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Der Arbeiter Waller, der sich insgeheim als Schriftsteller versucht, will Geschichte und Geschichten vor dem Vergessen bewahren. Aber bis auf den ständig wiederholten Satz »Die Kirschbäume sind verschwunden« bleiben seine Blätter leer. Es will ihm nicht gelingen, das, was auf immer verloren ist, in Worte zu fassen. Düstere Erinnerungen halten sein ganzes Denken besetzt: an das Jahr, in dem die Grenzen der DDR geschlossen wurden, an den Tag, an dem die Kirschbäume – und ganze Dörfer – dem Braunkohlentagebau weichen mussten. Aber er erinnert sich auch an die geheimnisvolle Anziehungskraft, die später die riesigen, von finsteren Outlaws bevölkerten Müllhalden und Aschefelder auf ihn ausübten, in die sich der aufgelassene Tagebau verwandelt hatte. Wolfgang Hilbigs melancholischer Text, der das Untergegangene poetisch nachschöpft und bewahrt, ist in seiner sprachlichen Suggestionskraft und formalen Originalität verwandt mit zwei anderen Texten des Autors, »Alte Abdeckerei« und »Die Weiber«.
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Seitenzahl: 95
Wolfgang Hilbig
Die Kunde von den Bäumen
Erzählung
FISCHER E-Books
Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffen etwas erzählen können.
Walter Benjamin
Was weiß ich schon noch, sagte Waller, von den Wirren, die über mich kamen, als ich versuchte, meine ersten Geschichten zu verfassen. Hier stocke ich sofort: damals hätte ich es nicht gewagt, mich so auszudrücken! Dieses Verfassen von Geschichten bestand in der andauernden Übung, Wörter durchzustreichen, die ohne mein Zutun aufs Papier geraten waren. In einer Art Tollheit, schien es, hatte ich sie hingesetzt – und ich fand ganze Zeilen, ganze Abschnitte voller Wörter, die nur auf solche Art entstanden sein konnten: nur das Gezweig der Verbindungswörter konnte ich akzeptieren –, und plötzlich war es, als habe wer, ein anderer als ich, das Licht einer Lampe darauf gerichtet: wenn ich sie überhaupt noch lesen konnte, meine Wörter, dann waren sie das erdenklich Falscheste an Ausdruck für das, was ich eigentlich benannt haben wollte.
Übrigens meine ich auch, daß ich diese Umstände inzwischen oft genug erwähnt habe – oder sei es nur, daß ich mir wünschte, mich in die Legion der Schreibenden einzureihen, denen diese Umstände des Erwähnens wert waren, und daß es mir daher so vorkommt –, wie ich sie auch bezeichnet habe, diese Umstände, einmal als die Schwäche meiner Vorstellungskraft, ein andermal die Unfähigkeit, abstrakt zu denken, womöglich auch den Verlust der Wirklichkeit hinter den Bildern: immer meinte ich dasselbe, und bis zum Überdruß habe ich dieses Scheinproblem vor mir ausgebreitet. Der dauernde Umgang damit hat mir dennoch nicht die Sicherheit geben können, mich als Schriftsteller fühlen zu dürfen, leider nein! Aber in Ermangelung tatsächlicher Erzählungen habe ich die erwähnte Misere so oft wie möglich zur Ersatzhandlung für den fehlenden Stoff werden lassen. Nun hat mich das Ganze so ermüdet, daß ich allen Ernstes eine neue Biografie brauchte, um mich herauszuwinden aus den Entwürfen meiner Nicht-Verfasserschaft. Denn diese Entwürfe sind mir vollkommen zu dem Boden geworden, auf dem ich mich allein noch bewegen kann. Tatsächlich, ich bin von Bodenlosigkeit untergraben? … tatsächlich, diese Entwürfe belagern mich wie ein undurchdringlicher Verhau, wie ein imaginärer Verhau vielleicht, der mir dennoch in lückenlosem Ring entgegenwächst: ich kann eigentlich nur noch warten, bis er mich erwürgt.
Oder ich habe das Gefühl, daß ich zerschnitten werden soll? Es ist über meinem engen Kreis ein Pendel, das mit jedem Ausschlag ein Stück tiefer sinkt, das, durch die Luft sausend, ein Zischen auslöst wie: Sprich!? … sprich! – Oder es ist eine sich mir nähernde Säge, die die Atmosphäre zerreißt mit einem Geräusch wie: Erzähle!? … erzähle!
Und ich selbst kreise innerhalb meines undurchdringlichen selbstgeschaffenen Dickichts und rufe: Hinaus! – Eingeschlossen in die Schöpfungen meiner Selbstverhütung, sage ich mir: Draußen ist ein anderes Leben! Eines, das vielleicht nur darauf wartet, begonnen zu werden. Vielleicht hält es sogar einen anderen Namen für mich bereit. Wieviel leichter wären aus einem anderen Leben Geschichten zu ziehen? … wie soll ich das meine erklären? Was soll ich mit diesem Leben anfangen, das hin- und hergeht, auf und ab, die Stiegen, die Straßen, die Ränder vor und zurück, rauf und runter, immer auf Trab? … das gehende Leben: ich habe es gemacht! In meinem kleinen Umkreis, durchkreuzt von Wegstrecken, die mit Vorsichten gepflastert sind? … als könnten hier laufend Bedenken zertreten werden? … hier bin ich immer unterwegs, wie mit gebrochenem Genick immer: ach, wie neidete ich das Leben denjenigen, die es sitzend verbringen durften. Einen Sitzplatz, einen Sitzplatz! klagte ich, meinen leeren Stuhl umkreisend. Wenn ich an Fenstern vorbeiging und die anderen hinter ihren erleuchteten Scheiben sitzen sah – über Schriftstücke gebeugt, wie ich mir einbildete, denn ich hielt sogar die Zeitungen für Schriftstücke –, dann glaubte ich, sie müßten glücklich sein.
Sie waren es auch, sie lebten zumindest in Frieden mit ihrem Unglück! Wenn ich dies wolle, so dachte ich, dann durfte ich niemals in die Verlegenheit kommen, eine Geschichte mit den Schwierigkeiten beginnen zu müssen, die das Erzählen bereitet. Was gibt es Langweiligeres, dachte ich, oder Anmaßenderes als Bücher über das Verfassen von Büchern! Es mag noch angehen, oder unumgänglich sein, daß mit Werkzeugen Werkzeuge, mit Maschinen wieder Maschinen angefertigt werden. Aber wenn das Erzählen die Probleme des Erzählens rekonstruiert – oder herstellt, wie in meinem Fall –, so ist dies der Gipfel der Selbstbegrenzung. Es erscheint mir als eine völlige Unterordnung unter die Wirkungslosigkeit? … ich weiß es nicht. Eine solche Literatur verdient kein Interesse.
Dennoch muß ich nochmal auf das Pendel zurückkommen. Es klingt danach, als ob ich ein altes Muster beschrieben habe: dasjenige, nach welchem durch Erzählen die Vollstreckung des Urteils hinausgeschoben wird. Solange man erzählen kann, bleibt man am Leben, heißt es? … der Scharfrichter, die Finger schon an dem Splint, der das Fallbeil noch oben festhält, will erst das Ende der Geschichte hören. Doch dieses Ende ist noch nicht der Schluß, es läßt eine weitere Geschichte erwarten: noch ein Aufschub! Oder der liebe Gott, schon am Hahn der Dampfpfeife, nach deren Posaunensignal die heilige Heerschar, die Schwerter in Blut zu baden, zur Erde rasen wird, der Gott wartet noch ab, bis Johannes sein Buch vollgekritzelt hat. Gut und schön diese Vorstellungen, doch ich kenne die Furcht vor diesem Gott und Henker nicht. Was mich antreibt, ist die Angst vor dem Vergessen der Geschichten. Ich fühle mich nicht bedroht, die Geschichten sind es, die bedroht sind: ich sehe ein Dunkel, das sich anschickt, über die Geschichten zu fallen. Erzähle? … erzähle, sage ich mir, sonst wird alles ins Vergessen taumeln. Erzähle, damit der Faden nicht abgeschnitten wird? … tausend Geschichten sind nicht genug. Damit der Strom nicht unterbrochen wird, damit das Licht über den Tischen nicht ausgeht. Erzähle, sonst wirst du ohne Vergangenheit sein, ohne Zukunft, nur noch willenloser Spielball der Bürokratie. Du wirst in ihren Datenbänken liegen, abrufbar, eine Berechnung, ein Buchungsfaktor, Teil einer Summe, deren Verlust von Anfang an einkalkuliert ist? … du wirst Kanonenfutter sein.
In der Tat, ich hatte immer das Gefühl, auf verbrauchter Materie zu gehen, auf ausgebrannten Stoffen, auf Schlacken, auf Asche, auf Abraum. Vergessen bedeckte die Erde und erstickte das Leben, das noch in ihr keimte – wenn es noch keimte –, unaufhörliche Wellen von Besinnungslosigkeit schoben sich, Schicht über Schicht, über den Grund: tote Gegenwart war, einverleibt und wieder ausgeschieden, so daß sie nur noch Geschichte war. Ja, ich ging auf der wahren Substanz der Geschichte: ein trockenes sandiges Material, leblos für immer, das mit der Willkür aller Winde her und hin kreiste und sich grau oder rötlich auf alles setzte, was im Einfluß seiner diffusen Bewegung lag? … für Augenblicke unterbrach sich Waller, schien zu überlegen und stieß plötzlich ein meckerndes Gelächter aus.
Wie ich darauf eigentlich komme? Ich bin nur scheinbar abgeschweift; ich mußte daran denken, daß ich mir doch wirklich einen Schreibtisch gekauft hatte. Dieser, ein ziemlich unansehnliches und lädiertes Ding, wurde eines Tages unter dem Fenster auf einem Karren vorbeigefahren, unten auf der Straße, durch die der Ostwind in die Stadt pfiff – jener Wind, der im Sommer die größte Hitze hereinwehte – und den salzigen rötlichen Staub herantrug, mit dem sich die Platte des Möbels später bedecken sollte. Man sah diesen Staub sehr gut, weil die Platte des Schreibtisches schwarz war. Letzterer sollte in die Asche gefahren werden, es war nicht mehr weit bis dorthin; kurz entschlossen lief ich hinunter und zahlte zehn Mark für das Stück, eine überdurchschnittliche Summe, mehr symbolisch, aber der Mann trug es dafür mit mir die Treppe herauf. Oben versuchte ich das Möbel mittels Ziegelsteinen in eine stabile und waagerechte Stellung zu bringen, was mir kaum glückte, aber ich hatte nun tatsächlich einen Schreibtisch.
Was dann folgte, waren Wochen und Monate, in denen mich der Schreibtisch mit dem Anspruch peinigte, ihn auch als solchen zu benutzen: er war ein Tisch, von dem ich nicht mehr vertrieben wurde, während der Tisch in der Küche genau diese angenehme Eigenschaft gehabt hatte. Jetzt saß ich vor dem Schreibtisch und wartete den Sommer ab, im Rücken die klamme Zelle des schlecht durchlüfteten, kaum heizbaren Zimmers, vor mir das nebelverschmierte Fenster; so hockte ich, in Strickjacken und dicke Trainingsanzüge gehüllt, im ratlosen Geschiebe zäher Nächte und halbwacher Tage? … und wenn der Sommer endlich kam und ein Lukenspalt im Fenster geöffnet werden konnte, bedeckte sich die Tischplatte schnell mit beißender Asche, die sich mir bei jeder Bewegung in die Augen setzte, die mir zwischen den Zähnen knirschte und in den Mundwinkeln hing. Die heiße Festlandluft brachte sie mit, und sie trug ein unrhythmisches und verzogenes Glockengeläut heran; und die Asche hatte einen trockenen saueren Geschmack, den ich für den Geschmack des Todes hielt. Der Staub trübte mir das Weiß meiner leeren Blätter auf dem Tisch, ein einziger Satz, den ich in einem halben Jahr fertiggebracht hatte, drohte mir unter der Asche zu verschwinden? … dann fiel mir auf, daß der gleiche Satz schon auf den meisten meiner Zettel stand: und ich hielt den Stift in der Hand und war im Begriff, denselben Satz noch einmal zwischen das Staubgekörn zu setzen: wie lange schon verhielt ich bei dem Gedanken, daß mir ein nächster Satz nicht aus der Spitze des Stifts fließen wollte? Ein halbes Jahr schon war ich erstarrt in dieser Standardsituation! Statt dessen fiel mir ein, daß ich tagelang an die verbogene Figur gedacht hatte, die ich in der Öffentlichkeit abgab: eine vom Sitzen auf meinen Stühlen krummgezogene Figur, sich krümmend in der Anstrengung, einen Gedanken aus dem Kopf zu pressen? … der obenauf wackelte, der Gedanke im Kopf, windschief zwischen den Schultern, daß es aussah, als hätte ich mich diesem mir entgegenstehenden Schreibtisch nur in Windungen nähern können, halb angreifend, halb ausweichend? … und mein Stuhl schien sich bei diesen Verdrehungen schräg in einen Sumpf unter mir zu bohren. Erneut gischtete Hagel von Asche zum Fenster herein, die Dünste der Nacht überbordeten den Schreibtisch, der wie ein manövrierunfähiges Boot war, ein Boot in schwerer See, das schon lange von einer endlosen Dünungswoge herunterrollte, und ich sah das Möbelstück nur noch unter Verrenkungen? … kein Wunder, daß ich eine schielende Mißgestalt war, wenn ich mich endlich von meinem Tisch geflüchtet hatte.
Ich hatte keinen Sitzplatz? … es waren stets die gleichen lächerlichen Gründe, aus denen meine Blätter leer blieben. Indessen suchte ich nach anderen Erklärungen? … ich suchte mir einen möglichen Leser meiner Erzeugnisse vorzustellen, nach dem ich mich richten konnte. Meine Gegenstände waren ihm völlig fremd, und nicht nur diese, die ganze Umgebung, die ich ihm vor Augen führte, mußte diesem Leser abstrus und sonderbar erscheinen, als solle er in eine Welt versetzt werden, die ihm von früher her zwar noch bekannt war, die aber nun völlig ins Abseits gerückt schien, so daß alle bisher tauglichen Formen der Beschreibung für sie nicht mehr verwendbar waren? … ich schrieb für einen ganz unmöglichen Leser, für einen einzigen nur, und dieser Leser war ich selbst.