Alsterglanz. Lottes Hoffnung - Susanne Rubin - E-Book
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Alsterglanz. Lottes Hoffnung E-Book

Susanne Rubin

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Beschreibung

Eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung

Hamburg 1929. Lotte kann ihr Glück kaum fassen: Gerade frisch in der brodelnden Metropole angekommen, bekommt sie die Chance, als Schneiderin im luxuriösen Warenhaus Hermann Tietz zu arbeiten. Das direkt an der malerischen Binnenalster gelegene Kaufhaus verspricht ein ganz neues Lebensgefühl: Mit Waren aus aller Welt, handverlesen und über verschlungene Handelswege importiert, hält die moderne Zeit Einzug in die Hansestadt. Davon beflügelt, schöpft Lotte Hoffnung auf einen Neuanfang als unabhängige junge Frau. Als sie im Warenhaus den Kaufmann Jannes kennenlernt, fühlen sich die beiden gleich voneinander angezogen. Doch Lotte hütet ein Geheimnis, das es ihr unmöglich macht, sich ganz Jannes und einer gemeinsamen Zukunft zu widmen. Ein dunkles Geheimnis, das sie schneller einholt, als ihr lieb ist ...​

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Seitenzahl: 453

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Das Buch

Hamburg 1929. Schon in jungen Jahren hat Lotte Kelling ein ganzes Leben hinter sich gelassen. Vor allem ist sie geflohen: vor ihrer Familie, ihrer Herkunft, ihrem ihr angedachten Schicksal. Verzweifelt und allein schafft sie es nach Hamburg, in die brodelnde hanseatische Metropole. Ganz allein? Nein: Die gutherzige Olga hat Lotte unter ihre Fittiche genommen. Sie steht ihrem jungen Schützling bei und hilft ihr dabei, ein neues Leben zu beginnen. Im Hamburger Hafenviertel betreibt Olga ein erfolgreiches Bordell und weiß genau, wie man sich in einer Stadt wie Hamburg über Wasser hält.

So fasst Lotte langsam wieder Fuß. Sie wird im Warenhaus Hermann Tietz vorstellig, dem luxuriösen Geschäft an der Binnenalster. Tatsächlich wird sie dort gleich in der Stoffabteilung angestellt, kann so ein bescheidenes Auskommen bestreiten und findet in ihrer Kollegin Kerstin eine neue gute Freundin, mit der sie sogar zusammenzieht. Als ihr dann noch der charmante Jannes Vossen, der Geschäftsführer des Warenhauses, Avancen macht, scheint das Glück perfekt. Nur zu gern möchte Lotte Jannes offenbaren, dass auch sie Gefühle für ihn hegt. Doch sie kann ihre dunkle Vergangenheit nicht vergessen. Denn wenn diese sie einholt, ist nicht nur Lotte selbst in Gefahr, sondern auch Jannes ...

Die Autorin

Susanne Rubin ist eine waschechte »Hamburger Deern«. Zusammen mit ihrem Mann, einem pensionierten Kriminalbeamten, lebt sie in ihrer geliebten Heimatstadt. Nach eigener Aussage ist ihr Mann ihr persönlicher Held, und ihre inzwischen erwachsenen Söhne sind die wunderbarsten der ganzen Welt. Sie liebt das Schreiben und Spieleabende mit ihrer Familie.

SUSANNE RUBIN

Alsterglanz

LOTTES HOFFNUNG

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Dies ist ein historischer Roman. Er basiert auf der Unternehmensgeschichte des Alsterhauses. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden. Eine Zusammenarbeit mit dem Alsterhaus oder der Familie Tietz gab es nicht, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung. Die Verwendung des Firmennamens erfolgt also ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig-kennzeichnenden Gründen.

Originalausgabe 11/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Christiane Wirtz

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München, unter Verwendung von: Historische Museen Hamburg/Museum für Hamburgische Geschichte, Trevillion Images (Ildiko Neer), Shutterstock.com (PollyW, NikaMooni, Svetlana Moska)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-29363-5V001

www.heyne.de

Für meine Mama,

in Liebe und Dankbarkeit.

Du fehlst mir noch immer jeden Tag.

Prolog

Travemünde, im Sommer 1928

Ein letzter Blick, ein letztes kaum wahrnehmbares Nicken, dann wandte sich Charlotte ab und spazierte langsam auf die lange Reihe mit den hölzernen Umkleidekabinen zu, die oben an den Dünen standen. Charlotte spürte den Schmerz in ihrer Brust. Er hielt an, begleitete sie auf ihrem Weg, während ihre Füße im warmen Sand versanken. Der Abschied von Hertha tat weh. Wenn in den nächsten Minuten alles so verlief, wie sie es geplant hatten, würden sie sich vielleicht niemals wiedersehen, und das wussten sie beide. Der Drang, sich noch einmal zu der Frau umzusehen, die sie kannte, solange sie denken konnte, war stark, doch letztlich gewann die Vernunft, und Charlotte widerstand. Schließlich stand sie vor der Kabine mit der Nummer, die sie gesucht hatte, und klopfte leise. Sofort wurde der Riegel von innen geöffnet, und sie konnte hineinschlüpfen.

Mit der jungen Frau, die dort auf sie wartete, wechselte sie kein einziges Wort. Sie sahen sich nur an. Die fremde Frau nickte und schenkte ihr ein Lächeln, das aufmunternd wirkte. Alles wird gut, sollte das wohl heißen. Jedenfalls interpretierte Charlotte es so. Die Frau wartete noch einige Sekunden, dann griff sie nach einem bereitliegenden Badetuch, verließ die Kabine, und Charlotte verriegelte von innen die Tür.

Als sie allein war, sah sie sich um. Alles war so, wie sie es erwartet hatte. An einem der beiden Haken in der Kabine hing ein schlichtes dunkelblaues Sommerkleid, daneben eine leichte blassblaue Jacke und ein kleiner unauffälliger Sommerhut. Auf der schmalen Bank lagen neben einer hellblonden Perücke ein paar Strümpfe, eine kleine Handtasche, und darunter standen auch passende Schuhe bereit. Charlottes Blick fiel auf ein weißes Blechschild mit schwarzer Schrift an der hinteren Wand der Kabine. Der Benutzer wurde gebeten, nicht zu vergessen, auch den vorderen Riegel zu öffnen, sobald man die Kabine auf der anderen Seite verließ. Dort befand sich die Straße, das wusste Charlotte.

Rasch setzte sie die Perücke auf, zupfte sie zurecht und warf sich das Kleid direkt über ihren Badeanzug. Es war ihr etwas weit, aber das spielte keine Rolle. Die Schuhe passten gut, und die tiefe Krempe des Huts beschattete den gesamten oberen Teil ihres Gesichts, während die blonden Locken der Perücke fast bis zu ihren Schultern reichten. Von draußen hörte sie bereits die aufgeregten Schreie von Hertha. Es war schneller gegangen, als sie gedacht hatte.

Charlotte atmete noch einige Male tief durch, bevor sie die Kabine auf der Straßenseite verließ. Ein großer dunkler Wagen stand dort und wartete auf sie. Schnurstracks ging sie zu dem Automobil und stieg ein. Der Fahrer begrüßte sie kurz, aber freundlich und fuhr sofort los, hinein in ein neues Leben.

1. Kapitel

Hamburg, Ende Oktober 1928

Blanke Angst, grauenvolle Hilflosigkeit und entsetzliche Schmerzen – all das waren Gefühle, mit denen sich Lotte Kelling sehr gut auskannte. Die Schmerzen waren inzwischen verschwunden, doch ein hartnäckiger Rest der Angst war ihr bis heute geblieben. Er wollte ebenso wenig weichen wie der üble Nachgeschmack der tiefen Demütigung, die ihr einst widerfahren war. Nein, es war noch nicht wirklich gut, so wie es war, aber sie war in Sicherheit, nur darauf kam es an.

An jedem neuen Morgen, sobald sie aus einem kaum erholsamen Schlaf erwachte, schwor sich Lotte, dass sie alles dafür tun würde, ihr Leben schon bald wieder in geordnete, wenn auch neue und ungewohnte Bahnen zu lenken. Doch bis dahin würde es ein langer Weg sein, da machte sie sich nichts vor. Wenigstens hatte sie sich inzwischen an die Vorstellung gewöhnt, dass ihre Zukunft völlig anders verlaufen würde, als sie es einst erwartet hatte. Die Gedanken an diese Veränderungen machten ihr nicht mehr ganz so viel Angst wie noch vor einigen Wochen, denn die Alternative wäre ungleich schwieriger zu bewältigen gewesen, und einen Weg zurück gab es ohnehin nicht mehr. Die Brücken, die dorthin führten, hatte sie selbst eingerissen, und sie bereute es keine Sekunde. Denn nun erahnte sie zumindest einen Hauch von Freiheit, und in manchen Momenten war dieses Gefühl fast schon berauschend. Dennoch …

Die unruhigen Nächte der vergangenen Wochen forderten immer stärker ihren Tribut. Auch heute Morgen fühlte sie sich wieder einmal wie erschlagen. Fast schon taumelnd schleppte sie sich hinüber zu dem Waschbecken in ihrem Zimmer und wusch sich großzügig mit eiskaltem Wasser das Gesicht, um endlich richtig wach zu werden. Für eine Weile presste sich Lotte einen kalten Waschlappen auf ihre geschwollenen Lider, das half ein wenig. Schließlich zog sie sich an, verließ ihre Kammer, ging die ausladende Treppe hinunter und zum Frühstück in den Salon. Schon auf der Treppe hörte sie das Geplapper und Gekicher der Mädchen, die ebenfalls hier im Haus wohnten. Die meisten davon waren ungefähr in ihrem Alter, dennoch hatte sie mit ihnen kaum etwas gemein.

Schließlich saß auch sie an ihrem Platz und trank voller Genuss, ja, fast schon gierig, den ersten Kaffee des Tages. Sie war kein Morgenmensch, war es noch nie gewesen. Ihre Mutter hatte sie ständig damit aufgezogen, und sie konnte sich sehr gut daran erinnern, dass die kleinen Frotzeleien sie meist noch unwilliger gemacht hatten. Wenn sie heute an ihre Kindheit zurückdachte, schienen diese Erinnerungen aus einem anderen Leben zu stammen.

Hier im Haus ärgerte sie niemand, zumindest nicht direkt nach dem Aufstehen. Alle wussten inzwischen, dass sie stets eine Weile und mindestens eine Tasse Kaffee brauchte, um eine annähernd vernünftige Unterhaltung führen zu können. Die anderen Mädchen akzeptierten einfach, dass sie nur nickte, sobald sie den Salon betrat, und sich an ihren Platz setzte, um dann schweigend ihren Kaffee zu trinken. Ihre kleine morgendliche Antriebsschwäche nahm ihr hier niemand übel, auch wenn dann und wann eine von ihnen eine Bemerkung fallen ließ, die andeutete, dass nicht alle ihre Anwesenheit guthießen, doch das konnte sie sogar verstehen.

Während sie also bei ihrem Kaffee versuchte, so gut es eben ging, das Stimmengewirr auszublenden, ließ sie ihren Blick durch den großen und recht prachtvoll gestalteten Salon gleiten. Wären da nicht die tiefroten Samtportieren mit den dicken goldenen Kordeln an den Fenstern, die riesigen Kandelaber und das auffallend pompös anmutende Mobiliar gewesen, hätte man das Haus um diese Zeit fast für eines der Mädcheninternate halten können, auf das sie einst gegangen war. Junge Frauen in schlichten Baumwollkleidern saßen zusammen mit ihr an einem mächtigen Esstisch aus glänzendem Mahagoniholz und genossen das stets reichhaltige Frühstück, das vorwiegend aus frisch gebackenem Weißbrot, selbst gemachter Marmelade, Käse und Eiern in verschiedenen Variationen bestand. Es saßen noch nicht alle am Tisch. Manche der Mädchen schliefen länger und kamen erst nach und nach hinzu. Einige wenige verhielten sich ebenso still wie Lotte und starrten vor sich hin, während die eine oder andere bereits aufgegessen und es sich in einem der weich gepolsterten und mit rot-goldenem Samt bezogenen Sessel gemütlich gemacht hatte. Die Sessel waren in mehreren Gruppen jeweils um einen niedrigen Tisch angeordnet und schienen auf diese Weise kleine Inseln einer vermeintlichen Abgeschiedenheit im großen Salon zu bilden. Auch Lotte hatte sich schon häufiger in einen dieser Sessel gesetzt und dabei ihren manchmal doch sehr unruhigen Gedanken freien Lauf gelassen.

Inzwischen waren es acht Frauen, die sich zusammen mit Lotte im Salon in einem der berühmtesten Bordelle Hamburgs befanden, im Etablissement von Olga Rennsteig. Bereits kurz nach ihrer Ankunft hatten die Mädchen ihr während ihres ersten Frühstücks erzählt, dass das Haus über die Grenzen von Hamburg hinaus bekannt war und meist nur von sehr reichen und vornehmen Kunden aufgesucht wurde. Natürlich wusste Lotte inzwischen sehr genau, worin die Arbeit der Frauen hier bestand, doch es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ihre anfängliche Scham und die innere Abscheu darüber sich nach und nach in Luft aufgelöst hatten. Sie war schlicht in den üblichen Konventionen und Moralvorstellungen gefangen gewesen, mit denen sie aufgewachsen war. Inzwischen hatte sie einige der Mädchen besser kennengelernt, und sie wusste auch um manche Lebenswege, die sie hierher zu Olga geführt hatten. Die Geschichten der Frauen waren so unterschiedlich und nicht selten so berührend, dass es kaum möglich war, auch nur über eine von ihnen den Stab zu brechen. Eines stand jedoch fest: Fast alle waren froh, dass sie bei Olga arbeiten durften. Auch wenn es strenge Regeln gab, hier fühlten sie sich sicher und gut behandelt, das hatte Lotte immer wieder von den Mädchen zu hören bekommen. Nach und nach hatte sie sich mit den Abläufen im Haus arrangiert, denn durch die Gespräche hatte sie auch gelernt, dass die Arbeit der Frauen durchaus ihre Berechtigung hatte.

Jeden Tag am späten Nachmittag verschwand sie in ihrer kleinen Kammer unter dem Dach und verschloss sorgsam ihre Tür. So hatte Olga es ihr aufgetragen, nachdem sie hier eingezogen war, und sie hielt sich daran. Sie wusste, es war aus vielerlei Gründen wichtig, um ihre Sicherheit zu garantieren. Jeden Nachmittag zogen sich auch die anderen Mädchen in ihre Zimmer zurück, um sich für den Abend zurechtzumachen. Danach waren sie allesamt grell geschminkt und trugen aufreizende Kostüme, die oft nicht mehr sehr viel von ihren Körpern verbargen. Einmal war Lotte etwas später als üblich nach oben gegangen, deshalb wusste sie das. An dem Tag hatte sie auch mitbekommen, dass später noch drei weitere Mädchen eintrafen, um hier ihre Arbeit zu tun. Im Haus durften nur die Frauen wohnen, die Olga selbst ausgesucht hatte und gut kannte. Verlässlich am frühen Abend wurde dann das Etablissement geöffnet, und schon kurz darauf drang ein seltsames und für Lotte immer noch kaum erträgliches Konglomerat der verschiedensten Geräusche zu ihr herauf: die Musik aus der Bar und dem Salon, das aufgesetzte, schrille Gelächter der Mädchen und die speziellen Laute aus den Zimmern im ersten Stock. Obwohl sie nun schon fast zwei Monate hier im Haus lebte und vieles mit anderen Augen sah, sehnte sie sich angesichts dieser nervtötenden Mixtur vor allem nach Ruhe und mehr Abgeschiedenheit.

Sie hatte ihr Frühstück schon fast beendet, als Olga Rennsteig schließlich den Salon betrat. Die Gespräche verstummten, und alle Mädchen, auch Lotte, sahen unweigerlich zur Tür. Die Besitzerin des Etablissements verharrte kurz, lächelte in die Runde und wünschte allseits einen guten Morgen, bevor sie an den Tisch kam und sich an ihren angestammten Platz an den Kopf der Tafel und damit direkt neben Lotte setzte. Die Chefin frühstückte jeden Morgen zusammen mit den Mädchen. Alle hier wussten, dass ihr dieses Ritual sehr wichtig war, deshalb zog sich auch keine von ihnen zurück, bevor Olga im Salon auftauchte, egal, wie spät es bereits war. Die jungen Frauen ließen sich Zeit und warteten geduldig ab, ob ihre Chefin ihnen etwas mitzuteilen hatte, Fragen stellen wollte oder einfach nur, bis auch sie ihr Frühstück beendet hatte. Anfangs hatte Lotte sich noch darüber gewundert, dass Olga jeden Morgen zusammen mit den Mädchen frühstückte, doch sehr schnell war ihr dann klar geworden, dass Olga dieses Ritual nicht nur half, jedes ihrer Mädchen gut im Blick zu behalten, sondern dass es vor allem dazu beitrug, den Frieden im Haus sicherzustellen.

Olga Rennsteig führte ein strenges Regiment. Sobald es Unstimmigkeiten gab, wurden diese während der gemeinsamen Zeit hier im Salon geklärt. Lotte hatte inzwischen auch erlebt, dass Olga dabei mitunter sehr rigoros vorging. Sie duldete nicht den kleinsten Anflug einer Rangordnung unter den Mädchen, denn das sorgte auf die Dauer nur für Unfrieden und Missgunst untereinander. Jede junge Frau, die das Privileg ergatterte, hier im Haus wohnen zu dürfen, musste sehr schnell verinnerlichen, dass allein Olga das Sagen hatte, ansonsten gab es hier keine Zukunft für sie.

An diesem Morgen wandte sich Olga sogleich Lotte zu, kaum dass sie neben ihr Platz genommen hatte.

»Wie geht es dir, mein Lottchen?«, fragte sie mit dem sanften Unterton in der Stimme, der allein Lotte vorbehalten war.

Sie versuchte sich an einem Lächeln. Alle hier wussten, dass sie nicht für Olga arbeitete, doch vor den anderen Mädchen war es ihr dennoch immer ein bisschen unangenehm, dass Olga ihr so offensichtlich eine Sonderstellung zugestand. Es war nicht verwunderlich, dass Lotte sich an manchen Tagen auch äußerst zynischen und neidvollen Bemerkungen der Mädchen ausgesetzt sah.

»Danke, Olga. Mir geht es gut.«

»Das sollte ich dir wohl glauben, doch ich tue es nicht.« Der Blick aus den blassblauen Augen der älteren Frau wirkte zweifelnd, doch Lotte erkannte auch die Besorgnis darin. Das war nicht neu für sie. Sie wusste sehr genau, dass diese Fürsorge nicht gespielt war. So unterschiedlich sie auch sein mochten, zwischen ihr und Olga war innerhalb kürzester Zeit eine tiefe Freundschaft entstanden, die Lotte in stillen Momenten erstaunte und für die sie zugleich unendlich dankbar war. »Nach dem Frühstück würde ich gerne allein mit dir sprechen«, teilte Olga ihr mit.

Lotte nickte. »Soll ich hier warten oder später nach oben kommen?«

»Trink doch noch einen Kaffee, mein Kind. Der wird dir guttun, du siehst müde aus. Wenn ich mit meinem Frühstück fertig bin, können wir zusammen nach oben in meine privaten Räume gehen. Dort haben wir Ruhe.«

Kaum eine halbe Stunde später waren sie in Olgas Wohnzimmer. Es war ein behaglich eingerichteter Raum, den Lotte sehr mochte.

»Setz dich, Lotte. Mach es dir gemütlich.«

»Danke.« Lotte nickte und ließ sich auf einem der beiden dunkelblauen Samtsofas nieder. Automatisch strichen ihre Hände über die Sitzfläche der Couch, denn sie liebte es, den weichen Samt unter ihren Händen zu fühlen. »Worüber möchtest du denn mit mir sprechen, Olga?«, fragte sie.

Olga setzte sich ihr gegenüber und lächelte. Aus einer prachtvollen Kristallkaraffe, die mit vier dazu passenden Gläsern auf einem Tablett zwischen ihnen auf dem niedrigen Tisch stand, schenkte sie Wasser in zwei der Gläser und schob ihr eines davon zu.

»Meine Liebe, du hast mir ja schon vor einigen Tagen gesagt, dass du nun bereit bist, dich um eine Arbeit zu kümmern, die dich ernähren kann. Für den Anfang wäre es wichtig, dass du ein neues Zuhause findest. Da sind wir uns doch einig, nicht wahr?«

»Ja, das wäre schön.«

»Dann habe ich eine gute Nachricht für dich, mein Lottchen. Ich habe nämlich inzwischen eine Lösung für dich gefunden, die dir sehr gefallen wird und für dich einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung bedeuten könnte.«

»Du hast eine Unterkunft für mich gefunden?«

Olga nickte. »Eine alte Freundin von mir betreibt ganz in der Nähe des Rathauses eine kleine Pension. Sie ist gerne bereit, dir für unbestimmte Zeit ein Zimmer zur Verfügung zu stellen, das gerade frei geworden ist. Die Miete ist nicht zu hoch, aber die Zimmer sind sauber, gemütlich eingerichtet, und du hättest sogar eine eigene Waschgelegenheit in deinem Zimmer. Ein großes Badezimmer und ein Wasserklosett gibt es auch im Haus. Dort kann man es wirklich gut aushalten, das kann ich dir versichern. Du könntest praktisch sofort einziehen und tatsächlich so lange dort wohnen, wie es dir gefällt. Na, was sagst du?«

Lotte holte tief Luft. »Das klingt wundervoll.« Sie zögerte kurz. »Aber du weißt, dass ich deine Hilfe …«

Olga hob ihre Hand. »In diesem Fall ein schlechtes Gewissen zu haben wäre wirklich nicht angebracht, mein Kind. Schon gar nicht mir gegenüber. Ich weiß sehr genau, dass es eine Belastung für dich sein muss, hier im Haus zu wohnen. Es war uns doch beiden klar, dass deine Unterbringung hier nur eine Übergangslösung sein konnte, bis du dich zumindest annähernd … nun ja, von all dem erholt hast.« Die ältere Frau hob ein wenig das Kinn. »Ich kann dir versichern, dass du auf meine Gefühle keinerlei Rücksicht nehmen musst, Lotte. Im Gegenteil. Es ist mir wichtig, dass du jede Chance auf ein gutes Leben bekommst. Ich wünsche dir von Herzen ein Dasein, das dir zusagt und dich bestenfalls sogar glücklich macht. Du hast es wahrlich verdient, meine Süße.«

Olga stand auf, kam um den Kaffeetisch herum und setzte sich neben sie, dann legte sie ihre Hand auf Lottes.

»Versteh mich nicht falsch, ich bin sehr stolz auf dieses Haus und kann mir für mich überhaupt kein anderes Leben vorstellen, aber ich halte es wirklich für besser, wenn du alsbald ausziehst. Ich möchte vermeiden, dass du unter meinem Dach doch noch in einen … nun, sagen wir mal, unguten Sog gerätst, der dich für ein normales Leben, so wie du es dir vorstellst, ein für alle Mal verdirbt. Ich habe so etwas immer wieder erlebt, und du würdest so ein Leben sicherlich nicht sehr lange aushalten, so gut kenne ich dich inzwischen. Dieses Haus ist nicht die richtige Umgebung für dich. So gut wir beide uns auch verstehen, du gehörst hier nicht hin, das wissen wir beide doch sehr genau. Du, das wohlerzogene Mädchen, und ich, die alte Puffmutter. Ha!«

Olga lachte auf und atmete tief durch, bevor sie weitersprach.

»Ich habe natürlich mitbekommen, dass einige der Mädchen dir ständig alle möglichen Fragen stellen. Sie tun das sicher nur, weil sie sich darüber wundern, dass du hier wohnen darfst, obwohl du nicht für mich arbeitest. Das ist schließlich keine Selbstverständlichkeit. Die Erklärung, dass du eine Nichte von mir bist, glauben die wenigsten von ihnen, da brauchen wir uns nichts vorzumachen.«

Als Lotte etwas einwerfen wollte, hob Olga erneut die Hand und gebot ihr Einhalt.

»Ja, ich weiß, wie wortgewandt du sein kannst. Aber ich kann mir auch gut vorstellen, wie lästig es sein muss, wenn du andauernd diesen Fragen und Anspielungen ausgesetzt bist und dich den Mädchen gegenüber rechtfertigen musst.« Olga schmunzelte. »Außerdem ist mir sehr wohl zu Ohren gekommen, dass Judith, diese kleine Schlampe, dir gegenüber ganz schön frech geworden ist. Sie hat sich offenbar ziemlich aufgespielt.«

»Das war halb so schlimm.« Lotte winkte ab.

»Oh, wenn ich mich nicht irre, hat sie dich eine widerliche Zecke genannt, und das ist nicht unbedingt nett. Tu gar nicht erst so, als würde derlei an dir abperlen, Lottchen. Du bist momentan noch recht dünnhäutig, das weiß ich.«

»Du kennst mich wirklich schon sehr gut«, erwiderte Lotte. »Du weißt, du bist mir eine liebe Freundin geworden, Olga, und ich werde dir für alle Zeiten dankbar sein und dir niemals vergessen, was du für mich getan hast. Wer weiß, vielleicht hast du mir sogar das Leben gerettet.« Lotte musste schlucken, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sehr wahrscheinlich sogar, wenn ich darüber nachdenke. Mir ist es wirklich sehr wichtig, dass wir diese Freundschaft aufrechterhalten.«

»Ich werde auch weiterhin deine Freundin bleiben, mein Kind, das verspreche ich dir.« Olga legte den Kopf schief und tätschelte noch einmal ihre Hand. »Natürlich im Rahmen unserer Möglichkeiten. Vielleicht ist es für dich gar nicht so gut, wenn man uns zusammen sieht. Ich bin recht bekannt in dieser Stadt.«

»Meine Freundschaft zu dir wird mir niemals peinlich oder unangenehm sein, das kann ich dir schon jetzt versichern. Ich werde für immer in deiner Schuld stehen.«

Olga winkte ab. »Sag so was nicht, du bringst mich nur zum Heulen. Im Ernst, ich glaube fest an dich, Lotte. In meinem Leben habe ich jede Menge Mädchen kennengelernt, die es nicht leicht hatten, leider aber niemals die nötige Kraft aufbringen konnten, um sich selbst aus ihrem Elend herauszuziehen. Manchmal denke ich, die Stadt ist voll von diesen armen Geschöpfen.« Sie stieß ein tiefes Seufzen aus, bevor sie fortfuhr. »Doch bei dir bin ich mir sicher, dass du diese Kraft besitzt. Obwohl du bei unserer ersten Begegnung noch ein Häufchen Elend warst, habe ich das sofort gespürt. Die Natur hat dir diese besondere Stärke mitgegeben, und du solltest und wirst sie nutzen. Nun liegt es an dir. Du musst es wollen, mein Lottchen, aus tiefstem Herzen. Geh also deinen Weg. Du wirst es schaffen, das weiß ich. Eines solltest du jedoch niemals vergessen: Du kannst dich jederzeit an mich wenden, wenn du noch einmal Hilfe brauchst. Ich werde für dich da sein, egal, was auch passieren mag. Der Himmel weiß, warum, aber du bist mir in der kurzen Zeit fast wie eine Tochter ans Herz gewachsen. Dabei weiß ich gar nicht, wie es ist, eine Mutter zu sein. Doch dieses spezielle Gefühl für dich war sofort da, seit unserer ersten Begegnung.«

Lotte nickte. »Ja, das weiß ich, und es tut gut, das zu hören. Du weißt hoffentlich auch, wie lieb ich dich inzwischen habe, Olga.« Sie zog ihr Taschentuch aus der Rocktasche und schnäuzte sich.

Die ältere Frau nickte, auch sie tupfte sich eine Träne von der gepuderten Wange. »Siehst du, nun heule ich doch noch.« Sie lachten beide. »Ach, bevor ich es vergesse …«, kam Olga noch einmal auf das eigentliche Thema zurück. »Selbstverständlich ist die Miete für das Zimmer bereits für drei Monate im Voraus bezahlt. Elsbeth Kruse, so heißt meine Freundin, weiß, dass du erst Arbeit finden musst, bevor du zahlungsfähig bist. Sie wird dich gut versorgen und sich liebevoll um dich kümmern, das hat sie mir in die Hand versprochen. Ich weiß, dass man sich auf Elsbeth voll und ganz verlassen kann. Sie ist eine großartige Person, das wirst du sicher bald merken. Sollte das mit der Arbeit nicht so schnell klappen, wie du es dir wünschst, sag mir einfach Bescheid, ich regle das dann mit der Miete für dich. Solange es dir recht ist, werden wir regelmäßige Treffen vereinbaren, damit du dich nicht so allein auf der Welt fühlst. Das klingt doch nach einem guten Anfang, findest du nicht?«

»O ja, aber ich werde dir das alles niemals zurückzahlen können.«

»Darüber mach dir bitte keine Gedanken. Das Geld ist mir nicht wichtig. Ich habe genug davon und gebe es nur selten für eine wirklich gute Sache aus. Dir zu helfen war das Beste, was ich in den letzten dreißig Jahren getan habe. Ich bin mir sicher, dass mein Geld bestens investiert ist. Du musst mir nichts zurückzahlen, Kindchen. Es wird mir Belohnung genug sein, wenn du deinen Weg gehst und ich ein wenig dazu beitragen konnte, dass du es irgendwann geschafft hast.«

Lotte musste schlucken. »Darf ich dich etwas fragen, Olga?«

»Natürlich. Du darfst mich alles fragen.«

»Du sagtest, ich bin wie eine Tochter für dich. Das glaube ich dir auch, und ich weiß, dass wir zumindest sehr gute Freundinnen geworden sind, dennoch habe ich das Gefühl, das ist nicht der einzige Grund, warum du das alles für mich tust.«

Die Miene ihrer mütterlichen Freundin veränderte sich nur leicht, doch ihr Blick wirkte plötzlich wehmütig, wenn nicht sogar traurig. »Vielleicht tue ich das alles für dich, weil ich gut nachempfinden kann, was du gerade durchmachst, Lotte.« Olga seufzte erneut tief auf. »Auch ich habe meine Geschichte, weißt du.«

»Aber du möchtest nicht darüber reden. Auch mit mir nicht?«

Olga schüttelte den Kopf. »Genauso wenig, wie du über deine sprichst, wenn es sich nur irgendwie verhindern lässt, habe ich recht?« Nachdem Lotte genickt hatte, fuhr Olga fort. »Ich bin eine erfolgreiche Geschäftsfrau und sehr stolz auf das, was ich geschafft habe. Meine Vergangenheit habe ich schon vor Jahren irgendwo tief in meinem Inneren fest verschlossen, und das solltest du auch tun. Es bringt nichts, immer wieder aufs Neue darüber zu grübeln. Das belastet nur. Dunkle Erinnerungen heraufzubeschwören hat noch nie irgendwem geholfen.« Ein leichtes Lächeln huschte über Olgas Gesicht. »Hör auf meinen Rat und löse dich von der Vergangenheit. Lass sie los und geh neue Wege. Die Welt da draußen wird dir offenstehen, daran glaube ich fest.« Olgas Hand schloss sich noch etwas fester um ihre. »Eins kann ich dir schon jetzt versichern, Lotte, es ist ein wunderbares Gefühl, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne auf einen wohlwollenden Vater, einen mildtätigen Bruder oder gar einen Ehemann angewiesen zu sein, dem du ständig über alles Rechenschaft ablegen musst. Versprich mir einfach, dass du dein Leben in die eigenen Hände nimmst und etwas daraus machst, genau so, wie wir es besprochen haben.«

Der Blick der älteren Frau löste sich kurz von Lottes Gesicht und glitt durch den Raum. Ihre Miene war nun ernst.

»Nach dem Krieg habe ich selbst erlebt, wie sich die Zeiten für uns Frauen zu verändern begannen«, fuhr sie fort. Sie sah Lotte wieder an, und das leichte Lächeln kam zurück. »Es geht zwar langsam, aber es geht voran, und es ist eine große Chance. Vergiss nie, wenn du als Frau dein eigenes Geld verdienst, hat das jede Menge Vorteile, mein Kind. Du hast einen klugen Kopf und bist verflucht gut in dem, was du gelernt hast, aber das weißt du selbst am besten. Sobald du umgezogen bist, kannst du dir Arbeit suchen. Vielleicht hast du ja sogar irgendwann dein eigenes Geschäft, wer weiß?« Olgas Lächeln vertiefte sich. »Wenn du einverstanden bist, hast du also schon morgen eine Adresse, die du überall angeben kannst, ohne vor lauter Scham im Boden zu versinken«, fügte sie hinzu und lachte kurz auf.

Lotte musste ebenfalls lachen. »Nun, da hast du allerdings recht. Und natürlich bin ich einverstanden, Olga. Ich freue mich sehr.«

»Dann geh und pack schon mal die Sachen, die du heute nicht mehr benötigst, Lottchen. Morgen, gleich nach dem Frühstück, bringe ich dich zu Elsbeth. So habe ich es mit ihr abgesprochen.«

Nach dem Gespräch mit Olga ging Lotte wieder nach unten, um nachzusehen, ob es etwas für sie zu tun gab. Sie fühlte sich einfach besser, wenn sie nicht ständig untätig herumsaß. Um diese Uhrzeit wurde im unteren Stockwerk für Ordnung und Sauberkeit gesorgt, und in der Küche bereitete die Köchin das Mittagessen vor. Normalerweise half Lotte den beiden Dienstmädchen, wenn diese den Frühstückstisch der Mädchen abräumten und den Salon für den Abend vorbereiteten, damit alles wieder blitzsauber für die Gäste war. Das Mittagessen wurde erst am frühen Nachmittag serviert, damit die Frauen über den Abend kamen und nicht so früh wieder Hunger hatten. Im Gegensatz zum Frühstück wurde das Mittagessen nicht im Salon eingenommen, denn dort wollte Olga keine Essensgerüche haben. So aßen die Mädchen jeden Nachmittag an einem langen Holztisch in der Küche, die sich im hinteren Bereich des Hauses befand.

Die Dienstmädchen waren bereits fertig mit ihrer Arbeit, als Lotte nach unten kam, doch damit hatte sie schon gerechnet. Das Gespräch mit Olga hatte ihren üblichen Tagesablauf eine gute Stunde nach hinten verschoben. Lotte schaute noch kurz in der Küche vorbei und fragte Helga, die strenge Köchin, ob sie etwas für sie zu tun habe. Helga winkte jedoch nur gewohnt mürrisch ab und scheuchte sie wieder hinaus.

Während sie überlegte, ob sie vielleicht einen Blick in den Hamburger Anzeiger werfen sollte, der sicherlich schon im Salon bereitlag, schlenderte sie langsam durch den langen Flur, der den Küchenbereich mit dem Rest des Hauses verband. Als sie schließlich wieder im Salon ankam, saß Käthe, ein Mädchen, mit dem sich Lotte ein wenig angefreundet hatte, in einem der roten Plüschsessel. Käthe sprang erfreut auf, als sie Lotte erblickte.

»Ich hab dich schon gesucht, Lotte. Ich war vorhin oben bei dir, aber als du nicht dort warst, dachte ich, ich setz mich einfach hierhin und warte auf dich.«

Lotte musste lächeln, als sie das blau gemusterte Kleid sah, das Käthe über die Sessellehne gelegt hatte. Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass sie Schneiderin war, kam immer mal wieder eines der Mädchen mit einem Kleidungsstück zu ihr, um sie um ihre Hilfe zu bitten. Manchmal war es eine Naht, die aufgegangen war, hier und da hing auch mal ein Stück Saum herunter, doch meistens hatte sich nur ein Knopf gelöst. Auch wenn es sich oft nur um banale Reparaturen handelte, freute sich Lotte jedes Mal darüber, wenn sie endlich wieder zu Nadel und Faden greifen konnte, und die Mädchen waren ihr dankbar, dass sie die kleinen Malheure des Alltags schnell wieder in Ordnung brachte.

»Es ist so gut, dass du da bist«, sagte Käthe gerade und unterbrach so ihre Gedanken. »Ich schwöre dir, dass jeder Knopf, den du annähst, ewig hält, während die kleinen Biester sich bei mir schon nach wenigen Tagen wieder lösen.«

»Ich könnte es dir beibringen, das weißt du.«

Käthe winkte ab. »Das hat keinen Zweck und wäre vergebliche Liebesmüh, das habe ich dir schon mal gesagt. Ich kann so was einfach nicht, dafür bin ich viel zu ungeschickt.«

»Du willst es nur nicht lernen«, erwiderte Lotte lachend. Sie mochte Käthe sehr. Das hübsche, sehr zarte Mädchen mit den rötlich blonden Locken und den riesigen hellblauen Augen hatte vom ersten Moment an etwas in ihr angerührt. Sie deutete auf das Kleid. »Hast du den Knopf noch, oder ist er verloren gegangen?«

Käthe ließ ein tiefes Seufzen hören. Sie griff nach dem Kleid und reichte es Lotte. »Um einen Knopf geht es dieses Mal gar nicht, Lotte.«

»Nanu. Was ist es denn?«, fragte Lotte verwundert, während sie prüfend einen Blick auf das Kleid warf. Auf den ersten Blick konnte sie keinen Schaden entdecken.

»Mir ist das Ding nur viel zu weit geworden.« Käthe zuckte mit den Schultern. »Aber ich mag es so sehr. Meinst du, du könntest es ändern, damit es wieder gut an mir aussieht?«

»Hm, das dürfte kein Problem sein. Ich müsste es angezogen sehen, damit wir es vernünftig abstecken können. Am besten wird es sein, wenn wir nach oben gehen. Da habe ich auch das kleine Nähkästchen, das Olga mir überlassen hat.«

Zusammen gingen sie nach oben in Lottes Kammer, und Käthe zog sich um. Lotte erschrak ein wenig, als sie sah, wie weit das Kleid tatsächlich war. Der dünne Baumwollstoff hing lose an der zierlichen Käthe herunter.

»Da hast du mal reingepasst?«, fragte sie zweifelnd.

»Ja, tatsächlich. Noch vor einem halben Jahr passte mir das Kleid wie angegossen.«

»Dann bist du wirklich sehr dünn geworden, Käthe.«

Das Mädchen nickte langsam. Ihr Blick wirkte traurig. »Das stimmt wohl. Dabei gebe ich mir wirklich Mühe, ordentlich zu essen. Wir bekommen hier ja genug.«

Lotte räusperte sich. »Du bist so dünn geworden, seit du diese Arbeit tust, oder?«

Käthe nickte stumm und senkte den Kopf. »Das kann schon sein, aber ich will mich nicht beschweren.«

»Du kannst doch auch versuchen, eine andere Arbeit zu finden, Käthe.«

»Aber was bleibt mir denn sonst? Du hast gut reden, Lotte. Du verstehst das nicht, du kannst etwas, hast etwas vorzuweisen, doch ich habe nichts gelernt. Überhaupt nichts. Ich kann doch noch nicht einmal richtig lesen und schreiben.«

Käthe begann lautlos zu weinen. Sofort legte Lotte tröstend einen Arm um sie, hielt sie eine Weile fest und streichelte ihr sanft über den Kopf, so als wäre Käthe ein kleines Kind.

»So solltest du nicht reden. Jeder kann irgendwas. Auch du hast sicher ein Talent, das du nur noch nicht entdeckt hast. Lesen und Schreiben kannst du lernen, wenn du es wirklich willst. Wie alt bist du, Käthe?«, fragte sie.

»Ich bin siebzehn«, brachte das Mädchen unter Schluchzen hervor.

Lotte erschrak, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Erst siebzehn?«

»Ich weiß, ich sehe älter aus. Das ist dieses … Leben. Das bekommt man mit dazu.«

»Bist du denn niemals zur Schule gegangen?« Lotte erstaunte der Gedanke, denn dafür drückte sich Käthe erstaunlich gut aus. Es gab einige Frauen im Haus, die kaum einen vernünftigen Satz herausbrachten. Käthe war da anders.

Käthe schüttelte den Kopf. »Nein, das bin ich nicht. Aber ich habe schon als Kind anderen Menschen gut zugehört, um wenigstens ein bisschen zu lernen. Das hilft. Meine Mutter und ich waren allein, und als sie dann plötzlich starb, musste ich sehen, wo ich bleibe. Sie war auch eine Hure, weißt du.«

»Du hattest also keine leichte Kindheit«, warf Lotte ein. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen nachsichtigen Klang zu verleihen.

»Im Grunde hatte ich Glück, dass Olga mich aufgelesen hat. Sie kannte meine Mutter aus früheren Zeiten. Sie hat sogar nach mir suchen lassen, als man meine Mutter tot am Hafen fand, das werde ich ihr nie vergessen. Als Mama noch ganz jung war, hat sie mal für Olga gearbeitet. Sie hat sich jedoch nie damit abfinden können, hier zu wohnen und etwas von ihrem Geld abgeben zu müssen. So hat sie mir das zumindest mal erzählt. Verstanden habe ich das nie, denn schau, was uns Olga für ein schönes Zuhause bietet. Das schäbige Zimmer, in dem Mama und ich gewohnt haben, kannst du damit gar nicht vergleichen.« Käthe seufzte. »Wenn die Freier kamen, musste ich immer im eiskalten Hausflur warten. Das war nicht schön.«

Das Mädchen tat Lotte unendlich leid. Offenbar war Käthes Lebensweg von Anfang an vorbestimmt gewesen. »Du drückst dich so gut aus, Käthe. Hättest du nicht als Dienstmädchen arbeiten können?«, fragte sie. »Vielleicht sogar hier im Haus.«

Käthe schüttelte den Kopf. »Dienstmädchen haben wir hier genug. Ich sollte mal in der Küche helfen, und die Arbeit fand ich eigentlich nicht schlecht, aber dann kam ich nicht mit Helgas hartem Ton zurecht und bin dauernd in Tränen ausgebrochen. Ich weiß, das ist albern, aber meine Mutter hat mich auch immer angeschrien, und ich kann es nicht mehr ertragen, wenn mich jemand anbrüllt und so runterputzt. Das Rumheulen bekam ich nicht in den Griff, und es hat verflucht an den Nerven gezerrt. Schließlich habe ich Olga gebeten, mich wieder vom Küchendienst zu befreien, und ich glaube, auch Helga war froh darüber. Olga sagte mir daraufhin, dass ich es mir überlegen sollte. Wenn ich also hierbleiben will, muss ich für sie arbeiten, so wie es die anderen Mädchen auch tun. Eine andere Lösung gibt es für mich nicht, also habe ich wieder angefangen. Ich möchte nicht in der Gosse enden wie meine Mutter, Lotte. Dann arbeite ich lieber weiter für Olga. Du weißt ja auch, dass ich ziemlich beliebt bin. Bei den Freiern, meine ich. Viele Männer mögen es, dass ich so klein und dünn bin.«

Eine Weile standen sie sich stumm gegenüber.

»Ich hole meine Stecknadeln«, sagte Lotte schließlich, denn sie fühlte sich ein wenig überfordert. »Das kriegen wir hin, bald hast du wieder ein passendes Kleid.«

Lotte wusste schon länger, dass es eine Seite an Olga Rennsteig gab, die wenig freundlich war. Wenn es um das Geschäft ging, kannte ihre mütterliche Freundin kein Pardon, und das musste wahrscheinlich auch so sein. In den vergangenen zwei Monaten hatte Lotte häufiger mitbekommen, dass die Bordellbesitzerin sehr streng und unnachgiebig sein konnte, wenn es in ihren Augen nötig war. Für Käthe hatte es schlicht keine andere Lösung gegeben. Wenn sie hier arbeiten wollte, musste sie es als Hure tun, so einfach war das.

»Es sind ja nicht alle schlecht«, flüsterte Käthe plötzlich, während Lotte das Kleid für ein paar Abnäher absteckte. Lotte ahnte, was das Mädchen damit sagen wollte. »Die meisten Männer, die hierherkommen, sind sogar sehr nett und großzügig, wirklich. Es gibt welche, die gar nicht vögeln wollen, stell dir das vor. Ich habe einen Stammfreier, der will immer nur zugucken, wie ich an mir rumspiele, und macht es sich dann selbst. Das ist überhaupt nicht schlimm. Eigentlich mag ich es sogar ganz gerne, wie er mich dabei ansieht.«

»Das mag schon sein.« Lotte richtete sich auf. »Dazu kann ich wirklich nichts sagen. Ich verstehe nichts von diesem Geschäft, aber du musst dich überhaupt nicht rechtfertigen, Käthe.« Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach, denn sie wollte das junge Mädchen nicht verletzen. »Ich verurteile keine von euch, das musst du mir glauben. Ihr habt allesamt eure Geschichte, und ich kann wirklich nachvollziehen, dass man vor lauter Verzweiflung im Leben manchmal nicht mehr weiterweiß. Wenn ich dich jedoch so ansehe, ist es mehr als nur offensichtlich, wie sehr deine Arbeit dich belastet. Vielleicht ist es so, dass einige Frauen besser damit zurechtkommen und andere weniger gut.«

»Aber ich bin froh, dass ich hier bei Olga sein darf. Hier geht es mir gut. Ich werde gut versorgt, habe ein hübsches warmes Zimmer, und niemand tut mir etwas. Selbst wenn mal eine von uns krank wird, macht Olga kein Drama daraus und holt sogar einen Doktor, falls es schlimmer ist. Es gibt Häuser, da wird man dann als Hure ganz schlimm behandelt oder einfach vor die Tür gesetzt. Auch das weiß ich von meiner Mutter.«

»Das habe ich schon häufiger gehört, Käthe. Ja, ich denke, du kannst froh sein, dass du hier sein darfst. Olga hat auf jede von euch ein wachsames Auge.«

»Das stimmt.«

Lotte richtete sich auf, nachdem alle Stecknadeln an den notwendigen Stellen saßen. »Ich mach das noch heute fertig. Solltest du irgendwann mal wieder zunehmen, kannst du die Abnäher ganz leicht wieder lösen. Ich zeige es dir nachher, wenn ich dir das Kleid zurückgebe.«

»Du musst das nicht heute machen. Es eilt nicht, Lotte, wirklich nicht.«

»Doch, das tut es. Morgen, gleich nach dem Frühstück, ziehe ich aus.«

»Oh, das ist aber schade. Du wirst vielen hier fehlen.«

»Na ja, sicher nicht allen.« Lotte lachte leise. »Aber ich muss zugeben, einige von euch werden mir auch fehlen.«

2. Kapitel

Das Zimmer in der Pension von Elsbeth Kruse gefiel Lotte ausnehmend gut. Es war mindestens doppelt so groß wie die Dachkammer in Olgas Haus, in der sie die letzten zwei Monate zugebracht hatte. Alles war sauber und ordentlich und offenbar mit viel Liebe und Umsicht eingerichtet worden. Zudem gab es tatsächlich ein Waschbecken im Zimmer und ein Badezimmer mit Toilette auf dem Flur, so wie Olga es ihr versprochen hatte. Zum ersten Mal seit vielen Wochen fühlte sich Lotte fast glücklich.

»Falls du etwas nach deinem eigenen Geschmack verändern willst, habe ich nichts dagegen«, sagte Elsbeth Kruse, die neben ihr stand, während Olga unten am Küchentisch saß und auf sie wartete. »Na ja, die Möbel solltest du natürlich stehen lassen.« Sie lachte auf. Lotte hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die eine so dunkle Stimme hatte wie Elsbeth Kruse.

»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Frau Kruse, aber ich finde das Zimmer ganz zauberhaft, so wie es ist.«

»Das freut mich sehr, aber die Frau Kruse lässt du gleich mal weg. Das mag ich gar nicht. Sag einfach Elsbeth zu mir. Wir wohnen jetzt zusammen, und da sollte es doch so entspannt wie nur möglich zugehen, nicht wahr, Herzchen?«

»Sehr gerne, Elsbeth.«

»Na, dann hätten wir das ja geklärt. So, und nun lass uns nach unten gehen und noch einen Kaffee mit Olga trinken.«

Sie setzten sich zu Olga an den Küchentisch, tranken Kaffee, plauderten und aßen ein paar selbst gebackene Haferkekse dazu. Lotte hielt sich zurück und hörte lieber zu, während sich die beiden älteren Frauen angeregt unterhielten. Kurz bevor Olga sich verabschiedete, bat sie Elsbeth noch einmal eindringlich darum, gut auf Lotte achtzugeben. Obwohl sie wusste, dass Olga es gut meinte, war die wiederholte Bitte Lotte ein wenig unangenehm.

»Du kannst dich auf mich verlassen, Olga«, versprach Elsbeth.

»Das weiß ich.« Sie wandte sich an Lotte. »Jeden Donnerstagvormittag gehe ich zu Tietz, um ein paar Besorgungen zu machen. Wir können uns dort, aber auch gerne im Alsterpavillon auf einen kleinen Plausch treffen, Lottchen.«

»Bei Tietz war ich noch nie. Ich habe schon viel von dem Warenhaus gehört und würde mir das gerne mal ansehen.«

»Oh, es ist großartig. Man bekommt alles, was das Herz begehrt. Sie haben auch wundervolle Stoffe, da werden dir die Augen übergehen, Lottchen.« Olga strahlte. »Ich würde vorschlagen, wir treffen uns dann Donnerstag um elf Uhr vor dem Eingang. Da du ja ab jetzt auf Arbeitssuche bist, warte ich dort eine Viertelstunde auf dich. Falls dir also irgendetwas dazwischenkommt, brauchst du dir keinerlei Gedanken zu machen. Eine Woche später werde ich wieder dort stehen.«

»Das klingt wunderbar.«

Olga tätschelte Lotte die Wange, nickte Elsbeth noch einmal zu und ließ sie dann in ihrem neuen Zuhause allein.

»Solange ich hier bin, helfe ich gerne ein bisschen im Haushalt«, sagte Lotte zu Elsbeth, nachdem Olga fort war und sie zusammen das Kaffeegeschirr neben das Spülbecken stellten.

»Das ist nett von dir, aber das brauchst du nicht.« Die ältere Frau lächelte. »Die kleinen Handgriffe nach dem Essen nehme ich gerne an, aber für alles andere habe ich ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das täglich herkommt.« Elsbeth füllte einen schweren Eisenkessel mit Wasser und stellte ihn auf die heiße Herdplatte. »Deine Wäsche kannst du ruhig mir geben. Ich kümmere mich darum. Mein Waschtag ist der Freitag. Zwischendurch wasche ich selten. Verhungern wirst du hier auch nicht, das kann ich dir schon mal versprechen. Wie wir es mit den Essenszeiten halten, wenn du arbeitest, können wir klären, wenn es so weit ist. Das nehme ich nicht so genau.«

»Aber ich bin doch nicht dein einziger Logiergast, oder etwa doch?«

Elsbeth schüttelte den Kopf. »Im Zimmer neben dir wohnt Paula Lüders. Sie ist in den Vierzigern und Lehrerin an einer Schule in Eimsbüttel. Üblicherweise geht sie sehr früh aus dem Haus und kommt erst abends heim. Hier nimmt sie nur ihr Frühstück ein. Nach der Schule unterrichtet sie nämlich noch in einem Kinderheim. Auch an den Wochenenden ist sie meistens dort. Paula wohnt schon seit über zwei Jahren bei mir, und es ist angenehm, sie im Haus zu haben. Sie ist immer freundlich und wirklich sehr gebildet. Ich denke, du wirst sie mögen.«

Elsbeth goss das heiße Wasser aus dem Kessel ins Spülbecken, gab dann etwas kaltes hinzu und begann das Kaffeegeschirr abzuwaschen.

»Früher habe ich auch noch das dritte Zimmer im zweiten Stock vermietet«, sagte sie. »Aber das spare ich mir jetzt und nutze das Zimmer selbst. Mit den zwei belegten Zimmern komme ich inzwischen ganz gut über die Runden.«

»Das Haus ist sehr schön«, bemerkte Lotte. Sie sah sich um. Über dem Griff des Ofens hingen zwei Geschirrtücher. Sie nahm sich eins davon, um die Tassen abzutrocknen.

Elsbeth nickte. »Ich habe es vor zehn Jahren von einer Tante geerbt. Sie war die ältere Schwester meiner Mutter und Witwe eines Richters, der ihr einiges hinterlassen hat. Ich wurde eher durch Zufall zur Erbin. Meine Tante und der Richter hatten nur einen Sohn, doch der ist im Krieg geblieben.« Sie sah von ihrer Arbeit auf und lächelte. »Nun ja, ich fühlte mich ihr verpflichtet und wollte das Beste aus dem Haus und dem Geld machen, das sie mir vererbt hat. So kam ich auf die Idee, mir mit dem Haus meinen Lebensunterhalt zu verdienen, damit auch auf lange Sicht etwas dabei rumkommt und das schöne Haus nicht verlottert.«

»Ja, das kann ich gut verstehen. Und das war sehr klug, Elsbeth.«

»Das sagte Olga damals auch. Das Geld habe ich zu einem großen Teil in die Renovierung gesteckt, und das hat sich ausgezahlt. Jedes der Gästezimmer hat ein eigenes Waschbecken, und auf dem Flur gibt es ein richtiges Badezimmer mit einem Boiler für warmes Wasser und ein Klosett. Das ist doch wundervoll, nicht wahr?«

Lotte fand es rührend, wie stolz Elsbeth auf ihr Haus und auf ihre Leistung war. Sie mochte die ältere Frau schon jetzt.

»Da kann ich nur zustimmen, Elsbeth. Und du hast dir viel Mühe gegeben, die Zimmer behaglich einzurichten. Das habe ich sofort bemerkt, als wir vorhin oben waren. Da steckt viel Liebe drin. Ich werde mich hier wohlfühlen, das weiß ich schon jetzt.«

Elsbeths Lächeln vertiefte die zahlreichen Fältchen um ihre Augen. »Noch etwas, Lotte … Da Olga dich zu mir geschickt hat, fragst du dich vielleicht … Also, was ich eigentlich sagen will … ja, ich habe früher für Olga gearbeitet, aber nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich war ihre Köchin.«

Lotte musste schmunzeln. »Weißt du, Elsbeth, ich habe in den vergangenen Wochen so viele Frauen kennengelernt, die für Olga arbeiten. Es ist noch gar nicht so lange her, da wusste ich noch nicht einmal, dass es Bordelle überhaupt gibt. Ich habe in der letzten Zeit viel gelernt, und meine wichtigste Lektion war, Menschen nicht vorschnell zu verurteilen für das, was sie tun oder tun müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es ist nett, dass du mir das gesagt hast, aber es wäre nicht nötig gewesen.«

Zum ersten Mal seit Wochen schlief Lotte die ganze Nacht lang durch. Als sie erwachte, war es noch dunkel, doch sie fühlte sich herrlich ausgeruht und erfrischt. Einige Minuten lang blieb sie noch liegen. Sie kuschelte sich nahezu glückselig in die Wärme unter dem dicken Federbett und genoss den Duft der frisch gewaschenen Leinenbettwäsche. Doch dann raffte sie sich auf und öffnete einen Fensterflügel, um für einige Minuten die frische Herbstluft in ihr Zimmer zu lassen. Als sie schließlich fertig angezogen war und ihr Bett gemacht hatte, sah sie sich noch einmal in ihrem neuen Zuhause um. Es war wirklich ein gemütliches Zimmer, und es war keine höfliche Phrase gewesen, als sie Elsbeth versichert hatte, wie gut es ihr gefiel. Das hölzerne Bettgestell war schlicht und passte farblich zum Nachttisch und dem kleinen Kleiderschrank, der links vom Bett neben der schmalen Tür stand, die auf den Flur führte. Gegenüber gab es noch eine weiß getünchte Wäschekommode mit drei tiefen Schubladen, über der ein hübscher Spiegel hing. Nur einen Schritt davon entfernt war neben dem Fenster ein einzelner, sehr gemütlicher Sessel mit passender Fußbank platziert worden, und direkt daneben stand sogar ein kleines, gut bestücktes Bücherregal, an dem sie sich sicher bald bedienen würde. Der zarte Lavendelton im Blumenmuster des Sessels fand sich auch in der gesteppten Tagesdecke wieder, die über dem Bett lag. Das gefiel Lotte besonders gut.

Am Vorabend hatte sie nur das Nötigste aus ihrer Reisetasche genommen, doch nun packte sie auch den Rest aus. Es sah ganz danach aus, als würde noch sehr viel Platz im Kleiderschrank und in der Wäschekommode frei bleiben, aber damit hatte Lotte schon gerechnet. Sie besaß nicht viel. Da sie völlig mittellos nach Hamburg gekommen war, hatte Olga dafür Sorge getragen, dass sie zumindest drei schlichte Tageskleider, einen warmen Mantel, einen Wollschal sowie einen Grundstock an Wäsche bekam. Auch die Reisetasche hatte Olga ihr geschenkt.

Es wurde Zeit, dass sie endlich ihr eigenes Geld verdiente, dachte Lotte zum wiederholten Male, während sie ihre wenigen Habseligkeiten im Kleiderschrank und der Kommode verstaute.

Nach einem gemeinsamen Frühstück mit Elsbeth nahm sich Lotte eine der zwei Zeitungen vor, die auf dem Küchentisch lagen, schlug die Seite mit den Annoncen auf und schaute sie durch. Nur eine einzige Anzeige war passend für sie. Es handelte sich um ein Geschäft für Abendmoden ganz in der Nähe des Rathausmarktes, das eine Schneiderin für Änderungen benötigte. Dorthin konnte sie bequem zu Fuß laufen.

»Ich werde mir das Geschäft mal ansehen«, sagte sie zu Elsbeth. »Das ist am Großen Burstah. Es wäre ein Glücksgriff, wenn ich dort arbeiten könnte.«

Elsbeth schnappte hörbar nach Luft und blickte Lotte über ihre Zeitung hinweg alarmiert an. »An deiner Stelle würde ich da nicht hingehen, Lotte. Der Inhaber soll mit Vorsicht zu genießen sein. Offenbar hat er bereits einige seiner Mädchen bedrängt. Es hat deshalb schon viel Gerede gegeben.« Die ältere Frau seufzte. »Wenn ich du wäre, würde ich nicht dort arbeiten wollen, selbst wenn es die letzte Arbeitsstelle auf Erden wäre.«

Ein unangenehmes Gefühl stieg sofort in Lotte auf und ließ sie kurz innehalten. Es war nur ein leichter Anflug der vertrauten Angst, bloß eine Spur des bitteren Ekels in ihrer Kehle, doch sie wollte nicht, dass Elsbeth etwas davon mitbekam und sich unnötig Sorgen machte oder womöglich nachfragen würde. Nein, nur das nicht! Also atmete sie einmal tief durch, damit sich ihr Herzschlag wieder normalisierte.

»Oh«, sagte sie schließlich, so als hätte Elsbeths Bemerkung sie höchstens irritiert. Lotte räusperte sich. »Das ändert die Sache natürlich. Danke, dass du mich gewarnt hast, Elsbeth.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Leider war das heute tatsächlich die einzige Anzeige in den Zeitungen, die passen würde.« Sie stand auf und sah aus dem Fenster, um sich etwas zu fangen. »Wie auch immer, es regnet in Strömen. Bei dem Wetter hätte ich sowieso keine große Lust gehabt rauszugehen.«

»Dann wartest du eben noch ein paar Tage. Es wird sich schon noch etwas ergeben. Und um deine Miete brauchst du dir sowieso keine Gedanken zu machen. Olga hat vorgesorgt, und ich werde dich sicherlich nicht auf die Straße setzen.«

»Ach, Elsbeth, das ist so lieb von dir, aber es geht mir nicht allein um das Geld. Mir fehlt meine Arbeit ganz schrecklich. Ich habe wirklich gern genäht, weißt du.«

»Das kann ich mir vorstellen. Es muss wunderbar sein, wenn man aus einem einfachen Stück Stoff ein Kleid oder andere hübsche Sachen nähen kann. Ich schaffe es gerade einmal, einen Saum einigermaßen gerade hinzubekommen.« Elsbeths Blick wirkte nachdenklich, doch dann hellte sich ihre Miene plötzlich auf. »Da fällt mir gerade etwas ein, Lotte. Komm mal mit, ich glaube, ich kann dich ein bisschen aufmuntern.«

Lotte folgte Elsbeth nach oben in die zweite Etage des Hauses, wo ihre Wirtin ihre privaten Räume hatte. Sie gingen einen schmalen Flur entlang, und Elsbeth deutete auf eine Tür am Ende des Flurs. »Das ist das Zimmer, von dem ich dir gestern erzählt habe.«

»Das, das du jetzt selber nutzt?«

»Genau.« Elsbeth öffnete die Tür und zog Lotte hinter sich her. »Schau mal, Lotte.«

»Oh«, rief Lotte überrascht aus, als sie die schwarz glänzende Nähmaschine sah, die dort an der gegenüberliegenden Wand stand. »Das ist ja eine …«

»Eine Singer, ja. Sie ist erst zwei Jahre alt. Ich habe sie mir gekauft, weil ich einige Gardinen nähen musste. Die vergilbten Stofffetzen, die meine Tante hier überall hängen hatte, waren ganz furchtbar anzusehen.« Elsbeth lachte und zwinkerte Lotte zu. »Wenn du willst, darfst du die Maschine gerne benutzen, wann immer dir danach ist.« Sie ging zu einer alten Wäschetruhe, die unter dem Fenster stand, und hob den schweren Deckel an. »Hier drin sind jede Menge Stoffreste, aber es sind auch noch recht große Stücke dabei. Das hat sich in den vergangenen Jahren so angesammelt, aber ich brauche sie nicht mehr. Vielleicht kannst du dir eine hübsche Bluse oder sogar einen Rock daraus nähen, was meinst du?«

Lottes Kehle wurde eng. »Das wäre einfach wundervoll, Elsbeth.«

»Na, dann ran an die Arbeit, mein Mädchen.«

»Ich könnte auch für dich etwas nähen. Schließlich sind es deine Stoffe.«

»Um Himmels willen, nein. Ich habe wirklich genug im Schrank und bin eine alte Schachtel. Bei mir achtet doch niemand mehr darauf, was ich anhabe. Aber du bist nicht nur jung und sehr hübsch, du könntest auch ein paar Sachen mehr ganz gut gebrauchen, wenn ich Olga richtig verstanden habe. Das stimmt doch, oder?«

Lotte atmete tief durch. »Das muss ich wohl zugeben. Ich habe leider kaum etwas anzuziehen.«

»Das Zimmer, die Stoffreste und meine Singer stehen ganz zu deiner Verfügung, Herzchen.«

Die nächsten zwei Tage flogen nur so dahin. Lotte verbrachte viel Zeit damit, die Stoffreste nach Größe und Qualität zu sortieren. Es waren tatsächlich einige Stücke dabei, die sich sehr gut für eine oder sogar zwei Blusen eigneten. Zudem gab es ein besonders großes Stück aus fein gewebter dunkelblauer Wolle. Es war so viel davon da, dass sie nicht nur einen schmalen Rock, sondern dazu auch noch eine passende Jacke schneidern konnte, sodass sie ein richtiges Kostüm besitzen würde.

Lotte konnte ihr Glück kaum fassen, und sie war ganz in ihrem Element. Sie kostete jede Minute aus, die sie in Elsbeths Nähzimmer verbrachte. Und plötzlich war auch schon der Donnerstag da, an dem sie sich mit Olga vor dem Warenhaus Hermann Tietz treffen wollte. Lotte freute sich sehr darauf.

»Du siehst wirklich gut aus«, bemerkte Olga, nachdem sie sich herzlich begrüßt hatten. »Du bist nicht mehr ganz so blass, das finde ich sehr beruhigend.«

»Mir geht es wirklich gut bei Elsbeth, Olga. Sie ist eine so liebe Person.«

»Ich weiß. Elsbeth ist ein Engel. An ihr ist ein richtiges Muttertier verloren gegangen, das habe ich schon immer gewusst. Mir war klar, dass du bei ihr gut aufgehoben sein wirst. Zumindest so lange, bis du auf eigenen Beinen stehen kannst.« Olga sah an der mächtigen Fassade des Warenhauses hoch. »Nun, was sagst du?«

»Es ist beängstigend groß, finde ich«, antwortete Lotte lachend. »Man kann sagen, es macht tüchtig was her.«

»Warte nur ab, sobald wir drinnen sind, wirst du aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Dir werden die Augen übergehen, glaub mir.«

Olga sollte recht behalten. Während sie langsam die Gänge und Etagen des Warenhauses durchstreiften, wusste Lotte gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte. Das Angebot war unfassbar umfangreich und die edle Ausstattung des Hauses mit all den glitzernden Lüstern und dem herrlichen Marmor außerordentlich imposant. Lotte erschien es, als würde all das von Stockwerk zu Stockwerk immer prunkvoller werden. Jede einzelne Abteilung hatte ihren eigenen Reiz.