig war. Auch in geschäftlichen Dingen habe ich oft genug deinen Rat eingeholt, nicht wahr?«

»Das stimmt wohl, aber …«

»Du kennst mich, Martha. Ich glaube fest daran, dass Frauen ebenso klug und geschäftstüchtig sein können wie wir Männer. Und selbst wenn unsere Tochter kein Interesse für das Geschäft aufbringen sollte, dann können wir sie immer noch entsprechend verheiraten. Für das Hotel wird es immer eine Lösung geben, glaub mir. Ich bin sehr, sehr glücklich über unser wunderhübsches Mädchen, daran darfst du nicht einen Augenblick zweifeln.«

Martha musste schlucken. »Ich liebe dich sehr«, flüsterte sie. »Und ich bin sehr froh, dass ich dich zum Mann gewählt habe.« Wieder hob er ihre Hand an und küsste sie. Die Wärme seiner Lippen tat ihr gut. »Bist du damit einverstanden, wenn wir sie nach unseren Müttern benennen?«, fragte sie. »Den Namen Lina-Marie fände ich wirklich passend.«

»Ja, das klingt sehr hübsch. Lina-Marie Jacoby.«

1. Kapitel

Schottland, Inverness, im Januar 2019

In der zaghaft anbrechenden Dämmerung waberten tief hängende Nebelschwaden träge und zäh über den Rasen. Die Szenerie wirkte, als wollte die Nacht noch nicht weichen, doch Ryan Maclane wusste, dass es jetzt nur noch wenige Minuten dauern würde, bis der Tag gewann und vollständig hereinbrach. Obwohl Ryan eigentlich ein Langschläfer war, liebte er diese frühe Stunde, kam sie doch stets ein wenig mystisch daher. Die seltsame Stimmung wirkte auf ihn entspannend und sorgte für die nötige Kraft und innere Ruhe, die jeder neue Tag von ihm forderte. Er hatte die Nacht durchgearbeitet und vorhin eigentlich nur kurz lüften wollen, doch nun stand er schon eine ganze Weile mit verschränkten Armen auf der Terrasse und genoss die frische, wenn auch sehr kalte Morgenluft.

Erst als die winterliche Kälte schließlich unangenehm durch die Wolle seines Pullovers drang, ging er zurück ins Wohnzimmer. Er schloss die Terrassentür und überlegte kurz, ob er zuerst duschen sollte, doch dann entschied er, dass es Zeit für einen starken Kaffee war. Wenig später saß er mit einem dampfenden Becher in der Hand erneut vor seinem Bildschirm. Sekundenlang starrte er auf den letzten Satz und das von ihm teils geliebte, teils verhasste Wort Ende.

Es wird Zeit, Abschied zu nehmen, sagte er sich, bevor er die Datei mit dem überarbeiteten Manuskript zum allerletzten Mal auf seiner externen Festplatte sicherte und sie anschließend per Mail an seine Verlagslektorin schickte. Jedes Mal stellte dieser Schritt eine Herausforderung dar, die sein Innerstes spaltete. Einerseits war er froh, dass die Geschichte zu einem Ende gekommen war, andererseits fiel es ihm schwer, sich von den lieb gewonnenen Charakteren zu trennen, die er erschaffen hatte. Stets war es wie ein kleiner Abschied von guten Freunden, aber auch Feinden, und jeder davon hinterließ eine gewisse Leere in seinem Herzen.

Der Kaffee hatte Ryan gutgetan, und er verwarf den Gedanken daran, sich noch ein paar Stunden hinzulegen. Früher hatte er oft nachts gearbeitet, doch inzwischen gestalteten sich seine Tage ebenso ruhig wie die Nächte, und er war nicht mehr auf die Abgeschiedenheit der Nacht angewiesen, um in einen konzentrierten Schreibprozess hineinzufinden. Die vergangenen Stunden hatte er durchgearbeitet, um die letzte Überarbeitung endlich abschließen zu können. Dennoch reagierte sein Körper auch heute nur selten empfindlich auf einen unregelmäßigen Schlafrhythmus. Er holte sich den Schlaf, wenn er ihn brauchte. So einfach war das.

Ryan erhob sich und ging noch einmal hinüber in die Küche, um sich seinen Becher ein zweites Mal aufzufüllen. Als er zurückkam, fiel sein Blick auf den Stapel Post, der auf der anderen Seite seines Schreibtischs lag und den er schon seit mehreren Tagen erfolgreich ignorierte. Seufzend griff er nach den unterschiedlich großen Umschlägen, öffnete einen nach dem anderen und sortierte den Inhalt nach Wichtigkeit.

Der letzte, ein brauner C5-Umschlag ließ ihn stutzen, denn er kam aus Hamburg. Der Absender war ein Notariat in der Innenstadt. Ryan kannte Hamburg gut. Während und im Anschluss seines Studiums hatte er einige Jahre dort gelebt. Er liebte die Stadt und war auch später, nach seiner Rückkehr nach Schottland, immer wieder dort gewesen. Lange Zeit hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, für immer in Hamburg zu bleiben, doch dann war er über Weihnachten zu Besuch zu seinen Eltern nach Schottland gefahren, und bei dieser Gelegenheit hatte er schließlich Jenna, seine spätere Frau, kennengelernt. Damit waren die Weichen für ihn gestellt worden, denn Jenna war eine äußerst heimatverbundene und stolze Schottin gewesen.

Jenna … Wie so oft schweiften seine Gedanken ab, und sein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Er vermisste sie und seine Eltern noch immer so sehr, als wäre das furchtbare Unglück erst gestern geschehen. Dabei war es schon fast zwei Jahre her, dass er seine gesamte Familie verloren hatte. Wie üblich, wenn ihn die Trauer überkam, brauchte er einige Minuten, um wieder klar denken zu können, doch dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass er noch immer den ungeöffneten Brief aus Hamburg in der einen und seinen Brieföffner in der anderen Hand hielt.

Ryan atmete tief durch und öffnete den Umschlag. Noch während er den Brief las, lachte er mehrere Male laut auf und schüttelte den Kopf. Als erste Reaktion zog er sich die Tastatur heran und gab den Namen des Notars in eine Suchmaschine ein. Erstaunt stellte er fest, dass es tatsächlich einen Hamburger Notar mit dem Namen Doktor Winfried Bergholt gab. Allem Anschein nach war der Brief also keine dieser nervtötenden Werbeaktionen, die sich als Gewinn oder vermeintliches Erbe tarnten.

»Na, da hat sich aber jemand so richtig vertan«, sagte er laut.

Wieder musste er lachen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. Bevor er zum Telefon griff, sollte er erst mal in Ruhe duschen und frühstücken. Für einen Anruf bei einem Notar in Hamburg war es auf jeden Fall noch zu früh.

Eine gute Stunde später hatte er Doktor Winfried Bergholt am Apparat.

»Oh, Sie sprechen aber gut Deutsch, Mr. Maclane«, bemerkte der Notar gleich nach der Begrüßung.

»Aye«, erwiderte Ryan. »Ich bin zweisprachig aufgewachsen und habe sogar einige Zeit in Hamburg gelebt. Vermutlich ahnen Sie bereits, weshalb ich mich bei Ihnen melde, Doktor Bergholt?«

»Natürlich. Es geht um Ihr Erbe.«

»Also, ich nehme mal an, dass da ein Irrtum vorliegen muss.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass das kein Irrtum ist, Mr. Maclane. Sie sind doch Ryan Maclane, wohnhaft in Inverness, Schottland.«

»Das ist richtig, aber …«

»Sie sind der letzte lebende Nachkomme von Cameron Maclane, geboren 1899 in Hamburg?«

In Ryans Kopf begann es zu arbeiten. »Ja, mein Urgroßvater hieß Cameron Maclane. Ich weiß allerdings nicht, ob er in Hamburg geboren wurde, das müsste ich erst nachsehen.«

»Glauben Sie mir, Mr. Maclane, Ihr Urgroßvater wurde in Hamburg geboren. Und zwar im Hotel Jacoby. Unsere Nachforschungen lassen daran keinen Zweifel.«

»Aber das rechtfertigt doch nicht, dass ich …«

»Offenbar tut es das doch. Das Testament von Max Jacoby ist eindeutig. Außerdem liegt eine weitere beglaubigte Vereinbarung zwischen ihm und seiner verstorbenen Mutter Lina-Marie Jacoby vor, die Ihrem Erbe zugrunde liegt, wenn man es genau nimmt.«

»Ehrlich gesagt, verstehe ich kein Wort, Doktor Bergholt.«

»Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass das für Sie jetzt erst einmal überraschend kommt, Mr. Maclane, aber es besteht nicht der geringste Zweifel, glauben Sie mir. Sie sind der Alleinerbe eines der berühmtesten Hotels der Welt. Unsere Nachforschungen waren eindeutig und außerordentlich gründlich.« Der Notar holte tief Luft. »Sie müssen wissen, es war gar nicht so einfach, Sie zu finden, Mr. Maclane. Das Gericht hatte deshalb einem Eilantrag der Familie Jacoby stattgegeben und das Testament ohne Ihre Anwesenheit eröffnet. Nur so konnte gewährleistet werden, dass das Hotel seinen normalen Betrieb fortführen kann. Das Gericht fand die Begründung der Familie einleuchtend. Schließlich hängen viele Arbeitsplätze davon ab, und die rechtliche Lage musste schnell geklärt werden, um jemanden kommissarisch einsetzen zu können, der das Hotel in der Zwischenzeit leitet. Meiner persönlichen Meinung nach stand für die Familie im Vordergrund, genug Handhabe zu bekommen, um das Testament anfechten zu können. Dennoch wurden Sie natürlich weiterhin gesucht.«

»Aber warum? Ähm, ich meine … Ich kenne diesen Max Jacoby überhaupt nicht. Auch der Name seiner Mutter sagt mir nichts.«

»Darum geht es nicht, Mr. Maclane. Sie sind der Erbe. Und ich kann Ihnen versichern, hier in Hamburg hat diese Tatsache bereits jede Menge Staub aufgewirbelt. Das Hotel befindet sich seit Generationen im Besitz der Familie. Ich sollte Sie schon jetzt vorwarnen. Die Familie Jacoby ist nicht unbedingt erfreut darüber.«

»Was ich auch durchaus nachvollziehen kann, wenn ich ehrlich bin.« Er musste sich räuspern. »Wie geht es jetzt weiter?«

»Nun, Mr. Maclane, ich würde vorschlagen, dass Sie, sobald es Ihnen möglich ist, nach Hamburg kommen, um Ihr Erbe anzutreten.« Eine Weile war Ryan absolut sprachlos. Es blieb still in der Leitung, bis der Notar noch einmal nachhakte. »Mr. Maclane?«

»Ja, pardon, aber ich muss das erst mal verarbeiten.«

»Das kann ich gut verstehen. Melden Sie sich einfach bei mir, sobald Sie in Hamburg sind, dann sehen wir weiter.«

»Das Hotel …?«

»Das Hotel Jacoby liegt direkt an der Außenalster. Jeder Taxifahrer in Hamburg kennt es.«

»Ja, das weiß ich. Wie gesagt, habe ich einige Jahre in Hamburg gelebt. Ich wollte fragen, wer denn der Geschäftsführer des Hotels ist? An wen sollte ich mich wenden, sobald ich dort eintreffe?«

»Ah, offenbar können Sie schon wieder etwas klarer denken, das freut mich.« Ryan hörte ein leises Lachen. »Max Jacoby hat das Hotel bis zu seinem Tod selbst geleitet. Die Geschäftsführung oblag schon immer dem jeweiligen Besitzer des Hauses. Im Augenblick kümmert sich Frau Magnussen um alles. Sie war die Assistentin von Herrn Jacoby und kennt sich bestens aus, dennoch wird sie froh sein, die volle Verantwortung alsbald wieder abgeben zu dürfen.«

»Frau Magnussen wäre also im Hotel meine Ansprechpartnerin?«

»Ja, Emily Magnussen. Sie können sich auch gerne zuerst mit ihr unterhalten, wenn Sie möchten. Frau Magnussen ist in alle Interna eingeweiht und wird die Übergabe verantwortungsvoll managen, das weiß ich.«

»Gut, vielen Dank, Doktor Bergholt, dann weiß ich erst mal Bescheid.« Ryan griff nach dem Wasserglas auf seinem Schreibtisch und schüttelte zum wiederholten Male den Kopf. »Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich in Hamburg bin.«

»Dann freue ich mich darauf, wieder von Ihnen zu hören, Mr. Maclane. Ach, und übrigens, ich bin ein begeisterter Leser Ihrer Bücher und freue mich schon sehr, Sie persönlich kennenzulernen.«

»Ich danke Ihnen. Wir sehen uns in zwei oder drei Tagen, nehme ich an.«

Ryan beendete das Telefonat und gönnte sich einen tiefen Atemzug. Ein weiteres Mal las er sich das Schreiben des Hamburger Notars durch.

»Ich glaube immer noch an einen Irrtum«, sagte er laut zu sich selbst, während er wenig später die Webseite des Hotels aufrief.

Das renommierte Haus gehörte tatsächlich seit Generationen der Familie Jacoby. Ryan fand heraus, dass Max Jacoby zwei Kinder und sogar einen Enkel hatte, der in etwa in seinem Alter war und seinerseits ein großes Hotel in Frankfurt leitete, also ebenfalls aus der Branche kam. Ryan konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum ein Mann wie Jacoby einem völlig Fremden ein derart erfolgreiches Familienunternehmen wie dieses Hamburger Grandhotel vererben sollte, wenn die eigene Thronfolge sozusagen gesichert war.

Er klickte sich durch die Webseite des Hotels und entdeckte ein Foto der kommissarischen Geschäftsführerin Emily Magnussen. Das Bild zeigte eine auffallend schöne Frau, die er ihrer Stellung entsprechend auf mindestens Anfang dreißig schätzen sollte, obwohl sie ihrem Aussehen nach auch gut noch in den Zwanzigern sein könnte. Ryan war es gewohnt zu recherchieren, deshalb wusste er bereits wenige Minuten später, dass Emily Magnussen einunddreißig Jahre alt war, einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von einer Eliteuniversität vorweisen konnte und einer berühmten Hamburger Kaffeedynastie entstammte, die inzwischen ein weltumspannendes Unternehmen ihr Eigen nannte.

Hm, reich und reich gesellt sich gern, dachte er leicht amüsiert.

Ryan schloss die Seite und buchte die passenden Flüge für den übernächsten Tag, dann schickte er seinen Computer in den Ruhezustand und erhob sich. Ihm war nach frischer Luft, und da er ohnehin noch einige Besorgungen zu erledigen hatte, zog er sich warm an und verließ das Haus, um zu Fuß in die Innenstadt zu laufen. Es war noch immer klirrend kalt, doch die Luft war klar, und sogar die Sonne lugte jetzt durch die Wolken. Nach weniger als fünfzehn Minuten überquerte er die Greig Street Bridge, die über den River Ness führte, und hielt kurz darauf auf den Inverness Shopping Park zu.

Touristen waren im Januar kaum in der Stadt, so war noch nicht viel los in den Geschäften, die erst vor gut einer Stunde geöffnet hatten. Ryan kam schnell voran. Neben den erforderlichen Besorgungen gönnte er sich einige neue Kleidungsstücke. Das hatte er eigentlich schon vor Monaten angehen wollen, doch nun ergab sich durch seine bevorstehende Reise nach Hamburg eine gute Gelegenheit dafür. Trotzdem beschränkte er sich auf das Notwendigste, denn in Hamburg würde es deutlich mehr Möglichkeiten geben, sich neu einzukleiden. Zwei neue Hemden, eine Jeans und ein Paar schwarze Sneaker, das musste vorerst reichen.

Kurz bevor er wieder zu Hause ankam, begann es zu schneien. Es waren nur ein paar Flocken, fein und viel zu wenig, um liegen zu bleiben, doch sie riefen erneut die Erinnerung an Jenna wach. Sie hatte Schnee geliebt. Wahrscheinlich hätten diese wenigen zarten Flocken sie schon zum Jauchzen gebracht, dachte er wehmütig. Ihre Begeisterungsfähigkeit hatte ihn stets berührt.

Den restlichen Tag verbrachte er vor allem damit, seine unerwartete Reise vorzubereiten, und er stellte fest, dass ihm diese Abwechslung von seinem Alltag sogar gefiel. Zunächst holte er seinen Trolley vom Dachboden, dann ließ er die Waschmaschine und den Trockner laufen und bügelte ein paar Hemden. Zwischendurch führte er noch ein längeres Telefonat mit seiner Lektorin, die sich für das fertige Manuskript bedankte und mit ihm noch ein paar Einzelheiten besprach. Am frühen Abend kochte er sich Pasta mit Käsesoße und recherchierte nach dem Essen noch ein wenig für seinen nächsten Roman. Eigentlich hatte er dafür noch jede Menge Zeit, doch er wollte sich beschäftigen, um es irgendwie bis in den Abend zu schaffen, damit sein Schlafrhythmus nicht vollständig durcheinandergeriet. Auf diese Weise hielt er tatsächlich bis zweiundzwanzig Uhr durch. Doch dann machte sich die schlaflose Nacht immer deutlicher bemerkbar, und die Müdigkeit ging in eine bleierne Schläfrigkeit über, also machte er sich bettfertig und fiel schon wenige Minuten später in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen fiel ihm auf, dass er im Grunde niemanden mehr hatte, dem er von seiner kuriosen Erbschaft erzählen konnte. Seine Familie gab es nicht mehr, und der einzige wirkliche Freund, den er jemals gehabt hatte, war bereits vor zehn Jahren einem frühen Krebsleiden erlegen. Natürlich gab es noch ein paar Bekanntschaften, aber die gingen nicht in die Tiefe und reichten höchstens für ein gemeinsames Bier im Pub.

Ryan war sich im Klaren darüber, dass das nicht zuletzt an ihm selbst lag. Er war nicht unbedingt der extrovertierte Typ. Sicherlich hing sein zurückgezogenes Leben auch mit seiner Arbeit zusammen. Jenna war zum Glück sehr gut damit zurechtgekommen. Es hatte schlicht zu ihrem gemeinsamen Leben gehört, dass er jeden Tag viele Stunden, manchmal auch nächtelang vor seinem Computer saß. Was das anging, hatte sich sein Alltag nicht verändert. Noch immer war er gern allein mit seiner Arbeit und den Charakteren, die manchmal wie aus dem Nichts seiner Fantasie entsprangen und sein Denken beherrschten, bis ihre jeweilige Geschichte irgendwann zu Ende erzählt war. Nur in den Zeiten zwischen zwei Manuskripten fühlte er sich manchmal einsam. Wahrscheinlich sorgte er deshalb auch dafür, dass diese Pausen nie besonders lang waren. Zum Glück ließ ihn seine Kreativität nur selten im Stich. Schreibblockaden waren ihm gänzlich fremd, und dafür war er ebenso dankbar wie für seinen Erfolg.

So verbrachte er den Tag vor seiner Abreise mit weiteren Recherchen und Notizen für sein nächstes Projekt. Zwischendurch informierte er Ron und Susan Kennedy telefonisch darüber, dass er für ein paar Tage nicht zu Hause sein würde. Das Ehepaar aus der Nachbarschaft kümmerte sich sehr liebevoll und sorgfältig um seinen Garten und das Haus, seit er alleine lebte. Sie hatten einen Hausschlüssel und würden alles gut und verlässlich in Schuss halten – wie sie es immer taten, sobald er unterwegs war. Am Abend schob Ryan schließlich eine Tiefkühlpizza in den Ofen, trank ein Glas Rotwein dazu und ging zeitig ins Bett, da er in aller Frühe aufstehen musste.

2. Kapitel

Hamburg, am nächsten Tag

Kaum saß Ryan im Taxi, stieg ein vertrautes, sehr angenehmes und warmes Gefühl der Zufriedenheit in ihm auf.

Hamburg!

Er hatte die Stadt wirklich vermisst, das musste er sich jetzt eingestehen. Ryan teilte dem Fahrer sein Ziel mit und kramte in seiner Erinnerung die grobe Strecke hervor.

»Fahren Sie doch bitte über Hoheluft«, bat er den Taxifahrer. »Und wenn es geht, nehmen Sie die Strecke über die Lombardsbrücke. Ich war lange nicht mehr hier und würde gerne einen kurzen Blick über die Binnenalster werfen.«

»Kein Problem, aber das ist ein Umweg. Wenn ich über Winterhude fahre, wären wir deutlich schneller und müssten die Alster nicht überqueren.«

»Ja, ich weiß, aber das stört mich nicht. Ich habe keinen Termindruck und würde mir die Zeit gerne nehmen.«

»Sie sind der Boss«, sagte der Fahrer und schnalzte mit der Zunge. »Mir soll es recht sein.«

»Ich werde die Fahrt genießen«, erwiderte Ryan und meinte es auch so.

Er war wirklich viel zu lange nicht mehr in Hamburg gewesen. Es war nicht etwa so, dass er sein Heimatland nicht liebte. Schottland mit seiner eindrucksvollen Landschaft würde für immer das schönste Land dieser Erde für ihn bleiben. Dennoch … diese Stadt hatte ihn schon vor Jahren auf eine Art berührt, die er nicht in Worte fassen konnte. Sie hatte sein Herz erobert.

Als das Taxi dann tatsächlich die Lombardsbrücke überquerte und er einen Blick über die Binnenalster hinweg auf die imposanten Häuser am Jungfernstieg und am Ballindamm erhaschen konnte, bemühte sich der Fahrer etwas langsamer zu fahren, wie er bemerkte. Dennoch ging dieser Moment viel zu schnell vorbei, denn der laufende Verkehr forderte seinen Tribut. Hier hätte sich Ryan ausnahmsweise gerne einmal einen kurzen Verkehrsstau gewünscht, doch gerade heute lief alles wie am Schnürchen.

Nur wenige Minuten später hielt das Taxi direkt vor dem Hotel Jacoby. Ryan bezahlte den Fahrer, bedankte sich und stieg aus. Vor dem Eingang des Hotels hielt er kurz inne. Die mächtige doppelflügelige Glastür mit dem berühmten Logo des Hotels – ein goldenes J, um das eine feine Ankerkette geschlungen war – glänzte im Schein der Wintersonne. Er wusste, dass auf dem Dach in ebenfalls goldenen Lettern der Name des Hotels thronte, doch der war aus dieser Perspektive nicht zu sehen. Sein Blick glitt dennoch an der schneeweißen Fassade empor. Die eindrucksvollen Mauersäulen und kunstvoll gestalteten Vorsprünge wirkten majestätisch. Das Gebäude war zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts wie ein typisches Palais erbaut worden. Lang gestreckt und in drei mächtigen Abschnitten zog es sich auch noch heute am Ufer der Außenalster entlang.

Ein Anflug von Demut erfasste Ryan. Doch da war noch ein anderes Gefühl, das er sekundenlang nicht einzuordnen vermochte, bis ihm bewusst wurde, dass dieses Gebäude eine seltsame Anziehungskraft auf ihn ausübte. Langsam stieg er die drei Steinstufen empor. Kaum war er oben angekommen, öffneten sich wie durch Zauberhand die beiden riesigen Türen. Natürlich war ihm klar, dass es sich schlicht um Automatiktüren handelte, die auf einen Bewegungsmelder reagierten, doch es beeindruckte ihn trotzdem.

Das Foyer wirkte klassisch elegant, so wie man es von einem Luxushotel erwartete, und war dennoch einzigartig. Dunkelroter Granit und weiß lackiertes Holz standen in einem faszinierenden Kontrast zueinander.

Ryan hielt auf den wunderschön gestalteten Tresen der Rezeption zu. Eine der drei Rezeptionistinnen begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln.

»Mein Name ist Ryan Maclane«, sagte er auf Deutsch. »Ich würde gerne Frau Magnussen sprechen.«

»Haben Sie einen Termin, Herr Maclane?«

»Nein, aber ich denke, Frau Magnussen erwartet mich.«

»Einen kleinen Moment, bitte«, antwortete die Empfangsdame gleichbleibend freundlich.

Ryan beobachtete, wie sie telefonierte. Kurz darauf erschien ein älterer Mann aus einer zuvor nahezu unsichtbaren Tür hinter dem Rezeptionstresen und kam direkt auf ihn zu. Am Revers seiner dunkelroten Uniformjacke blinkte das goldene J mit der dazugehörigen Ankerkette.

»Guten Tag, Herr Maclane, mein Name ist Ulf Willmer, ich bin der Empfangschef des Hotels. Darf ich fragen, weshalb Sie Frau Magnussen sprechen möchten? Vielleicht kann auch ich Ihnen weiterhelfen.«

»Nein, das können Sie leider nicht, Herr Willmer. Ich muss Frau Magnussen persönlich sprechen. Ich sagte bereits Ihrer Mitarbeiterin, dass Frau Magnussen mich sicherlich erwartet. Sie bräuchten Sie nur kurz zu informieren, dass ich hier bin, glauben Sie mir.«

»Nun gut. Wir werden sehen.« Der Empfangschef griff nach dem Telefon, doch dann hielt er kurz inne. Wenn Ryan sich nicht täuschte, schien ihm in dieser Sekunde ein Gedanke zu kommen, und Ryan konnte regelrecht dabei zusehen, wie dem Mann ein Licht aufging. Unter normalen Umständen gelang es dem erfahrenen Empfangschef sicherlich in nahezu jeder Situation, die Fassung zu bewahren, da war sich Ryan sicher. Auch jetzt zeigten nur sehr kleine Veränderungen seiner Mimik, dass soeben eine leichte Nervosität von ihm Besitz ergriffen hatte. »Ich melde Sie sofort an, Herr Maclane.«

»Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen, Herr Willmer.« Innerlich musste Ryan schmunzeln. Offenbar machten im Hotel bereits entsprechende Gerüchte die Runde.

Kurz darauf kam der Empfangschef um den Tresen herum zu ihm. Sein Blick fiel auf Ryans Rollkoffer. »Möchten Sie Ihr Gepäck vielleicht hier unten deponieren? Wir kümmern uns sehr gerne darum.«

»Danke, aber das ist nicht nötig«, antwortete Ryan.

»Wie Sie wünschen. Wenn Sie mir bitte folgen würden, Herr Maclane.«

Ryan nickte und folgte Willmer ans hintere Ende der Halle. Hinter einer weiteren Glastür, die nur mit einem Schlüssel geöffnet werden konnte, führte ein langer Gang an mehreren Türen vorbei zu einem kleinen Fahrstuhl. »Dies ist der Privatlift. Sie brauchen nur auf den oberen Knopf zu drücken, dann landen Sie direkt in der Direktionsetage. Frau Magnussen wird Sie dort in Empfang nehmen.«

»Herzlichen Dank«, erwiderte Ryan und stieg in den Lift.

Als sich die Tür des Fahrstuhls wieder öffnete, befand er sich in einem großen Vorraum, von dem mehrere Türen und ein weiterer Flur abgingen. Kaum hatte sich die Fahrstuhltür hinter ihm geschlossen, trat Emily Magnussen aus einer der Türen und kam lächelnd auf ihn zu. Dank des Fotos, das er auf der Homepage des Hotels gesehen hatte, erkannte er sie sofort.

»Ryan Maclane?«, fragte sie ihn.

»Der bin ich«, antwortete er und ergriff ihre dargebotene Hand. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht allzu sehr, Frau Magnussen.«

»Überhaupt nicht. Kommen Sie, ich habe uns gerade Kaffee bestellt. Ach, verzeihen Sie, oder möchten Sie lieber einen Tee?«

»Keine Sorge, ich bin trotz meiner Herkunft ein eingefleischter Kaffeetrinker.«

»Fein, dann sind wir uns in dieser Hinsicht ja schon mal einig.«

Ihr Lächeln vertiefte sich, und er fühlte einen kurzen Anflug von Verlegenheit in sich aufsteigen. Das wunderte ihn, denn normalerweise ließ er sich von äußerer Schönheit bei anderen Menschen nicht besonders beeindrucken. Während er ihr in ein großes Büro folgte, schaffte er es jedoch spielend, sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Das Foto auf der Homepage wird dieser Frau nicht gerecht, dachte er.

»Sie entstammen der Kaffeedynastie Magnussen, nicht wahr?«, fragte er.

»Wie ich sehe, haben Sie sich schon informiert«, erwiderte sie und deutete auf eine Sitzecke, die aus einem kleinen Tisch und vier einzelnen Ledersesseln bestand. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Unser Kaffee kommt sicherlich jede Sekunde.«

»Danke sehr.« Er ließ sich in einem der Sessel nieder. »Heutzutage stellt es kaum ein Problem dar, sich über jemanden zu informieren.«

»Und ich gebe zu, dass ich diese Möglichkeiten ebenfalls ausgeschöpft habe. Dank ihrer Webseite und diversen Einträgen in den sozialen Medien weiß ich zum Beispiel, dass Sie einst hier in Hamburg studiert haben und schon auf einige Bestseller stolz sein dürfen. Ja, ich weiß sogar, dass Sie alleinstehend sind und ein Haus in Inverness besitzen. Ach, und bevor Sie fragen, ja, ich habe bereits einige Ihrer Romane gelesen.«

»Ich hätte nicht danach gefragt«, sagte er. »Das tue ich nie.«

Sie nickte. »Ich verstehe.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, da erschien ein Kellner und servierte Kaffee und eine Etagere mit Keksen und Pralinen. Emily Magnussen schenkte ihnen ein, als sie wieder allein waren.

»Sie haben mit Herrn Jacoby eng zusammengearbeitet, wie ich gelesen habe«, nahm er den Faden wieder auf, nachdem er von dem Kaffee getrunken hatte.

»Ja«, sagte sie. »Ich arbeite seit fast drei Jahren hier.«

»Dann können Sie mir vielleicht sagen, was es mit dieser ominösen Erbschaft auf sich hat.«

Sie verzog nachdenklich ihren schönen Mund und schüttelte den Kopf. »Leider kann ich das nicht, Herr Maclane. Max … also Herr Jacoby war zwar nicht nur mein Chef, sondern auch ein langjähriger Freund meines Vaters und sogar mein Patenonkel, aber er hat sich mir diesbezüglich nicht anvertraut. Genau wie seine Familie bin auch ich aus allen Wolken gefallen.«

»So ist es mir auch gegangen. Wenn ich ehrlich bin, denke ich noch immer, dass es sich schlicht und ergreifend um einen Irrtum handeln muss.«

»Das glaube ich kaum. Max Jacoby war ein ausgesprochen kluger Mann, der niemals etwas dem Zufall überließ. Ich habe wirklich nie erlebt, dass er etwas Unüberlegtes getan hätte, eher im Gegenteil. Er ist zweiundneunzig Jahre alt geworden, doch man hätte ihn auch für siebzig halten können. Im Kopf war er noch absolut fit, und er kam bis kurz vor seinem Tod jeden Tag ins Büro, um dieses Hotel zu führen. Bis zum Schluss tat er das mit einer Leidenschaftlichkeit, als wäre er in seinen besten Jahren.« Sie lachte verhalten auf und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie weitersprach. »Sie merken sicherlich, wie sehr ich Max Jacoby mochte und verehrt habe. Aber um auf Ihre Erbschaft zurückzukommen … Thomas Jacoby, das ist sein Sohn, teilte mir vor einiger Zeit mit, dass zusätzlich noch eine notariell beglaubigte Vereinbarung zwischen seinem Vater und seiner Großmutter vorliegen würde, die dem Testament sozusagen zugrunde liegt.«

»Das klingt kompliziert«, warf er ein.

»Ja, das ist es wohl auch.« Sie hob ihre schmalen Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass Thomas Jacoby und seine Schwester Bettina Jacoby-Schönwalde bereits versucht haben, das Testament ihres Vaters anzufechten, jedoch ohne Erfolg.« Emily Magnussen machte eine kleine Pause, nippte an ihrer Tasse, nahm einen Keks und knabberte daran. »Es ist alles eindeutig und rechtsgültig, das können Sie mir glauben, Herr Maclane. Ich nehme an, dass Sie sich noch mit Doktor Bergholt treffen werden. Der kann Ihnen das sehr viel besser erläutern.«

Eine Weile herrschte nachdenkliche Stille zwischen ihnen. Um sich irgendwie zu beschäftigen, nahm auch Ryan einen Keks.

»Ich habe wirklich keine Ahnung, warum Max Jacoby mir dieses Hotel vererben sollte«, sagte er schließlich und sah Emily Magnussen wieder direkt an.

»Das glaube ich Ihnen sogar.« Sie griff noch einmal zur Kaffeekanne und schenkte ihnen nach. Dann erhob sie sich und ging hinüber zu einem kleinen Tisch, auf dem eine Wasserkaraffe und ein paar Gläser standen. Sie befüllte zwei, kam zu ihm zurück und setzte sich wieder, nachdem sie ihm eins davon hingestellt hatte. Das andere Glas behielt sie zunächst in der Hand, doch als ihr Telefon klingelte, stellte sie es auf dem Tisch ab. Sie warf einen Blick auf ihr Smartphone. »Entschuldigen Sie, das ist unsere Hausdame, da muss ich kurz ran.«

»Kein Problem«, erwiderte er. »Soll ich solange …« Er deutete mit dem Kopf Richtung Tür, aber sie winkte sofort ab. Während sie bereits das Gespräch entgegennahm, schüttelte sie den Kopf und machte eine beschwichtigende Bewegung mit ihrer freien Hand. Sie erhob sich erneut. Mit dem Telefon am Ohr ging sie hinüber zu ihrem Schreibtisch und blätterte in irgendwelchen Papieren. Während sie sprach und der Hausdame Zahlen und Namen durchgab, nutzte Ryan die Gelegenheit, um sie genauer zu betrachten.

Emily Magnussen war von Kopf bis Fuß genauso gekleidet, wie man es von einer Hotelmanagerin erwartete. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, eine weiße Hemdbluse und klassische schwarze Pumps mit dezentem Absatz. Winzige Diamantohrstecker, eine schlichte Armbanduhr mit schwarzem Lederband und eine silberne Spange, mit der sie die vorderen Strähnen ihrer schulterlangen Haare am Hinterkopf festgesteckt hatte, waren ihr einziger Schmuck. Ihr nahezu schwarzes Haar glänzte im Licht der Sonne, das durch die Fenster hinter ihrem Schreibtisch fiel. Auf den ersten Blick hatte Ryan diese Frau als den klassischen Schneewittchen-Typ eingestuft, doch das stimmte nicht ganz, denn es war nichts Mädchenhaftes an ihr, dazu strahlte sie viel zu viel Selbstbewusstsein aus. Er erwischte sich dabei, wie er darüber nachdachte, auf welche Weise er ihre Augen beschreiben würde, wäre sie ein Charakter in einem seiner Romane. Das tiefe Blau ihrer Iris war faszinierend, wenn nicht sogar einzigartig. Vielleicht eine Mischung aus Kornblumenblau und Mittsommernacht, dachte er noch, doch da kam sie auch schon wieder zurück zur Sesselgruppe, und er rief sich innerlich zur Ordnung.

»Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung. Ich habe jetzt dafür gesorgt, dass man uns nicht mehr stört«, sagte sie.

»Ich müsste mich entschuldigen, Frau Magnussen. Schließlich bringe ich mit meinem unangekündigten Erscheinen wahrscheinlich Ihren gesamten Arbeitstag durcheinander.«

Wieder winkte sie ab. »Keine Sorge.«

»Nun ja, wenn ich es richtig sehe, schmeißen Sie den Laden jetzt doch allein, oder etwa nicht?«

Sie lachte. Es war ein angenehmes Lachen, registrierte er. »Ganz so ist es nicht, Herr Maclane. Es gibt jede Menge Menschen in diesem Hotel, die mir dabei zur Seite stehen.«

Wieder blieben sie eine Weile still. Ryan trank seinen Kaffee aus und nahm anschließend noch einen Schluck Wasser. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er.

»Vielleicht sollte ich Ihnen noch sagen, dass es Tradition in diesem Haus ist, dass der Eigentümer es selbst führt.« Sie schmunzelte, räusperte sich dann.

Nun war es an ihm, kurz aufzulachen. »Aber das kann ich doch gar nicht. Ich bin Autor, kein Geschäftsmann, geschweige denn, dass ich wüsste, wie man ein Hotel führt.«

Emily Magnussen legte den Kopf ein wenig schief. »Ach, wissen Sie, das ist kein Hexenwerk. Alles, was Sie dafür brauchen, ist ein gesunder Menschenverstand, und den haben Sie ja ohne Zweifel. Wenn Sie dann noch genug Empathie und Einsatzfreude mitbringen, lernen Sie das in null Komma nichts, Sie werden sehen. Um das normale Tagesgeschäft kümmern sich ja ohnehin unsere Angestellten. Wir haben großartige Leute, das kann ich Ihnen versichern.«

»Ich bitte Sie, nein, das geht wirklich nicht. Mal abgesehen davon, dass ich in Schottland lebe. Ich …«

»Sprechen Sie doch erst einmal mit Doktor Bergholt, dann sehen Sie vielleicht schon klarer.«

»Gut, das ist dann wohl der beste Weg. Wie auch immer, ich möchte Sie jetzt nicht länger aufhalten.« Er erhob sich, und sie tat es ihm nach. Dann fiel ihr Blick auf seinen Koffer, den er vorhin neben der Bürotür abgestellt hatte.

»Sie kommen direkt vom Flughafen, nicht wahr?«

»Aye, ich bin gleich hierher zu Ihnen gekommen.«

»Na, dann folgen Sie mir mal, Herr Maclane, ich zeige Ihnen Ihre Suite.«

»Äh … Ich habe eigentlich ein Zimmer im …«

»Ihnen gehört dieses Hotel, Herr Maclane, und damit besitzen Sie auch eine Wohnung hier im Hause«, unterbrach sie ihn. »Die Suite ist bereits ausgeräumt und vollkommen neu für Sie ausgestattet worden. Sie können ihr anderes Zimmer also getrost stornieren.«

Erneut musste er lachen. »Sie meinen das ernst, ja?«

»Natürlich.« Sie zog ihre Stirn ein wenig kraus und schmunzelte. »So ein Leben als Besitzer eines Grandhotels hat auch Vorteile, müssen Sie wissen.«

Sie ging noch einmal zu ihrem Schreibtisch und nahm einen Schlüssel aus der Schublade, ließ ihn kurz in der Luft baumeln und lächelte ihm zu. »Kommen Sie?«

Ryan griff nach seinem Koffer und marschierte hinter ihr her. Er hatte erwartet, dass sie zum Fahrstuhl gehen würde, aber das tat sie nicht. Stattdessen hielt sie auf den kleinen Flur zu, der ihm vorhin schon aufgefallen war. »Die Wohnung befindet sich hier oben?«

»Ja, sie ist vollkommen abgeschottet vom Rest des Hotels. Sie werden dort absolute Ruhe haben.«

Sie gingen den Flur entlang, an einer Tür vorbei und standen schließlich vor einer weiteren. Emily Magnussen öffnete sie, und sie traten ein. Nachdem sie eine kleine Diele hinter sich gelassen hatten, befanden sie sich nun in einem Wohnzimmer, das mindestens so groß war, wie das gesamte Untergeschoss seines Hauses in Inverness. Die Einrichtung war in warmen Erdfarben gehalten und wirkte ausgesprochen edel. Eine Wohnlandschaft aus dunkelbraunem Wildleder dominierte den Raum, ihr gegenüber hing ein riesiger Flachbildschirm an der Wand, und durch die hohen Fenster hatte man einen grandiosen Blick über die Außenalster. Vor einem der Fenster stand ein ausladender Schreibtisch, der dazugehörige Chefsessel hatte den gleichen Wildlederbezug wie das Sofa.

»Wow!«, entfuhr es ihm.

»O ja, es ist eine tolle Wohnung. Im Haus wird sie allgemein als Direktionssuite bezeichnet«, sagte sie lächelnd. »Der Durchgang da hinten auf der linken Seite führt zum Schlafzimmer, von dort geht auch das große Bad ab. Hinter der schmalen Tür auf der rechten Seite befindet sich eine kleine Küchenzeile mit Kaffeevollautomat und Kühlschrank. Den Kühlschrank können Sie ganz nach Ihren Wünschen regelmäßig auffüllen lassen. Vorne in der Diele gibt es noch ein Gäste-WC mit einer zusätzlichen Dusche, die wahrscheinlich nie jemand brauchen wird«, erklärte sie lachend und reichte ihm den Schlüssel. »Der kleinere Schlüssel ist für die Tür im Erdgeschoss, die zum Verwaltungstrakt und zum Privatlift führt. Den Weg kennen Sie ja bereits.«

»Keine Schlüsselkarte?«

»Nein. So etwas haben wir hier nicht. Wir sind ein traditionelles Haus mit traditionellen Schlüsseln.« Sie sah zu ihm auf. »Darf ich Ihnen noch eine persönliche Frage stellen, Herr Maclane?«

»Natürlich.«

»Sie sprechen exzellentes Deutsch. Haben Sie die Sprache während Ihres Studiums gelernt?«

»Ich hatte das Glück, zweisprachig aufzuwachsen. Die Studienjahre waren sozusagen noch das Tüpfelchen auf dem i. Schon einige Jahre vor dem Abitur hatte ich beschlossen, in Deutschland zu studieren.«

»Oh, Ihre Mutter oder Ihr Vater stammen aus Deutschland?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, meine Eltern kamen beide aus Schottland. Allerdings liebte meine Mutter die deutsche Literatur. Schon mein Großvater sprach Deutsch, deshalb hat auch sie die Sprache recht gut beherrscht. Als Familie haben wir sogar recht häufig unsere Ferien hier verbracht. Da wir gerade bei Traditionen sind, fällt das wohl auch in diese Kategorie.«

»Ah, eine Familientradition. Davon kann ich als Magnussen ein Lied singen.« Sie räusperte sich. »So, nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Richten Sie sich in aller Ruhe ein, und falls noch etwas fehlen sollte, wenden Sie sich gerne direkt an mich. Übrigens können Sie natürlich jederzeit unseren Zimmerservice nutzen. Unsere Mitarbeiter sehen automatisch, wenn eine Bestellung hier aus der Direktionssuite kommt, und wissen dann, dass nichts in Rechnung gestellt werden muss. Nutzen Sie es ruhig, es lohnt sich, das kann ich Ihnen versprechen. Unsere Küche ist legendär. Eine entsprechende Karte finden Sie in der obersten Schublade des Schreibtischs. Natürlich wird außerdem stets ein Tisch für Sie im Restaurant frei sein, auch das gehört in die Kategorie ›Tradition des Hauses‹. Die Zugangsdaten für Ihren persönlichen Internetzugang finden Sie in der kleinen Mappe auf dem Schreibtisch, gleich neben dem Telefon. Der Zugang ist übrigens extra gesichert und vom System des Hotels unabhängig. Und … ach ja, hier ist meine Visitenkarte, damit Sie meine Handynummer haben und mich jederzeit erreichen können.«

»Hm. Danke.« Er starrte auf die Karte und fühlte sich tatsächlich überfordert – ein beunruhigendes Gefühl, das ihm bis zu diesem Moment gänzlich fremd gewesen war.

»Herzlich willkommen zurück in Hamburg. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Maclane. Wir können dann über alles Weitere reden, sobald Sie bei Doktor Bergholt gewesen sind.«

»Aye.«

»Ich gebe unten sofort Bescheid, dass Sie die Direktionssuite bezogen haben.« Sie schenkte ihm noch ein weiteres, sehr beeindruckendes Lächeln, bevor sie ging.

Ryan schnappte sich seinen Koffer, um ihn ins Schlafzimmer zu bringen. Das Bett war riesig und wirkte ebenso luxuriös wie das dunkle Holz der Möbel. Als er die Tür zum Bad öffnete, konnten ihn der herrliche Granit, die wunderschöne frei stehende Wanne und die außerordentlich geräumige Duschkabine kaum noch überraschen. Unweigerlich musste er an Jenna denken. Sie war nie gerne verreist, doch wenn sie einmal zusammen in einem Hotel oder einer Pension gewesen waren, hatte sie stets zuerst das Badezimmer inspiziert. Jenna war der festen Überzeugung gewesen, dass man die Qualität eines Hotels vor allem an der Ausstattung der Bäder erkennen konnte. Diese ebenerdige Duschkabine mit all ihren zusätzlichen Wasserdüsen ringsherum hätte sie ohne Frage laut jubeln lassen.

Als sein Blick zufällig in den großen Spiegel über den beiden Waschbecken fiel, sah er sich lächeln. Er wunderte sich, dass er gar nicht in diesen grauenvollen und leider allzu vertrauten Zustand der schmerzlichen Trauer verfallen war, obwohl er an Jenna gedacht hatte. Offensichtlich tat ihm der Tapetenwechsel gut.

Bei einem kurzen Telefonat mit Doktor Bergholt verabredete er sich mit dem Notar für den späteren Nachmittag. Da das Notariat nur wenige Schritte vom Hotel entfernt lag, ging Ryan zu Fuß.

Als er schließlich mit Doktor Bergholt in dessen Büro saß, versuchte er zu verarbeiten, was der Notar ihm noch einmal ausführlich erklärt hatte, nachdem er ihm das Testament von Max Jacoby vorgelesen hatte. Offenbar gab es rechtlich tatsächlich nicht den geringsten Zweifel daran, dass ihm von nun an das weltberühmte Hotel Jacoby gehörte.

»Ich kann immer noch nicht nachvollziehen, warum mir diese Erbschaft widerfährt«, sagte Ryan, während er einige notwendige Papiere unterzeichnete. »Mir ist nicht die geringste Verbindung zu Max Jacoby bekannt.«

»Wie ich Ihnen bereits bei unserem ersten Telefonat sagte, fällt es auch der Familie Jacoby recht schwer, den letzten Willen von Max zu akzeptieren, doch inzwischen mussten sie einsehen, dass es nicht in ihrer Macht liegt, daran etwas zu ändern. Die Familie hat bereits sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft, doch die Sache ist eindeutig.« Der Notar sammelte sämtliche Unterlagen zusammen und nickte ihm freundlich zu. »Die offizielle Urkunde lasse ich Ihnen gleich morgen per Boten zukommen, Herr Maclane.«

Ryan fiel auf, dass Bergholt jetzt die deutsche Anrede benutzte. Am Telefon war das noch anders gewesen. »Ja … das ist sehr freundlich.«

»Sie können es immer noch nicht glauben, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Ehrlich gesagt, fühle ich mich im Augenblick ziemlich überfordert. Vor allem mag ich mir gar nicht vorstellen, wie sehr die Familie Jacoby mich hassen muss.«

»Hass ist ein großes Wort«, winkte der Notar ab. »Und wenn Sie mich fragen, sollten Sie diese Gefühle möglichst schnell abschütteln. Es ist ja nicht so, dass Max seine Kinder mittellos zurückgelassen hätte. Der Familie gehören zwei außerordentlich erfolgreiche Restaurants hier in Hamburg. Eines davon führt ein berühmter Sternekoch. Außerdem besitzen Thomas Jacoby und seine Schwester Bettina ein großes Messehotel in Frankfurt, welches von Bettinas Sohn Fabian geleitet wird, sowie zwei kleinere Hotels in Köln und München. Das ist aber noch nicht alles. Darüber hinaus gehört der Familie ein Grandhotel in der Schweiz, direkt am Zürichsee, das sehr einträglich ist und von Bettina Jacoby-Schönwalde persönlich geführt wird, da sie mit einem Schweizer verheiratet ist. Die Nachkommen von Max Jacoby sind also auch so außerordentlich vermögend. Das Hotel Jacoby war schon lange nicht mehr ihre Haupteinnahmequelle. Der Familie geht es eher ums Renommee des Hauses als um die Bilanz, falls Sie verstehen, was ich meine.«

»Ja, ich verstehe. Die Familie hat also Bedenken, dass ein Fremder das Hotel in den Ruin treiben würde.«

»Hm, das spielt sicherlich eine Rolle, aber ganz so eindeutig ist auch das nicht. Das Hotel Jacoby war sozusagen das Flaggschiff des Familienunternehmens. Meiner Meinung nach geht es vorwiegend darum, dass die Familie sich nun nicht mehr damit schmücken kann. Ich möchte Sie noch einmal auf den im Testament ausdrücklich formulierten Wunsch hinweisen, dass das Hotel nicht an die Familie zurückverkauft werden sollte. Das war Max Jacoby offenbar sehr wichtig.« Der Notar holte einmal tief Luft und zog ein weiteres Papier aus einer blauen Mappe. »Eine weitere Unterschrift brauche ich noch von Ihnen«, sagte er.

Nach einem kurzen Blick auf das Dokument, das Bergholt ihm über den Schreibtisch hinweg zugeschoben hatte, musste Ryan sich räuspern.

»Ein Treuhandkonto? Was soll das heißen?«, fragte er.

»Das heißt zunächst einmal, dass Sie jetzt ein außerordentlich reicher Mann sind, Herr Maclane.«

»Das ist eine … beachtliche Summe.«

»So ist es. Bereits Lina-Marie Jacoby hat dieses Treuhandkonto eröffnet und regelmäßig darauf eingezahlt. Max Jacoby erfüllte den Wunsch seiner Mutter und führte das Konto später weiter. In den vergangenen zehn Jahren warf das Hotel immer größere Summen ab, und so wurden auch die Beträge deutlich höher, die Jacoby einzahlte. Mit anderen Worten, in diesen Jahren überschrieb er dem Konto nahezu den gesamten Gewinn des Hotels.« Bergholt hustete kurz. »Das Konto wurde nun vollständig auf Ihren Namen übertragen, und der Status als Treuhandkonto fällt somit weg, Herr Maclane. Von heute an können Sie frei darüber verfügen. Das vorhandene Kapital ist zwar an die Erbschaft des Hotels geknüpft, aber an keinerlei Vorgaben gebunden. Sobald Sie das Erbe durch diese letzte Unterschrift vollständig angenommen haben, können Sie das Geld ganz nach Belieben ausgeben. Lina-Marie Jacoby und ihr Sohn werden ihre Gründe für ihre Entscheidung gehabt haben. Wahrscheinlich wollten Sie einfach sicherstellen, dass Sie vor einer finanziellen Schieflage geschützt sind und Ihnen dauerhaft genug Kapital zur Verfügung steht, falls das Hotel Investitionen benötigt.«

»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, Doktor Bergholt?«, brachte Ryan schließlich hervor.

»Gerne.«

»Glauben Sie, dass es in meinem Fall richtig ist, das alles anzunehmen? Ich meine, aus rein moralischer Sicht.«

Der Notar lächelte. »Es ehrt Sie, dass Sie sich darüber Gedanken machen, aber ich kann Ihre Frage nur mit einem eindeutigen Ja beantworten. Indem Sie dieses Erbe annehmen und das Hotel weiterführen – denn auch das wird als Wunsch im Testament eindeutig formuliert –, erfüllen Sie den letzten Wunsch meines Mandanten, das kann ich Ihnen versichern.« Sein Blick wurde eindringlicher. »Machen Sie sich bitte keine weiteren Gedanken darüber, Herr Maclane, und seien Sie einfach dankbar für diese glückliche Fügung. Ich habe persönlich viele Stunden mit Max Jacoby darüber gesprochen. Genau so wie es jetzt ist, war es von ihm und seiner Mutter gewollt. Auch wenn er mir seine Motive oder die seiner Mutter nicht weiter erläutern wollte, so war er in seiner Entscheidung doch völlig klar.«

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kommt ein Verkauf – selbst an die Familie Jacoby – nicht infrage, und ich soll das Hotel tatsächlich selbst führen?«

»Im Testament wird das als eindeutiger und dringlicher Wunsch formuliert, nicht als Bedingung, doch wenn Sie mich fragen, würde ich diesen Wunsch erfüllen. So, wie ich Sie einschätze, werden Sie sich dann besser fühlen. Ich meine, wenn man die Umstände bedenkt.«

Ryan nickte. »Damit könnten Sie recht haben, aber das bedeutet auch, dass ich meinen Lebensmittelpunkt nach Hamburg verlegen muss. Das ist doch alles verrückt, Doktor Bergholt. Ich bin Schriftsteller und habe nicht die geringste Ahnung davon, wie man ein Grandhotel führt. Geldsorgen habe ich übrigens auch nicht. Noch gestern war ich zutiefst davon überzeugt, dass ich dieses Erbe ablehnen werde.«

»Unseren Unterlagen habe ich entnommen, dass Sie keine Familie mehr haben. Natürlich weiß ich nicht, ob es jemanden in Ihrem Leben gibt … nun ja, zumindest Ihr Beruf lässt Ihnen jede Freiheit. Als Schriftsteller sind Sie doch an keinen Ort gebunden, oder?«

»Nein, das bin ich nicht …« Ryan schluckte. »Und ich habe auch keine Lebenspartnerin. Ich bin erst seit knapp zwei Jahren Witwer.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Ich bin also tatsächlich alleinstehend und vollkommen frei in meinen Entscheidungen.«

»Unsere Sprache müssen Sie auch nicht erst lernen, das macht die Sache noch zusätzlich leichter für Sie. Noch mal, Herr Maclane, nehmen Sie das Erbe mit allen Konsequenzen und ohne Vorbehalte an. Nicht nur auf dem Papier. Es ist nämlich genau das, was Max Jacoby sich wünschte. Springen Sie, Herr Maclane, springen Sie.«

Ryan atmete tief durch und unterschrieb das letzte Dokument.

»Warum auch immer«, sagte er dabei leise und mehr zu sich selbst.

Der Notar lächelte. »Offenbar konnte ich dazu beitragen, Ihre letzten Bedenken über Bord zu werfen. Das freut mich, Herr Maclane. Ich beglückwünsche Sie zu dieser Entscheidung.«

Auch Ryan musste lächeln. »So ist es nicht ganz, Doktor Bergholt. Die Bedenken sind nicht alle fort. Wahrscheinlich werde ich sogar noch einige Nächte wach liegen, bis ich diese für mich doch sehr einschneidende Entscheidung verarbeitet habe.« Er holte tief Luft. »Ich will ehrlich sein. Seit ich hier bin, gibt es da eine Stimme in mir … nein, vielleicht ist es eher ein drängendes Gefühl, das mir sagt, ich sollte das Erbe annehmen. Ich weiß nicht, warum dieser Drang plötzlich da ist, aber ich werde ihm folgen, denn seltsamerweise ist er sehr hartnäckig.« Er lachte kurz auf. »Und wenn das alles schiefgehen sollte und ich trotzdem noch verkaufen muss, habe ich zumindest etwas außerordentlich Spannendes erlebt, das ich in einem meiner Romanen verarbeiten kann.« Er schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, drücken Sie mal die Daumen, dass ich mich schnell in meine neue Aufgabe einarbeite und mich nicht allzu dämlich dabei anstelle.«

»Halten Sie sich einfach an Emily Magnussen«, erwiderte der Notar mit freundlicher Miene. »Ihr können Sie voll und ganz vertrauen, das kann ich Ihnen versichern.«

3. Kapitel

In Gedanken versunken stand Emily am Fenster ihres Büros und sah hinaus in die Dunkelheit, doch die Lichter der Stadt nahm sie kaum wahr. Das Karussell in ihrem Kopf drehte sich seit Wochen unaufhörlich, und das hatte nicht allein mit dem Hotel zu tun. Vor allem ihr Privatleben machte ihr nämlich Kummer, und sie war fast froh darüber, dass die Veränderungen im Hotel und das Eintreffen des neuen Besitzers für einige Ablenkung sorgten.

Es war gut, dass Ryan Maclane nun in Hamburg war, und nach dem Telefonat, das sie vor wenigen Minuten mit Doktor Bergholt geführt hatte, zog er offensichtlich nicht in Erwägung, das Erbe abzulehnen und für alle Zeiten zurück in die Highlands zu verschwinden.

Ja, sie musste zugeben, darüber war sie erleichtert. Sie hatte Max Jacoby sehr gemocht, doch was seine Kinder anging, war sie unsicher, ob das altehrwürdige Hotel bei ihnen tatsächlich in guten Händen gewesen wäre. Thomas und Bettina waren viel zu sehr darauf bedacht, stets einen möglichst großen Gewinn aus ihren Geschäften zu ziehen, und hätten hier sicherlich viel zu viel verändert. Das hätte dem Hotel nicht gutgetan, soviel stand fest, und das hatte auch Max gewusst. Thomas und Bettina waren dem Hotel nicht auf eine so besondere Weise wie ihr Vater verbunden.

Max Jacoby hatte dieses Haus mit großer Leidenschaft und Fürsorge geleitet. Für ihn war es vor allem wichtig gewesen, das besondere Flair des Hotels zu erhalten, und welchen Grund er auch gehabt haben mochte, es in die Hände von Ryan Maclane zu legen, so vertraute Emily dieser Entscheidung voll und ganz, ohne sie weiter zu hinterfragen. Sie hatte lange und eng genug mit Max zusammengearbeitet und wusste sehr genau, wie klug und umsichtig ihr Chef gewesen war. Er hätte niemals leichtfertig sein Lebenswerk und das seiner Mutter gefährdet.

Als Emily von der Erbschaft gehört hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass sie Ryan Maclane dabei helfen würde, sich hier wohlzufühlen und sich in aller Ruhe einzuarbeiten. Das war sie nicht nur ihrem verstorbenen Chef schuldig, sondern auch dem Hotel, das ihr inzwischen sehr am Herz lag. Wahrscheinlich hatte Max genau mit dieser Reaktion von ihr gerechnet, denn er hatte sie schließlich schon als Kind gekannt.

Hinzu kam noch, dass Ryan Maclane vom ersten Augenblick an einen sehr guten Eindruck auf sie gemacht hatte. Seine ganze Art hatte ihr sofort gefallen, und darüber war sie froh, weil es ihr Vertrauen in Max und ihre eigene Erwartung bestätigte. Maclane wirkte intelligent und außerordentlich integer. Zudem strahlte er auf eine beruhigende Art Bodenständigkeit aus, und genau das passte exakt zum Hotel Jacoby. Irgendetwas hatte ihr sofort gesagt, dass er haargenau der richtige Mann am richtigen Platz war.

Emily seufzte und wandte sich vom Fenster ab, um nach ihrer Tasche zu greifen. Ihr Magen knurrte, und es wurde Zeit, endlich Feierabend zu machen. Sie schloss gerade die Tür zu ihrem Büro von außen ab, als Ryan Maclane aus dem Fahrstuhl trat.

»Oh«, sagte er. »Guten Abend, Frau Magnussen.«

»Guten Abend«, erwiderte sie. »Wie ich soeben hörte, waren Sie bereits bei Doktor Bergholt und haben alle nötigen Papiere unterzeichnet.«

»So ist es.«

Sein Lächeln wirkte verhalten, und sie spürte sofort die Anspannung, die er ausstrahlte. Offenbar hatte er sich noch immer nicht vollständig mit dem Gedanken angefreundet, der Alleinerbe dieses Hotels zu sein.

»Haben Sie schon gegessen?«, fragte sie, selbst ein wenig überrascht von ihrer Spontaneität. »Ich wollte gerade hinunter ins Restaurant gehen. Falls Sie keine anderen Pläne haben, könnten wir doch gemeinsam zu Abend essen.« Sie sah, dass er zögerte. »Oh, Pardon, ich wollte Sie nicht überrumpeln«, fügte sie rasch hinzu.

»O nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das haben Sie nicht, keine Sorge. Ich würde wirklich sehr gerne mit Ihnen zu Abend essen«, sagte er nachdrücklich. »Ich habe nur nicht mit Ihrem Angebot gerechnet.« Dann sah er an sich herunter. »Wenn Sie noch einen Moment Geduld haben, bringe ich schnell meinen Mantel weg, und …« Er deutete auf seine Hose. »Ich sollte mich vielleicht umziehen, bevor wir hinunter ins Restaurant gehen.«

»Unsere Restaurants sind absolut jeanskompatibel«, antwortete sie lächelnd. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir sind zwar ein Grandhotel, aber beileibe nicht realitätsfern, darauf legen wir sehr viel Wert. Die Menschen sollen sich hier wohlfühlen. Den Mantel können Sie einfach dort auf dem Stuhl ablegen.« Sie deutete auf die kleine Sitzgruppe neben ihrem Büro. »Um diese Zeit hat außer uns beiden hier niemand mehr Zutritt. Zumindest nicht, ohne direkte Aufforderung.«

Seine Miene wirkte noch immer nachdenklich, als er den Mantel ablegte und sie zusammen in den Fahrstuhl stiegen. »Offenbar gibt es für mich ab jetzt jede Menge zu lernen«, sagte er.

»Sie haben ja mich«, erwiderte Emily lachend. Sie hatte das Gefühl, dass sie die Situation ein wenig auflockern musste, damit er sich etwas entspannte. »Wir haben übrigens zwei Restaurants, ein wunderhübsches Café mit Bistro und natürlich unsere Hotelbar.«

Auf dem Weg durch die Lobby nickte sie den zwei Damen und dem Empfangschef an der Rezeption zu.

»Unseren Empfangschef Ulf Willmer kennen Sie ja