Alte Abdeckerei - Wolfgang Hilbig - E-Book

Alte Abdeckerei E-Book

Wolfgang Hilbig

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Beschreibung

Wolfgang Hilbigs Erzählung »Alte Abdeckerei« zieht den Leser hinein in einen geheimnisvollen Bezirk, der angesiedelt ist auf der Grenzlinie zwischen literarischer Imagination und politischer Realität: »Jenseits der Kohlenbahnlinie, südöstlich eines halb unbewohnten Dorfes, tief in der verwilderten Senke, direkt an dem verkommenen Zaun begann das Gebiet, welches der Osten war, und man drang nicht ungestraft in diese Gegend vor.« Hilbigs jugendlicher Held erforscht auf ausschweifenden Erkundungsgängen diesen Bereich voller Ruinen, ausgelaugter Äcker und Industrieanlagen, obwohl er immer wieder von den Erwachsenen gewarnt wird: Es sind dort Menschen verschwunden, so erzählt man ihm, über die niemand mehr reden darf, die aber in der Erinnerung nicht auszulöschen sind.

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Seitenzahl: 106

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Wolfgang Hilbig

Alte Abdeckerei

Erzählung

FISCHER E-Books

Inhalt

Alte Abdeckerei[Motto]Ich besann mich auf [...]

Alte Abdeckerei

Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer

Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt,

Sie stehe nur mit alter Felsendauer!

Goethe

Oystrygods gaggin fishygods

James Joyce

Ich besann mich auf ein Flüßchen hinter der Stadt, ein seltsam schimmerndes, an manchen Tagen fast milchfarbenes Gewässer, das ich kilometerweit verfolgt habe, einen Herbst lang oder noch länger, vielleicht nur, um einmal hinauszukommen aus einem Territorium, das, wenn ich es endgültig sagen soll, von den Grenzen meiner Müdigkeit eingeschlossen war. Und ich folgte diesem Weg wie unter lautlosem Flügelschlagen; wenn es dunkel wurde, begann ich mit einem Schrecken zu rechnen, vielleicht mit einem markerschütternden Schrei, nach welchem Stille eintritt? … nichts dergleichen, die Ruhe hinter Stadt und Wald war das stete Dasein winziger Geräusche. Äcker, Wiesen, Brachflächen, wie sie von beiden Seiten heranschwollen im Dunst der immer trüberen Tage, schienen das Flüßchen über manche Strecken zu einem bloßen Rinnsal zu drosseln; oft glich es der bläulichen Klinge eines langen geraden Messers, das durch entzweigeschnittenes Gelände fuhr, man meinte die langgezogene Wunde noch dampfen zu sehen. – In einiger Entfernung, in einer Senke, lagen die reglosen Augen zweier runder Waldseen, den Blick nach innen, schon halb unter die dunklen Lider gekehrt, die der Schatten des Waldrands über ihren gleichmütigen Schlummer schob. Von dort kam ich zwischen welken Krautfeldern einen Fußpfad herauf, der vor dem Bach abknickte und seinen Lauf zu begleiten begann; zwischen diesem Weg und dem Gewässer stand hohes Gras, das grau gewordene, wild gesträubte Herbstgras dieser trüben Tage, davon mir die Sicht auf das eilige, noch kaum hörbare Rinnsal verdeckt war. Schon bald erhoben sich aus dem Gras, mit fast regelmäßigen Abständen, alte verkommene Kopfweiden, dann gab es die Weiden auch auf der anderen Seite des Bachs; da sie stets in die Zwischenräume der Weiden diesseits des Bachs gesetzt waren und sich von drüben herüber neigten, ebenso, wie die Weiden diesseits schräg hinüber strebten über die Bachmitte, wurde von dem sprossenden Gezweig auf ihren dickgeschwollenen Häuptern geradezu ein Dach über dem Flüßchen gebildet, unter dem nun, besonders wenn die Dämmerung dichter fiel, das Rieseln des Wassers stärker tönte, ja, bald zu widerhallen schien, wie in einem langgestreckten Gewölbe. Und wenn ich anhielt und lauschte, kam es vor, daß ich mich selbst im Innern dieser Überdachung aus Weidengezweig wähnte, und manchmal glaubte ich mitzufließen, schaukelnd unter einem schwarzen Baldachin aus Weidenzweigen, in einer Barke von ätzender Trauer, unergründlich treibend in ziellosen Kreisen, um auf dem Sand ganz anderer Gegenden zu stranden. Nun waren die Stimmen des Fließens zu einem dichten Geräusch geworden, so daß ich alles übrige Geraun aus der Dunkelheit, die das Ende des Abends besiegelt hatte, nicht mehr wahrnahm, wiewohl es noch da war, vielleicht in Form eines Schreitens über den Feldern, in Form von Geraschel, von dem die Blätter windig durchstreift wurden, zusätzlich vielleicht in Form rollender Geräusche eines fernen Eisenbahnzugs, der fuhr und fuhr, als dürfe er die ganze Nacht hindurch sein Rollen und Klappern nicht enden lassen. Dann war das Geräusch des Gewässers ein Rieseln, das mir geschwätzig um die Gliedmaßen rann und mehr und mehr alles überströmte und zudeckte, was von draußen noch in meine Müdigkeit eindringen wollte. Und es war das Geräusch meiner Müdigkeit selbst, die lärmte und schäumte? … wenn ich auch eher an die Ahnungen hellwachen Trippelns und Wisperns glaubte, eher an schlafsuchende Schatten, tappend und schwatzend, wenn das Wasser über die Wurzeln der Weiden am Rand des Grabens spülte, wenn es manchmal einen Stein oder eine Handvoll Erde aus dem Ufer löste, oder an niederhängenden Halmen entlangstrich, daß die Vorstellung eines winzigen Sprühens oder Zischens entstand, dem nachzulauschen sofort nicht mehr möglich war, weil es hinter mir verschwand, oder hinter dem nächsten Zischen oder Sprühen schon zurückgeblieben war. Wenn ich meinte, die Geräusche würden von dem Flüßchen vor mir davongetragen, dann wußte ich für mich, daß ich auf dem Rückweg war, auf einem schon halb unbewußten Rückweg, in meiner Schläfrigkeit, der ich zu entrinnen suchte, die aber immer wieder vor mir entstand. Es war das Flüßchen, das mir entrann? … doch sein Rinnen erneuerte sich fortlaufend vor mir, fortwährend erneuerte sich sein Fortlaufen vor mir? … so daß ich manchmal anhielt, mich zu vergewissern, ob das Rinnsal nicht hinter mir umgekehrt sei, oder abgedriftet sei in einen Seitenarm, und im Begriff, mich inmitten völliger Lautlosigkeit zurückzulassen: ich entsann mich, daß ich dem Wasser, seinem Geräusch, wenige Schritte schnell nachlief, um ein schnell versunkenes Gekicher, das ich vor einem Augenblick glaubte gesehen oder gehört zu haben, wieder einzuholen? … doch schon war es mir für immer entronnen, für immer war mir die Erinnerung daran verflossen, und ehe ich es begriff, war mir in meiner Schläfrigkeit die Erinnerung an die Richtung entflohen, und damit die Richtung meines Rückwegs. Und ich witterte angestrengt, um zu hören, wohin das Wasser floß: die Entscheidung darüber war mir nicht möglich, das Gehör diente mir nicht zu jener Orientierung, die meinem Auge leicht gewesen wäre, es war, als ströme das Wasser über mich hinweg, es floß in meinem ermüdeten Hirn nach verschiedenen Richtungen, es floß grenzenlos, so grenzenlos wie ein fern verebbendes Eisenbahngeräusch, das dennoch nicht aus dem Territorium zu fahren vermochte, in dessen Mitte ich stand, inmitten eines Territoriums, das konzentrisch den Ort umkreiste, auf dem ich die Augen geschlossen hielt. Geräusch über Geräusch rann mir beißend durch die Augen, und ich wußte, während ich weiter hastete, daß ein sonderbarer hellgrauer Dunst mich einhüllte, ein süßschmeckender Atem, er trocknete mir die Rachenhöhle aus, schien meinen Schritt zu hemmen und lag mir schwer auf Gesicht und Gliedern? … und am nächsten Nachmittag, wenn ich meinen Fußmarsch wiederholte, glaubte ich den Geruch noch immer aus den Kleidern zu spüren. Seit langem schon hatte er sich in meinen Kleidern gesammelt, in den Kleidern, die ich nie zu wechseln vermochte, wie ich die Erde nicht zu wechseln vermochte? … schon seit vielen Nachmittagen, ein Geruch, der an Alter zunahm, je öfter ich ihn durchstreifte? … mit einer Logik, die ihresgleichen zu suchen schien, sagte ich mir, daß er immer älter werde, dieser Geruch, und um so zäher, desto länger ich ihn durchstreife, und daß die Zeit näher kam, in der ich ihn endlich den mir ganz eigentümlichen Geruch nennen konnte? … wenn wir andauerten, der Geruch und ich, geeint zu einem Amalgam, das die Erde wie Wasser bedeckte. An allen Nachmittagen in einem bestimmten Herbst ging ich diesen Weg, alle Tage eiliger, ohne Unterbrechung bald, da ich jeden Schritt vollkommen kannte? … fast jeden Fußbreit wiedererkannte, wenn mir das letzte Licht der späten Nachmittage half, die mir bald wie ein einziger Nachmittag waren. Und nach kurzer Zeit hatte ich mir angewöhnt, diesen Weg am Nachmittag meinen Rückweg zu nennen. Morgen, sagte ich mir immer wieder, werde ich dieselbe Strecke noch einmal zurückgehen, und vielleicht ein entscheidendes Stück weiter zurück. – Damit kämpfte ich die dumpfe Unzufriedenheit nieder, die mich alle Tage befiel, an denen ich erneut bis zu einer mir schon altbekannten Stelle kam, und doch nicht mehr zweifelte, daß eben dort meine Umkehr bevorstand, an genau dieser Stelle, wieder und wieder. Von genau dieser Stelle aus begann meine Umkehr in die Nacht: es war ein Ort, den ich so oft gesehen hatte, daß er mir vollkommen geläufig erschien, geläufig, aber nicht beschreibbar: die Substantive, über die ich zu diesem Zweck zu verfügen schien, erwiesen sich mir immer wieder als trügerische Mittel, und sie hielten mir unaufhörlich die Ohnmacht aller Beschreibungen vor Augen? … sie nahmen sich gegenüber den Nuancen des Sichtbaren höchstens wie dürftige Informationen aus. – Am vorläufigen Ende jeder meiner Wanderungen warf der Damm einer Kohlenbahnlinie die schon langweilig gewordene Parallele von Weg und Bach, mitsamt den Weidenreihen, gründlich durcheinander. Der Bach benutzte einen Durchstich durch den Bahndamm, floß ein Stück unter der Erde fort, tauchte erst wieder auf, wo das Gelände sich an einer Stelle zu einer Senke abwärts stufte, dort verschwand er in den Wiesen, verzweigte sich in einem Delta von Nebensträngen und Tümpeln, nur ein paar wenige Weiden noch ließen die Windungen seines unschlüssig sich fortsetzenden Hauptlaufs vermuten. Der Weg führte steil den Bahndamm hinauf, oben endete er in einer Art Plateau, oder er lief in das Bruchstück einer Straße aus, welche, ebenfalls erhöht, im rechten Winkel an die Bahnstrecke stieß. Im ersten Augenblick bot sich das Bild einer wahllosen Erdaufschüttung, doch bei genauerem Hinsehen erkannte man die ruinösen Fragmente der Betonbefestigung, die völlig verwachsen waren von Gesträuch und Gras, überschüttet offenbar von der Kohlenlast umgestürzter Bahnloren, und durchmischt vom Geröll der zerbröckelten Betondecke; es war zu sehen, daß hier eine Fahrbahn an die Geleise herangeführt worden war: ich nannte dieses in dem Wiesengrund sichtlich deplaziert wirkende und verrottende Betonfundament die Rampe. Hier oben auf der Rampe hielt ich an; an einigen Stellen an ihrem Rand? … am Rand der Brücke? … waren noch die Stümpfe der Winkeleisen zu sehen, die einem dereinst ordnungsgemäßen, nun längst verschrotteten Geländer angehört hatten; es war nicht zu leugnen, daß ich hier oben stets, atemlos schwankend an der geländerlosen Seite auf dem Beton, mit spürbarem Schwindel in das einige Meter unter mir fließende Wasser blickte, das schräg und pfeilschnell unter die Brückenwölbung jagte. Verschlammtes Gras und beinahe weiß erstorbenes Gesträuch peitschten seine Oberfläche, hohles Gurgeln tönte, wo das Wasser an den verschlickten Steinpfeilern entlangfuhr. Wie immer erreichte ich hier oben den Gipfel des Eindrucks, ganz ohne Stütze, völlig ohne eine Verbindung zu sein zu den Bildern, die mich umgaben: mit diesem Eindruck hatte ich die Brücke schon erstiegen, oben fand ich mich wieder in dem sicheren Gefühl, vollkommen entblößt auferstanden zu sein unter dem grauen winderfüllten Himmel, soeben mich erhoben zu haben unter der Nähe der trostlosen Wolken, die nur knapp über den schwingenden Fahrleitungsdrähten zerflogen und flatternd nach Osten gefegt wurden? … auf einmal erschien mir die Gegend maßlos beweglich, der Rest des Tages überrauschte mich in atemloser Schwäche, die ersten Abenddüsternisse ballten sich im Norden unter dem Horizont, gegen den bald die Lichter in den Dorfhäusern aufblinken mußten, um ihn zum Verschwinden zu bringen. Und es war, als drehe sich mit der Flut unterhalb der Brücke das gesamte Gelände im Kreis und unter mir hinweg.

Offenbar war es nur einer anderen Erinnerung zuzuschreiben, daß ich die Betonstützen der Brücke als Rampe bezeichnete, einer Erinnerung noch weit früheren Ursprungs? … und der Klang des Begriffes Rampe enthielt für mich etwas von der ungewissen Heftigkeit, mit welcher einige schwer angeschlagene Vokabeln um häufigeren Gebrauch rangen; ein vergleichbares Beispiel dafür war der Begriff Heimat